Wer 100 Gramm von ihnen verspeist, hat 407 Kilokalorien aufgenommen. Dieselbe Menge Zimtsterne liegt mit 358 Kilokalorien leicht drunter, dieselbe Menge Christstollen mit 412 Kilokalorien kaum drüber. Wenn ein gesundheitsbewusster Genießer zu den Feiertagen Fisch bevorzugt, könnte das auch an dessen Energiebilanz liegen: 100 Gramm Karpfen schlagen gerade mit etwa 111 Kilokalorien zu Buche. Aber wer wiegt schon Karpfen gegen Dominosteine auf? ALDI Süd hat es 2019 verkündet: sie wurden in seinen Filialen als beliebtestes Weihnachtsnaschwerk am häufigsten verkauft – vor dem Nugat-Baumstamm und Gewürz-Spekulatius. Nach einer Erhebung des Bundesverbands der Deutschen Süßwarenindustrie führten allerdings Lebkuchen vor Spekulatius und Stollen in der Beliebtheitsskala; die Dominosteine landeten auf Platz Vier.
Doch Platzierung hin oder her: auf den Inhalt kommt es an. Die Marketingreferentin des Dresdner Traditionsbäckers Dr. Quendt, Claudia Heller, hatte für die Rheinische Post ein wenig Warenkunde parat: „Es gibt den feinen und den feinsten Dominostein. Beim Feinen können die mindestens zwei Lagen Füllung Frucht, Marzipan oder Persipan enthalten.“ Im Feinsten dagegen seien immer ausschließlich Marzipan und Frucht. Sei es im Original mit Sauerkirschgelee, Marzipan und zartbitterummantelten Lebkuchenplatten, oder in der heute gängigen Abwandlung mit Apfelgelee, Persipan und Zartbitter, variiert mit Vollmilch- oder weißer Schokolade, ohne Marzipan für Allergiker, mit Aprikose als Frühlingsvariation – die Konfektquader sind wie Odol Mundwasser oder Melitta Kaffeefilter eine der vielen Dresdner Erfolgsgeschichten. Und die wird nun 85 Jahre alt.
Die raffinierte Köstlichkeit geht auf den Dresdner Chocolatier und Pralinenmacher Herbert Wendler zurück. 21-jährig hatte er 1933 nach seiner Ausbildung eine Pralinenmanufaktur gegründet, die 1945 zerstört, wiederaufgebaut und 1953 ihren endgültigen Firmensitz in einem früheren Ballsaal fand. Seine Kollektion feinster Pralinen, kunstvoller Marzipanfrüchte und zarter Baumkuchenspitzen wollte er durch eine eigene Schöpfung bereichern und experimentierte an Pralinen mit alternativen Zutaten: das Luxus-Naschwerk sollte für breitere Schichten erschwinglich werden. Nach vielen Degustationstests erschien ihm in der Adventszeit 1936 als die gelungenste Kreation eine Schichtpraline, für die er sich den Überlieferungen zufolge vom Bauhausstil der 1930er Jahre inspirieren ließ. Dazu verknüpfte er gekonnt jahrhundertealte Produktionsgeheimnisse Pulsnitzer Pfefferküchler mit dem Erfahrungsschatz deutscher Zuckerbäcker und seinem Wissen als Chocolatier.
„nicht im Mund, sondern im Gehirn“
Als im Zweiten Weltkrieg die Branche unter knapper werdenden Zutaten litt, setzte endgültig der Siegeszug für Wendlers Dominostein als „Notpraline“ ein. Seine Firma wurde 1972 verstaatlicht und 1990 wieder privatisiert. Ein einziges Feinkostgeschäft am Blasewitzer Schillerplatz führte zu DDR-Zeiten als einzige Dresdner Verkaufsstelle ganzjährig Dominosteine und Backoblaten. Als „Feine Dauerbackwaren GmbH & Co.KG“ ging Wendlers Firma 1996 in Insolvenz, Wendler starb zwei Jahre später. Produktionsmittel und Belegschaft wurden 1999 von Dr. Quendt übernommen, der die Produktion zwischen Frühjahr 2010 und Oktober 2011 kurzzeitig einstellte, sie aber rasch wieder anlaufen ließ. Als seine Eigenentwicklung ist das „Dresdner Herrenkonfekt“ mit 30 % Rum-Punsch-Füllung anzusehen.
