Pionier der Selbstfindung
8. August 2022 von Thomas Hartung
„Stufen“ sei nicht nur sein berühmtestes, sondern überhaupt Deutschlands beliebtestes Gedicht, das nicht nur bei jedem Umzug zitiert werde, behauptete Matthias Matussek im Spiegel: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, / Der uns beschützt und der uns hilft zu leben.“ Er habe nach Goethe den reichsten Wortschatz der deutschen Literatur, heißt es bis heute. Schon 1958, vier Jahre vor seinem Tod, erledigte ihn der Spiegel als typisch deutsches Produkt unpolitischer Weltabgewandtheit und prophezeite, dass er sich im Ausland nie durchsetzen werde. Heute ist er mit rund 150 Millionen verkauften Büchern der weltweit erfolgreichste deutschsprachige Literat des 20. Jahrhunderts: Hermann Hesse, der am 9. August vor 60 Jahren an einem nächtlichen Schlaganfall starb.
Schon als 12-Jähriger weiß „Hermännle“, was er werden will: „Entweder ein Dichter oder gar nichts!“ Aber seine Erziehung bricht ihn fast. Am 2. Juli 1877 geboren, wächst er in der schwäbischen Kleinstadt Calw auf. Seine Eltern sind strenge Pietisten, sein baltischstämmiger Vater war früher evangelischer Missionar in Indien, der nirgendwo Wurzeln schlug und „immer wie ein sehr höflicher, sehr fremder und einsamer, wenig verstandener Gast“ wirkte. Er hatte acht Geschwister, von denen drei im Kleinkindalter starben. Als die jüngste Schwester gestorben ist, rennt er an ihr leeres Bett und ruft: „So Gertrudle, bischt jetzt vollends zum lieben Heiland gange?“ „Hermann hat eine Riesenstärke, einen mächtigen Willen und wirklich einen ganz erstaunlichen Verstand“, schreibt über den Vierjährigen seine Mutter, die von seinem „hohen Tyrannengeist“ überfordert ist.
1881 zieht die Familie für fünf Jahre nach Basel. Nach der Rückkehr bildet er sich in der umfangreichen Bibliothek seines Großvaters autodidaktisch und besucht anfangs die Calwer, später die Göppinger Lateinschule zur Vorbereitung auf das württembergische Landexamen, das Württembergern eine kostenlose Ausbildung zum Landesbeamten oder Pfarrer erlaubte. Mit 10 verfasst er ein erstes Märchen. Dann driftet der eigenwillige Junge in eine ernstliche Pubertätskrise ab. Als der 14-Jährige aus dem Klosterseminar Maulbronn ausreißt, empfiehlt der Hausarzt die Einweisung in eine Nervenheilanstalt. Zwar probieren es die frommen Eltern zunächst mit einem Glaubensbruder in Bad Boll, der versucht, seelische Störungen durch Gebete und Exerzitien zu kurieren. Doch als sich Hesse dort nach einer unglücklichen Liebesschwärmerei mit einem Revolver umbringen will, wird er in eine Heil- und Pflegeanstalt in Stetten abgeschoben.
In dem berühmten anklagenden Brief vom 14. September 1892 an seinen Vater titulierte er diesen „Sehr geehrter Herr!“ und wies ihm bereits im Vorfeld die Schuld an möglichen künftigen „Verbrechen“ zu, die er infolge seines Aufenthaltes in Stetten als „Welthasser“ begehen könnte. Schließlich unterzeichnete er als „Gefangener im Zuchthaus zu Stetten“ und fügte im Nachsatz hinzu: „Ich beginne mir Gedanken zu machen, wer in dieser Affaire schwachsinnig ist.“ Er fühlte sich von Gott, den Eltern und der Welt verlassen und sah hinter den starren pietistisch-religiösen Traditionen der Familie nur noch Scheinheiligkeit. „Bildungshunger, Flößerabenteuer, Fernweh, Frömmigkeit, Märchenwunder, aber auch Prügel und schwarze Pädagogik, die seinen Eigensinn brechen soll, das ist die Kindheit“, fasst Matussek zusammen.
