Der eiserne Feldherr
2. Oktober 2022 von Thomas Hartung
Nachdem seine Verlobte 17jährig an Tuberkulose verstorben war, trauerte er acht Jahre, bevor er eine andere Frau heiratete – und sandte bis an sein Lebensende jedes Jahr zu ihrem Todestag einen Kranz an ihr Grab. Er war vielfacher Ehrendoktor, mehrhundertfacher Namenspate von Straßen und Plätzen, ihm wurden allein 3824 Ehrenbürgerschaften zuteil – von denen nach 1945 viele eine Umbenennung oder Aberkennung erfuhren, zuletzt 2020 in Berlin. Und er ist bis heute das einzige deutsche Staatsoberhaupt, das je vom Volk direkt gewählt wurde: Paul Ludwig Hans Anton von Beneckendorff und von Hindenburg, der am 2. Oktober vor 175 Jahren als erster von zwei Söhnen eines preußischen Offiziers und Gutsbesitzers und einer Arzttochter in Posen geboren wurde. Sein elf Jahre jüngerer Bruder Bernhard wird 1915 die erste Biografie des Soldatenpolitikers verfassen.
Ab 1859 besucht Hindenburg kurzzeitig das Gymnasium und wechselt dann – seine Militärlaufbahn ist vorgegeben – zur Kadettenanstalt in Wahlstatt und später nach Berlin. 1865 wurde er Königin Elisabeth, der Witwe des verstorbenen preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV., als Leibpage zugeteilt und im April 1866 als Leutnant in das 3. Garderegiment zu Fuß aufgenommen. Als solcher nahm er an der Schlacht von Königgrätz teil. Im Deutsch-Französischen Krieg ist er in der Schlacht von Sedan dabei, und er repräsentierte sein Garderegiment bei der Kaiserproklamation im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles. 1879 heiratete er die Offizierstochter und Philanthropin Gertrud von Sperling und bekommt mit ihr zwei Töchter und einen Sohn. Ein weiterer Sohn wird 1881 tot geboren. Hindenburg sah in seiner Frau, wie er selbst schrieb, „eine liebende Gattin, die treulich und unermüdlich Freud und Leid, alle Sorge und Arbeit mit mir teilte und so mein bester Freund und Kamerad wurde“.
Die nächsten 40 Jahre verfolgte er nach dem Besuch der Berliner Kriegsakademie, die er mit der Qualifikation für den Generalstab verließ, seine Militärlaufbahn an wechselnden Orten. 1877 wurde er in den Großen Generalstab versetzt und gehörte 1888 zu den Offizieren, die am aufgebahrten Leichnam Kaiser Wilhelms I. Totenwache hielten. 1890 leitete er die II. Abteilung im Kriegsministerium und wurde im Jahr darauf Oberstleutnant. 1893 kommandierte er das Oldenburgische Infanterieregiment Nr. 91, ein Jahr später wurde er zum Oberst befördert. 1896 wurde er Chef des Generalstabes des VIII. Armee-Korps in Koblenz und im Jahr darauf zum Generalmajor ernannt. 1900 folgte seine Beförderung zum Generalleutnant und die Ernennung zum Kommandeur der 28. Division in Karlsruhe. 1903 wurde er zum Kommandierenden General des IV. Armee-Korps in Magdeburg ernannt und 1905 zum General der Infanterie befördert. Zuletzt im Rang eines Kommandierenden Generals in Magdeburg, nimmt er 1911 Abschied aus dem Militärdienst und lässt sich in Hannover nieder.
