„Kein Tag ohne eine Zeile“
29. September 2022 von Thomas Hartung
Er schrieb schon als Erstklässler im Gymnasium einen Roman über die Kreuzzüge – und bestand doch seine Baccalauréats-Prüfungen nicht. Er gilt neben Stendhal, Balzac, Flaubert, Hugo und Maupassant als einer der großen französischen Erzähler des 19. Jahrhunderts – und wurde zugleich als unmoralischster Schriftsteller des 19. Jahrhunderts kritisiert. Und er starb am 29. September 1902 an einer Kohlenmonoxidvergiftung, offenbar durch einen verstopften Kamin, in seinem Pariser Haus – ob Unfall, politisch motivierter Mord oder Selbstmord, ist bis heute unklar: Émile Édouard Charles Antoine Zola.
Der Sohn eines italienischen Ingenieurs und einer französischen Mutter wurde am 2. April 1840 in Paris geboren, blieb Einzelkind und wurde als Siebenjähriger Halbwaise: Seine Mutter, zu der er zeitlebens ein enges Verhältnis hat, heiratete nicht wieder und brachte ihren Sohn alleine durch. Während seiner Schulzeit in Aix-en-Provence freundete er sich mit Paul Cézanne an, der ihm die graphischen Künste nahebrachte. Trotz seiner ärmlichen Kindheit hatte er von Anbeginn eine starke Leidenschaft für Literatur, las viel und setzte sich bald das Ziel, selbst professionell zu schreiben. Doch nach nicht bestandenem Abitur 1859 lebt er drei Jahre arbeitslos in Paris. Die in dieser Zeit gesammelten Erfahrungen vom Leben der Armen sollen ihm später in seiner schriftstellerischen Arbeit nützlich sein.
Zolas erste Liebe 1860 war eine Prostituierte namens Berthe, die er „aus der Gosse holen“ und ihr die Lust auf Arbeit zurückgeben wollte. Sein Idealismus scheiterte an der Realität der Armenviertel von Paris, was er in seinem ersten Roman verarbeiten wird. 1862 nahm ihn Louis Hachette als Angestellten in seiner Buchhandlung auf, kurz darauf wurde Zola als Franzose eingebürgert. Er blieb vier Jahre in der Werbeabteilung von Hachette als eine Art Pressesprecher. Zola lernte nicht nur alle Techniken der Herstellung und Vermarktung von Büchern kennen, sondern knüpfte auch viele Kontakte in die Welt der Literatur. Nach harter Arbeit in seiner Freizeit gelang es ihm, seine ersten Artikel und sein erstes Buch „Erzählungen an Ninon“ (1864) zu veröffentlichen.
„das dumpfe Wirken der Leidenschaften“
Im selben Jahr machte Zola die Bekanntschaft von Éléonore-Alexandrine Meley, zog im Jahr darauf zu ihr, heiratete sie wegen Vorbehalten seiner Mutter aber erst weitere fünf Jahre später. Ab 1863 arbeitete Zola gelegentlich und ab 1866 regelmäßig an den Rubriken zur literarischen und künstlerischen Kritik von verschiedenen Zeitungen mit. Das erlaubte ihm, seine Schriften nicht nur schnell zu veröffentlichen und seine Qualitäten als Schriftsteller einem breiten Publikum zu zeigen, sondern auch seine Einkünfte zu steigern. Bis zuletzt empfahl Zola allen Nachwuchsschriftstellern, die ihn um Rat fragten, zunächst in Zeitungen zu veröffentlichen.
1866 trennte er sich von Hachette und lebte als freier Schriftsteller. Bis 1881 veröffentlichte er neben Literatur-, Theater- und Kunstkritik in der Presse über 100 Erzählungen und Feuilleton-Romane. Er bediente sich dabei eines polemischen Journalismus, indem er seinen Hass, aber auch seinen Geschmack zeigte und seine ästhetischen wie auch politischen Positionen hervorhob. Zola beherrschte das journalistische Handwerk perfekt, sandte für seine frühen Werke sogar vorgefertigte Berichte an Pariser Literaturkritiker persönlich und erhielt von ihnen zahlreiche Rückmeldungen.
