Bühne frei für Diskurskontrolleure
14. Dezember 2024 von Thomas Hartung
Grünzertifizierte „Trusted Flagger“ sollen gegen „Hass und Hetze“ im Netz vorgehen, eine liberal definierte Kategorie „Sozialschädlichkeit“ gar ins Strafgesetzbuch gelangen. Wann kommen die Gulags?
Da aufgrund der sich hinziehenden Neuausrichtung des Tumult-Blogs meine Kolumne seit November noch nicht online ist, die Texte aber durchaus aktuell sind, publiziere ich sie zunächst hier.
„Ohne eindeutige Rechtsgrundlage, aber mit der eitlen Geste des Unterdrückungsapparats“, ärgert sich Fabian Nicolay auf achgut, wurden Anfang Oktober politische Instrumente offizialisiert, um gegen angeblich strafbare Inhalte in den sozialen Medien sowie der Realität vorzugehen. Zuerst verkündete freudig die Bundesnetzagentur, 1988 aus den Überbleibseln des Bundespostministeriums hervorgegangen, dass Deutschland mit der Meldestelle „REspect!“ ihren ersten „Trusted Flagger“ habe. Aufgabe dieser angeblich „vertrauenswürdigen Hinweisgeber“ sei es, das Internet auf „problematische Inhalte“ wie „terroristische Propaganda“ zu untersuchen und diese umgehend zu tilgen. Es handele sich dabei um die Umsetzung der von der EU verordneten „Digital Services Act“, also um die Bekämpfung illegaler Inhalte im Internet. Wie immer, wenn Politiker etwas bemänteln wollen, greifen sie „auf Euphemismen und Neologismen zurück, um ihre hässliche Anmaßung zu verhübschen“, ärgert sich Nicolay: „Trusted Flagger“ klingt einfach besser als „Platzverweiser“, „Meinungsfilterer“, „Denunzianten“, „Löschexperten“ „Diskurskontrolleure“, „Zensurbeauftragte“. Den „Sound eines Entsorgungs-Dienstleisters“ erkennt Andreas Rosenfelder in der WELT.
Eine politische Kultur aber, die vertrauenswürdige Fahnenträger benötigt, „riecht verdächtig nach Personenkult, Aufmarsch und Parade, Winkelement mit gesinnungsstaatlichem Ornament, Führung und Verehrung, Choreografie der Massen“, ärgert sich Nicolay und schreibt von der „Skelettierung der Debattenkultur“, ja der „Stummschaltung von Herrschaftskritik“. Einen Angriff auf die Meinungsfreiheit erkennt auch Beatrice Achterberg in der NZZ. Hintergrund: Digitale Plattformen wie Facebook, Instagram, Youtube und X (vormals Twitter) sind laut EU-Gesetz verpflichtet, Meldungen von sogenannten „Trusted Flaggern“ vorrangig zu behandeln und „unverzüglich Maßnahmen“ zu ergreifen. Das wäre schon für sich genommen riskant, selbst wenn es sich ausschließlich um illegale Inhalte handeln würde. Doch der grüne Habeck-Intimus Klaus Müller, Chef der Bundesnetzagentur, sprach nicht nur von Terrorpropaganda, sondern auch von „Hass“ und „Fake-News“. Doch darunter kann vieles fallen: „So unschön Hass ist, er ist nicht verboten. Falsch informiert zu sein, ist ebenfalls nicht verboten. Diese Schwammigkeit ist ein Einfallstor für staatliche Zensur“, meint Achterberg.
Solche Meldeportale widersprechen dem Grundgesetz, das Zensur verbietet. Nur Gerichte dürfen entscheiden, welche Aussagen strafbar sind und welche nicht – für Anzeigen wegen Beleidigungen oder Verleumdung ist die Polizei zuständig. Genau diese rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit droht außer Kraft gesetzt zu werden: Der Weg zwischen Prüfung und Löschung von Hassinhalten wird „verkürzt“, freut sich im SWR Petra Densborn, Vorstandsvorsitzende der Jugendstiftung Baden-Württemberg, zu der die Meldestelle als Teil des Demokratiezentrums Baden-Württemberg gehört. „Was uns sehr wichtig ist: dass wir den Prozess beschleunigen können und die Plattformen schneller reagieren müssen, wenn strafrechtlich relevante Inhalte gemeldet werden“. Will heißen: Über die strafrechtliche Relevanz entscheiden eben keine Gerichte mehr. Und: Bei den Trusted Flaggern handelt es sich nochmal nicht um vertrauensvolle Hinweisgeber, wie der Begriff nahelegt – sondern um Privatpersonen, die bei staatlich geförderten Organisationen arbeiten. „REspect!“ etwa wird indirekt vom grünen Bundesfamilienministerium finanziert – ein Verein, gegen den man nicht verwaltungsgerichtlich klagen kann.