Mythos des „Siegers von Tannenberg“
Drei Wochen nach Beginn des Ersten Weltkriegs wird Hindenburg reaktiviert und übernimmt die 8. Armee als Oberbefehlshaber mit Erich Ludendorff als Stabschef, „weil ihm im Gegensatz zu seinem Vorgänger die überlegene Ruhe des Gewährenlassens gegenüber dem eigenwilligen, energisch kraftvollen neuen Chef zugetraut wurde“, so Hindenburgs Biograph Werner Conze. „Ludendorff blieb im Kriege stets der erste Mitarbeiter Hindenburgs, überragte ihn aber in der Führungskunst an Entschlusskraft und Arbeitsleistung. Er prägte Hindenburg seinen Willen sowohl militärisch wie politisch auf, ohne dass Hindenburg dies als Fremdbestimmung empfunden hätte; denn militärisch kamen beide erfahrenen Generalstäbler aus Schlieffens Schule und fanden sich auch politisch in gleicher Gesinnung zusammen.“
Beide schlugen die nach Ostpreußen eingedrungene russische Narew-Armee in einer Umfassungs- und Vernichtungsschlacht vom 26. bis zum 30. August 1914. Dieser Sieg begründete Hindenburgs außerordentliches Prestige, das ihn im weiteren Verlauf des Krieges zum mächtigsten Mann in Deutschland machen sollte. An diesem politischen Mythos, der sich um seine Person und den Sieg ranken sollte, arbeitete er selbst aktiv mit und setzte unmittelbar nach der Schlacht durch, dass sie nach dem vom Kampfgeschehen am Rande betroffenen Ort Tannenberg genannt werden sollte. Denn in der Schlacht bei Tannenberg – auch: Schlacht bei Grunwald – hatte 1410 ein polnisch-litauisches Heer den Deutschen Orden vernichtend geschlagen, eine „Scharte“, die Hindenburg durch die Namensgebung auszuwetzen versuchte.
Der triumphale Sieg brachte ihm die Ernennung zum Generalfeldmarschall, die Verleihung des Sterns zum Großkreuz des Eisernen Kreuzes und 1915 die Ehre der damals größten deutschen Nagelfigur in Berlin. Mit dem Mythos des „Siegers von Tannenberg“ erhält Hindenburg das Oberkommando über alle deutschen Truppen der Ostfront (OberOst) und übernimmt 1916 mit Ludendorff als Erstem Generalquartiermeister die Oberste Heeresleitung (OHL). Sie gewann schnell an Einfluss auf die Politik des Deutschen Reiches und entmachtete praktisch Wilhelm II. Hindenburg war dabei (mit)verantwortlich für entscheidende Weichenstellungen im Krieg wie die Eröffnung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges, die Ablehnung eines Verständigungsfriedens und die Diktatfrieden von Brest-Litowsk und Bukarest.
Die Machtfülle von Hindenburg und Ludendorff war so groß, dass verschiedene Zeitgenossen wie unter anderem Max Weber von einer regelrechten „Militärdiktatur“ sprachen. Andere Historiker weisen dagegen darauf hin, dass die Machtausübung der OHL nicht im strengen Sinne als Militärdiktatur gewertet werden könne, da sie die politische Führung nie verantwortlich übernommen habe und durchaus auch innenpolitisch an Grenzen gestoßen sei, und sprechen von einer Sonderform der charismatischen Herrschaft. Die dem „Vaterländischen Hilfsdienstgesetz“ von 1916 zugrundeliegenden Vorbereitungen deckte Hindenburg mit seinem Namen und drängte auf die Entlassung des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg.
Ende September 1918 fordert die OHL nach dem Scheitern der Frühjahrsoffensive sofortige Waffenstillstandsverhandlungen und eine parlamentarische Regierung. Am 9.11.1918 riet Hindenburg zum Übertritt Wilhelms II. nach Holland, woraus unerquickliche Kontroversen, eine Vertrauenskrise zwischen dem ehemaligen Kaiser und ihm sowie ein lebenslanges Trauma Hindenburgs folgten. Der Übergang von der Monarchie zur Republik gelang unter den Bedingungen der Niederlage, materieller Not und Revolutionsgefahr verhältnismäßig reibungslos. Hindenburg, geachtet vom größten Teil des Volkes und der Front, wurde von Friedrich Ebert und der SPD-Mehrheit für unentbehrlich gehalten, drängte am 10. November auf schnelle Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrags und stellte sich der neuen Regierung zur Verfügung, um das Frontheer geordnet zurückzuführen und, mit Hilfe der Arbeiter- und Soldatenräte, Ruhe und Ordnung aufrechterhalten zu helfen.