1867 hatte Émile Zola mit seinem dritten Roman „Thérèse Raquin“ bereits Aufsehen erregt. Das Vorwort zur zweiten Auflage 1868, in dem Zola sich gegen seine gutbürgerlichen Kritiker und ihren Vorwurf der Geschmacklosigkeit verteidigt, wurde zum Manifest der jungen naturalistischen Schule: „Ich habe in diesen Tieren Schritt für Schritt das dumpfe Wirken der Leidenschaften, das Drängen des Naturtriebes und die infolge einer Nervenkrisis eingetretenen Verwirrungen des Gehirns zu verfolgen versucht. Ich habe einfach an zwei lebenden Körpern die zergliedernde Arbeit vorgenommen, welche Chirurgen an Leichen vornehmen.“ Damit beeinflusst er die Kunst in Frankreich, Deutschland, Russland und Skandinavien und wird Wegbereiter der modernen Strömungen des 20. Jahrhunderts.
1869 begann er mit der Arbeit an dem monumentalen Zyklus „Die Rougon-Macquart“, die ihn mehr als zwanzig Jahre lang beschäftigen sollte. Ab 1871 veröffentlichte er einen Roman pro Jahr, außerdem journalistische Beiträge und Theaterstücke – er wird sich „kein Tag ohne eine Zeile“ als Motto über seinen Kamin malen lassen. Der Romanzyklus stellt im Sinne eines „Mikrokosmos“ Aspekte der französischen Gesellschaft dar. Gestützt auf darwinistische und deterministische Vererbungs- und Milieulehren, schildert er die Verfallsgeschichte einer Familie. Für Zola bestand die Welt nicht aus Gut und Böse, sondern aus Sein und Handeln. Seine sinnlichen und teilweise obszönen Werke vertraten eine neue Kultur, die Kritiker unmoralisch nannten. Als einer der ersten wandte Zola dokumentarische Verfahren an, besuchte mit dem Notizbuch in der Hand die Absteigen der armen Pariser, frequentierte die Halbwelt und die Hochfinanz.
Von Februar 1871 bis August 1872 produzierte er aber auch mehr als 250 kritische Artikel zur Tätigkeit des Parlaments während des deutsch-französischen Krieges. In mutiger bis tollkühner Weise griff Zola dessen führende Köpfe an. Er beschimpfte das Parlament als ein „schüchternes, reaktionäres und […] manipuliertes Haus“. Im März 1871 wurde er zweimal verhaftet, kam aber beide Male am gleichen Tag wieder frei. Den politischen Stoff verarbeitete er später auch in seinen Romanen. Nachdem Zola jahrelang mit erheblichen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, besserte sich seine Lage nach dem großen Erfolg von „Der Totschläger“ (1877), so dass er ein Landhaus in Médan erwerben konnte, das zu einem geistigen Zentrum wurde: Mit jungen Autoren wie Maupassant, Huysmans und anderen bildete er die Gruppe der sechs, die auch in einem Novellenzyklus vorkommt.
„Gesundung der Menschheit“
1880 erscheint „Nana“, die Geschichte einer Prostituierten. Seine Werke werden kontrovers diskutiert und teilweise als Pornografie diffamiert. Er hält die Auseinandersetzungen um seine Person für die beste Werbung für sein literarisches Werk. Sein theoretisches Konzept legt er in dem Essay „Der Experimentalroman“ nieder. Literatur solle in die von der Wissenschaft noch unerforschten Gebiete der Menschenwelt eindringen, um durch das Aufdecken ihrer Krankheitssymptome zur Erhaltung und Gesundung der Menschheit beizutragen. Er fordert, dass Kunst wirklichkeitsgetreu sein müsse. Im selben Jahr fällt er nach dem Tod seiner Mutter in Depressionen.
1885 erreicht „Germinal“, in dem Zola das Bergarbeitermilieu beschreibt, Rekordauflagen; er wird zu einem der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit. Im Jahr darauf endet die Freundschaft mit Cézanne in einem Zerwürfnis, weil der sich im Roman „Das Werk“ in der Figur des scheiternden Künstlers Lantier wiedererkannte. 1888 beginnt er eine Liebesbeziehung mit der 20jährigen Wäscherin Jeanne Rozerot, mit der er zwei Kinder hat – seine Ehe blieb kinderlos. Zu Zolas Lebzeiten am erfolgreichsten war „Das Debakel“ (1892), dessen Handlung vor dem Hintergrund des Krieges von 1870/71 und der blutig unterdrückten Pariser Commune spielt. Zwischen 1894 und 1898 veröffentlichte er den dreibändigen Zyklus „Die Drei Städte“.