Steigende Rohstoffpreise brachten Quendt bei der Vorfinanzierung der Stollenproduktion in Schwierigkeiten. Unterstützung kam aus Aachen: 2014 wurde der damalige Inhaber der Lambertz-Gruppe Mehrheitseigentümer. Laut Produktionsleiter Bernhard Puschner produziert allein Lambertz als Marktführer 8000 Tonnen Dominosteine jährlich, das sind umgerechnet 640 Millionen. 13 Frauen sitzen an einem spitz zulaufenden Tisch, erzählt er in der Welt, die über 16.000 von den 23 mm großen Würfeln pro Stunde in die Verkaufsschachtel einordnen: über 120.000 Stück pro Tag, sieben Monate im Jahr.
Bleibt die Frage, wie man die Leckerei am intensivsten genießt: quer, die Schichten einzeln abbeißend, oder längs. Die Ernährungswissenschaftlerin Gesa Schönberger plädiert im Focus für den Längsgenuss: „Das Ohr registriert, wie die Schokolade bricht, die Zunge verkündet, süß und zugleich leicht sauer – aber auch weich, sämig und kühl. Spätestens dann kommt auch die Nase ins Spiel, die das Aroma ergänzt: Es schmeckt nach Schokolade, Früchten, Marzipan und Weihnachtsgewürz. Und dann passiert das eigentlich Spannende: Unser Gehirn verknüpft diese blitzschnell erfassten Eindrücke miteinander und gleicht sie mit unseren Erwartungen und Erfahrungen ab. Bewertet wird der Dominostein also nicht im Mund, sondern im Gehirn.“ Na dann, füttern wir unser Gehirn, und füttern wir es gut!
„Diese Materienwellengleichung ist zunächst natürlich nur ein Rahmen, in den das Bild erst hineingezeichnet werden muss“, beendete er seinen Vortrag auf der 9. Nobelpreisträgertagung in Lindau 1959. „Und von diesem Bild existiert bisher auch nur ein Teil (…). Trotzdem kann man schon jetzt sagen, dass das Verhalten der Elementarteilchen zumindest qualitativ in vieler Hinsicht durch die Gleichung richtig beschrieben wird. (…) Die paar Ergebnisse, die jetzt schon im Detail vorliegen, scheinen mir doch so ermutigend, dass man noch eine Zeitlang diese Möglichkeit verfolgen sollte.“ Doch selbst anderen Koryphäen war es nach ihrer Veröffentlichung nicht möglich, seine Gleichung, seine „Weltformel“ zu verstehen: Werner Heisenberg, der am 5. Dezember 1901 in Würzburg geboren wurde.
Sein ehrgeiziger Vater hatte es als Handwerkersohn zum Professor für Griechisch gebracht. Während seiner Münchner Schulzeit entdeckte er die Freude am „Spielen zwischen Mathematik und unmittelbarer Anschauung“. Die Mathematik zur Beschreibung physikalischer Gesetze brachte er sich selbst bei und zeigte früh zwei Eigenschaften, die seine glänzende Karriere bestimmen sollten: Ehrgeiz wie sein Vater – und Begabung. Bereits auf dem Gymnasium war von der „spielenden Leichtigkeit“ die Rede, mit der Heisenberg „treffliche Leistungen“ erzielte. Auch sei er „ordentlich selbstbewusst“ und wolle immer glänzen. Später als Professor trainierte Heisenberg Tischtennis, um auch hier der Beste zu sein – so wie in der Wissenschaft und im Schachspiel.