„von hinten erdolcht“
Mit Abschluss des Versailler Vertrages im Juli 1919 gewährte Reichspräsident Ebert Hindenburg auf dessen Wunsch den Abschied. Vor dem Untersuchungsausschuss für die Schuldfragen des Weltkrieges der Weimarer Nationalversammlung verbreitete Hindenburg am 18. November 1919 die „Dolchstoßlegende“, deren Text wahrscheinlich der deutschnationale Politiker Karl Helfferich in Absprache mit Ludendorff verfasst hatte: Ein Sieg über die Entente wäre danach möglich gewesen, „wenn die geschlossene und einheitliche Zusammenwirkung von Heer und Heimat eingetreten wäre“. Dass sie nicht eingetreten sei, sei darauf zurückzuführen, dass „die deutsche Armee […] von hinten erdolcht“ worden wäre, eine Metapher, die er dem englischen General Frederick Maurice zuschrieb – dem sie von der NZZ fälschlich in den Mund gelegt worden war. Die Entscheidung, den Waffenstillstand abzuschließen, kam aber nicht von der revolutionären Regierung, sondern war noch vor der Novemberrevolution von der letzten kaiserlichen Regierung getroffen worden.
Der General, der sich erneut nach Hannover zurückgezogen hatte, das ihn im August 1915 zum Ehrenbürger ernannt und ihm im Oktober 1918 im Zooviertel eine Villa zum lebenslangen Nießbrauch überlassen hatte, unternahm viele Reisen durch das Reich, besonders durch Ostpreußen, wo er sich als Befreier Ostpreußens einer großen Popularität erfreute. 1921 wurde er Vorsitzender der Deutschenhilfe. Nachdem beim ersten Wahlgang zur Reichspräsidentenwahl am 29. März 1925 kein Kandidat eine absolute Mehrheit erreicht hatte, fragten die Rechtsparteien bei dem parteilosen Hindenburg eine Kandidatur an. Der 77-Jährige äußerte sich zunächst zögerlich, stimmte jedoch schließlich zu und wird mit einer relativen Mehrheit vor dem Kandidaten des Zentrums Wilhelm Marx gewählt. Er sollte ein von den demokratischen Parteien weitgehend anerkannter Präsident werden, dessen politische Amnestie von 1925 die umfangreichste in Deutschland bis 1932 wird.
Im antisemitischen Lager erntete Hindenburg 1927 Kritik, weil er sich für ein Staatsporträt von „dem Juden Liebermann“ malen ließ. Nachdem er 1930 den Young-Plan unterschrieben hatte, der von den rechtsradikalen Parteien als Verpflichtung zu jahrzehntelanger „Versklavung“ des Volkes hingestellt wurde, rückten seine ehemaligen politischen Freunde immer mehr von ihm ab. Hindenburg beschloss, die derzeit regierende Große Koalition unter Kanzler Hermann Müller (SPD) durch eine „antimarxistische und antiparlamentarische“ Regierung zu ersetzen. Die Gelegenheit hierzu ergab sich, nachdem die Große Koalition an der Frage des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung zerbrochen war: Ende März 1930 beruft er, ohne das Parlament einzuschalten, Heinrich Brüning zum Reichskanzler. Mit dieser Ernennung beginnt die Zeit der Präsidialkabinette.
„Mangel an Urteilskraft“
Widerwillig fügte sich Hindenburg 1932 der Tatsache, dass nur er noch für populär genug gehalten werden konnte, in der durch die Weltwirtschaftskrise polarisierten Gesellschaft gegen den aufstrebenden Hitler den Wahlsieg davonzutragen. Reichswehrminister Groener musste feststellen: „Der Alte vom Berge will sich nicht küren lassen, wenn nicht auch die Rechtser mitmachen“. Dass er, verglichen mit 1925, gleichsam mit verkehrter Front, das heißt von links und der Mitte gegen rechts gewählt wurde, hat er kaum verwinden können. Nachdem er im 2. Wahlgang mit der absoluten Mehrheit von 53% vor Hitler mit 37% und Thälmann mit 10% gewählt worden war, entlässt das zweite Kabinett Brüning und ernennt Franz von Papen zum Reichskanzler – lehnt jedoch im November 1932 Hindenburg eine befristete Diktatur Papens als Ausweg aus der staatspolitischen Krise ab.
