Der erste Freidenker
12. September 2022 von Thomas Hartung
Ohne ihn hätte es Karl Marx nicht gegeben – sein anthropologischer Materialismus steht heute wohl gleichberechtigt neben Marx’ dialektischem und historischem Materialismus. Ohne ihn hätte es auch Richard Wagners musiktheoretische Arbeit „Das Kunstwerk der Zukunft“ (1850) nicht gegeben: Der Komponist war etwa zehn Jahre lang sein glühender Anhänger, widmete ihm die Schrift und wandte sich erst danach Schopenhauer zu. Ohne ihn hätte es auch die Psychoanalyse nicht gegeben: Max Scheler bezeichnete ihn als einen der „großen Triebpsychologen“. Und ohne ihn hätte es auch noch heute geläufige Aphorismen nicht gegeben, so „Der Mensch ist, was er isst“: Ludwig Feuerbach, der am 13. September vor 150 Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung starb.
Er wird am 28. Juli 1804 in Landshut als viertes von sieben Kindern in eine namhafte Familie hineingeboren. Sein Vater Paul Johann Anselm von Feuerbach gilt als Begründer des modernen deutschen Strafrechts und lehrt an der Bayerischen Landesuniversität, seine Mutter Eva Wilhelmine stammt vom Weimarer Herzog Ernst August I. ab: Ihr Großvater war ein außerehelicher Sohn des Herzogs. Auch Ludwigs Brüder sollten als Komponist, Mathematiker und Sprachwissenschaftler bekannt werden. Er besucht in München die Elementarschule, in Bamberg die Oberprimärschule und in Ansbach das Gymnasium.
1823 begann Feuerbach in Heidelberg ein protestantisches Theologiestudium und wechselte 1824 gegen den Willen des Vaters nach Berlin, wo er zwei Jahre lang sämtliche Vorlesungen hörte, die Hegel in dieser Zeit hielt, die „Logik“ sogar zweimal. Da er als Stipendiat des bayerischen Königs das Studium an einer Landesuniversität abzuschließen hatte, kehrte er 1826 nach Bayern zurück. Nach einem Jahr privater Studien in Philologie, Literatur und Geschichte belegte er in Erlangen Botanik, Anatomie und Physiologie und schrieb gleichzeitig seine Dissertation „Über die Unendlichkeit, Einheit und Allgemeinheit der Vernunft“. Nach Promotion und Habilitation begann er 1828, als unbesoldeter Privatdozent in Erlangen zu lehren.
Doch eine akademische Karriere verbaute sich Feuerbach durch die anonyme Erstlingsschrift „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“ (1830), in der er die persönliche Unsterblichkeit leugnete. Wegen ihres religionskritischen Inhalts wurde die Schrift sofort verboten und der Verfasser polizeilich ermittelt. Dreimal bewarb er sich vergeblich um eine außerordentliche Professur. Versuche, durch familiäre Beziehungen eine Stellung in Paris zu finden, scheiterten, ebenso Bemühungen um einen Lehrstuhl in Bern oder eine passende Tätigkeit in Griechenland. Da ihm die akademische Lehrtätigkeit ohnedies nicht zusagte, zog er sich 1836 endgültig von der Universität zurück. Auf der Suche nach Alternativen schrieb er eine Aphorismensammlung, eine „Geschichte der neuern Philosophie“ sowie „Kritik des ‚Anti-Hegels‘. Eine Einleitung in das Studium der Philosophie.“
Aufhebung aller Theologie
Im ländlichen Bruckberg bei Ansbach fand er dann den ihm zuträglichen Ort: Seine Geliebte Bertha Löw, die er 1837 heiratete, war dort Mitinhaberin einer Porzellanmanufaktur, die im ehemals markgräflichen Jagdschloss untergebracht war. Die kleine Fabrik warf zwar nur bescheidene Gewinne ab, bot aber freies Wohnrecht und umfangreiche Naturaliennutzung. 1839 wurde die erste Tochter „Lorchen“ geboren, 1842 die zweite, die jedoch sehr früh starb. „Die wahre Philosophie besteht darin, nicht Bücher, sondern Menschen zu machen“, wird er später schreiben. Das einfache, aber insgesamt sorglose Leben auf dem Land entsprach Feuerbachs persönlichem Geschmack, und die völlige Freiheit von allen akademischen Rücksichten wurde, wie er selbst bekannte, zum „archimedischen Punkt“ in seinem philosophischen Entwicklungsgang. In Bruckberg schrieb er, nun Privatgelehrter und freier Autor, einen zweiten, ausschließlich Leibniz und dessen Monadentheorie gewidmeten Band seiner Geschichte der neueren Philosophie.