In seiner griechischen Schullektüre stößt Heisenberg auf die Ideen des griechischen Philosophen Platon, nach dem Dreiecke die Basis unserer Welt bildeten. Diese Dreiecke sind selbst keine Materie, aber sie gestalten das uns bekannte Universum, indem sie sich zu verschiedenen Formen zusammenfügen: den bekannten platonischen Körpern. Er ist irritiert. Doch die Lektüre ist auch Schlüsselerlebnis für seinen weiteren Werdegang – Heisenberg will das Unbegreifliche der Ideenwelt Platons verstehen und für sich selbst die Frage nach der „Weltformel“ klären; ja klären, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ (Goethes Faust): Die Dreiecke werden bei ihm zu Quanten werden. Die Suche nach der tiefsten Quelle allen Verstehens war für ihn der gemeinsame Ursprung von Religion und Wissenschaft. 1918 zum Hilfsdienst eingezogen, überlebt er die Spanische Grippe.
Obwohl lange Zeit unentschlossen, ob er Musik oder Naturwissenschaften und Mathematik wählen soll, studierte Heisenberg von 1920 bis 1923 an der Münchner Universität Physik und promovierte über Stabilität und Turbulenz von Flüssigkeitsströmen. Zwischendurch hörte er 1922/23 in Göttingen auch Vorlesungen bei Max Born, wurde 1924 dessen Assistent und habilitierte sich. Im Rigorosum scheiterte Heisenberg beinahe am Mitprüfer, dem Experimentalphysiker Wilhelm Wien, der ihm bodenlose Ignoranz in der Experimentalphysik vorwarf. Nur das energische Eingreifen Sommerfelds ließ Heisenberg die Prüfung gerade noch bestehen. Bis 1926 war er an der Universität von Kopenhagen bei dem bekannten dänischen Physiker Niels Bohr beschäftigt und stellte bis 1927 zusammen mit Born und Pascual Jordan die Theorie der Quantenmechanik auf.
„jüdische Physik“
Grundlage ist seine These, dass die Wirklichkeit keine berechenbare, objektiv existierende Realität und nicht unabhängig von uns sein kann. Wir sind nicht nur ihr Beobachter, sondern ihr Mitschöpfer: Die Bahn der Elektronen im Atom entsteht erst dadurch, dass wir sie beobachten. Albert Einstein kann die weltanschaulichen Konsequenzen der Quantenmechanik nie akzeptieren. „Existiert der Mond auch dann, wenn keiner hinsieht?“ fragt er polemisch. Und weiter: „Wie ist das Phänomen der so genannten Nebelkammer zu erklären?“. In der Nebelkammer werden die Bahnen von Elementarteilchen sichtbar, ähnlich wie Kondensstreifen von Flugzeugen am Himmel. Auf diese Frage konzentriert Heisenberg seine Anstrengungen. Was man in der Nebelkammer wirklich beobachtet, sind nicht die Elektronen, sondern einzelne Wassertröpfchen, milliardenfach größer als ein Elektron.
Die richtige Frage musste also lauten: Kann man in der Quantenmechanik eine Situation darstellen, in der sich ein Elektron ungefähr – das heißt mit einer gewissen Ungenauigkeit an einem gegebenen Ort befindet und dabei wieder ungefähr eine bestimmte Geschwindigkeit besitzt? Von 1927 bis 1941 lehrte Werner Heisenberg als Professor für Physik an der Universität Leipzig – und macht gleich im Berufungsjahr Furore, in dem er diese Frage vereint: Es ist physikalisch nicht möglich, den Ort und den Impuls eines Elektrons mit absoluter Genauigkeit für den gleichen Zeitpunkt zu bestimmen. Je präziser demnach die Messung der Ortskoordinaten, desto unschärfer die Bestimmung der Impulskomponenten und umgekehrt. Die „heisenbergische Unschärferelation“ ist geboren und bedeutet letztendlich: Die Berechenbarkeit der Welt hat prinzipiell unüberwindbare Grenzen.