Spätestens seitdem war er „dem Vorgehen Hitlers aus Mangel an Urteilskraft und Information mehr oder weniger hilflos ausgeliefert“, befindet Conze – obwohl er diesen anfangs abschätzig den „böhmischen Gefreiten“ nannte. Nach dem Zwischenreich mit Kurt von Schleicher als Reichskanzler beruft Hindenburg am 30. Januar Hitler zum Reichskanzler. Am 28. Februar ebnet er mit der Unterzeichnung der „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ den Weg in die nationalsozialistische Diktatur. Am 21. März 1933, dem sogenannten „Tag von Potsdam“, wurde der neu gewählte Reichstag in der Potsdamer Garnisonkirche, der Grablege Friedrichs des Großen, eröffnet: Durch eine Verneigung Hitlers vor dem greisen Reichspräsidenten wurde eine symbolträchtige Kontinuität zwischen der Kaiserzeit und dem Dritten Reich hergestellt und Hindenburgs hohes Ansehen für das neue Regime instrumentalisiert und vereinnahmt. Hindenburg reagierte zu Tränen gerührt auf die Huldigung Hitlers.
„In den letzten Lebensmonaten ist Hindenburg teils infolge Nachlassens seiner Kraft, teils infolge der von Hitler bewerkstelligten Isolierung schon mehr und mehr ausgeschaltet gewesen“, so Conze. Er verfasste noch ein „politisches Testament“, in dem er Hitler persönlich die Wiedereinführung der Monarchie empfahl. Mit seinem Tode sollte das Amt des Reichspräsidenten erlöschen, das auf Grund eines schon vorher verabschiedeten Gesetzes mit dem des Reichskanzlers vereinigt wurde – die Reichswehr leistet nun ihren Eid auf Hitlers Person. Hindenburgs längst erhoffter Tod am 2. August in Neudeck südlich von Danzig gab Hitler den Weg noch unbehinderter als zuvor frei. Er wird auf Hitlers Betreiben im Denkmal von Tannenberg beigesetzt. Anfang 1945 wurden nach einer Irrfahrt über Königsberg und Stettin seine Gebeine nebst vielen anderen historischen Relikten im thüringischen Bernterode eingelagert, dort von der US-Army entdeckt und nach Marburg gebracht. Dort fanden Hindenburg und seine Frau in der Nordturmkapelle der Elisabethkirche ihre letzte Ruhestätte.
Seiner Überzeugung nach stören Parteien den „Zusammenhalt der Nation“. Nach dem „Eisernen Kanzler“ Bismarck galt er als „Eiserner Feldherr“, ja „Ersatzkaiser“. Seine Bedeutung sei jedoch nach dem 1. Weltkrieg von einem großen Teil der Nation überschätzt worden, bilanziert Conze. 1925 – 33 sei er überfordert gewesen, „als er aus dem militärischen Bereich herauszutreten und eine politische Führungsrolle zu spielen genötigt war. Sein Ausharren im Dienst, inmitten einer weithin fremden, ja zum Teil von ihm missachteten Umwelt, hat zum Scheitern der demokratischen Republik beigetragen“. So war „der im Kriege gefeierte Feldherr als Greis in eine für ihn ausweglose Tragik verstrickt gewesen“. Die innere Einigung der Nation, wie sie angeblich bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 existiert hatte, konnte seiner Ansicht nach nur wieder gelingen, wenn die nationalsozialistische Bewegung mit eingebunden und so die völlig zerstrittene politische Rechte zusammengeführt werde. Das gelang – mit verheerenden Konsequenzen.