„Frisch, fromm, fröhlich, frei“
14. Oktober 2022 von Thomas Hartung
Der Vorgang ist bezeichnend für die verkrampfte deutsche Unfähigkeit eines angemessenen Umgangs mit der Historie: Weil „Leben und Wirken“ des Namensgebers „nicht dem Bildungsauftrag der Berliner Schule“ im Prenzlauer Berg entspreche, wird sie umbenannt. Seine Persönlichkeit sei Grundschulkindern „schwer vermittelbar“, habe er doch gerne vom Sport als dem Mittel der militärischen Ertüchtigung gesprochen. Doch der Sohn des Namensgebers, Bierbrauer Julius Bötzow, war ein höriger Nazi, seine Frau Ruth eine große Hitler-Verehrerin. Das Unternehmerpaar nahm sich 1945 gemeinsam das Leben aus Angst vor einer Zukunft ohne „Drittes Reich“. Den Namen Bötzow kann man also als vorbelastet bezeichnen. Seinen Namen dagegen nur, wenn man die Geschichte nicht verstanden hat: Johann Friedrich Ludwig Christoph Jahn, der am 15. Oktober 1852 in Freyburg starb.
Geboren wurde er am 11. August 1778 im Dorfe Lanz (bei Lenzen/Prignitz) in Brandenburg als Sohn eines protestantischen Pastors. Über seine kurze Schulzeit in Salzwedel ab 1791 und ab 1794 am Gymnasium in Berlin ist bekannt, dass er ein schwieriges Kind und kein guter Schüler war. Er fiel den Lehrern wegen seiner Schroffheit und seines selbstherrlichen Auftretens unangenehm auf, was wohl auch auf Probleme im Elternhaus deutet. Ohne Schulabschluss studierte er ab 1796 Theologie in Halle und trat dem geheimen studentischen Orden der „Unitisten“ bei. Die Ordenskonstitution verpflichtete zu Verschwiegenheit, Bruderliebe und -hilfe, Tüchtigkeit, Zurückhaltung bei Duellen und Studienfleiß.
Von Studienfleiß konnte bei Jahn jedoch keine Rede sein. 1799 las er versteckt in einer Höhle am Giebichenstein in Halle, heute „Jahn-Höhle“, den utopischen Staatsroman „Dya-Na-Sore oder die Wanderer“ von Wilhelm Friedrich von Meyern. Der Text über Nationalerziehung, Wehrpflicht und Bürgerbeteiligung am Staatswesen überzeugte Jahn, der das Buch als sein künftiges Glaubenskonzept bezeichnet haben soll. Er verfasste eine Schrift mit dem Titel „Über die Beförderung des Patriotismus im Preußischen Reiche“, die er in schlimmster Geldnot für 10 Taler an einen Studenten Höpffner verkaufte, unter dessen Namen sie 1800 erschien.
Als Student fiel Jahn wegen Streitsucht und Gewalttätigkeiten auf. Welche Vorkommnisse seiner Exmatrikulation 1802 vorausgingen, lässt sich nicht feststellen. Jahn setzte sein Studium zunächst unter falschem Namen an der damals schwedischen Universität Greifswald fort, an der er Vorlesungen der philosophischen Fakultät hörte, bevor er nach 13 Semestern die Universität ohne Abschluss verließ. Zwischen 1803 und 1809 hat er als Kurier und gelegentlich als Hilfslehrer gearbeitet. Er organisierte Wanderungen, Spiel- und Badenachmittage.
„Zerrissene Kleider und blutige Köpfe waren dabei alltägliche Erscheinungen. Abhärtung gegen jede Unbill der Natur, Übung aller Kräfte mit Hinwendung auf die Notwendigkeit, die deutsche Nation zu einer mannhaften, dem Feinde gewachsenen, wiederzuerziehen, war überall sein Augenmerk. Dabei hatte er von seinen politischen Absichten schon damals kein Hehl gemacht (…)“, berichtete ein Freund Jahns. 1806, nach dem Sieg Napoleons bei Jena und Auerstedt, hielt Friedrich Ludwig Jahn, der sich noch einmal ein Semester als Student versuchte, vor der Göttinger Studentenschaft eine politische Rede, auf der er zum ersten Mal öffentlich die Freiheit des Vaterlandes und Leibesübungen als Mittel der Charaktererziehung forderte. Er hatte sein Lebensthema gefunden.
