„Ich bin kein Literat, ich bin Farmer“
24. September 2022 von Thomas Hartung
Seine konfuse deutsche Rezeptionsgeschichte hängt damit zusammen, dass er erst in der Mitte der dreißiger Jahre erstmals ins Deutsche übersetzt wurde. Aber die drei Romane „Licht im August“, „Wendemarke“ und „Absalom, Absalom“ stehen in seinem Gesamtwerk nicht an erster bis dritter, sondern an zwölfter, sechzehnter und siebzehnter Stelle. Dazu sind die Übersetzungen, über mehrere Verlage verteilt, so Günter Blöcker 1956 in der Süddeutschen Zeitung, „in so krausem Durcheinander erschienen, dass weder die innere und äußere Kontinuität des Werkes noch seine kompakte Einheitlichkeit hinreichend deutlich werden.“ Westdeutsche Leser dürften die oft ohnehin komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse und Familiengeschehnisse kaum noch durchschauen.
Die meisten seiner Romane und Kurzgeschichten spielen in dem fiktiven Yoknapatawpha County, das von seinem realen Wohnsitz, dem Lafayette County, inspiriert wurde. Der Quartalstrinker, der sich auch nach Genuss beträchtlicher Whiskymengen stets peinlich korrekt verhalten hatte, beschrieb Neger, Seeleute, Bettler und Huren, Schwachsinnige und Schwarzhändler, Polizisten und Priester, er übte sich in der Niederschrift innerer Monologe und bekundete seine Vorliebe für Skurrilität, bissigen Humor und dramatisch gesteigerten individualistischen Realismus. Er schraubte übrigens den Türknauf seines Arbeitszimmers ab, um konzentriert und ohne Ablenkung zu schreiben: William Cuthbert Faulkner, der am 25. September 1897 als erster von vier Söhnen eines verarmten Kleinindustriellen in Oxford (Mississippi) geboren wurde.
Schon als Kind las er Shakespeare, Conrad und Balzac, verließ aber mit 17 Jahren die Schule ohne Abschluss und erhielt eine Anstellung in der Bank seines Großvaters. Dabei begann er zu zeichnen und zu schreiben. Bei Kriegseintritt der USA meldete er sich freiwillig zur Luftwaffe, wurde aber abgelehnt, da er nur 1,67 Meter groß war. Ab 1918 belegte er einige Kurse an der University of Mississippi in Oxford und veröffentlichte in der Universitätszeitung Zeichnungen, Gedichte und Prosa. Im Herbst 1921 arbeitete er mehrere Monate bei einem Buchhändler in New York, danach bis 1924 als Leiter der Poststelle der University of Mississippi.
Im selben Jahr erschien sein erstes Buch, der Gedichtband „Der Marmorfaun“. 1925 lernte er in New Orleans den Schriftsteller Sherwood Anderson kennen und fand Gefallen an dessen Lebensgewohnheiten: Morgens Arbeit, abends Zeit für die eine oder andere Flasche Whisky – wenn so der Arbeitstag für Schriftsteller aussah, meinte Faulkner, war Schriftstellerei für ihn der passende Beruf. Seinen ersten Roman „Soldatenlohn“ schloss er im Mai 1925 ab. Wochen später reiste er mit einem Freund erst nach Italien, dann über die Schweiz nach Frankreich, wo er sich lange in Paris aufhielt. Ab 1928 schrieb Faulkner innerhalb von acht Jahren seine vier bekanntesten Romane, darunter „Schall und Wahn“, der, fünfmal umgeschrieben, in der BRD erst 1956 erschien, sowie zahlreiche Kurzgeschichten.
