„nur das Beste gut genug“
23. Juli 2022 von Thomas Hartung
Die 1903 eröffnete Werkhalle, die ihr Lieblingsneffe konzipiert hatte, wird bis heute sinnigerweise „Jungfrauenaquarium“ genannt, da dort anfangs unverheiratete Näherinnen arbeiteten: Im Stil des „Neuen Bauens“ entstand ein funktionalistischer Skelettbau mit nahtlos rundum vorgehängter Glasfassade und sichtbaren Wandverbänden. Die offene Gestaltung der Arbeitsfläche im Inneren galt als ihrer Zeit weit voraus. Die ehemalige Rampe an der Außenfassade sorgte nicht nur für Barrierefreiheit, die für die Firmeninhaberin als Rollstuhlfahrerin essentiell war, sondern lohnte sich auch finanziell, da man auf mechanische und elektrische Lastenaufzüge verzichten konnte. Später wurden Rampen an der Fassade in der Architektur ein Zeichen für schnelles Wachstum, Dynamik und Innovation. Die Baugenehmigung gab es erst, nachdem sie das Risiko übernahm, dass niemand, der in einem vollverglasten Gebäude arbeiten würde, Gefahr liefe zu erblinden: Margarete Steiff, die am 24. Juli vor 175 Jahren zur Welt kam.
Der Vater ist Bauwerksmeister, die Mutter Hausfrau. Sie hat zwei ältere Schwestern, etwas später kommt ihr Bruder zur Welt. Margarete ist ein lebhaftes Kind und wächst unbeschwert auf – bis sie im Alter von 1 ½ Jahren an Kinderlähmung erkrankt. Sie blieb in den Beinen gelähmt, nur die linke Hand konnte das „Gretle“ bewegen und – unter Schmerzen – ein bisschen die rechte. Sie gehörte zu einer kleinen „Schar von Invaliden“, notierte ihr Arzt, „unfähig für den Vollgenuss des irdischen Lebens wie für die spätere Erfüllung der Ansprüche, welche die Gesellschaft an ihre einzelnen Glieder zu machen berechtigt ist“. Sie wird niemals die damals typische Rolle einer Mutter oder Hausfrau einnehmen können, besitzt aus damaliger Sicht also keinerlei Zukunftsperspektiven.
Doch sie besitzt eine positive Ausstrahlung, und ihr sowohl geselliges als auch heiteres Wesen machen sie sehr beliebt. „Alle Hausgenossen bettelte ich an“, erinnert sie sich in ihren Tagebüchern, „tragt mich auf die Gasse“, denn die war ihr „der liebste Aufenthalt“. Selbst wenn an den Fensterscheiben die Eisblumen blühten, hockte das Kind draußen im Leiterwagen, um ja nichts zu verpassen, „wenn ich auch manchmal fast erfror“. Sie ist eine kreative Spielerfinderin. Ständig hat sie neue Ideen und organisiert die Abläufe so, dass sie teilnehmen kann. Das ändert sich auch in der Schule nicht: Sie wird von Nachbarskindern und Geschwistern mitgenommen und von einer Frau, die nahe der Schule wohnt, die Treppen hinauf getragen – erst Jahre später erhielt sie einen Rollstuhl. Ihre Leistungen erweisen sich schnell als überdurchschnittlich.
„das unnütze Suchen nach Heilung“
1856 verordnete ihr ein Ludwigsburger Arzt schmerzhafte Operationen und monatelange Kuraufenthalte in Bad Wildbad. Als „ungeheilt“ wurde sie schließlich aus der Behandlung entlassen und reagierte tapfer: „Mit 17 oder 18 Jahren“, erinnerte sie sich später, „ließ ich mich durch keine angepriesenen Mittel oder Heilmethoden mehr aufregen, denn das unnütze Suchen nach Heilung lässt den Menschen nicht zur Ruhe kommen.“ Trotz ihrer Krankheit ist sie neugierig, aktiv, voller Energie und entwickelt einen starken und rebellischen Charakter – zum Ärger ihrer Mutter, die eine sehr strenge, konservative Erziehung vertritt. Dennoch setzt Margarete bei ihren Eltern durch, dass sie eine Nähschule besuchen darf. Da sie aufgrund ihrer Krankheit die rechte Hand nur unter Schmerzen benutzen kann, muss sie die Nähmaschine umdrehen. So bearbeitet sie den Stoff sehr umständlich, aber erfolgreich von der Rückseite der Maschine aus. Die Schule absolviert sie mit Erfolg, mit 17 Jahren ist sie ausgebildete Schneiderin.