Wie die aktivistischen Mitarbeiter – REspect-Chef Ahmed Gaafar ist Islamwissenschaftler – mit eingereichten Inhalten umgehen, die „Hass und Hetze“ oder „Desinformation“ gegen grüne Politiker oder grün besetzte Ministerien enthalten, lässt sich da leicht erahnen. Meldestellen, die unter dem Vorwand der vermeintlich wohlgesinnten Zivilgesellschaft gegen Äußerungen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze vorgehen, sind nichts anderes staatlich geförderte Zensurapparate – einen „Vorstoß zum staatlich gelenkten Schutz der Demokratie“ erkennt Nicolay, der „vertrauenswürdige Hinweisgeber“ stelle sich schnell als „regierungstreuer Denunziant“ dar: „Der Digital Services Act DSA entpuppt sich zunehmend als Brüssels Ermächtigungsgesetz zur Einhegung unbequemer Demokratie statt zu ihrer Bewahrung und Förderung.“ Denn dass der DSA Anreize für ein sogenanntes „Overblocking“ setzt, also nahelegt, „eher ein bisschen zu viel als ein bisschen zu wenig zu löschen“, muss selbst Götz Hamann in der ZEIT zugeben. „Ein weiteres Beispiel dafür, wie die Freiheit zentimeterweise stirbt“, ärgert sich der Staatsrechtler Volker Boehme-Nessler im Cicero. Die Regierung gehe nicht den rationalen, sondern den „repressiven Weg“, indem sie das politische Strafrecht verschärft.
„Aufforderung zur Denunziation“
Die Bundesnetzagentur samt Chef Müller sind zuletzt vor allem im Zusammenhang mit der Energiewende präsent gewesen. Die Behörde ist nämlich für sehr unterschiedliche Netze zuständig, etwa für die deutschen Stromnetze, das Telefonnetz, den Zugang zum Schienennetz und die Marktregulierung der Postanbieter. In dem riesigen Gebilde sitzt auch der Digital Services Coordinator, der die Zulassungen an die Trusted Flagger erteilt – zurzeit demnach Müller. Und der hat den Anwendungsbereich weiter gefasst als „nur“ gegen illegale Inhalte, gegen die sich die Digital Services Act eigentlich richtet. Sie trat im November 2022 in Kraft und gilt in Deutschland unmittelbar. Bürgern wird ein „besserer Schutz ihrer Grundrechte“ versprochen, Anbietern Rechtssicherheit und EU-weit einheitliche Regeln. Auch „der Gesellschaft insgesamt“ wird etwas versprochen: strengere „demokratische Kontrolle“ und Aufsicht über Plattformen, Minderung von Risiken wie Manipulation oder Desinformation.
„Illegale Inhalte, Hass und Fake News können sehr schnell und ohne bürokratische Hürde entfernt werden. Das hilft, das Internet sicherer zu machen“, sagt Müller in einer Erklärung – und stößt damit auf Widerstand bei Juristen. „Die Aussage von Müller ist verfassungswidrig“, sagt etwa Boehme-Nessler der NZZ. „Hass und Hetze sind großteils erlaubt, soweit sie von der Meinungsfreiheit gedeckt sind, ebenso Fake News.“ Sogar verfassungswidrige Meinungen seien von der Meinungsfreiheit gedeckt, wie das Bundesverfassungsgericht klargestellt habe. Das Vorgehen passe in die Einschüchterungspolitik der Bundesregierung im Bereich der Meinungsfreiheit. „Das ist eine Aufforderung zur Denunziation“, so Boehme-Nessler. „Dafür wurden wir stark kritisiert und haben präzisiert, was damit gemeint war: illegale Inhalte, illegale Hassrede, illegale Fake News“, rechtfertigt sich Müller in einem seltsam mäandernden Interview in der WELT.
Was bisher privatwirtschaftlichen Unternehmungen überlassen wurde, soll ab sofort also einen staatlich-offiziellen Rahmen bekommen. Die Bundesnetzagentur hatte dazu bereits im Mai dieses Jahres einen vielsagenden Leitfaden herausgegeben, mit dem die Anforderungen an „Trusted Flagger“ festgelegt werden – als zertifizierte Meldestellen, die nicht nur Denunziationen von Nutzern annehmen, sondern selbst auch aktiv das Netz auf Missverhalten durchsuchen und Löschungen delegieren. Der „Leitfaden zur Zertifizierung als Trusted Flagger gemäß Artikel 22 Digital Services Act“ gibt an, es ginge um „überwachen“ und „aufspüren“. Es werden auch Schulungen vorgeschlagen, „um ihr Verständnis für technische Werkzeuge und die Überwachung der Plattform zu verbessern.“ Strukturen und Methoden einer professionalisierten Zensurindustrie werden hier im großen Stil angeleitet. Was Regierung und Staatsanwalt aber als Hass und Hetze bezeichnen, „ist in vielen Fällen nicht demokratiefeindlich, sondern Machtkritik, ohne die es keine Demokratie geben kann“, so Boehme-Nessler. „Wie sich das mit dem Grundgesetz verträgt, ist das Geheimnis der Ampel-Regierung.“
„Rolle eines Schlüsseldokuments“
Laut dem Leitfaden können auch solche Inhalte geprüft, gemeldet und entfernt werden, die „negative Auswirkungen auf den zivilen Diskurs oder Wahlen“ haben. Unter einem Unterpunkt wird konkretisiert, dass das etwa „Ausländische Informationsmanipulation und Einmischung“ betreffen würde. Doch wer trifft diese Entscheidungen – wer bestimmt, ob ein Inhalt Wahlen oder Diskussionen beeinflusst? Eine Antwort liefert der Leitfaden nicht. Wie problematisch sich diese Unschärfe auswirken kann, zeigt ein Fall des bayrischen Verfassungsschutzes. Dieser musste kürzlich seinen eigenen Bericht korrigieren, da er fälschlicherweise mehreren Medienmarken die Verbreitung „russischer Narrative“ unterstellt hatte. Das Beispiel zeigt, dass Behörden im Kampf gegen ausländische Informationsmanipulation durchaus irren können. Dass die Mitarbeiter von Meldestellen nicht ähnlichen Fehleinschätzungen unterliegen würden wie der Verfassungsschutz, ist fraglich. Der Verfassungsrechtler Josef Franz Lindner schrieb auf X über den Leitfaden: „Wenn man später einmal den Niedergang der Meinungsfreiheit in Deutschland und den Einstieg in den Zensurstaat rekonstruieren will“, werde dem Leitfaden zu den Trusted Flaggern „die Rolle eines Schlüsseldokuments zukommen“.
