Seicht statt leicht
10. Januar 2025 von Thomas Hartung
„Komplexität“ ist seit geraumer Zeit einer der beliebtesten Managementbegriffe, der von der Politik okkupiert und missbraucht worden ist. Sie und erst recht ihre Behauptung gilt als hervorstechendstes Distinktionsmerkmal gegenüber dem „Plebs“, der weder Entscheidungsfindung noch Entscheidung oder gar Entscheidungsbegründung aufgrund seiner beschränkten Einsicht nachvollziehen könne, weshalb sie ihn einerseits als „unterkomplex“ diffamiert und andererseits komplexitätsreduzierende Aussagen als links- und erst recht rechtspopulistisch geißelt: Laut dem Theologen Elmar Salmann ist das Erstarken der AfD auf die zunehmende Komplexität der Gesellschaft zurückzuführen. Die Partei gäbe „einfache Antworten“, so der Konstanzer Jugendforscher Kilian Hampel im NDR, sie gebe vor, „dass große Probleme einfach lösbar sind“, meint auch die Berliner Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach im Spiegel.
Gerade von rechter Seite würden unerwünschte kulturelle, religiöse, soziale oder sprachliche Feindbilder ausgeschlossen werden, aus einem „Wir sind das Volk“ werde ein exkludierendes „Nur wir sind das Volk“: Populismus richte sich also nicht nur gegen eine abgegrenzte Elite, sondern schließe auch Diversität und Vielfalt aus, behauptet Christian Scharun im DLF. „Die Politik ist mit der Komplexität der Ökonomie oft überfordert und erschöpft sich daher in Populismus“, verallgemeinert dagegen Wolfgang Unterhuber im österreichischen Kurier. Nadja Kutscher sinnierte in der taz gar über einen „Mehrwert der Unterkomplexität“. Eine Welt, „die dauernd zweideutig schillert und oszilliert, bietet nicht die Orientierung, die Menschen zur Orientierung in ihrer Lebenswelt brauchen“, erkennt auch Wolfgang Vögele auf theomag. „Vermutlich kommt niemand ohne ein paar Bausteine der Eindeutigkeit – und seien es Hypothesen, Werte, Gewissheiten – aus, um sich in Lebenswelt, Politik und Gesellschaft zurechtzufinden. Dauerrelativismus zerstört auf die Dauer den intellektuellen Gleichgewichtssinn.“ Erst recht, wenn große Probleme auch nicht kompliziert, sondern gar nicht gelöst werden, möchte man aktuell ergänzen.
Insofern ist „Komplexitätsreduktion“ für jede, nicht nur ökonomische, Entscheidung unabdingbar: „Die wirkliche Umwelt ist zu groß, zu komplex und zu sehr im Fluss befindlich, um Menschen direkt zugänglich zu sein“, wusste schon 1922 der Nestor der amerikanischen Zeitungswissenschaft, Walter Lippmann. Ein Autobauer wird keine pharmazeutische Fachzeitschrift lesen, um bessere Verbrenner zu entwickeln. Will hießen: Beim Benutzen eines technischen Geräts, beim Erstellen eines naturwissenschaftlichen Modells, bei der Übersetzung zwischen Sprachen, bei der Analyse historischer Entwicklungen oder beim Erfassen komplexer Sachverhalte werden Ambiguitäten, Unsicherheiten und Widersprüche methodisch durch verschiedene Prinzipien der Komplexitätsreduzierung weitgehend ausgeklammert, um zu validen Ergebnissen zu kommen; Thomas Bauer führte 2018 den Begriff der „Ambiguitätszähmung“ ein. Komplexitätsreduktion ist also grundsätzlich eine „Verkürzung“ und mit Informationsverlust verbunden, der in Kauf genommen, ja begrüßt wird.
Wir stellen also zunächst fest: es gibt gute und böse Komplexität, und es gibt richtige und falsche Komplexitätsreduktionen, erst recht Komplexitätsreduktoren. Denn was Diversität und Vielfalt inkludiert, muss zwangsläufig auch komplexitätsreduzierend sein, um allen gerecht – und von allen verstanden – zu werden: Reduktion und Simplifikation gehen als Filterinstanzen Hand in Hand. Und eine – selbstredend „richtige“ – sprachliche Reduktion, der seit 2020 gar ein eigener Gedenktag am 28. Mai gewidmet ist, treibt seit diesem Jahr mehr als seltsame Blüten: das Phänomen „Leichte Sprache“, ein Amalgam aus moralistischer Politik und linguistischer Trivialität, wobei die Häufung dieses Phänomens im Jahr entscheidender Landtagswahlen und auch der Pariser Paralympics auffällt.