„die Kontrolle zu verlieren“
1929 heiratete er seine Frau Estelle, die er schon lange verehrt hatte und die zuvor mit einem anderen Mann verheiratet war. Weil das Eheleben durch ökonomische Probleme geprägt war, mussten sie in einem Mietshaus leben und Faulkner als Aufseher im Heizwerk der Universität arbeiten. Wachsende Einkünfte ermöglichten dem Paar, das Parkhaus Rowan Oak in Oxford mit weißer Säulenfassade und 700 Morgen Land zu kaufen, das Faulkner bis zu seinem Tod bewirtschaftete: „Ich bin kein Literat, ich bin Farmer“, wird er später sagen. Der recht freizügige, im Pulp-Fiction-Stil verfasste Roman „Die Freistatt“ (1931), der die weibliche Sexualität und den moralischen Verfall behandelt, wurde zum bisher größten Erfolg und machte Faulkner auch im Vereinigten Königreich und in Frankreich bekannt. Im selben Jahr starb, gerade neun Tage alt, die erste Tochter Alabama.
1932 schloss er einen Vertrag mit Metro-Goldwyn-Mayer und schrieb fortan Drehbücher für die Filmindustrie in Hollywood. Darunter waren die Verfilmungen von Raymond Chandlers „Tote schlafen fest“ und Ernest Hemingways „Haben und Nichthaben“, beide unter der Regie von Howard Hawks, mit dessen Scriptgirl Faulkner eine zehn Jahre währende Affäre hatte. Die zierliche blonde Meta entflammte den schüchternen, „sexuell ausgehungerten“ Faulkner so, dass er „fürchtete, die Kontrolle zu verlieren“, schrieb sie in ihren Erinnerungen. Ihr Liebeslager schmückte er gern mit Gardenien- und Jasminblüten, und unters Kopfkissen legte er eigene erotische Verse und Zeichnungen über ihre „wilden Liebesakte“. Sie werden heute im „Giftschrank“ in der Faulkner-Sammlung der New York Public Library aufbewahrt.
1933 wurde seine Tochter Jill geboren. In den nächsten Jahren schrieb er diskontinuierlich weitere Romane und Erzählungen; so begann er die Snopes-Trilogie, die er erst kurz vor seinem Tod beendete. Er schrieb in langen, labyrinthischen Sätzen, kreierte Handlungsspiralen, in denen Gegenwärtiges und Vergangenes durcheinanderkreisten, verband Redensarten und Slangschlenker und war doch Traditionalist, konservativ. Dass die Mehrheit recht habe – Glaubenssatz der Demokratie -, konnte ihm niemals einleuchten; er jedenfalls möchte auf keinem Schiff reisen, sagte er, über dessen Navigation die Matrosen und der Schiffskoch abstimmten. Neuerungen gegenüber war er skeptisch eingestellt, er schaffte sich lange kein Radio an und zögerte auch den Kauf eines Autos hinaus. Und er erklärte, wenn es wegen der Farbigenfrage zu einem Bürgerkrieg käme, würde er auf Seiten des Südens kämpfen.
Faulkner bewarb sich bei der US-Armee, um im Zweiten Weltkrieg mitzukämpfen, wurde aber wieder abgelehnt. 1948 erschien der Roman „Griff in den Staub“, der kurz nach Erscheinen in Faulkners Heimatort Oxford verfilmt wurde, was sehr zu seiner Popularität in Oxford beitrug. 1949 begann er eine Affäre mit der wesentlich jüngeren Schriftstellerin Joan Williams, der er auch als Ratgeber diente und der zahlreiche Reflexionen Faulkners zu seinem Werk zu verdanken sind. 1950 wurde ihm der Nobelpreis für seinen „machtvollen und unabhängigen künstlerischen Beitrag zur neuen Erzählliteratur Amerikas“ verliehen. Die Nachricht erreichte ihn beim Düngen auf der Farm.