Nach mehreren Aufsätzen, etwa „Zur Kritik der Hegelschen Philosophie“ (1839), machte ihn dann sein Hauptwerk „Das Wesen des Christentums“ (1841) schlagartig berühmt. Darin kritisiert er Gott als Projektion der Vollkommenheit des Menschen, die sich in dessen wirklichem Gattungsleben realisieren soll. Durch seine in der Zeit der Restauration in breiten Kreisen als befreiend empfundene Religions- und Idealismuskritik wurde Feuerbach zur intellektuellen Leitfigur der Dissidentenbewegungen des „Vormärz“. Die selbständigen philosophischen Werke „Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie“ (1842) und „Grundsätze der Philosophie der Zukunft“ (1843) schlossen sich an. In seiner Philosophie geht Feuerbach davon aus, dass der Geist der Neuzeit die Aufhebung aller Theologie und metaphysischen Philosophie in Anthropologie.
Feuerbach schließt sich den „Freien“ an, einer Gruppe von liberalen und sozialistischen Intellektuellen, und diskutiert mit Friedrich Engels und dem Anarchisten Max Stirner. 1844 beginnt er einen Briefwechsel mit Karl Marx und schreibt weitere religionskritische Werke, darunter „Das Wesen der Religion“. 1845 erhielt er von seinem Verleger Otto Wigand das Angebot, seine Schriften in einer Werkausgabe zu versammeln. Bis 1866 erreichten diese „Sämmtlichen Werke“ zehn Bände. Der erste erschien bereits 1846. Feuerbach überarbeitete alle seine Bücher aus den dreißiger Jahren, um der inzwischen vollzogenen Abkehr von der Hegelschen Philosophie Rechnung zu tragen.
Nach der März-Revolution geht Ludwig Feuerbach nach Frankfurt, wo er die Beratungen des Paulskirchenparlaments verfolgt und im Rathaus Vorlesungen hält. Durch Ruge, Herwegh und Marx ist Feuerbach mit den revolutionären Bestrebungen verbunden, nimmt jedoch keinen unmittelbaren Anteil an der Tagespolitik. Gottfried Keller sympathisiert mit dem Philosophen und setzt ihm in „Der Grüne Heinrich“ (1849) ein literarisches Denkmal. Parallel dazu verschlechtert sich die wirtschaftliche Situation der Bruckberger Porzellanfabrik. Pläne, in die USA auszuwandern, scheitern am fehlenden Geld. Er verfasst eine zweibändige Biographie seines Vaters.
„enttäuschend banaler Schluss eines gewaltigen Dramas“
Nachdem die Reaktion jeden politisch-emanzipatorischen Funken gründlich erstickt hatte, verschwand auch Feuerbachs Philosophie völlig aus dem öffentlichen Interesse; der allgemeine Defätismus verhalf der bislang fast unbekannten Schopenhauer‘schen Philosophie zu einem rasanten Aufstieg. Feuerbach hingegen wurde 1856 in einer Zeitungsmeldung sogar totgesagt. In Frankreich, England und den USA indes begann er bekannt zu werden. 1859 war die Bruckberger Porzellanfabrik dann endgültig bankrott, Feuerbach und seine Frau verloren nicht nur alle investierten Ersparnisse, sondern auch ihr Wohnrecht und die Naturaliennutzung und zogen nach mühsamer Suche in ein Haus in Rechenberg bei Nürnberg. Freunde bezahlten den Umzug und sammelten Spenden.