Laut einer Studie der Barmer Ersatzkasse ist in Deutschland inzwischen bei jedem achten Kind die Sprachentwicklung gestört. Damit korreliert, dass laut der LEO-Studie 2018 etwa 17 Millionen Menschen in Deutschland zwischen 18 und 64 Jahren auf Vierte-Klasse-Niveau oder schlechter lesen und schreiben. Die Gründe dafür sind vielfältig: Menschen mit Migrationshintergrund, bildungsferne Menschen oder komplette Bildungsverlierer, Menschen mit Beeinträchtigungen wie Hör-, Lese- oder Lernschwächen oder auch Krankheiten wie etwa einem Schlaganfall oder gar beginnender Demenz. An diese heterogene, ja disparate Gruppe richtet sich die linguistische Adaption unserer Hoch- oder Standardsprache, die den Unterschied zwischen Mittel und Zweck einebnet.
Einfache oder Leichte Sprache
Denn diesen Bürgern sei verwehrt, was der inzwischen institutionalisierte Begriff der „Teilhabe“ beschreibt: „Mithilfe verständlicher Texte könnten Menschen entscheiden, welche Partei sie wählen, bei welchem Verein sie mitmachen oder welches Essen sie bestellen wollen“, wird die Lebenshilfe Bremen im DLF zitiert. Leichte Sprache soll also Teilhabe ermöglichen, indem Texte so vereinfacht werden, dass Menschen mit sozialen und/oder kognitiven Defiziten sie lesen und verstehen können. So bekommen sie Zugang zu Informationen, auf denen Selbstbestimmung sowie politische und gesellschaftliche Partizipation gründen kann: Nicht der Mensch muss sich an die Gegebenheiten anpassen, sondern diese an ihn. „So einfach wie nötig und so verständlich wie möglich“: Das sei die Faustregel für Leichte Sprache, sagt die Kölner Sprachwissenschaftlerin Bettina Bock im DLF. Informationen verständlich und zugänglich zu machen, unabhängig von den individuellen Fähigkeiten oder Einschränkungen der Leser, sei „wichtig, sinnvoll und hilfreich für Millionen Menschen“.
Dabei muss nochmals zwischen Einfacher und Leichter Sprache differenziert werden. Einfache Sprache ist eine sprachlich vereinfachte Version der Standardsprache und hat einen größeren Wortschatz als die Leichte Sprache, die einen noch geringeren Schwierigkeitsgrad und ein festes Regelwerk hat, das durch das „Netzwerk Leichte Sprache“ mit Unterstützung des Bundesarbeitsministeriums formuliert wurde – einem Verein, dem Übersetzer, Linguisten und Politiker aus acht Ländern angehören. In dieser Sprache werden Fachwörter erklärt, Bebilderungen genutzt und besonders lange Wörter mit einem Strich oder Punkt getrennt. Verboten sind lange Sätze, Passivkonstruktionen, Negationen, der Konjunktiv, der Genitiv. Die Satzstruktur soll einfach sein, Nebensätze dürfen nur ausnahmsweise vorkommen, aber nie eingeschoben sein. Und man soll Konkreta statt Abstrakta nutzen: Statt „Öffentlicher Nahverkehr“ eben „Bus“ oder „Bahn“. Wer sich beim Schreiben an diese Regeln hält und den Text anschließend von Angehörigen der Zielgruppe gegenlesen lässt, darf dafür das Siegel des Netzwerks verwenden. Selbst DIN ISO 24495-1 und DIN 8581-1 liefern inzwischen Richtlinien für das Verfassen leicht verständlicher Texte.
Das Ziel Leichter Sprache ist dabei nicht, abwechslungsreich zu sein, gesteht Übersetzerin Andrea Halbritter auf ihrem Blog cotelangues. Eine Frau etwa bleibt eine Frau und wird nicht plötzlich zur Dame, Seniorin, Verkäuferin, Nachbarin, Studentin oder Mittdreißigerin. Das Ziel von Leichter Sprache ist es auch nicht, sich gut anzuhören, weshalb sie kaum Präteritum, sondern Perfekt verwendet: Bei starken Verben kommt es oft zu einem Vokalwechsel. Und ein großes Problem – wie woke Prinzipien plötzlich kollidieren können – ist sowohl das Gendern, da komplizierte Satzzeichen mitten in Wörtern unverständlich wären, als auch das „diskriminierungssensible Sprechen“: viele Menschen wissen mit Anglizismen wie „Ableismus“ oder „People of Color“ nichts anzufangen.
