„ein Roman der Desillusion“
28. September 2022 von Thomas Hartung
Drei unsterbliche Figuren hat er in die Weltliteratur eingeführt: „Don Quijote“, den verarmten Land-edelmann aus der Mancha, der „wider jeglichen Verstands“ auf seiner alten Stute Rosinante gegen die Ungerechtigkeit zu Felde zieht und einer goldenen Vergangenheit nachtrauert; seinen erdverbundenen Schildknappen Sancho Pansa, ohne dessen Realitätssinn er keines seiner Abenteuer überstanden hätte; und das etwas einfältige Bauernmädchen Dulcinea, das er als seine „Minneherrin“ vergöttert. Mit diesen Gestalten hat der spanische Schriftsteller eines der berühmtesten und meist übersetzten Bücher geschaffen, ja für viele den modernen westlichen Roman begründet: Miguel de Cervantes, der am 29. September vor 475 Jahren als drittes von sieben Kindern verarmter Adliger in Alcalá de Henares geboren wurde.
Der Sohn eines Wanderchirurgen studierte Theologie an den Universitäten von Salamanca und Madrid, wo er die Schriften des Aristoteles und des Erasmus von Rotterdam kennenlernte. Erste Gedichte erscheinen 1568 in einer Sammlung zum Andenken an die spanische Königin Elisabeth von Valois. Im Jahr darauf begleitet er vermutlich als Kammerdiener den späteren Kardinal Claudio Aquaviva nach Rom, wo er sich bald gründliche Kenntnisse der italienischen Sprache und Literatur aneignet. Die italienischen Erfahrungen hinterließen vor allem in seinem Novellenwerk deutliche inhaltliche und stilistische Spuren. Noch im gleichen Jahr trat er als unvermögender Hidalgo, dem kaum andere Karrierewege offenstanden, in eine in Neapel stationierte Einheit der spanischen Marine ein.
1571 kämpfte er in der Schlacht von Lepanto gegen die Türken und erhielt drei Schusswunden, darunter eine in den linken Unterarm. Dadurch blieb seine linke Hand dauerhaft gelähmt. Später schrieb er, er habe „die Fähigkeit, seine linke Hand zu bewegen, zum Ruhme seiner rechten verloren“. Nach weiteren Jahren in der spanischen Marine wurde Cervantes, als er sich im September 1575 an Bord einer Galeere auf der Heimreise befand, nach einem Angriff algerischer Korsaren als Sklave nach Algier verschleppt. Erst nach fünf Jahren und vier erfolglosen und halsbrecherischen Fluchtversuchen wurde er von Familie und Freunden freigekauft.
Als Steuereinnehmer inhaftiert
Nach seiner Rückkehr scheitern langfristig alle Versuche, seine Existenz wirtschaftlich abzusichern. Auch seine Arbeit als Schriftsteller ist finanziell zunächst wenig lukrativ, so dass er zwischen 1580 und 1582 als Soldat an den Kriegszügen Spaniens nach Portugal und auf die Azoren teilnimmt. 1584 heiratete er die 18 Jahre jüngere Catalina, Tochter eines wohlhabenden Bauern, von der er sich nach wenigen Jahren wieder trennt. Diese Verbindung blieb kinderlos, doch hatte er aus einer Affäre mit der Schauspielerin Ana Franca de Rojas eine Tochter, Isabel de Saavedra. In dem nach 1582 ohne größere Beachtung aufgeführten und erst 1615 veröffentlichten Theaterstück „Los tratos de Argel“ verarbeitete er seine Erfahrungen aus der Gefangenschaft.
Von seinem frühen dramatischen Schaffen, einer Reihe von über 20 „Comedias“, bleibt kaum etwas erhalten. Der Schäferroman „Die Galatea“ trägt ihm 1585 zwar einen gewissen literarischen Ruf ein, doch bleibt der Verkaufserlös gering. Cervantes verdient sich seinen Lebensunterhalt als Proviantkommissar der spanischen Flotte in Andalusien und schließlich als Steuereinnehmer in Granada und Malaga. Er erweist sich als wenig erfolgreich; seine Methoden resultieren in Defiziten. Da die Bauern nur leere Scheunen vorweisen konnten und er sich auch am Kircheneigentum vergriff, wurde er von einem Inquisitionsgericht exkommuniziert, und er kommt mehrmals für kurze Zeit ins Gefängnis.