„hoffnungsloser Outsider“
Nachdem er seiner ersten Buchhändlerlehre in Esslingen nach drei Tagen entlaufen war, begann Hesse 1894 eine Mechanikerlehre in einer Turmuhrenfabrik in Calw. Nach 14 Monaten war er bereit, eine neue Buchhändlerlehre in Tübingen zu beginnen. Nach ihrem Abschluss arbeitete er in Tübinger Antiquariaten, las die deutschen Romantiker, die sein Frühwerk prägen werden, und veröffentlichte im Herbst 1898 seinen ersten Gedichtband „Romantische Lieder“ sowie im Sommer 1899 die Prosasammlung „Eine Stunde hinter Mitternacht“. Beide Werke wurden ein geschäftlicher Misserfolg. Darauf ging er im Herbst erneut nach Basel, arbeitete dort wiederum – unterbrochen von einer Italienreise – in verschiedenen Antiquariaten und schrieb Gedichte, kleinere literarische Texte sowie Rezensionen: rund 3000 für rund 60 Zeitungen sind es am Ende. Er ist einer der Ersten, die Kafkas Genie entdecken, er empfiehlt Arno Schmidts „Leviathan“ zur Veröffentlichung.
1900 wurde Hesse wegen seiner Sehschwäche vom Militärdienst befreit. Das Augenleiden hielt zeitlebens an, ebenso wie Nerven- und Kopfschmerzen. Im selben Jahr erschien sein Buch „Hermann Lauscher“ zunächst unter einem Pseudonym. 1903 beschloss er, als freischaffender Autor zu leben. Er lernt er die neun Jahre ältere Fotografin Maria Bernoulli kennen, heiratet sie ein Jahr später und hat mit ihr drei Söhne. Zu den ersten Veröffentlichungen gehören die Entwicklungsromane „Peter Camenzind“ (1904) und „Unterm Rad“ (1906), in denen Hesse jenen Konflikt von Geist und Natur thematisierte, der später sein gesamtes Werk durchziehen sollte. Mit dem zivilisationskritischen Camenzind gelang ihm der literarische Durchbruch, die Familie ließ sich in Gaienhofen am Bodensee nieder.
Bereits ab 1907 gerät er in eine Schaffenskrise: Ein besonderes Hesse‘sches „Elixier von Antibürgerlichkeit, Selbstfindung, transzendentaler Sinnsuche und dem Gefühl, ein, wie er sagte, ‚hoffnungsloser Outsider‘ zu sein“, erkennt Eberhard Falcke im DLF als Grundzug seines Lebens und Werks. Hesse unternimmt auf dem Monte Verità bei Ascona eine mit Alkoholabstinenz verbundene vegetarische Fastenkur und geht nackt klettern. Später allerdings geht er zu den „Lebensreformern“ und „Weltverbesserern“ der alternativen Künstlerkolonie auf Distanz. Überdies hatten sich in Hesses Ehe die Dissonanzen vermehrt. Um Abstand zu gewinnen, brach Hesse nach dem als misslungen empfundenen Roman „Gertrud“ (1910) mit einem Freund 1911 zu einer großen Reise nach Ceylon und Indien auf. Er fand dort zwar die erhoffte spirituell-religiöse Inspiration nicht, dennoch beeinflusste die Reise sein weiteres literarisches Werk stark. Auch ein Ortswechsel nach Bern konnte die Eheprobleme nicht lösen, wie Hesse in seinem Roman „Roßhalde“ schilderte.
Bei Kriegsausbruch 1914 meldete er sich als Kriegsfreiwilliger, wurde jedoch für untauglich befunden und der deutschen Botschaft in Bern zugeteilt, wo er die „Bücherzentrale für deutsche Kriegsgefangene“ aufbaute als Mitherausgeber der Deutschen Interniertenzeitung arbeitete. Am 3. November 1914 veröffentlichte er in der NZZ eine Warnung vor nationalistischer Polemik und fand sich prompt inmitten einer heftigen politischen Auseinandersetzung wieder: Die deutsche Presse attackierte ihn, Hassbriefe gingen bei ihm ein, und alte Freunde sagten sich von ihm los. Zustimmung erhielt er von Theodor Heuss und Romain Rolland. Wegen dieses sowie weiterer Schicksalsschläge wie dem Tod seines Vaters, der schweren Hirnhautentzündung seines dreijährigen Sohnes und der zerbrechenden Ehe begab er sich in psychiatrische Behandlung, machte erste Erfahrungen mit der Psychoanalyse und fand in Gustav Jungs Analytischer Archetypenlehre eigene Einsichten systematisiert und ergänzt.