„Texte setzen wenig Wissen voraus“
Mittlerweile finden sich leichte Texte auf vielen Unternehmensauftritten wie der Telekom, Behörden-Websites – wozu aber die Uni Erfurt einen Leichte-Sprache-Auftritt braucht, wüsste man schon gern –, auch schon in Wahlprogrammen und manchen Medien. Dabei zeigt die Telekom eher unfreiwillig, dass das hehre Gleichheitsziel „Wir wollen möglichst alle Menschen erreichen“, so Pressechef Philipp Schindera, zu weiterer ungewollter Diversität führt: Der Konzern will künftig „sieben Dimensionen“ in der Kommunikation berücksichtigen – neben körperlichen/mentalen Fähigkeiten sind das Alter, ethnische Herkunft und Nationalität, Geschlecht und Geschlechtsidentität, Religion und Weltanschauung, sexuelle Orientierung und soziale Herkunft. Und Mitte Juni nun startete nach dem SR oder dem DLF-Angebot nachrichtenleicht auch die Tagesschau eine tägliche Ausgabe in Leichter Sprache. Produziert vom NDR in Hamburg, wird sie um 19 Uhr auf tagesschau24 ausgestrahlt, kann aber ab 18 Uhr bereits im Internet und der Tagesschau-App sowie in der ARD-Mediathek und auf dem YouTube-Kanal der Tagesschau angesehen werden.
„Mit diesem neuen Nachrichtenangebot richten wir uns an ein für uns neues Publikum, dem wir somit auch einen Zugang zu gut recherchierten Informationen aus Politik, Wirtschaft, Sport, Kultur und anderen Ländern ermöglichen wollen“, sagt ARD-aktuell-Chef Marcus Bornheim. „Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat den Auftrag, mit seinen Sendungen und Programmen allen Menschen ein Informationsangebot zu machen“, erklärt NDR-Intendant Joachim Knuth. „Dazu gehören auch diejenigen mit geringer Lese- und Schreibkompetenz, die komplizierten Texten nicht immer folgen können oder die Deutsch nicht auf muttersprachlichem Niveau beherrschen.“ Die Themen der Sendungen stammen aus der regulären Tagesschau, und auch die Tagesschau in Einfacher Sprache wird im bekannten „blauen Studio“ mit den bekannten Sprechern produziert.
Die Sendungsinhalte werden aber anders aufbereitet, wie Bornheim erklärt: „Die Meldungen und Beiträge werden völlig neu formuliert. Die Texte setzen wenig Wissen voraus und werden langsamer gesprochen.“ Beim Texten in Einfacher Sprache gehe es nicht nur ums Übersetzen, wie von einer Sprache in die andere, ergänzt Projektleiterin Sonja Wielow. „Wir berücksichtigen auch kulturelle oder bildungsbedingte Herausforderungen, vor denen Menschen unserer Zielgruppe häufig stehen. Viele beschäftigen sich nämlich nicht mehr mit Nachrichten, weil sie sie nicht verstehen können. Deshalb erklären wir den Hintergrund einer Nachricht, bevor wir zur eigentlichen Neuigkeit kommen“. Das aber ist bei Internettexten inzwischen gang und gäbe.
Wie man sich das vorzustellen habe, illustriert die Sendungs-Website gleich mal mit einem Text, in dem die Premiere der Sendung angekündigt wird: „Von der tagesschau gibt es jetzt eine neue Sendung. Das Neue ist: Die Nachrichten sind in Einfacher Sprache. Die neue Sendung heißt: tagesschau in Einfacher Sprache. In der neuen Sendung werden die Nachrichten erklärt. Und auch schwierige Wörter werden erklärt. Die Texte werden langsam gesprochen. Die Nachrichten sind einfach zu verstehen. Viele Menschen finden Lernen nämlich schwer. Viele Menschen sprechen nicht so viel Deutsch. Und viele Menschen hören nicht gut. Die neue Sendung ist für alle. …“ Ja, das ist ernst gemeint.
„Minister für Geld“
Die von Deutschland ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention fordert zwar vollen Zugang zu Kommunikation und damit verbunden die Übersetzung von Texten in „einfache Sprache“ – konkrete Regeln sind hier aber nicht enthalten. Von wissenschaftlicher Seite wird kritisiert, dass die einzelnen Vorgaben des umfassenden Regelwerks der Leichten Sprache empirisch teils nicht oder nicht ausreichend belegt sind – beispielsweise zeigen Forschungsergebnisse, dass Nebensätze nicht pauschal schwer verständlich sind. Die Zielgruppen, die sich die Leichte Sprache auf die Fahnen schreibt, sind schlichtweg zu unterschiedlich, als dass einheitliche Regeln angebracht wären, bilanziert Kutscher. Die Kritik des Über-einen-Kamm-Scherens teilt auch Lisa Kräher in Übermedien: „Eine Person mit Lernbehinderung, deren Muttersprache Deutsch ist, braucht möglicherweise eine andere Nachrichtensprache als eine Person, deren Muttersprache nicht Deutsch ist“.