Von 1862 an erhielt er eine regelmäßig erneuerte Ehrengabe der eben geschaffenen Schillerstiftung, außerdem zwei Leibrenten zweier vermögender Freunde, darunter vom Nürnberger Industriemagnaten Theodor von Cramer-Klett. 1863 entwirft er Studien zur „Willensfreiheit“ und zur „Ethik“; beide bleiben Fragmente. 1866 erscheint die Abhandlung „Über Spiritualismus und Materialismus, besonders in Beziehung auf die Willensfreiheit“ im zehnten Band seiner „Sämmtlichen Werke“. Der preußisch-österreichische Krieg erschüttert Feuerbach tief. Bismarcks Einigungspolitik lehnte er entschieden ab, weil sie auf Gewalt gestützt war und in seinen Augen keine Freiheit brachte. Hingegen studierte er den ersten Band von Marx’ „Kapital“ kurz nach dessen Erscheinen und begeisterte sich für die in Amerika aufkommende Frauenbewegung.
1867 erlitt er einen leichten Schlaganfall, von dem er sich im österreichischen Salzkammergut erholte. 1869 trat Feuerbach in die kurz zuvor von Wilhelm Liebknecht und August Bebel gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) ein. Am Tag nach der Kriegserklärung des Deutsch-Französischen Kriegs traf ihn ein zweiter, schwerer Schlaganfall, der sein geistiges Vermögen völlig zerstörte und sein Ableben beschleunigte. Nach seinem Tod riefen mehrere Zeitungen, darunter die auflagenstarke Familienzeitschrift Die Gartenlaube, zu einem „Nationaldank“ auf. Die Spenden flossen so reichlich, dass für Frau und Tochter, um deren Zukunft Feuerbach gebangt hatte, ein bescheidenes, aber lebenslanges Auskommen gesichert war. Am Begräbnis auf dem Nürnberger Johannisfriedhof nahmen Tausende teil, Cramer-Klett stiftete das Grabmal.
Seine Wirkung war zwiespältig: Die „kritischen Arbeiten schlugen bei den Zeitgenossen durch, aber seinem positiven Ansatz blieb größere Anerkennung versagt“, konstatiert seine Biographin Ruth-Eva Schulz: „Die Selbstbestätigung des Menschen in seiner Sinnlichkeit als Resultat der gesamten Religions- und Geistesgeschichte: das wirkte wie der enttäuschend banale Schluss eines gewaltigen Dramas.“ Seine „sperrige“ Philosophie „fügte sich weder der Totalität der Dialektik, noch der Logik des Klassenkampfes und wurde alsbald von der Hegel- wie Marxorthodoxie wieder fallengelassen“, schreibt die Münsteraner Pädagogin Ursula Reitemeyer.
Einen indirekten, aber bedeutenden Einfluss hatte Feuerbachs Philosophie auf eine ganze Generation von Naturwissenschaftlern und Medizinern, die für die Erklärung des Naturgeschehens keine übernatürlichen Ursachen mehr gelten lassen wollten. Die Freidenkerbewegung beruft sich auf ihn, auch Max Webers grundlegender Begriff der „Deutung“ erinnert an das Verfahren von Feuerbachs Religionskritik. Einen Kenotaph zu Feuerbachs Gedenken auf dem Rechenberg, der 1933 vergraben wurde, stellte der SPD-geführte Stadtrat Nürnbergs gegen den Widerstand von CDU und FDP 1955 wieder auf. Gegner versuchten, mit einer letztlich erfolglosen Verfassungsbeschwerde das Denkmal wieder zu beseitigen, es stand zeitweise unter Polizeischutz. Christlich-fundamentalistische Täter beschmierten es bis in die jüngste Vergangenheit.