1928 wurde sein Buch „Die physikalischen Prinzipien der Quantentheorie“ publiziert; Reisen in die USA, nach Japan und nach Indien schlossen sich an. 1932 wurde er mit dem Nobelpreis für Physik geehrt. Durch Heisenberg gelang der sächsischen Universität der Anschluss an die Zentren der modernen Atomphysik: Kopenhagen, Cambridge und Göttingen. Zudem zog der inspirierende Lehrer hochbegabte Studenten an, darunter Carl Friedrich von Weizsäcker und den (späteren) „Vater der Wasserstoffbombe“ Edward Teller. Das NS-Regime verwehrte Heisenberg 1936 ein Engagement an der Münchner Universität aufgrund seines Eintretens für Albert Einstein und Lise Meitner.
1937 verliebt er sich in die Buchhändlerin Elisabeth Schumacher und heiratet sie. Aus der Ehe gingen insgesamt sieben Kinder hervor. In dieser Zeit wird seine Physik als „jüdische Physik“ angefeindet, er fühlt sich politisch und wissenschaftlich isoliert. Dennoch schlägt er lukrative Angebote aus den USA aus und bleibt mit seiner jungen Familie in Deutschland. 1941 baut Heisenberg mit seinen Mitarbeitern an der Universität Leipzig die Vorform eines Atomreaktors – der Weg zum Bau von Atombomben ist vorgezeichnet, die „jüdische Physik“ also doch erfolgreich. Prompt wurde er Leiter des Berliner Kaiser-Wilhelm-Instituts, das später in Max-Planck-Institut umbenannt wurde, und lehrte zudem als Professor an der Berliner Universität, wo er am Uranprojekt des Heereswaffenamtes beteiligt war.
Aber Heisenberg baut keine Bombe, weil die „Arbeiten an der Atombewaffnung … viel zu lange gedauert hätten. Ich konnte ganz ehrlich berichten: Im Prinzip kann man schon Atombomben machen, aber alle Verfahren, die wir bisher kennen, sind so ungeheuer kostspielig, dass es Jahre dauern würde und einen ganz enormen technischen Aufwand von Milliarden brauchen würde“. Geforscht wurde in einem Felsenkeller bei Haigerloch in Württemberg. Eilig haben es die Physiker nicht: Wie Bewohner berichten, übt Heisenberg lieber an der Kirchenorgel über dem Felsenkeller und gibt Konzerte für die Einheimischen.
Weltformel weitgehend gescheitert
Von einem amerikanischen Spezialkommando verhaftet, wird er mit neun weiteren deutschen Wissenschaftlern, darunter Carl Friedrich von Weizsäcker und Otto Hahn, auf dem Landsitz Farm Hall in England interniert und erfährt aus dem Radio vom Abwurf einer Atombombe über Japan: „Ich wollte diese Nachricht zunächst nicht glauben. … Erst am Abend, als der Berichterstatter im Rundfunk den riesigen technischen Aufwand schilderte, der geleistet worden sei, musste ich mich mit der Tatsache abfinden, dass die Fortschritte der Atomphysik, die ich 25 Jahre lang miterlebt hatte, nun den Tod von weit über hunderttausend Menschen verursacht hatten.“ 1946 wurde er Direktor und Professor des Max-Planck-Instituts für Physik in Göttingen und blieb dort bis zu seiner Emeritierung 1970. Zu seinem Forschungsgebiet zählte unter anderem die Atomspaltung kosmischer Strahlungen im Raum.
Nach einer Gastprofessur in Cambridge fungierte er von 1949 bis 1951 als Präsident des Deutschen Forschungsrats und der traditionellen Göttinger Akademie der Wissenschaften, hält weitere Gastvorträge in den USA und wurde 1952 Vizepräsident des „Europäischen Rats für kernphysikalische Forschung“, aus dem das Forschungszentrum CERN hervorgeht, sowie ein Jahr später erster Präsident der Alexander-von-Humboldt-Stiftung in Bonn-Bad Godesberg. Diese Funktion übte er bis 1975 aus. Er stand Konrad Adenauer nahe, setzte sich für eine verstärkte Kernforschung und für den Bau von Reaktoren ein, lehnte jedoch gleichzeitig eine militärische Nutzung der Kernenergie ab. 1957 bekannte er sich in der Göttinger „Erklärung der 18 Atomwissenschaftler“ öffentlich gegen die Ausstattung der Bundeswehr mit Atomwaffen.