Bei den Betroffenen herrsche allerdings große Freude, sagte die Eichstätter Medienwissenschaftlerin Friederike Herrmann im SR-Podcast Medien – Cross und Quer. Sie leitet das Forschungsprojekt „Leichte und Einfache Sprache im Journalismus“ an der Katholischen Universität und befragt im Rahmen des Projekts Menschen mit Behinderung, Menschen, die nicht richtig lesen und schreiben gelernt haben sowie Geflüchtete in qualitativen Studien. Dass nun die bekannteste deutsche Nachrichtensendung ein solches Angebot mache, sei unglaublich viel wert, denn diese „Leute werden alleine gelassen mit ihren Problemen“. Mit Blick auf die Gestaltung journalistischer Inhalte in sprachlich vereinfachter Form betonte Herrmann, dabei gehe es nicht ausschließlich um die Sprache. Eine große Rolle spiele die Erzählweise. Gerade bei Nachrichten gebe es das Problem, dass Einzelinformationen häufig nicht über einen Erzählstrang verbunden seien. „Man sollte also versuchen, Nachrichten erzählerischer zu gestalten.“ Sollte Journalismus zwangsliterarisiert werden müssen?
In den sozialen Medien löste das neue Angebot ambivalente Reaktionen aus. Die FR etwa zitiert User, die auf X von „Armutszeugnis“ und „Kinderfernsehen“ sprachen. Ein Nutzer erklärte demnach, „man wird schon ein wenig dümmer beim Zuhören“. Der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie BVL bezweifelt der Zeitung zufolge, dass das Angebot hilfreich für Menschen mit Leseschwierigkeiten ist. Betroffene hätten bei Fernseh- und Radiobeiträgen kein Problem, die Inhalte zu verstehen, da sie in ihrer Auffassungsgabe nicht beeinträchtigt seien, erklärte BVL-Sprecherin Höinghaus. Die „Tagesschau in einfacher Sprache“ könne den Eindruck erwecken, dass ihre Zuschauerinnen und Zuschauer Bildungslücken hätten. „Nur, weil eine Person eine Leseschwäche hat, bedeutet das aber nicht, dass sie nicht weiß, was zum Beispiel ein Finanzminister ist“ – Christian Lindner (FDP) war kurzerhand als „Minister für Geld“ vorgestellt worden. Aber auch Journalisten wie Fajsz Deáky im Fränkischen Tag lästerten „Wir machen die Sprache im Fernsehen SO einfach, dass keiner mehr gescheit Deutsch sprechen können muss? Wir kauen den Leuten die Nachrichten einfach vor?“ und wird dafür prompt als behindertenfeindlich diffamiert – was erneut die unheilige Allianz von Moral und Politik beweist.
„Trau dich! Denk’ selber nach!“
Doch nicht genug damit: Nachdem in Frankreich der „Kiléma“-Verlag Übersetzungen von Hemingway oder Camus explizit für geistig Behinderte anbietet, gründete sich im April in Rösrath ein Verlag namens Aibo nach einem japanischen Roboterhund oder kurz für Artificial Intelligence Books, der binnen weniger Wochen „einen Kulturkampf ausgelöst“ hat, wie Paul Jandl in der NZZ feststellt. Er selbst arbeitete sich zunächst an einer „Übersetzung“ von Kants Essay „Was ist Aufklärung?“ ab, der original so beginnt: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschliessung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“
Übersetzt liest sich die Passage so: „Unmündigkeit heißt abhängig. Hier heißt es: Wir denken nicht selber. Unsere Gedanken sind die von anderen. Oft haben wir nicht den Mut zum Selberdenken. Daran sind wir selbst schuld. Wir sind deshalb nicht dumm. Aber wir sind ein bisschen feige und unentschlossen. Das Motto der Aufklärung heißt: ‚Trau dich! Denk’ selber nach!‘“ Das ist kein Witz. Menschen mit Sprach- und Leseschwierigkeiten könnten so am deutschen „Allgemeinbildungskanon“ teilhaben, sagt Andreas Stobbe, einer der Aibo-Gründer, auf Anfrage der NZZ. Sein zweites Buch, mehr sind es glücklicherweise noch nicht, ist die Übersetzung von Theodor Fontanes „Effi Briest“, geschrieben Ende des 19. Jahrhunderts für das gebildete Publikum der Zeitschrift Deutsche Rundschau. Jandl trocken: „Von Literatur bleibt dabei kaum noch etwas übrig“.
Auch hier lohnt der Blick auf die Textanfänge: „In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße, während nach der Park- und Gartenseite hin ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein großes, in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetztes Rondell warf.“ Die Übersetzung: „Die Sonne schien auf das alte Haus der Familie von Briest in Hohen-Cremmen. Es war Mittag. Auf der Dorfstraße war es ganz still. Ein Teil des Hauses warf einen Schatten. Der Schatten fiel auf einen Weg mit weißen und grünen Fliesen und auf einen runden Platz. In der Mitte des Platzes stand eine Sonnenuhr. Am Rand wuchsen Rhabarber und andere Pflanzen.“ Auch das ist kein Witz.