Hier beginnt er den ersten Teil des „Don Quijote“, dessen Held in tragisch-komischer Weise versucht, in einer veränderten Welt nach den Regeln des Rittertums zu leben, und den er auch selbst illustriert. Der Roman hat über die Jahrhunderte vielfältige Interpretationen erfahren: So wurde das Werk nicht nur als Parodie auf die Ritterromane der damaligen Zeit gesehen, sondern auch als Darstellung eines heroischen Idealismus, als Traktat über die Ausgrenzung des Autors selbst, als Geschichte eines Scheiterns oder als Kritik am spanischen Gesellschaftssystem. Es besteht in der Literaturwissenschaft bis heute kein Konsens über die eigentliche Aussage des Romans.
Die Dualität zwischen dem kleinen Dicken und dem großen Dünnen ist in der modernen Literatur seitdem immer wieder zu finden. Don Quijotes Kampf gegen die Windmühlen ist die bekannteste Episode des Romans. Sie spielt im Original nur eine untergeordnete Rolle, ist aber in den meisten modernen Bearbeitungen des Stoffes zentral. Einer häufigen Interpretation zufolge war das 17. Jahrhundert von diesem ausweglosen Kampf des Don Quijote gegen die gnadenlose Maschine fasziniert, weil der rasante technische Fortschritt damals den Machtverlust der Aristokratie vorantrieb. Die lächerliche Auflehnung des Junkers gegen Windmühlen war dafür das ideale Symbol. Der Roman brachte seinem Verfasser zwar den ersehnten Erfolg, doch verlor Cervantes das dadurch gewonnene Geld wieder.
„Roman der Desillusion“
Im Juli 1613 trat er der säkularen franziskanischen Bruderschaft bei und veröffentlichte die „Exemplarischen Novellen“, die als erste Novellen spanischer Sprache gelten, sehr erfolgreich wurden und bis heute aufgelegt werden. Darin greift er bevorzugt Themen des spanischen Alltagslebens auf, mit teils didaktischer, teils unterhaltsamer Tendenz. Die außergewöhnlichste der Novellen ist „Das Gespräch der Hunde“. Der zweite Teil des Quijote kam 1615 auf den Markt. In seinem Todesjahr vollendete er noch den Roman „Los Trabajos de Persiles y Sigismunda“, bevor er verarmt am 22. April 1616 in Madrid starb. Sein Grab auf dem Gelände des Klosters der Unbeschuhten Trinitarierinnen im Literatenviertel der Stadt wurde trotz aufwändiger Suche bis heute nicht eindeutig identifiziert.
Cervantes gilt bis heute als spanischer Nationaldichter, als Luther und Goethe in einer Person. Der wichtigste Literaturpreis der spanischsprachigen Welt ist nach ihm benannt. Auch mehrere Theater tragen seinen Namen. Die 10-, 20- und 50-Cent-Münzen der spanischen Euromünzen tragen eine Cervantes-Abbildung. 1877 wurde ihm in Valladolid ein Denkmal gesetzt. Die internationale Cervantes-Literatur ist kaum mehr überschaubar. Vincent Sherman inszenierte 1967 mit „Cervantes – Der Abenteurer des Königs“ eine Filmbiografie nach dem Roman von Bruno Frank mit Horst Buchholz in der Titelrolle.
Der Quijote ist vielfach adaptiert, dramatisiert, vertont und verfilmt worden. Wieland, Schlegel und Kafka bezogen sich auf ihn; Bulgakow brachte ihn auf die Bühne; Telemann, Salieri und Ravel widmeten ihm Suiten, Opern und Lieder; und nach der ersten Verfilmung mit Pat und Patachon 1926 wurde er von Fjodor Schaljapin, Rex Harrison und selbst Christoph Maria Herbst sowie in einer Musicalfassung von Peter O’Toole verkörpert. Für Carlos Fuentes hat der Roman erstmals „ermöglicht, uns selbst zu verlassen und die Welt zu erschließen, und zwar mit Sinn für Ironie und Humor. Es ist ein Roman der Desillusion, der ambivalenten Wirklichkeit, ein Roman der Reise, der Dynamik, der Bewegung vom Verstand zum Wahnsinn.“