Ein vorschnell gelöschter Inhalt käme nämlich einer Zensur im Internet gleich. Es läge dann am Nutzer, den Rechtsweg zu beschreiten – wofür er Ressourcen braucht. „Es geht hier um Säuberung des Internets, und das ist ein Problem“, sagt Boehme-Nessler. Und ein Problem sei auch, „dass Privatpersonen für eine Aufgabe eingespannt sind, der sie eigentlich nicht gewachsen sind“. Meldestellen, die unter dem Vorwand der vermeintlich wohlgesinnten Zivilgesellschaft gegen Äußerungen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze vorgehen, sind nichts anderes staatlich geförderte Zensurapparate, moniert Achterberg. Es ist kaum überraschend, dass der Freiheitsindex im Jahr 2023 zeigte, dass 44 Prozent der Befragten überzeugt sind, dass es besser sei, sich in der Öffentlichkeit nur vorsichtig zu äussern. Im Jahr 1990 stimmten noch 78 Prozent der Aussage zu, dass man in Deutschland frei sprechen könne. Meldeportale und „vertrauenswürdige Melder“, egal wie blumig ihre Etiketten sein mögen, würden dieses Gefühl weiter befeuern.
Eine „in Deutschland vorherrschende, beklemmende Lust an der Kontrolle Anderer, eine Freude an der Denunziation, die noch vor wenigen Jahren der Vergangenheit anzugehören schien“, moniert David Boos auf Tichys Einblick. Zudem ist zu erwarten, dass innerhalb der „Trusted Flagger“ keine Binnenpluralität in dem Sinne existieren wird, dass von Sympathisanten der AfD bis zur Linken alle relevanten Parteien ihre jeweils „eigenen“ „Trusted Flagger“-Organisationen erhalten werden, prophezeit Ralf Höcker in der Jungen Freiheit. „Man muss kein Verschwörungstheoretiker und kein Hellseher sein, um zu erahnen, dass gewisse Flagger eben nicht das Prädikat ‚trusted‘ erhalten sollten.“ Der deutschen Piraten-Politikerin Anja Hirschel wird der Satz zugeschrieben: „Erlaube deiner liebsten Regierung nur das, was du auch der am schlimmsten denkbaren Regierung erlauben würdest!“
Im Widerspruch zum Grundgesetz, das festlegt, „eine Zensur findet nicht statt“, gründen die Parteigenossen Habeck und Müller eine zusätzliche Ermittlungsbehörde an den bestehenden staatlichen Behörden vorbei, befindet Nicolay. Das professionelle Schnüffeln und Ausspähen von Bürgern gegen Bürger soll hier organisiert und administriert werden. Staatsrechtliche Eingriffe in die Gewaltenteilung sind jedoch verfassungswidrig: Insofern ist eine parallele Judikativ-/Exekutivgewalt „REspect“ ein riesiger Skandal. Müller sagt, man tue das, damit der Bürger wieder „sicher“ und „fröhlich“ im Internet unterwegs sein könne. „Nun wusste ich bislang nicht, dass die Absicherung meines persönlichen Gemütszustandes bei Nutzung digitaler Datenwege inzwischen ein Regierungsauftrag ist. Die Sicherung der allabendlichen Nachhausewege von Frauen in Bussen und Bahnen wäre in meinen Augen zudem ein weit dringenderer Auftrag an die Staatsgewalt, als die Frage, ob man mich vor legalen Inhalten im Netz beschützen müsste, die ich mit einem Mausklick wegschalten kann“, so Birgit Kelle auf Nius.
„polit-puritanische Rechthaberei“
Der Staat baue sich, grimmt Kelle weiter, „ein System von abhängigen und beauftragten, willigen Erledigern, die ihnen die Drecksarbeit abnehmen und ihnen helfen, jene Kritiker kaltzustellen, denen man mit anderen Mitteln nicht beikommt.“ Gleichzeitig behaupte die Regierung, keine Zensur auszuüben. Das sei richtig, schreibt Kelle. Man lasse es andere tun, fügt sie hinzu. Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Kubicki (FDP) sprach im Cicero von einer „grünen Zensuranstalt, die den Meinungskorridor einseitig einschränkt“, ja einem „direkten Angriff auf die freie Rede. Und das darf niemand schulterzuckend hinnehmen … Wenn Teile unserer Koalitionspartner sich auf der anderen Seite positionieren, ist das vielsagend und aus meiner Sicht sogar gefährlich.“ Er hält, diesmal in BILD, die Beauftragung eines „privaten Dritten, der über ein zentrales Element unserer freiheitlichen Demokratie richten soll, für unerträglich. Robert Habeck, der ja auch schon wegen Nichtigkeiten nach staatlicher Verfolgung von Meinungsäußerungen rief, sollte dringend der deutschen Öffentlichkeit erklären, dass er seine nachgeordnete Behörde an die Kette legt und hier kein eigener grüner Rechtskreis geschaffen wird“.