„kein Rhythmus, keine Fremdworte“
Das Szenische-Bewegte des Romanbeginns, in dem das Herrenhaus der Familie Briest im mittäglichen Sonnenschein beschrieben ist, wird durch „die banale Aufzählung sichtbarer Dinge ersetzt, die klingt wie die Beschreibung eines Bühnenbildes“, befindet Jandl. Sieben Sätze statt einem, kein Rhythmus, keine Fremdworte – kurz: „kein Fontane“, wütet Andreas Platthaus in der FAZ. „Herausgekommen ist Inhalt ohne Form, eine Erzählung, bei der vom neunzehnten Jahrhundert generell so wenig übrig bleibt wie von Fontane speziell … Ihr Verständnis von einfacher Sprache ist das eines Werkzeugs, um ihr Publikum so dumm zu machen wie sie selbst.“ Es sei „reine Handlung“, rechtfertigt das Stobbe, und das solle auch so sein. Das sei die Herabwürdigung einer zentralen intellektuellen Leistung, weil es eben nicht nur auf den reinen Inhalt ankomme, sondern auch auf die Form, meint dagegen Platthaus.
Er habe den Roman „wie mit einem Psychographen“ geschrieben, notiert Fontane im Frühjahr 1895. Von dieser Seelenkunde versteht die künstliche Intelligenz so gut wie nichts, setzt sich über atmosphärische Feinheiten des Originals hinweg, streicht Begriffe, in denen der Geist aus Fontanes 19. Jahrhundert wohnt, und lässt sich auf Metaphern gar nicht erst ein: Doppelsinn ist Gift für die KI. Im Verlagsprogramm sind für die nächste Zeit nur Bücher von Autoren eingeplant, deren Werke nicht mehr urheberrechtlich geschützt sind, also kostenfrei vermarktet werden können. Was wird aus dem „Werther“, wenn man ihn seines sprachpsychologischen Mehrwerts beraubt, was aus den Märchen der Brüder Grimm und den Erzählungen Edgar Allan Poes, die alle auf der Liste stehen? An Gedichte Gottfried Benns oder an Prosa von Thomas Bernhard würde er sich aber nicht heranwagen, meint Stobbe. Wie tröstlich. Die ehrenwerte Londoner Times hat sich der Sache im Sommer leicht amüsiert auch angenommen. Der Text des Deutschlandkorrespondenten klingt, als wollte er sagen: Diese Probleme möchte man haben!
Das Literaturhaus Frankfurt hat einen eigenen Schwerpunkt Einfache Sprache. Unter dem schlichten Titel „Lies!“ sind zwei Bücher mit Texten deutscher Autoren erschienen. Die Texte sind eigens für Leser mit kognitiven Beeinträchtigungen geschrieben. Olga Grjasnowa, Kristof Magnusson, Arno Geiger, Sasha Marianna Salzmann, Nora Bossong und andere versuchen hier, ihre Idee von Literatur in kurze Sätze und leicht verständliche Geschichten zu packen. Es sind jeweils Geschichten, die ein Zugeständnis an die sprachliche Gestaltung zur Grundlage ihres Entstehens haben und somit weiterhin bieten, was Literatur ausmacht: kombiniertes Form- und Inhaltsbewusstsein. „Was natürlich auch elitäre statt egalitäre Ziele haben kann“, meint Platthaus.
„Auf jeden Fall würde ich immer mit Brecht sagen, Literatur hat auch einen Gebrauchswert, und durch Reduktion ist schon immer gute Kunst entstanden“, meint der Frankfurter Projektleiter Hauke Hückstädt im DLF. Einfache Sprache ist Kunst, behauptet er und nennt als Vorbilder die Oulipoten, eine internationale Autorenvereinigung um Italo Calvino, Harry Mathews und Oskar Pastior, die sich strenge Regeln gesetzt hatte, um in der Sprache weiter voranzukommen. Das bekannteste Beispiel sei der Roman „Anton Voyls Fortgang“ von Perec (1969), der ohne den Buchstaben E auskommt. Ein wohl mehr als gewagter Vergleich. Ein „reizvolles Unternehmen“ erkennt Jandl, „das zusätzlich auch dem versierten Leser die Möglichkeit liefert, eigene Lesegewohnheiten zu überprüfen“. Während die Texte in „Lies!“ etwas ganz Essenzielles hätten, dampfe die KI ihren Fontane auf etwas ein, was sie mit Essenz verwechselt: „Was in der neuen ‚Effi Briest‘ steht, ist nicht das, was Fontane sagen wollte“.