erste deutsche Burschenschaft
1807 besuchte er den Pädagogen Guts Muths in Schnepfenthal (Thüringen), der dort Erzieher war und schon 14 Jahre zuvor eine „Gymnastik für die Jugend“ als Grundlage für die Leibeserziehung junger Menschen zu „würdigen Vaterlandsverteidigern“ geschrieben und neben seiner Schule den ersten Sportplatz in Deutschland hatte anlegen lassen. Der Besuch gab Ludwig Jahn einige Anregungen. 1809 ging Jahn nach Berlin, 1810 erschien seine Schrift „Deutsches Volksthum“, eine Sammlung dessen, was er über Deutschtum, Volk, Kultur, Vaterland, Nationalgefühl und Volkserziehung zusammengetragen hatte. In der Berliner Hasenheide ließ er 1811 den ersten öffentlichen Turnplatz in Deutschland anlegen.
Neben der Leichtathletik wurde das Turnen an den Geräten wie Pferd, Klettergerüst, Ringe und Schwebebalken, die er von den Philanthropen übernommen hatte, bevorzugt. Neu entwickelt hatte Jahn das Barren- und Reckturnen, aber ebenso zog er Schwimmen, Fechten und Wandern in seine Übungen ein, die alle sehr deutsche Namen haben: Bauchwelle, Kreuzbiege oder Affensprung. Bereits 1812 entstand aus dem losen Turnbetrieb eine fest organisierte Turngesellschaft mit Gesetz und Ordnung. Das Turnen wurde damit die erste öffentliche Einrichtung des organisierten politischen Nationalismus: „Dem ging es schlicht und einfach um die Schaffung einer Art jugendlich-männlicher Guerilla“, behauptet der Sporthistoriker Hans Joachim Teichler im WDR.
Zu den Besonderheiten der nationalen Turnbewegung, wie sie durch Jahn vertreten wurde, gehörten die Aufhebung ständischer Schranken im Umgang miteinander und das Tragen einheitlicher Turnkleidung: Ein grauer Drillichanzug. Seit 1813 setzte sich die Bezeichnung „Turnvater Jahn“ durch. Ein Zeitgenosse charakterisierte Jahn so: „Man sah ihn nicht viel anders als in seiner Turnkleidung mit nacktem Halse und unbedeckter kahler Glatze, die feinen Augen fest in die Weite gerichtet. Seine Ausdrucksweise war kurz, derb, oft voll selbstgeschaffener, aber sehr bezeichnender Worte. Sein Witz war in der Regel ebenso beißend, wie treffend; die Franzosen haßte er wüthend. Die turnende Jugend enthusiassmierte er und sie folgte ihm blindlings (…)“.
Mit dem Beginn der Befreiungskriege 1813 traten viele Turner, auch Friedrich Ludwig Jahn, als Freiwillige in das Lützowsche Freikorps ein. Nach erfolgreichem Ende des Krieges wurde Jahn für seine Verdienste ein Ehrensold zugesprochen, der ihn für den Rest seines Lebens absicherte und der Not eines Brotberufes enthob. Die nationale Turnbewegung begann sich jetzt erst richtig zu entwickeln. Auf der Berliner Hasenheide fanden regelmäßige Turnveranstaltungen statt. Nationale Ansprachen, Rezitationen und vaterländische Lieder umrahmten den Übungsbetrieb. Vorturner wurden ausgebildet und trugen den Sport in andere Regionen. 1815 gründeten Studenten – Turner und ehemalige Lützower – in Jena nach Jahns Ideen die erste deutsche Burschenschaft.
1816 veröffentlichte Friedrich Ludwig Jahn gemeinsam mit Ernst Eiselen „Die Deutsche Turnkunst“, ein Buch über das Turnen und die Ausstattung von Turnplätzen, das ein getreues Spiegelbild des Turnbetriebes auf der Berliner Hasenheide war und zum Bestseller wurde. Darin fand sich auch sein Turnerwahlspruch „Frisch, fromm, fröhlich, frei“. Jahn nannte darin etwa zahlreiche Laufarten: Das Rennen, den Schlängellauf, den Zickzacklauf, den „Rücklauf“ (Rückwärtslaufen) und den Sturmlauf hinauf auf eine Anhöhe. Alle Laufübungen konnten als Schnelllauf oder Dauerlauf und als Lastlauf mit Gepäck oder Lediglauf ohne Gepäck betrieben werden.