Danach arbeitet sie zunächst in der Damenschneiderei ihrer beiden älteren Schwestern. Als diese acht Jahre später den Heimatort verlassen, macht Margarete alleine weiter. Nur wenig später baut ihr Vater das Elternhaus extra für sie um und richtet ihr einen eigenen Arbeitsraum ein – eine Schneiderei. 1877 eröffnet sie eine Filz-Konfektionsfirma und verkauft selbstgenähte Kleidungsstücke. „Kleider von der Stange“ kommen in Mode, ihre Kundschaft wird größer. Schon bald stellt sie eine erste Arbeitskraft ein. In einem Modejournal sieht sie 1880 das Schnittmuster für einen kleinen Stoffelefanten. Nach dieser Vorlage näht sie das „Elefäntle“. Der als Nadelkissen gedachte Filz-Elefant wird in kürzester Zeit ein beliebtes Kinderspielzeug: Die Kinder fanden es schrecklich, Nadeln in die hübschen Tierchen zu stecken, in die sie sich sofort verliebten. In den ersten Jahren verkauft ihr jüngerer Bruder Fritz die kleinen Elefanten noch auf dem Markt, doch mit der Zeit werden die Stofftiere immer beliebter. 1885 verlassen 600 Elefanten die kleine Werkstatt, ein Jahr später sind es schon mehr als 5000.
Schon bald erscheint der erste Steiff-Katalog und zeigt neben Elefanten auch Affen, Esel, Pferde, Kamele, Schweine, Mäuse, Hunde, Katzen, Hasen und Giraffen. Im Katalog befand sich auch das Motto Margaretes: „Für Kinder ist nur das Beste gut genug“. In einer Zeit, in der Kinder noch zum Arbeiten ausgenutzt wurden, war es visionär und kühn, weiche Tröster und Spielgefährten für sie zu erschaffen. Die Streichelwesen nicht nur in der Familie zu verschenken, sondern sie zum Kauf anzubieten, hieß, daraus eine Geschäftsidee zu machen. Die Tierchen anschmiegsam und quasi unzerstörbar – also kindgerecht – zu produzieren zeigt obendrein, wie einfühlsam die kinderlose Frau war, die selbst in ihrer Kindheit so wenig Spaß und Vergnügen haben durfte. Vom Württemberger Blechspielzeugexperten Märklin ließ sie später kleine Fahrgestelle für ihre Tiere fertigen; vielleicht auch Ausdruck für die lebenslange Sehnsucht der gelähmten Frau, sich ungehindert bewegen zu können.
Aufgrund der großen Produktion baut Fritz seiner Schwester 1890 ein eigenes Wohn- und Geschäftshaus. Zunächst werden die Tiere mit Schafwolle, später mit Holzwolle gestopft. Im damaligen Katalog wird die Füllung als „leicht, weich und rein (keine Sägespäne, Tierhaare, Korkabfälle)“ bezeichnet. Margarete Steiff ist nun eine unabhängige und erfolgreiche Unternehmerin. Fritz wird nach und nach Vater von sechs Söhnen, die Margarete wie ihre eigenen behandelt. Fünf von ihnen werden als Erwachsene in die Firma eintreten, die am 3. März 1893 als „Margarete Steiff, Filzspielwarenfabrik Giengen/Brenz“ ins Handelsregister eingetragen wird: Zuständig für Einkauf und Absatz, Werbung, Logistik und Technik – der Grundstein des Familienunternehmens ist gelegt. Rund 150 Nachfahren der legendären Patronin gibt es heute noch, 66 davon sind Gesellschafter.
Nachdem 1895 die erste ausländische Geschäftsbeziehung zu Harrods in London entstanden war, ist es 1897 für ihren Lieblingsneffen Richard so weit, der die Kunstgewerbeschule in Stuttgart besuchte, danach in England studierte und nüchternen Geschäftssinn ebenso wie viel Kreativität in die Firma mitbringt. 1902 entwickelt er nach einem Besuch in einem Stuttgarter Tiergarten mit dem 55 cm großen Plüsch-Bär „PB 55“ eine neue Art von Stofftier: Mit beweglichen Armen und Beinen und einem richtigen Fell aus Mohairplüsch, dazu Glasaugen. Margarete ist zunächst skeptisch, ob der Markt diese relativ teuren und für ihr Empfinden plumpen Tiere annehmen wird, entscheidet sich auf Richards Drängen hin dafür – und zunächst ohne Erfolg. Richard packt die Tiere auf der Leipziger Messe schon wieder ein, als buchstäblich im letzten Moment ein Amerikaner alle 3.000 Stück aufkauft.