Aktuell streben übrigens elf weitere Organisationen danach, „Trusted Flagger“ zu werden. Beim Aufspüren von „Hass und Hetze“ dürfte es nicht bleiben, meint Nicolay. Aber weder die Definitionsmacht über inkriminierende Inhalte noch die Ahndung von angeblichem Missverhalten obliegen einer künstlich aus der Taufe gehobenen Institution: „Es ist ungeheuerlich, was hier stattfindet: offener Verfassungsbruch unter den Fittichen eines Bundesministers.“ Wenn meinungsfreiheitlich gedeckte „Frechheiten“ pauschal und inkriminierend als „Hass und Hetze“ gebrandmarkt werden, lässt das eine riesige Ermessensgrauzone entstehen, in der auch unbedenkliche, demokratische, aber unbequeme Äußerungen massenhaft versenkt werden können. „REspect“ ist die „aufgepfropfte Regulierungsbehörde einer denkenden Gesellschaft, die aufhören soll zu motzen, zu tadeln, sich lustig zu machen. Sie droht, ein zusätzliches Instrument politischen Kontrollwahns und polit-puritanischer Rechthaberei zu werden.“
Es verböten sich Vergleiche mit einer etwaigen DDR 2.0, denn das wäre untertrieben. Die TrustedFlagger der Stasi hätten damals weit weniger technische Hilfsmittel und Optionen zur Hand gehabt als wir heute im Jahr 2024 auch mithilfe von KI-Tools: „Erich Honecker würde eher weinen vor Freude, hätte er bereits damals die Instrumente bei der Hand gehabt, die man heute nutzen kann, um Menschen öffentlich kaltzustellen“, so Kelle. Monika Maron gab in der WELT ihrer tiefen Entfremdung Raum: „Überhaupt gibt es so vieles, was mich fassungslos macht, diese neuen ‚Meldestellen‘ zum Beispiel, wo man Leute anzeigen kann, die irgendetwas ‚unterhalb der Strafbarkeitsschwelle‘ gesagt oder getan haben. Was denken Sie, woran mich das erinnert?“ Das „System BRD“, also die (Alt-)Parteien-Postdemokratie, zeige „erhebliche Schwächen und Verfallserscheinungen, die denen der DDR-Spätphase nicht unähnlich sind“, erkennt auch Florian Sander in Freilich. „Wer spürt, dass er bald nichts mehr zu melden hat, errichtet noch rasch jede Menge Meldestellen … Die Ampel will dem betreuten Denken das überwachte Sprechen zur Seite stellen“, befindet Alexander Kissler auf X.
In dieselbe Richtung marschiert übrigens auch der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB): Mit der Einrichtung eines sogenannten „Safe Sport Code“ will der Dachverband des deutschen Sports erstmals die verbandsrechtliche Grundlage schaffen, „um interpersonale Gewalt im Sport auch unterhalb der Strafrechtsschwellerechtssicher ahnden und sanktionieren zu können“, so der DOSB Ende Oktober gegenüber dpa. Rechtssicher unterhalb der Strafrechtsschwelle? Aha. „Wir wollen mit dem Safe Sport Code einen Wandel einleiten, indem wir Vertrauen schaffen, indem wir im Sport eine Kultur des Hinsehens und des Handelns stärken und dabei kann der Safe Sport Code helfen“, erklärt DOSB-Präsident Thomas Weikert. Aus Studien sei bekannt, dass interpersonale Gewalt im Sport „meistens unterhalb der Strafbarkeitsgrenze des Strafrechts“ liege, beispielsweise in Form rein schikanöser Trainingsanweisungen oder sexistischer Äußerungen, so der DOSB. Durch den Safe Sport Code, der im Dezember auf der DOSB-Mitgliederversammlung verabschiedet werden soll, könne gegen diese Fälle vorgegangen werden, beispielsweise durch einen Lizenzentzug, einem Ausschluss aus der Organisation oder finanzielle Strafen. Das ist kein Witz.
„ein Exempel statuieren“
Ahmad Gaafar, seit 2021 Chef von „REspect“, steht inzwischen wegen eines Fotos auf seinem Facebook-Profil in der Kritik. Darauf posiert er mit dem bekannten britischen Bischof Justin Welby und dem ägyptischen Großimam Ahmed el-Tayeb – als Scheich der Azhar-Universität eine Autorität des sunnitischen Islams, der aber in der Vergangenheit Selbstmordanschläge der Hamas gerechtfertigt hat. Bei der Meldestelle als Teil des Demokratiezentrums Baden-Württemberg war Gaafar auch bis 2023 Leiter der „Fachstelle PREvention – Prävention von religiösen Extremismus“. Vor vier Jahren schrieb er, selbst Al-Azhar-Absolvent, für den sunnitischen Islam die bedeutendste Institution weltweit, in einer Analyse („Hate-Speech in Zeiten von Corona“), dass Hatespeech ein „dehnbarer Begriff“ sei. Noch im Juni wurde er von der EU-Kommission eingeladen zu dem Treffen „Vorbeugung und Bekämpfung von anti-muslimischer Hasskriminalität in der EU“ – gemeinsam mit dem belgischen CIIB („Kollektiv gegen Islamophobie in Belgien“) sowie dem „European Network Against Racism“ (ENAR); zwei Organisationen mit am Tisch saßen, die bereits seit Jahren im Verdacht stehen, der islamistischen Muslimbruderschaft nahe zustehen.