1917 verfasste Hesse in einem dreiwöchigen Arbeitsrausch seinen Roman „Demian“, den er nach Kriegsende 1919 unter dem Pseudonym Emil Sinclair veröffentlichte. Thomas Mann schrieb von der „elektrisierenden“ Wirkung einer „Dichtung, die mit unheimlicher Genauigkeit den Nerv der Zeit traf und eine Jugend … zu dankbarem Entzücken hinriss.“ Das Angebot von Wilhelm Muehlon, einen Posten in der Regierung der Münchner Räterepublik zu übernehmen, lehnte er mit der Begründung ab, er wolle sich nicht unter die Dilettanten mischen, die sich in einen Dienst drängten, von dem sie nichts verstünden. Er ließ sich 1919 in Montagnola im Tessin nieder, wo er bis an sein Lebensende wohnen blieb. Nach der Trennung der Eltern wurden die Söhne verteilt: Zwei zu Pflegefamilien, einer blieb bei der depressiven Mutter, von der sich Hesse 1923 scheiden ließ. „Hesse wollte nicht glücklich sein, sondern unglücklich – das war der Motor für ihn“, schrieb sein Biograf Heimo Schwilk.
„eine ungeheure Tat“
Die neue Lebenssituation inspirierte Hesse nicht nur zu neuer schriftstellerischer Tätigkeit, sondern als Ausgleich und Ergänzung auch zu weiteren Zeichenskizzen und Aquarellen, was sich in seiner nächsten großen Erzählung „Klingsors letzter Sommer“ von 1920 deutlich niederschlug: „Hier habe ich die eine Seite meines Wesens bis zur Überdeutlichkeit auszudrücken gesucht, den Nervösen, den Künstler, den Sonderling, den seelisch Gefährdeten, Einsamen, Hungrigen, nach Wein und Opium Gierigen, der im Grunde ein Kind geblieben ist und vor dem Leben Angst hat, und diese Angst in Kunst verwandelt.“ 1922 erschien dann die „Siddartha“. Henry Miller nannte dieses meistgelesene Werk Hesses „eine ungeheure Tat“. Die romanhafte Auseinandersetzung mit dem Buddhismus war für den US-Schriftsteller „eine wirksamere Medizin als das Neue Testament“.
Dann scheitert eine weitere Ehe nach nur drei Jahren. Seine zweite Frau Ruth schreibt ihm: „Es bleibt keine Sorge und Hingabe mehr übrig für den, der neben dir lebt.“ Erst viel später findet er in seiner dritten Ehefrau Ninon, einer Kunsthistorikerin, die bereits als 14jährige Schülerin eine konstante briefliche Verbindung mit ihm aufgenommen hatte, die Partnerin, die ihn so nimmt, wie er ist: als Einzelgänger. Sein Werk wird in dieser Schaffensphase auch von der ostasiatischen Philosophie beeinflusst, in der Hesse ein Modell zur Überwindung der abendländischen Krise sah. Das Spätwerk versucht den Gegensatz zwischen Geist und Sinnlichkeit, zwischen östlicher und westlicher Lebensweisheit auszugleichen. Spiritualität statt Religion, könnte man seine Haltung zusammenfassen.
Seine nächsten größeren Werke, darunter „Kurgast“ (1925), sind autobiografische Erzählungen mit ironischem Unterton, in denen sich bereits der erfolgreichste Roman Hesses ankündigt: „Der Steppenwolf“ (1927). Harry Haller, die faustische Hauptfigur, ist ein gescheiterter Intellektueller, dessen Weltverachtung nur von seiner Selbstverachtung übertroffen wird. Er schließt einen Pakt mit sich: Er darf sich an seinem 50. Geburtstag umbringen. Angeödet vom Alltag, verzweifelt und räudig in seiner Einsamkeit, betritt der das „Magische Theater“, dessen Reklameläufer ihm das Traktat des Steppenwolfs überreicht: „Nur für Verrückte“. Er lernt die androgyne Hermine kennen, die ihn in die Genüsse der Nacht einführt. Sie bringt ihm den Foxtrott bei, der Saxophonist Pablo erklärt ihm, was Musik heißt. Harry Haller lernt von Goethe und den „Unsterblichen“: das absurde Gelächter. Thomas Mann verglich das Buch mit dem „Ulysses“ und schlug seinen Freund Jahr um Jahr für den Nobelpreis vor.
Anfang der 1930er Jahre entstehen „Narziß und Goldmund“ sowie „Die Morgenlandfahrt“ als „Vorstufe“ zu seinem letzten großen Werk „Das Glasperlenspiel“, an dem er 12 Jahre schreiben wird: „Ich glaube an viele Dinge nicht, die der Stolz der heutigen Menschheit sind: Ich glaube nicht an die Technik, ich glaube weder an die Herrlichkeit und Unübertrefflichkeit unserer Zeit noch an irgendeinen ihrer hochbezahlten ‚Führer‘, während ich vor dem, was man so ‚Natur‘ nennt, eine unbegrenzte Hochachtung habe“, sagte er über seine Verfasstheit beim Schreiben. Während des Zweiten Weltkriegs machen befreundete Autoren wie Thomas Mann und Bert Brecht auf dem Weg ins Exil Station bei ihm. Politisch aber unternimmt Hesse nichts: „Ich habe keine andre Sehnsucht, als zu mir selber und zu rein geistigem Tun zu kommen.“ Seine Bücher sind nicht verboten, aber „unerwünscht“.