Auf dem Höhepunkt seines Ruhms ergriff Zola 1898 für den jüdischen Hauptmann Dreyfus Partei, der drei Jahre zuvor der Spionage für das Deutsche Reich bezichtigt worden war und unschuldig in Haft saß. Der offene Brief an den Präsidenten erschien am 13. Januar auf der Titelseite der Tageszeitung L’Aurore: „J’accuse“ (Ich klage an) lautete die Überschrift: „Ich klage den Oberstleutnant du Paty de Clam an, der teuflische Urheber eines Justizverbrechens zu sein und seit drei Jahren sein unheilvolles Werk mit den geschmacklosesten und verwerflichsten Machenschaften zu verteidigen. (…) Ich klage das Kriegsministerium an, in der Presse einen abscheulichen Feldzug geführt zu haben, um die öffentliche Meinung irrezuleiten.“
Ein politischer Skandal war die Folge, der das Land spaltete, aber zugleich den Anstoß für die Entstehung eines laizistischen Frankreichs gab. Gegen den Schriftsteller erging wegen Beleidigung der Armee ein Haftbefehl über ein Jahr. Zola flüchtete nach London, wo er bis zur Amnestie 1899 blieb und den Zyklus „Die vier Evangelisten“ begann. Nach seiner Rückkehr publizierte er die drei Bände „Fruchtbarkeit“, „Arbeit“ und „Wahrheit“ – der vierte „Gerechtigkeit“ blieb aufgrund seines unerwarteten Todes unvollendet. Eine Untersuchungskommission machte Experimente mit dem Ofen und kam zu dem Schluss, dass es sich um einen Unfall handelte.
„von der Willkür der Phantasie befreien“
„Seit dem Tode Goethes hat vielleicht keines Dichters Tod die Gebildeten erregt wie dieser“, befand Richard M. Meyer in seinem Nachruf in Die Woche. Meyer sieht Zolas Alleinstellungsmerkmal darin, dass es ihm gelang, eine „neue Aera der Litteratur [zu] schaffen, indem er sie von der Willkür der Phantasie befreien und völlig unter das Gesetz der wissenschaftlichen Technik stellen wollte“. Immer wieder betont der Literaturhistoriker Zolas Nähe zur Wissenschaft, vor allem zu Soziologie und Psychologie. Mit diesem Denken sei Zola tief in seiner (nun vergangenen) wissenschaftsgläubigen Zeit zuhause gewesen: „‚Psychologisch‘ war das Lieblingswort dieser Epoche“.
Am 4. Juni 1908 wurden die Überreste Zolas auf Anordnung der inzwischen linken französischen Regierung in das Panthéon überführt, wo er in einer Kammer mir Alexandre Dumas und Victor Hugo bestattet wurde. Bereits im frühen 20. Jahrhundert wurden viele von Zolas Romanen verfilmt, unter der Regie von William Dieterle entstand 1937 unter dem Titel „Das Leben des Emile Zola“ eine Filmbiografie mit Paul Muni in der Titelrolle. Er gilt bis heute als zugänglicher und lesbarer „Intellektueller“, der „eine ungeheure Kraft, Menschen zu zeichnen, die von einem dämonischen Verlangen ganz erfüllt sind“, entfaltet habe, wie Meyer schrieb. Außerdem lasse er „Landschaften leben. Er fühlt sich hinein, die Landschaft wird ihm wirklich ein ‚seelischer Zustand‘“.
„J’accuse“ stieg zu einem Beweis dafür auf, dass sich durch Sprache politische Wirkung erzielen lässt, wenn auch nicht sofort. Zolas Ausführungen hatten ihren Anteil an Alfred Dreyfus‘ Rückkehr nach Frankreich und daran, dass der spätere Präsident Émile Loubet den Militär unter der Bedingung begnadigte, auf Berufung zu verzichten. 1906 wurde Dreyfus völlig rehabilitiert, bekam ein Kommando im Ersten Weltkrieg und starb 1935. Der Text ist und bleibt ein Beispiel für einen pointierten Stil, der auch dann nichts beschönigt, wenn dem Autor Konsequenzen drohen; das Gegenteil jenes Gratismuts, der er heute viel zu oft in der Publizistik zu beobachten ist.