Warum sich ein Anti-Hass-Experte mit möglichen Muslimbrüder-Akteuren an einen Tisch setzt, wollte NIUS von Gaafar wissen, erhielt aber keine Antwort. In einem Interview mit der Ludwigsburger Kreiszeitung wurde Gaafar auf die Behauptung angesprochen, der importierte Antisemitismus sei das Hauptproblem. Er mahnte daraufhin als erstes: „Das ist eine schwierige Behauptung!“ 2021 erklärte der Islamwissenschaftler für das „Demokratiezentrum Baden Württemberg“ Begriffe aus dem islamischen Kontext in einem angelegten Glossar. So übersetzte er von „Fatwa“ als „Rechtsauskunft, die von einem muslimischen Rechtsgelehrten erteilt wird, um eine religiöse Fragestellung bzw. ein rechtliches Problem zu klären.“ Dabei sind es die Fatwas, mit denen zum Mord oder Gräueltaten an Menschen durch Islamisten aufgerufen wird – der iranische Staat etwa verurteilte Salman Rushdie 1989 zum Tode; 2022 verlor Rushdie bei einem islamistischen Attentat sein Augenlicht auf dem rechten Auge. In seinem erstellten Glossar ließ Gaafar auffällig aber einen Begriff weg: Scharia.
Ende Oktober wurde ein Beitrag von ARD alpha (2021) wieder publik, in dem Gaafar dem Reporter erklärt, wie die seit 2017 existente Meldestelle arbeitet, ihm eingegangene Meldungen am Computer zeigt: Volksverhetzung, Hetze gegen Covid-19-Impfung, Muslime als Terroristen verunglimpfend… Darauf erklärt Gaafar: „Wir haben ja ein juristisches Team, das bewerten kann, ob das strafrechtlich relevant ist oder strafrechtlich nicht relevant. Und wenn es strafrechtlich relevant ist, dann melden wir es direkt bei der Polizei oder Landeskriminalamt. (…) Wenn es nicht strafrechtlich relevant ist, dann werden wir schon einen Löschantrag beim Provider machen“ – ein Eingeständnis, dass er auch legale Inhalte löschen lassen will. Kommen BKA und Staatsanwaltschaft zu der Auffassung, dass ein Anfangsverdacht (!) vorliegt, wendet sich „REspect“ an den Plattformbetreiber, der dann gezwungen sei, „den Inhalt zu löschen oder zu begründen, warum der Beitrag online bleiben könne“. Auch das ist kein Witz.
Inzwischen wurde Müller nervös. „Wir wissen im Moment nicht, in welchem Kontext dieses Foto entstanden ist. Sollten uns begründete Zweifel an der Eignung dieses Trusted Flaggers erreichen, würden wir diese überprüfen“, rückte er in der WELT zunächst von Gaafar ab. „Die Bundesnetzagentur entfernt nach dem DSA keine Inhalte. Plattformen und Dienste behandeln gemeldete Inhalte auf Grundlage der geltenden Gesetze und ihrer Nutzungsbedingungen. Finale Entscheidung liegt wie eh und je bei den Gerichten“, schrieb er außerdem „aus gegebenem Anlass“ bei X. „Wichtig ist: Die Bundesnetzagentur ist nicht für die Entfernung von Inhalten zuständig. Ebenso nehmen Trusted Flagger keine Zensur vor“, heißt es in einer weiteren Pressemitteilung seiner Behörde. Am Ende sei die Löschung von Inhalten die Aufgabe der Plattformen, hinterher stünde der Rechtsweg frei, heißt es. Das ist blauäugig: Die Plattformen werden den Flaggern 1:1 folgen, weil der Ärger mit der Netzagentur größer ist als mit Usern, prophezeit Michael Spehr in der FAZ. Die Behörde kann Bußgelder bis zu sechs Prozent des Umsatzes einer Plattform fordern – zunächst ganz ohne Gerichtsverfahren. Dass sich Müller gerne zum „Hass und Hetze“- und Fake-News-Jäger aufspielt, zeigte er bereits Anfang des Jahres, als er hoffte, die EU-Kommission würde am Fall X „ein Exempel statuieren“. Es kam anders: EU-Kommissar Breton wurde heftig wegen Angriffen auf die Meinungsfreiheit kritisiert und gab einen Monat später seinen Rücktritt bekannt.
„Sterbeprozess der Macht“
Doch schon im März 2024 hatte Müller in einem „beeindruckend unkritisch geführten Spiegel-Interview“, so Rosenfelder, seine Pläne offen zu Protokoll zu geben: „Aber Märkte benötigen Spielregeln und Schiedsrichter – und für den Onlinebereich gilt das besonders. … Da braucht es jemanden, der die neuen Spielregeln durchsetzt, der sie erklärt und die Bürger und Unternehmen auch berät.“ Der Staat soll der öffentlichen Auseinandersetzung die Regeln vorgeben? Das ist kein Witz. „Es sagt viel über die schwere Krise des liberalen Rechtsstaats seit der Corona-Zeit, dass diese anmaßende Ankündigung weder in der Politik noch in den Medien große Wellen schlug“, wundert sich Rosenfelder. Wohl aber noch mehr, wenn man sich die Internetseite von „REspect!“ ansieht. Da öffnet sich unter dem barschen Befehl „HETZE MELDEN!“ eine Eingabemaske für Link, Screenshot und Fallbeschreibung mit dem entlarvenden Hinweis, die Organisation wolle eben auch „Hetze, Verschwörungserzählungen und Fake News“. Das ist der schwammige Müller-Sound an der Grenze zur Beliebigkeit: „Es ist die erneute Wiederholung grüner Hybris, die sich wähnt, unfehlbar zu sein, aber krachend an der eigenen Unzulänglichkeit scheitert“, feixt Nicolay.