Der letzte Ritter
1943 in der Schweiz gedruckt, wurde ihm nicht zuletzt für dieses Spätwerk 1946 der Nobelpreis für Literatur verliehen: Für „seine inspirierten Werke, die mit zunehmender Kühnheit und Tiefe die klassischen Ideale des Humanismus und hohe Stilkunst verkörpern“, begründete die Schwedische Akademie die Vergabe an den Deutschen nach der Kapitulation Deutschlands. Gottfried Benn hält ihn für einen mittelmäßigen „Ehe- und Innerlichkeits-Romancier“ und munkelt: „Spezi von Thomas Mann. Daher der Nobelpreis.“ Robert Musil spottete den Gesamttypus weg: „Das einzig Komische ist, dass er die Schwächen eines größeren Mannes hat, als ihm zukäme.“ Alfred Döblin, als er 1953 selbst für den Nobelpreis gehandelt wird, meint: „So viel wie die langweilige Limonade Hermann Hesse bin ich schon lange“. Für seinen Freund Hugo Ball dagegen erweist er sich als „der letzte Ritter aus dem glanzvollen Zuge der Romantik. Er verteidigt die Nachhut.“
Inzwischen an Leukämie erkrankt, malte Hesse viel, schrieb noch wenige Erzählungen und Gedichte, aber keinen Roman mehr, dafür – ohne Sekretariat – rund 17.000 Briefe, in denen sich Sätze finden wie: „Ohne das Tier und den Mörder in uns sind wir kastrierte Engel ohne rechtes Leben“ oder „Die Wirklichkeit ist etwas, was man unter gar keinen Umständen anbeten und verehren darf“. Offenbar erhoffte sich eine neue Generation deutscher Leser von dem weisen Alten mit Strohhut und Nickelbrille Lebenshilfe und Orientierung. In seiner Streitschrift „Kitsch, Konvention und Kunst“ schrieb Karlheinz Deschner fünf Jahre vor Hesses Tod: „Dass Hesse so vernichtend viele völlig niveaulose Verse veröffentlicht hat, ist eine bedauerliche Disziplinlosigkeit, eine literarische Barbarei“. Teile der deutschen Literaturkritik qualifizierten den „Blumenzüchter von Montagnola“ prompt als Produzent epigonaler und kitschiger Literatur.
Sein letztes Gedicht entstand bei einem morgendlichen Spaziergang vor seinem Tod und war dem absterbenden Ast einer Robinie gewidmet. „Von der Natur entfernten sich die Schauplätze seiner Bücher fast nie weiter als höchstens bis zum Kleinstadt-Marktplatz“, lästert der Spiegel-Nachruf. Seine Rezeption ähnelt einer Pendelbewegung: Kaum war sie in den 1960er Jahren in Deutschland auf einem Tiefpunkt angelangt, brach unter den Jugendlichen in den USA ein Hesse-Boom ohnegleichen aus. In den vielen Verwandlungen des steppenwölfischen „Magischen Theaters“ haben Timothy Leary und die Hippies den „Meisterführer zum psychedelischen Erlebnis“ gesehen. Mit dem Pazifismus Harry Hallers werden die Vietnam-Kriegsverweigerer argumentieren. John Kays Rockband und ihr Song „Born to Be Wild“, mit dem Denis Hoppers „Easy Rider“-Helden losdonnerten, waren musikalisch ebenso einflussreich wie das dem „Demian“ entlehnte „Abraxas“ (Santana), selbst Udo Lindenberg zitierte ihn und gab ein Hermann Hesse-Lesebuch mit heraus.
„Hermann Hesse hätte die Idee der Occupy-Bewegung begrüßt, sicherlich, weil sie Sand ins Getriebe zu werfen versucht, aber doch keine Zeltstadt! Nie hätte er gemeinsam mit anderen Parolen gebrüllt! Programme, sagte er, seien für Dumme und Einladungen zum Missbrauch“, befand Matussek. „Seelenbiografien“ erkannte Hans Küng, die radikal subjektiv sind und ihn als Vorgänger der Beatpoeten und Aufbruchskünstler ausweisen. „Für den Menschen gibt es nur einen natürlichen Standpunkt, nur einen natürlichen Maßstab. Es ist der des Eigensinnigen“, hatte Hesse schon 1917 postuliert. Dieser Eigensinnige blieb er zeitlebens.