„ein unerklärliches Genie“
26. Oktober 2022 von Thomas Hartung
„Eine dunkle Gestalt“, so erlebte Heinrich Heine den Violinisten, Bratschisten, Gitarristen und Komponisten, „die der Unterwelt entstiegen zu sein schien. In den eckigen Krümmungen seines Leibes lag eine schauerliche Hölzernheit und zugleich etwas närrisch Tierisches, dass uns bei diesen Verbeugungen eine sonderbare Lachlust anwandeln musste; aber sein Gesicht, das durch die grelle Orchesterbeleuchtung noch leichenartig weißer erschien, hatte alsdann so etwas Flehendes, so etwas blödsinnig Demütiges, dass ein grauenhaftes Mitleid unsere Lachlust niederdrückte.“
Der zeitgenössische Kritiker Ludwig Rellstab schrieb in seiner Besprechung: „Vielleicht hätte Goethes Mephisto die Violine so gespielt.“ Das wies Goethe in einem Gespräch mit Eckermann umgehend zurück „Nein […], der Mephistopheles ist ein viel zu negatives Wesen, das Dämonische aber äußert sich in einer durchaus positiven Tatkraft. Unter den Künstlern findet es sich mehr bei Musikern, weniger bei Malern. Bei ihm zeigt es sich im hohen Grade, wodurch er denn auch so große Wirkungen hervorbringt.“ Er habe in einem Konzert-Adagio „einen Engel singen gehört“, schrieb etwa Franz Schubert, der den Virtuosen 1828 in Wien hörte: Niccolò Paganini, der am 27. Oktober vor 240 Jahren in Genua als Sohn eines Instrumentenbauers zur Welt kam.
Nach eigenen Angaben erhielt Paganini bereits in frühester Kindheit Violinunterricht, unter anderem von seinem Vater, der ihn unter Androhung von Nahrungsentzug stundenlang zum Üben zwang. Seine einzigartigen Techniken entwickelte er wohl autodidaktisch. Eine Schule besuchte er nicht, begann aber bereits mit 12 Jahren, öffentlich als Violinist aufzutreten. 1795 bis 1797 lebte er mit seinem Vater in Parma, wo er sein Violinspiel vervollkommnete. Spätestens mit 15 Jahren komponierte er hier unter der Aufsicht zweier Lehrer einige Werke, darunter zwei heute verlorene Violinkonzerte.
Erstmals ohne den Vater reiste Paganini 1801 nach Lucca und bewarb sich dort erfolgreich um die musikalische Teilnahme am Hochamt von Santa Croce, worauf er Einladungen für weitere Konzerte erhielt. Für die nächsten Jahre liegen keine gesicherten biographischen Informationen vor. Möglicherweise bezieht sich Paganinis Geständnis jugendlicher Fehler wie der Leidenschaft für Glücksspiele auf diese Zeitspanne. Im Januar 1805 wurde Paganini zum Konzertmeister im Orchester der Republik Lucca ernannt und später, unter Fürstin Elisa Baciocchi, einer Schwester Napoleons, deren Kammervirtuose und Operndirektor. 1808 schickte sie Paganini zum Erfurter Fürstenkongress, wo er vor Napoleon und dem russischen Zaren spielte. Bis 1809 währte diese einzige feste Anstellung in Paganinis Leben. In dieser Zeit entstanden zahlreiche Werke für Violine und Orchester sowie für Violine und Gitarre.
„Zaubergeigerkünste“
Ab 1810 war Paganini nahezu ständig auf Konzertreisen innerhalb Italiens. 1820 wurden erstmals die „24 Capricci“ gedruckt. Technisch gehören sie mit zum Schwierigsten, was je für die Geige komponiert wurde. Sie sind kurz, zum Teil dauern sie keine zwei Minuten, und jede von ihnen hat ihre eigenen technischen Schwierigkeiten. „Jedes einzelne Stück behandelt einen gewissen geigerischen Aspekt, aber auch einen eigenen Charakteraspekt“, sagt der Violinist Thomas Zehetmair, Chefdirigent des Stuttgarter Kammerorchesters, dem BR. Sehr häufig nur als Zugabe gegeben wird die 24. und letzte der Capricen. Von ihr ließen sich viele andere Komponisten zu Bearbeitungen und neuen Werken inspirieren, wie beispielsweise Liszt, Brahms oder Rachmaninow. Paganini allerdings trug die Capricci nie in einem Konzert vor.