Jahn hielt Vorträge zum „deutschen Volkstum“ und beteiligte sich an den Vorbereitungen zum Wartburgfest 1817. Die Karlsbader Beschlüsse brachten Turner und Burschenschaftler jedoch in den Verdacht der Staatsfeindlichkeit. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. verbot 1819 das öffentliche Turnen in Preußen und schloss die Hasenheide. 1825 wurde Jahn gar wegen staatsfeindlicher Äußerungen verhaftet und in der Festung Kolberg inhaftiert. Jahn sagte rückblickend auf diese Verhaftung, dass er bei Anlegung der Ketten den „Glauben an die Menschheit“ verlor. Jahn wurde zu zwei Jahren Haft wegen „frecher Äußerungen gegen Staat und Verfassung“ verurteilt. In der Berufungsverhandlung konnte er einen Freispruch erwirken, erhielt aber ein Aufenthaltsverbot für Berlin und andere Universitäts- und Gymnasialstädte. Der Dichter E.T.A. Hoffmann, der nach 1814 als Richter am Kammergericht Berlin angestellt war, hatte mit über den Fall Jahn zu entscheiden gehabt und sich für ihn eingesetzt.
„Ehre, Freiheit, Vaterland“
Ludwig Jahn ging nach Freyburg/Unstrut und stand fortan unter polizeilicher Aufsicht. Das Turn- und Burschenschaftswesen agitierte im Geheimen weiter. Jahn nahm Kontakt zu Merseburger Gymnasiasten auf, weswegen er 1828 zeitweilig ins thüringische Kölleda verwiesen wurde. Mit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. wurde Jahn rehabilitiert, 1842 das öffentliche Turnen wieder zugelassen und Turnen als Schulfach eingerichtet. Aus den Anfangsbuchstaben des Turnerwahlspruches, den vier F, formte der Darmstädter Kupferstecher Heinrich Felsing 1843/46 das Turnerkreuz. Der fünfzig Jahre später gegründete sozialistische Arbeiter-Turnerbund wandelte das Jahnsche Motto in einen neuen Wahlspruch um: Frisch – Frei – Stark – Treu.
1848 wurde Ludwig Jahn im Merseburger Wahlkreis zum Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Seine 1849 gehaltene Parlamentsrede war eine Rückschau auf sein Lebenswerk: „Mein Schild führt drei Farben: Schwarz-rot und gold, und darin steht Ehre, Freiheit, Vaterland“. Das Revolutionäre, für das er einst gestanden hatte, ging ihm nun komplett ab: Der alte Turnvater trat in der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs als Verteidiger Preußens und der Monarchie auf. „Er war zu dieser Zeit völlig aus der Welt gefallen“, sagt Teichler dem Tagesspiegel.
Er wurde an der Stirnseite der ersten deutschen Turnhalle in Freyburg beigesetzt. Aus Anlass der Olympischen Spiele in Berlin 1936 wurden seine Gebeine umgebettet. Sie fanden ihre letzte Ruhestätte im Ehrenhof seines Wohnhauses, das er 1838/39 erbaut hatte und heute sein Museum beherbergt. „Zurück zu Jahn, es gibt kein besseres Vorwärts!“, lautete das Motto des ersten Turnfestes unter dem NS-Regime. Der Deutsche Turnerbund verleiht die Friedrich-Ludwig-Jahn-Plakette als höchste Auszeichnung. Die Initiative „Sport ohne Turnväter“ fordert bereits seit 2011 eine Umbenennung des Berliner Jahn-Sportparks, 2018 forderte der Bezirk Pankow den Berliner Senat auf, eine Namensänderung zu prüfen.
„Jahn wurde er in der DDR als Muster-Sozialist verehrt. Das war er bestimmt nicht. Vorher feierten ihn die Nazis als ‚arischen Soldaten‘. Das war er auch nicht. Aus heutiger Sicht war er eher ein grüner Fundi, wehrte sich gegen Autoritäten und […] gehört zu den Erfindern des typisch deutschen Gesundheitskults“, bilanzierte Gunnar Schupelius in der BZ. Galt er in der DDR als bürgerlicher Rebell, feierte ihn die Bundesrepublik als sozialen Pädagogen. Zeitgenossen nannten ihn einen „Romantiker der Tat“. Heinrich Heine verspottet seine Haltung als „idealistisches Flegeltum“. „Jedes politische Regime – von der Diktatur bis zur Demokratie – schuf sich sein eigenes Jahn-Bild“, so Oliver Ohmann auf den Seiten der Deutschen Sporthilfe. „Und es passte immer“.