„gegen jede Konvention“
Der Bär wird zum Verkaufsschlager bei der Weltausstellung in St. Louis: 12.000 Stück werden verkauft. Margarete und Richard erhalten je eine Goldmedaille, der Firma wird der Grand Prix, die höchstmögliche Auszeichnung, verliehen. Von 1903 bis 1907 steigt die Produktionsmenge auf 1.700.000 Spieltiere an. 1906 erhält der Bär dann seinen Namen Teddy unter tätiger Mithilfe des damaligen Präsidenten Theodore „Teddy“ Roosevelt: Der weigerte sich bei einem Jagdausflug, auf einen hilflosen, an einer Leine festgebundenen Bären zu schießen. Daraufhin wurde er von dem Karikaturisten Cliffort K. Berryman in der Washington Post zusammen mit einem kleinen Bären dargestellt, der dem Steiff-Tier zum Verwechseln ähnlich sah.
400 Menschen arbeiten nun im Haus, 1800 Frauen sind zusätzlich als Heimarbeiterinnen beschäftigt. Um die Steiff-Tiere vor Nachahmung zu schützen, wird von Franz Steiff, einem weiteren Neffen Margaretes, das noch heute geschützte Markenzeichen, der berühmte „Knopf im Ohr“ entwickelt. Zunächst ist der mit einem Elefanten versehen, im Laufe der Jahre wird er durch den Schriftzug „Steiff“ ersetzt. Margarete kann den Erfolg nicht mehr lange genießen: Schon am 9. Mai 1909 stirbt sie an den Folgen einer Lungenentzündung. Die Leitung der Firma übernehmen ihre Neffen – und haben zu kämpfen: Während des Ersten Weltkriegs verhängen die deutschen Kriegsgegner Importverbote für die Produkte von Steiff.
In den Goldenen 1920er-Jahren erholt sich das Unternehmen wieder. Diesmal sind es jedoch nicht die Teddybären, die reißenden Absatz finden, sondern die neu entwickelten Stoffhunde, für die sogar die Fließbandproduktion eingeführt wird. 1931 begann die Kooperation mit Disney. Auch vom Produktionsstopp im Zweiten Weltkrieg erholt sich das Familienunternehmen. Den Erfolg in den folgenden Jahren begründet die Fertigung des Stoffigels „Mecki“, der in den 1950er-Jahren als Maskottchen der Fernsehzeitschrift Hörzu bekannt wird. Bis heute kann sich das Traditionsunternehmen auf dem hart umkämpften Spielzeugmarkt erfolgreich behaupten. Mehr als 1,5 Millionen Plüschtiere, die durchschnittlich aus 35 Plüsch- und Filzteilen bestehen, werden jedes Jahr unter strengen Qualitätsstandards hergestellt. Im Erlebnismuseum „Welt von Steiff“ in Giengen werden Besuchern die Geschichte des Teddybären und die Firmengeschichte samt Streichelzoo gezeigt.
Das Gymnasium Giengen wurde ebenso nach Margarete benannt wie ein ICE 4. Die Filmbiografie „Margarete Steiff“ (2005) mit Heike Makatsch in der Titelrolle unter der Regie von Xaver Schwarzenberger schildert das Leben der Unternehmerin bis zu ihren ersten geschäftlichen Erfolgen. „Niemand in der Umgebung der jungen Margarete Steiff hätte es für möglich gehalten, dass aus dem Mädchen, dem sie ‚Krüppel‘ hinterherriefen, einmal die erfolgreichste Spielzeugunternehmerin der Welt werden würde. … Mit unglaublichem Mut und größter Hartnäckigkeit schrieb eine schwerbehinderte Frau eine der großen Erfolgsgeschichten der Gründerzeit – gegen alle Wahrscheinlichkeit und gegen jede Konvention“, bilanzierte Bettina Musall im Spiegel. Das „Jungfrauenaquarium“ wurde 2011 erstmals als ein möglicher Kandidat für eine Welt- bzw. Europaerbe-Nominierung vorgestellt. 2020 wird Margarete Steiff mit einem Platz in der berühmten „Hall of Fame“ der Spielzeugindustrie geehrt.