1824 begann Paganini in Venedig ein Verhältnis mit der Sängerin Antonia Bianchi, in Palermo kam 1825 der gemeinsame Sohn Achille zur Welt. Antonia reiste in den folgenden Jahren mit Paganini und trat in seinen europaweiten Konzerten auf. Paganini spielte ausschließlich eigene Werke: Sonaten, brillante Variationen oder eines seiner wenigstens sechs Konzerte – wie das berühmte zweite mit dem Beinamen „La campanella“, „das Glöckchen“. Als Paganini schließlich 1828 Italien verließ und sich zunächst nach Wien begab, eilten ihm bereits viele Gerüchte und der Ruf voraus, ein überragender Violinvirtuose zu sein, der seine Zuhörer durch seine „Zaubergeigerkünste“ verhexe.
Die Gerüchte wurden durch eine der zahlreichen Liebschaften befeuert: Paganini hatte nach einem Konzert in Genua eine 16-jährige Schneiderstochter entführt, sie geschwängert, sie erfolglos abtreiben lassen und sie anschließend verlassen. Die anschließenden Prozesse trugen dazu bei, dass sich um ihn eine Aura des Dämonischen bildete. Gerüchte tauchten auf: Bald hieß es, er habe das Mädchen in einer Klosterzelle verführt. Nur ein Mann, der mit dem Teufel im Bund stehe, könne an einer solchen Stelle so etwas tun. Bald wurde aus dem Abtreibungsversuch ein Mordversuch. Schließlich machten die Gerüchte aus ihm einen Folterer und Verführer auch weiterer unschuldiger Mädchen. Der Aphorismus „Die Tüchtigen werden beneidet, den Talentierten wird geschadet und die Genies werden gehasst“ wird ihm zugeschrieben.
In Wien feierten ihn Fachleute und Publikum enthusiastisch. Seine Konzerte wurden in allen Zeitungen besprochen, Korrespondentenberichte über seine Kunst gelangten auch nach Deutschland und Frankreich, Modezeitungen beschäftigten sich mit seinem angeblichen Lebenswandel, Gastronomie und Kleidermode wurden vom à la Paganini befallen, Gebrauchsgegenstände trugen sein Porträt, Gedichte und Possen mit dem Thema Paganini wurden veröffentlicht, Komponisten wählten für ihre Werke Melodien und Namen mit Anspielungen auf Paganini, und der österreichische Kaiser Franz I. verlieh ihm den Ehrentitel „Kaiserlicher Kammervirtuose“. Hier in Wien trennte sich Paganini von Antonia. Achille blieb – vertraglich geregelt – bei Paganini und wurde von ihm umsichtig gepflegt und betreut. Er sollte später sein Universalerbe werden.
„seine Seele dem Bösen verschrieben“
Gesundheitliche Probleme veranlassten Paganini, sich im Sommer 1828 zuerst nach Karlsbad und dann nach Prag in Behandlung zu begeben. Er wurde erfolgreich operiert und diktierte seine Biographie, von der er sich eine Widerlegung all der über ihn verbreiteten Gerüchte erhoffte. Über allem lag der Schatten lebenslanger Krankheit: Sein Arzt Bennati berichtete von einer frühen Masern-Enzephalitis, in späteren Jahren kamen Syphilis und eine Kehlkopftuberkulose hinzu, die ihm die Stimme raubte, und schließlich eine Nekrose des Unterkiefers. Die anhand zeitgenössischer Bilder und Beschreibungen erfassten körperlichen Merkmale Paganinis deuten daneben auf das Ehlers-Danlos-Syndrom hin, das zur Überbeweglichkeit der Gelenke führen kann. Er trug stets schwarze Kleidung und spielte auch mal ein Konzert für die Toten auf einem Freidhof.
Nach Prag folgten Konzerte in Deutschland, Polen, Frankreich, Großbritannien und Belgien. Die weit über dem Üblichen liegenden Eintrittspreise für seine Konzerte während der Deutschlandtournee hatten ihm ein gut angelegtes Vermögen eingebracht, das es ihm erlaubte, an vielen Orten Benefizkonzerte zu mildtätigen Zwecken zu geben, deren Erlöse er spendete. Im Dezember 1838 erlebte er in Paris die Uraufführung von Hector Berlioz‘ „Harold in Italien“. Er huldigte Berlioz auf offener Bühne, konnte aber wegen seines Kehlkopfleidens kaum mit ihm sprechen. Wenige Tage später schenkte er Berlioz 20.000 Franc. In Belgien wurde ihm angekreidet, dass er dilettantisch wirkende Sängerinnen in seinen Konzerten auftreten ließ, so Charlotte Watson, in die er sich in London verliebt hatte. Die Liaison mit ihr endete, wie alle Beziehungen Paganinis zu Frauen, unglücklich.