Wer die Definitionsmacht über diese Begriffe besitzt, kontrolliert auch den Diskurs: Das machen nicht nur autoritäre Systeme von Russland über die Türkei bis China vor, die sich bei der Bekämpfung von Kritik genau dieser Vokabeln bedienen. Das zeigt sich immer öfter auch in Deutschland, seit der Bundesverfassungsschutz unter dem Label „Delegitimierung des Staates“ auch fundamental-regierungskritische Positionen erfasst, gegen die juristisch gar nichts einzuwenden ist und die gerade eine wehrhafte Demokratie unbedingt zulassen und ertragen muss – wir erinnern uns an die grüne Familienministerin Lisa Paus, die im Februar freimütig zugab, auch für Meinungsäußerungen „unterhalb der Schwelle der Strafbarkeit“ das passende Meldeportal schaffen und gesetzliche Regelungen „anpassen“ zu wollen. „Für eine so nette, serviceorientierte und hilfsbereite Zensurmaschine fehlte selbst George Orwell die Phantasie“, bilanziert Rosenfelder.
Don Alphonso kommentiert auf X lapidar: „Farm der Tiere 2.0 trifft 1984“. „Das Konzept ist genial“, versuchte Robert von Loewenstern der Causa auf achgut eine humoristische Note abzugewinnen. „Trusted Verkehrskontrolettis, trusted Bürgerwehren, trusted Remigrators oder trusted Wähler bieten sich an. Man muss es nur zu Ende denken.“ Ein Schwarm von „Trusted Flashers“ etwa, also vertrauenswürdigen Blitzern, könnte nicht nur für mehr Verkehrssicherheit sorgen, sondern auch die kommunalen Kassen sanieren, glossiert er. „Angewandte Verkehrserziehung per Bußgeld ist bekanntlich ein Milliardengeschäft. Erfreulicher Nebeneffekt: Menschen mit einem Übermaß an Tagesfreizeit würden als ‚Volkspolizei‘ einer sinnstiftenden Beschäftigung zugeführt.“
Einen durchaus plausiblen Hintergrund der Causa entdeckte Sander bei Luhmann. Der hatte in seinem posthum erschienenen Spätwerk Die Politik der Gesellschaft die Unterscheidung zwischen Macht und Zwang benannt: „Die Polizei darf erscheinen, aber sie sollte nicht genötigt sein zuzupacken. (…) Die Macht darf sich keine erkennbare Schlappe leisten, weil dies Konsequenzen hätte, die über den Einzelfall hinausgehen. (…) Zur Politik der Macht gehört es daher auch, sich nicht allzu weit vom Gewohnten zu entfernen und das, was sowieso geschieht, als symbolische Betätigung der Macht auszuweisen.“ „Der ‚Verfassungsschutz‘ darf beobachten, aber der Staat sollte nicht genötigt sein zu verbieten“, adaptiert das Sander. Ab dem Moment, ab dem er nicht mehr nur „beobachtet“, „etikettiert“ und „diskreditiert“, sondern in dem er tatsächlich zur Tat schreitet – verbietet, beschlagnahmt, zensiert; also: Zwang anwendet – ab diesem Moment beginnt der Sterbeprozess seiner Macht. „Und ab diesem Moment beginnt die Chance systemoppositioneller Akteure, diese seine Machtlosigkeit als solche zu enttarnen, sie zu benennen und sie gegen ihn zu verwenden“. Sind das vielleicht übereilte Vorbereitungen für eine Gesinnungssäuberung, um eine aseptische Wahlkampfumgebung im September nächsten Jahres herzustellen, in der nur kuratierte Wahrheiten kursieren sollen, mutmaßt Nicolay prompt.