„Analphabetismus als geheimes Bildungsziel“
Das Vorhaben, Menschen ohne ausreichende Sprachkenntnisse und geistig Behinderten den Zugang nicht nur zu behördlichen, sondern auch medialen Informationen, ja literarischen Texten zu erleichtern, läuft insofern Gefahr, sich unter der Hand zu einer neuen Norm zu wandeln, deren Regeln alsbald den durchschnittlichen Sprachstandard definieren könnten: „Leichte Sprache ist seichte Sprache“, dekretierte Konrad Paul Liessmann schon 2014. Suggeriert wird, dass Sprache nur der Übermittlung simpler Informationen dient. Liessmann ist unbedingt zuzustimmen, wenn er meint: „Dass in und mit Sprache gedacht und argumentiert, abgewogen und nuanciert, differenziert und artikuliert wird, dass es in einer Sprache so etwas wie Rhythmus, Stil, Schönheit und Komplexität als Sinn- und Bedeutungsträger gibt, wird schlicht unterschlagen oder als verzichtbares Privileg von Bildungseliten denunziert. … Und selbst wenn man die Sprache unter pragmatischen Gesichtspunkten sehen und als ‚praktisches Bewusstsein‘ deuten wollte – bedeutete eine stark vereinfachte Sprache nicht auch ein stark vereinfachtes Bewusstsein?“
Das Phänomen Leichte Sprache verweist somit auf gesellschaftliche Tiefenstrukturen nicht nur pädagogischer oder sozialer Provenienz, die nach dem Stellenwert von sprachlicher Bildung im Besondern und dem von Bildungsstandards im Allgemeinen fragt. „Bei allen Eingriffen in die Sprache sollte man sich darüber im Klaren sein, dass es darum gehen sollte, Texte leichter verständlich und nicht leichter lesbar zu machen“ erklärt Julia Kuhlmann 2013. Die Welt besteht eben nicht nur aus Beipackzetteln oder Bedienungsanleitungen, schon gar nicht für sie selbst. Unter anderem diesem Phänomen wandten sich 2015 auch Clemens Knobloch und Friedemann Vogel unter sprachdemokratischer Perspektive zu und fragten: „Wäre es nicht womöglich lohnender, sich für eine umfassende Beherrschung ausgebauter sprachlicher Register stark zu machen, anstatt einer weiteren Primitivisierung des öffentlichen Sprechens das Wort zu reden?“
Sie verwiesen auf die Ambivalenz, dass Leichte Sprache einerseits Symbolpolitik von Eliten ist, die zwar ein Programm auflegen, das ihre Sorge um die Partizipationsmöglichkeiten der breiten Massen werbewirksam zur Schau stellt – das allerdings nicht am Status Quo ändert, „sieht man davon ab, dass ein politischer Propagandist der Leichten Sprache zu einer wunderbaren fiktiven moralischen Gemeinschaft gehört und reiche Imagegewinne für sich verbuchen kann“. Zum anderen impliziert diese Politik, dass „leichte Sprache nur eine technische Übersetzung ihres ‚komplizierten‘ Pendants [sei]. Aber ‚leichter‘ ist, wie die Perspektivität von Sprache lehrt, eben nicht nur ‚nicht schwer‘, sondern immer auch anders“.
Auch Liessmann warnte: „Dass durch solches Entgegenkommen, vor allem wenn es auch als Unterrichtsprinzip reüssieren sollte, Menschen systematisch daran gehindert werden, sich einer einigermaßen elaborierten Sprache bedienen zu können, dass sie dadurch von der literarischen Kultur ferngehalten werden, wird bei diesen wohlmeinenden Versuchen nicht weiter bedacht.“ Seit Fazit liest sich wahrlich dystopisch: „So wohltönend können die Reden der Bildungsreformer und ihrer politischen Adepten gar nicht sein, dass sich dahinter nicht jene Geistfeindlichkeit bemerkbar machte, die den Analphabetismus als geheimes Bildungsziel offenbart“. Wenn aber ganzen Generationen die Sprache als Träger des Bewusstseins und Instrument komplexen und kritischen Denkens genommen wird, wirft das ein beklemmendes Licht auf unsere Zukunft. Das Ausfüllen von Behördenformularen, das Lesen von Zeitungsartikeln oder das Verstehen von Wahlunterlagen ist da nur Tarnung, denn längst kritisieren „Experten“, dass es in Deutschland bisher keine klare und verpflichtende Gesetzgebung zum Thema Leichte Sprache gibt, erst recht keinen Rechtsanspruch im Alltag, etwa beim Arztbesuch, auf dem Amt oder in den Medien.
„Ein Trauerspiel“
Doch diese mit Volkspädagogik im Namen politischer Korrektheit getarnte Geistfeindlichkeit, gepaart mit einer lexikalischen und semantischen Engführung, ja Nivellierung, schafft sich zunehmend Raum im politisierten Sprachdiskurs, der auf diesem Blog bereits analysiert wurde. Nur drei jüngere Beispiele mögen diese geistfeindliche Engführung belegen. Zum ersten ersetzt der „Leitfaden für Mitarbeitende der Berliner Verwaltung zum diversitysensiblen Sprachgebrauch“ bestimmte Begriffe, etwa „Ausländer“ durch „Einwohnende ohne deutsche Staatsangehörigkeit“. Ausländer werde so „aus der Warte politischer Korrektheit stigmatisiert … Es soll vom Gebrauch ausgeschlossen werden, weil man die ihm innewohnende Perspektive auf das Herkunftsland nicht dulden möchte“, so Peter Eisenberg auf dem Online-Auftritt des Stifterverbands. Aber „wer einer Sprache Wörter nimmt oder aufzwingt, vergreift sich autoritär an ihrer Ausdruckskraft“.