Für Franz Liszt hatte das Erlebnis von Paganinis Virtuosität in Paris besonders große Auswirkungen. Er entwickelte in der Auseinandersetzung mit seinen Werken und dessen Art, das Publikum zu faszinieren, seinen hochvirtuosen Klavierstil und wurde zu einem vergleichbaren Publikumsmagneten. In seinem „Nekrolog“ berichtete er: „Sein unerklärliches Genie wollte man nur durch noch unerklärlichere Tatsachen begreifen, und wenig fehlte zu der Vermutung, dass er seine Seele dem Bösen verschrieben und jene vierte Saite, der er so bezaubernde Weisen zu entlocken wusste, der Darm der Gattin sei, die er eigenhändig erwürgt habe.“ Der geradezu hysterische „Hype“ seiner Auftritte beim breiten Publikum überlagerte oft die Ernsthaftigkeit und Schönheit seiner Musik und seines Spiels.
„aus seiner innersten Natur“
1832 gewann er einen Urheber-Rechtsstreit: Inzwischen erschienen viele Plagiate, Imitationen und Arrangements. Am 12. Dezember 1835 wurde er in Parma Mitglied der Kommission des Hoforchesters, was einem heutigen Generalmusikdirektor nahekommt. Er führte Opern auf, kümmerte sich um eine Verbesserung des Instrumentariums und erarbeitete umfangreiche Entwürfe eines Reglements für das Herzogliche Orchester und für eine in dieser Stadt zu errichtende Akademie. Der Normenkatalog ging der Herrscherin Marie Louise allerdings zu weit ging, so dass Paganini 1836 seine Stellung wieder aufgab und erneut auf Konzertreisen ging, die im November 1839 in Nizza ihr Ende fanden. Hier hoffte er, das milde Klima Nizzas zur Linderung seiner vielen Beschwerden bei. Umsonst: Anfang Mai 1840 zwang ihn ein schwerer Anfall ins Bett. Seine Stimme war völlig vernichtet. Am 27. Mai 1840 starb er an einem Blutsturz.
Da Paganini auf dem Sterbebett keine mündliche Beichte mehr ablegen konnte und schriftlich nicht abgeben wollte oder konnte, wurde ihm nach bischöflicher Überprüfung ein christliches Begräbnis verwehrt. Sein Sohn Achille musste ihn einbalsamieren lassen. Es sollte 30 Jahre dauern, bis sein Sohn ihm nach einer makaber anmutenden Odyssee – gegen üppige Bezahlung – seinen letzten Wunsch erfüllen konnte. 1853 wurde Paganini im Friedhof von Gaione bei Parma begraben und 1896 auf den neuen Friedhof zu Parma umgebettet, wo er immer noch in einem stetig mit frischen Blumen geschmückten Grab ruht.
Paganini galt lange als der Inbegriff des romantisch-verklärten Künstlertypus, dem Franz Lehár mit seiner Operette „Paganini“ ein Denkmal setzte. „Das Seelenvolle, Begeisterte, wahrhaft Eigenthümliche in Paganini‘s Spiel strömt aus seiner innersten Natur. Die Gefühle und Empfindungen, die er im verwandten Busen erregen will, sind seine eigenen. In den Tönen seiner Melodien ist sein Leben rege und wach, finden wir stets sein Ich, seine Individualität. Die Trauer, die er empfunden, das Sehnen, das sein Wesen durchzieht, die Leidenschaft, die seinen Puls rascher jagt, sie alle fließen in seinen Vortrag über“, befand schon 1829 der Kritiker Carl Guhr.
In Paganinis Nachlass fanden sich 15 Violinen, zwei Violen, vier Violoncelli sowie eine Gitarre, die meisten von Stradivari, Guarneri und Amati. Vier Stradivari-Instrumente werden heute als „Paganini-Quartett“ bezeichnet und wechselnden Ensembles geliehen: Im September 2019 wurden sie für vier Jahre dem Goldmund Quartett zur Verfügung gestellt. 1954 gründete Paganinis Geburtsstadt Genua den Internationalen Paganini-Violinwettbewerb zur Förderung und Entdeckung junger Talente.
Über den Kinofilm „Der Teufelsgeiger“ schrieb die Münchner AZ: „Klaus Kinski hielt sich für die Wiedergeburt Paganinis, David Garrett aber ist es einfach“. Das spielt darauf an, dass Kinski 1989 einen Film über Paganini mit sich in der Hauptrolle gedreht hatte, damit aber keinen großen Erfolg feierte: Er hatte zu viel von seiner eigenen Biografie in den Film gepackt, Garret hingegen kann wirklich spielen, nicht nur Geige. Zu den unzähligen Komponisten, die Themen von Paganini bereits zu dessen Lebzeiten und erst recht danach verarbeiteten, gehörten neben Liszt Johann Strauss (Vater), Robert Schumann, Johannes Brahms, Sergei Rachmaninow, Andrew Lloyd Webber und in der Rockmusik Gitarrenvirtuose Yngwie Malmsteen.