„sich ins Knie zu schießen“
„Hassrede“ ist kein rechtlich relevantes Kriterium, sondern ein inhaltlich beliebig aufladbarer linker Kampfbegriff, so Höcker. Denn Hass sei ein legitimes menschliches Gefühl und kann als Motiv einer Äußerung nicht automatisch zu deren Unzulässigkeit führen. Ein „grundsätzliches verfassungsrechtliches Problem“ sieht der Hamburger Anwalt Joachim Steinhöfel in der NZZ: „Irgendeine Behörde des Bundes, die keinerlei Ermächtigungsgrundlage für ihr eigenes verfassungswidriges Tun vorweisen kann, ‚gründet‘ eine NGO oder sorgt dafür, dass sich eine solche gründet, stattet sie mit ausreichend Finanzmitteln aus, um sie dazu zu bringen, Aktivitäten zu entfalten, die massiv gegen Grundrechte verstoßen würden, wenn der Staat sie selbst ausführte“. Die zentrale Frage sei, ob der Staat Grundrechte umgehen dürfe, indem er private Unternehmen dazu bringe, Dinge zu tun, die er selbst nicht tun dürfte, so Steinhöfel. Offenbar aber war das Echo auf die Ernennung zum Trusted Flagger so überwältigend und die Helfer so zahlreich, „dass dem Portal nach 167.844 Meldungen und 89.076 Anzeigen gegen sich selbst nichts anderes zu tun blieb, als sich ins Knie zu schießen und anschließend selbst zu löschen“, schrieb der User Eddie Graf am 9. Oktober bei Facebook. „Dank geht auch raus an Uschi und ihre Kommissare und Robert und seine Kumpels. Dank euch ist das Netz nun ein klein wenig besser geworden.“
Doch nur ein klein wenig, denn die nächste Zumutung ließ nur wenige Stunden auf sich warten: Am 10. Oktober debattierte der Bundestag gerade dreißig Minuten über einen Gesetzesentwurf zur weiteren Einschränkung der Meinungsfreiheit. Justizminister Marco Buschmann (FDP) persönlich warb für den „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches“, dessen – wiederum blumig verpacktes – Ziel offiziell so heißt: „Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten und Rettungskräften sowie von dem Gemeinwohl dienenden Tätigkeiten.“ In seiner Rede sprach Buschmann von Polizisten, Feuerwehrleuten und Rettungssanitätern, die immer öfter brutaler Gewalt ausgesetzt sind. Darum sollen Gerichte die Möglichkeit bekommen, das Strafmaß zu erhöhen. Außerdem aber – und da wird es heikel – will die Bundesregierung in Buschmanns Worten jene Gewalt besonders schwer bestrafen, „deren Sozialschädlichkeit über die Schädigung des Opfers hinausgeht.“
Sozialschädlich? Das ist kein Witz, zeigt aber die Abkehr der FDP vom eigenen liberalen Anspruch. „Aus Buschmanns Volten spricht eine kollektivistische Staatsgläubigkeit, die bei Sozialisten besser aufgehoben wäre – und eine Bereitschaft zum moralischen Autoritarismus, die sprachlos macht“, erschrickt Alexander Kissler auf Nius. Im Entwurf spricht Buschmann sich zunächst selbst die Hoheit über den schillernden Begriff des Gemeinwohls zu. Dem dient besonders, wer sich etwa in der „Flüchtlingshilfe“ engagiert. Auch Berufspolitiker und Journalisten sollen sich eines erhöhten Schutzes erfreuen vor „verbalen und körperlichen Übergriffen“, vor „Angriffen sowohl physischer als auch psychischer Natur“, vor „gemeinwohlschädlichen und demokratiefeindlichen Straftaten im analogen und digitalen Raum“ – also ganz konkret auch vor heftiger Kritik durch Bürger.
„Echoraum einer abgründigen Geschichte“
Im Bundestag setzte Buschmann auf die Gemeinwohlschädlichkeit aus dem Entwurf mit der „Sozialschädlichkeit“ das nächste illiberale Wortungetüm: Die Regierung wolle jene Gewalt stärker sanktionieren, „deren Sozialschädlichkeit über die Schädigung des Opfers hinausgeht.“ Auch das ist kein Witz: „Wer derart ungebremst von Sozialschädlichkeit redet, ist kein Liberaler; er misst das Verhalten des einzelnen an der Elle der gesellschaftlichen Erwünschtheit und macht so den Staat zum Richter über das Individuum“, meint Kissler. Auf diese Weise forderte etwa die untergegangene DDR eine „Einfügung ins Kollektiv“, oder, wie das Autorenehepaar Braun immer gern kolportierte, „sich in Übereinstimmung bringen“. Der einzelne zählte, falls und sofern er sich gesellschaftlich einbrachte und der Staatsführung unterordnete. Wer unbeugsam blieb, den nannte das Ministerium für Staatssicherheit einen „Hetzer“ oder „Schädling“. „Der ‚Sozialschädling‘, den Buschmann mit seiner schrägen Rede implizit beschwört, wäre aus demokratischer Sicht ein Freiheitskämpfer, ein Bürgerrechtler, ein Liberaler reinsten Wassers und also das idealtypische Gegenbild zu Buschmann“.
Es war nun einmal die DDR, die sich vermeintliche „Sozialschädlichkeit“ zunutze machte, um ihr Unrechtssystem zu stabilisieren – und es war das sogenannte Dritte Reich, das gegen „Volksschädlinge“ vorging. Für Kissler betrat Buschmann damit „den Echoraum einer abgründigen Geschichte“. Hinter alldem steckt das linkstotalitäre Ideal einer Einheitsgesellschaft, in der der allfällige „Ruf nach mehr Zusammenhalt“ nichts anderes ist „als der Aufruf zum Gehorsam“, so Alexander Grau im Cicero. Aber eine Gesellschaft, die permanent über Zusammenhalt redet, wird ihn niemals finden, und dort, wo er nicht selbstverständlich und gelebter Alltag ist, lässt er sich auch nicht herstellen, meint er mit Blick auf das vier Jahre alte Netzwerk „Forschungsinstitut gesellschaftlicher Zusammenhalt“ (FGZ), von dem bis heute kaum jemand weiß, dessen zweite Förderperiode aber kürzlich begann und dem einschlägig bekannte „Experten“ wie Oliver Decker, Matthias Quent oder Andreas Zick angehören. Mehr noch: „Eine Gesellschaft, die allen Ernstes ein Institut zu Erforschung des gesellschaftlichen Zusammenhalts gründet, hat offensichtlich jeden gesellschaftlichen Zusammenhalt verloren.“ Denn Zusammenhalt meint Integration. Und Integration wiederum bedeutet die Herstellung einer Einheit.