Zum zweiten machte die FU Berlin in einer Pressemitteilung im Sommer auf eine Veröffentlichung des Neurolinguisten Bálint Forgács aufmerksam. Dessen im Fachmagazin Frontieres in Climate veröffentlichte Studie zeige, „dass die bisherige wissenschaftliche Kommunikation rund um den Klimawandel häufig missverstanden wird oder nicht die nötige Dringlichkeit vermittelt“. Die Sprache der Klimaforschenden (sic!) sei häufig euphemistisch und technisch-jargonhaft. Dies entspräche zwar den wissenschaftlichen Normen, doch die versteckten Implikationen erschwerten es Nicht-Experten, die Schwere der Klimakrise vollständig zu begreifen: Der Einsatz einer negativeren (z.B. „globale Überhitzung“, „globale Verbrennung“), aktiveren (z.B. „Klimazerstörung“, „Klimaselbstmord“), und direkteren Sprache (z.B. „Hochofeneffekt“) könnte die Öffentlichkeit und politische Entscheidungsträger dazu motivieren, effektiver zu handeln.
Alexander Grau fand im Cicero schon den Gedanken bemerkenswert, dass die aufdringliche Klimaberichterstattung in Medien und Politik noch nicht alarmistisch genug sei. Noch spannender fand er allerdings den Vorschlag des Sprachwissenschaftlers, ohnehin schon fragwürdige Wortprägungen wie „Kipppunkte“ durch noch reißerische Formulierungen wie „Metastasen“ zu ersetzen. „Klimawandel“ und „Klimaerwärmung“ sähe der Linguist gerne durch „Klimazerstörung“ und „Klimaselbstmord“ ersetzt, „globale Verbrennung“ durch „Überhitzung“. Das Klima, so der Autor im Originalartikel, verändere sich nicht, sondern werde zerstört, biologische Vielfalt gehe nicht verloren, sondern werde vernichtet. Ein entsprechender „medical framework“ könne wirkungsvollere politische Vorschläge ermöglichen als die derzeit vorherrschenden wissenschaftlichen, wirtschaftlichen oder ökologischen Rahmen.
Man könnte die Sache als Anzeichen des intellektuellen Zerfalls der Universitäten abtun, so Grau. „Doch hier geht es um mehr. Auf erfreulich ehrliche Art artikuliert sich hier eine zutiefst autoritäre und restriktive Geisteshaltung.“ Denn vollkommen ungeniert heißt es in der Pressemitteilung der FU, eine entsprechende Umstellung des Klima-Vokabulars könne „dazu beitragen, eine ehrliche Bewertung der notwendigen rechtlichen und regulatorischen Schritte zur Erhaltung der Lebensfähigkeit unseres Planeten zu fördern.“ Auf gut Deutsch: „Mittels Sprachpolitik sollen die Weichen gestellt werden, um rechtliche Maßnahmen, Verbote und Auflagen der Bevölkerung schmackhaft zu machen. Eine Konditionierung mittels Manipulation der Sprache. Und die Pressestelle einer (noch) halbwegs renommierten deutschen Universität präsentiert dergleichen mit erkennbarem Stolz und in schlimmstem Genderdeutsch. Ein Trauerspiel“, zeigt sich Grau erschüttert.