Erst seine Tochter konnte ihn überreden, nach Stockholm zu fahren. Der Preis gelte nicht ihm als Person, sondern seinem Werk, sagte er und spendete einen Teil seines Preisgeldes einer Stiftung zur Unterstützung von Nachwuchsautoren, die bis heute den PEN/Faulkner Award for Fiction vergibt: „Wenn ich nicht gelebt hätte, würde mich jemand anders geschrieben haben: Hemingway, Dostojewski, wir alle. Der Künstler ist nicht von Wichtigkeit.“ Der Spiegel befand: „Der Süden mit seinen provinziellen Städten und der von Sonne bedrückten Unendlichkeit der Baumwollfelder, ein Land, erobert und geprägt von den Weißen, getränkt vom Schweiß der Neger, wird in Faulkners Romanen zu einer fast mythischen Landschaft, über der wie Gewitterschwüle ein schwerer Fluch zu lasten scheint“.
Ein „homerischer Provinzler“
In den Jahren nach der Nobelpreisverleihung wurden seine Werke deutlich moralischer – und wahrnehmungsstärker; er erhielt mehrfach den Pulitzerpreis und den National Book Award. Das als Drama verfasste „Requiem für eine Nonne“ ist die Fortsetzung von „Freistatt“ und hat die Sittlichkeit des Menschen zum Thema. 1957 und 1958 war Faulkner „Writer in Residence“ an der University of Virginia in Charlottesville, wo auch seine Tochter lebte und wo die Studenten dem gemeinhin wenig interviewfreudigen Romancier über 2.000 Fragen stellten, die samt Antworten auf 37 Tonbändern konserviert wurden. Ihm seien alle seine Bücher „vollständig misslungen“, und dies sei für ihn „der einzige Grund, Neues zu schreiben, denn das Schreiben selber ist wahrhaftig kein Vergnügen“, heißt es da. Oder „Ich glaube nicht, dass ein College dazu verhilft, Schriftsteller zu werden; ebenso wenig hindert es daran, Schriftsteller zu werden.“
Seinen letzten Roman „Die Spitzbuben“ schrieb er 1961 innerhalb weniger Wochen. Nach einem Pferdesturz kam der begeisterte Reiter, Jäger und Flieger am 5. Juli in eine Klinik und starb dort am Folgetag an einem Herzinfarkt, der auf eine Thrombose als Folge des Reitunfalls zurückgeführt wurde. In Deutschland, wo er in Ost und West verlegt wurde, beeinflusste er wesentlich das Schaffen von Heinrich Böll, Alfred Andersch, Uwe Johnson und Peter Handke. Sein vielschichtiges Gesamtwerk gebe „den geistig-kulturellen Untergang des Südens sowie den wachsenden Einfluss skrupelloser Aufsteiger nach dem Bürgerkrieg“ sowie „die Dekadenz ehemals angesehener Südstaatenfamilien und die Gegensätze zwischen weißen und schwarzen Einwohnern“ wieder, weiß der Brockhaus. Romancier Arno Schmidt, in Vulgärsprache wohlgeübt, hat als sechzehnter seine 15 Übersetzer-Vorgänger allesamt an Fertigkeit übertroffen.
„Der Schriftsteller ist nur seiner Kunst gegenüber verantwortlich. Er wird völlig gewissenlos sein, wenn er ein guter Schriftsteller ist. Er hat einen Traum. Der ängstigt ihn so sehr, dass er ihn loswerden muss. Er hat keinen Frieden bis zu diesem Augenblick. Er wirft alles über Bord: Ehre, Stolz, Anstand, Sicherheit, Glück – alles, um das Buch fertig zu bekommen“, behauptete Faulkner. „Wenn ich die Wahl habe zwischen dem Nichts und dem Schmerz, dann wähle ich den Schmerz“, ist eine seiner vielen Lebensweisheiten. In deutschen Kritiken ist von „stenographischer Poesie“ eines „homerischen Provinzlers“ zu lesen, ja eines cholerischen, „menschenfeindlichen und hoffnungslos bornierten literarischen Hinterwäldlers“. Er sei so widersprüchlich wie seine Figuren, meinte Tom Noga im DLF. Das kann man so stehen lassen.