Diese Einheit kann es aber nur geben, wenn ein Einheitsdenken und eine Einheitsmoral herrschen. Aber genau dieses Einheitsdenken entwickelt sich nicht organisch, sondern wird vorgegeben durch jene sozialen Milieus, die die kulturelle Deutungsmacht haben. Auch hier findet Sander eine Erklärung bei Luhmann. Die Macht des Staates liege im tatsächlichen oder fiktiven, aber auf jeden Fall über lange Zeit erfolgreich imaginierten Konsens seiner Gesellschaft: „Man war … grundsätzlich untereinander ‚koalitionsfähig‘“. Erst das Aufkommen der AfD habe einen echten, langfristig stabilen „Störfaktor“ in dieses fiktiv-konsensuale System der BRD gebracht, der die alten, vermeintlichen Gewissheiten und Sicherheiten, die alten Narrative und Frames grundlegend infrage stellt. Eine Art „paradoxer Ohnmachtskreislauf“ oder auch eine „Dialektik der Macht“ stärkt diese Partei und alle Wähler/Sympathisanten infolge des durchgesetzten Rechtsbruchs durch die Machthaber im Rahmen von Euro- und Migrationskrise, schlussfolgert Sander, was wiederum die Erosion der Macht nur noch weiter beschleunigte. „Je näher der Zusammenbruch eines Imperiums rückt, desto verrückter sind seine Gesetze“, wusste schon Marcus Tullius Cicero.
„Abgrund an juristischer Anmaßung“
Der durch die Ampelkoalition verfestigte Verbotsstaat, der Akteuren, die sich nicht strafbar gemacht haben, wegen „Meinungsdelikten“ den Mund zuhalten muss und dann auch noch in mindestens einem Fall damit vorm Bundesverwaltungsgericht scheitert, offenbart damit in eindeutiger Form eine Schwäche und eine um sich greifende Verzweiflung, die für die BRD im Grunde beispiellos ist. Kein Politiker darf die Belange eines von ihm definierten Gemeinwohls über die Rechte des Individuums stellen. Beide staatlichen Definitionsversuche – „Hass und Hetze“ und „Sozialschädlichkeit“ – offenbaren einen Abgrund an einerseits juristischer Anmaßung und andererseits politischer Angst vor Machtverlust. Wer Kritik an politischen Maßnahmen, die darauf abzielt, die Einschätzungen und die Handlungen der Kritisierten zu ändern, pauschal straffällig stellen will oder gar mit psychischem Druck übersetzt, der diese in ihrer „Handlungs- und Entschließungsfreiheit“ beeinträchtigt, hat das Wesen von Demokratie nicht verstanden.
Diese Angst erkennt Ulf Poschardt in der WELT auch bei Robert Habeck und schreibt von einer „verlorenen Diskurshoheit des grünen Milieus“. Anlass war eine schier unglaubliche Rede, die er am 17. Oktober bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik hielt und in der er glaubt, „dass diese unregulierte Form von diesen sozialen Medien inzwischen nicht mehr akzeptabel ist.“ Und wenn Polarisierung „bewusst eingesetzt wird, um eine Gesellschaft zu destabilisieren, und zumindestens den Gedanken muss man zulassen in dieser Zeit, dann haben wir jeden Grund, uns politisch dagegen zu wehren und diese wehrhafte Demokratie auch bei den sozialen Medien fortzusetzen. Dafür gibt es jede Menge Möglichkeiten. Vielleicht sind sie noch nicht ausreichend, aber eine scharfe Anwendung des DSA, des Digital Services Act, ist das Mindeste, was wir in Deutschland brauchen.“ Was bedeutet „noch nicht ausreichend“? Dass Habeck sogar China als ein Regulierungsvorbild zitiert, ist bemerkenswert. „Im Wahljahr 2025 werden die Grünen in der Exekutive ihre Drohungen wahr machen und in einem Ausmaß gegen die Meinungsfreiheit losschlagen, wie wir es heute noch für unvorstellbar halten“, entsetzt sich Julian Reichelt auf X. Sie werden alles einsetzen, was sie haben. Meldestellen, Behörden, NGOs, ihre Verbündeten in Polizei und Geheimdiensten, den ganzen Apparat, mutmaßt er. „Unter sozialistischen Gesängen der Solidarität werden sie die Hölle entfesseln gegen alle, die es noch wagen, sie und ihre Politik des Niedergangs zu kritisieren. Sie werden Menschen vor Gericht stellen lassen in einem Ausmaß, wie es heute noch undenkbar ist. Sie werden dafür sorgen, dass Accounts geschlossen werden, die ihnen nicht passen. Und sie werden auf Strafverfolgung hinwirken, wo immer sie können, einfach nur um einzuschüchtern und Schrecken zu säen.“ „Wir stehen an einem kritischen Punkt in unserer digitalen Geschichte“, meint Höcker. Nicht nur der digitalen: Es geht schlicht um die bedingungs- und kritiklose Unterwerfung unter das rotgrüne Politprojekt. In einer actio-reactio-Logik folgt da auf Druck immer nur Gegendruck. Und von der Benennung als Sozialschädling bis hin zu seiner Isolation oder Internierung ist es, wie die Geschichte zeigt, nur ein kleiner Schritt.