„numerische Analyse der Verletzungsgrade“
Und zum dritten hat die Neuauflage des Dudens tatsächlich ein „Diskriminierungsbarometer“ eingeführt – das, im Gegensatz zur Schweiz, in Deutschland kaum beachtet wurde. Seither trägt eine von der Redaktion auserkorene Gruppe an Wörtern den Zusatz „teilweise diskriminierend“, „häufig diskriminierend“, „stark diskriminierend“, „derb diskriminierend“ oder „vulgär diskriminierend“. Zum Beispiel „Fettsack“. Laut Duden-Redaktion ist das Wort im Jahr 2024 „derb diskriminierend“, in der vorherigen Ausgabe galt es noch schlicht als „derb“. „Flittchen“ ist neuerdings „häufig diskriminierend“, und „Eskimo“ schätzt die Redaktion als „teilweise diskriminierend“ ein. Das ist kein Witz. „Und schon tut sich ein Abgrund auf“, erregt sich Leonie C. Wagner in der NZZ. „Was, bitte schön, sollen ‚häufig‘ und ‚teilweise‘ bedeuten? Ein versteckter Hinweis darauf, dass es einen Unterschied macht, wer das Wort in den Mund nimmt? Oder verbirgt sich dahinter eine numerische Analyse der Verletzungsgrade?“
Seit wann ist messbar, wie stark Worte verletzen, fragt sie zu Recht. So werden „Schwuchtel“ und „Schlampe“ als „diskriminierend“ gewertet, aber „zwergwüchsig“ erhält den Zusatz „stark diskriminierend“ – sind „Schwuchtel“ und „Schlampe“ etwa weniger beleidigend? „Und wie soll man sich das vorstellen? Führt die Duden-Redaktion intern eine Excel-Tabelle zum vermeintlichen Verletzungsgrad von Schimpfwörtern? … Woher kommt das Verlangen, jedes Wort haargenau aufzudröseln, gegen andere Wörter abzugrenzen und aufzuwiegeln? Und woher der Größenwahn, das auf eine sinnvolle Weise leisten zu können?“ Grundlage für die Diskriminierungsskala ist laut Duden-Redaktion der Duden-Korpus, eine riesige Sammlung aus verschiedensten Textgattungen. Der Wortgebrauch werde analysiert und mit anderen Wörterbüchern verglichen. Die Redaktion spricht von einem „dynamischen Prozess“, der nie abgeschlossen sei.
Auch der Leiter des Hamburger Literaturhauses Rainer Moritz beschrieb in der FAZ die Absurditäten und die Willkür, welche die neue Skala mit sich bringt. Buschmann, Kümmeltürke oder Kanake gelten als diskriminierend, nicht jedoch Itaker und Hurenbock, wundert er sich und konstatiert überdies eine „Prüderielatte“. Neben dem Anfang des Jahres erschienenen „Vielfalt“-Duden, in dem hundert Begriffe erläutert werden, die meisten von ihnen sprachliche Protagonisten von Diskussionen rund um sensible Sprache, Inklusion und politische Korrektheit, ist dies bereits der zweite Fauxpas der Mannheimer. Natürlich kann Sprache verletzen, können Wörter heftige Gefühle auslösen, Menschen auf gemeinste Art abstempeln und erschüttern. Aber welcher Art und wie tief diese Verletzung ist, geschweige denn, welche Wörter diese auslösen können – all das passt in kein Duden-Label. Da hilft es auch nicht, immer mehr solcher Labels einzuführen.
Immer wieder muss man daran erinnern, dass die erste Maßnahme des Big Brother-Regimes in Orwells „1984“ der radikale Umbau der Sprache war, um das Volk am Denken zu hindern und fügsam zu machen. In einem lesenswerten Essay unter der Schlagzeile „Meinungsfreiheit als Gefahr“ hat dies Cicero-Vize Ralf Hanselle anhand aktueller Indizien nachgewiesen: Für die Offenbacher Philosophin Juliane Rebentisch verzerrt sich in Missy die Idee der Meinungsfreiheit „von einem demokratischen Grundbegriff zu einem rechtspopulistischen Kampfbegriff“. Für die Friedenpreisträgerin des deutschen Buchhandels Carolin Emcke ist Pro und Contra nur „eine Rahmung, in der unsere guten Ideen in eine falsche Balance zu den bösen Ideen gebracht“ würden, wie sie auf der re:publica erklärte und dazu aufrief, nicht mehr „in Pro- und Contra-Veranstaltungen zu gehen“. Und der Journalist René Martens schlug, angeregt von Rebentischs Interview, in einer Kolumne für den MDR vor, man möge das Wort „Meinungsfreiheit“ bitte zum „Unwort des Jahres“ küren. Auch das ist kein Witz. Vor diesem Hintergrund liest sich die Rede der grünen Kulturstaatsministerin Claudia Roth zur Eröffnung der Buchmesse 2024 wie Hohn: Bücher „befähigten uns, mündige Bürgerinnen und Bürger zu sein. Sie befördern Selbstbestimmung und das gelingende Zusammenleben in Vielfalt und im Respekt und der Anerkennung der Verschiedenheit.“
Aber angesichts profaner Erklärungen wie der von Paulina Fröhlich vom „Progressiven Zentrum Berlin“ im RBB, jemanden mache es in Zeiten von Taylor Swift „nicht zu einem besseren Menschen, Goethe zu kennen“, denn bei Gedichten etwa sei es „ziemlich egal“, ob jemand „moderne nigerianische oder klassische deutsche Verse“ kennt (!), erinnern wir uns lieber an ein 1972 entstandenes Gedicht von Jorge Luis Borges, hier übertragen von Gisbert Haefs:
„… Du, Sprache Deutschlands, bist dein größtes Werk:
die verflochtenen Liebschaften zusammen-
gesetzter Wörter, offene Vokale
und Laute, die noch den beflissenen
Hexameter des Griechen möglich machen,
und dein Raunen von Wäldern und Nächten. …“