Im Jahr darauf lehrte er als Professor für Physik an der Münchner Universität und leitete zugleich, ebenfalls bis 1970, das dortige Max-Planck-Institut. Heisenberg engagierte sich auch im Tübinger Memorandum, in dem sich 1961 die Unterzeichner gegen eine atomare Bewaffnung und für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze aussprachen. Als Ende der 1960er Jahre die Studentenbewegung auch sein Institut okkupierte, reagierte Heisenberg empfindlich und zog Vergleiche zu nationalsozialistischen Studentenbewegungen in den 1930er Jahren. Für Hans-Peter Dürr, Heisenbergs Schüler und Nachfolger als Direktor des Münchner Max-Planck Instituts, war er ein „Künstler-Wissenschaftler“: Es spielte Klavier und sicher vom Blatt; es gibt eine Aufnahme von Mozarts d-Moll-Klavierkonzert mit Heisenberg als Pianist in seinem Hause in München von 1966.
Er starb am 1. Februar 1976 in München, wo er auch begraben ist. Heisenberg war Mitglied in vielen Akademien der Wissenschaften und Ehrendoktor zahlreicher Universitäten und Hochschulen. Nach ihm wurde das Heisenberg-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) benannt, das seit 1977 das Heisenberg-Stipendium und seit November 2005 auch die Heisenberg-Professur umfasst. Zahlreichen Schulen und geographische Orte tragen seinen Namen. Damals eine Sensation, gilt seine „Weltformel“, die den Aufbau der Materie im Sinne eines „gemeinsames Urfelds“ als Grundlage allen Seins beschreiben wollte, heute als weitgehend gescheitert, diente aber als Inspiration für Terry Pratchetts Antwort „42“ in Per Anhalter durch die Galaxis auf die Frage „nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“. Experimentell bewiesen ist bis heute nur, dass Materie direkt aus Energie entsteht.
Bis heute nicht vollständig aufgearbeitet ist seine Reise mit Carl Friedrich von Weizsäcker 1941 nach Kopenhagen, um mit seinem väterlichen Freund Niels Bohr über die Implikationen einer deutschen Atombombe zu sprechen. Das Gespräch wurde von Michael Frayn unter dem Titel Kopenhagen (1998) in einem bekannten Theaterstück dramatisiert. Bohr verstand Heisenberg offenbar völlig falsch, floh über Schweden in die USA und rekonstruierte den Los-Alamos-Physikern das Gespräch mit der Skizze einer Bombe, die in Wirklichkeit ein Reaktor war. Heisenbergs früherer Mitarbeiter Edward Teller nahm seinen Doktorvater später vehement in Schutz und äußerte die Ansicht, dass Heisenberg das Atomwaffenprojekt niemals ernsthaft verfolgt habe.
Als er unter dem Vorwand einer wichtigen
wirtschaftspolitischen Beratung kurzfristig für den 23. März 1968 nach Dresden
gerufen wird, ahnt er nicht, mit welch massivem Aufwand alle anderen bereits in
den letzten drei Wochen, seit Aufhebung der Zensur in der ČSSR, Informationen
über seine Politik der Öffnung gesammelt und eine konzertierte Aktion
vorbereitet haben. Als sich in Elbflorenz die Generalsekretäre der sechs
sozialistischen Bruderparteien versammeln (UdSSR, Polen, Ungarn, Bulgarien, DDR
und ČSSR – das eigensinnige Rumänien wurde ganz bewusst nicht eingeladen) und
in einer gemeinsamen Attacke versuchen, ihn und seine Genossen einzuschüchtern,
wird streng darauf geachtet, das nichts nach außen dringt. Und so machen sich
westliche Zeitungen – ohne wirkliche Quellen – ihren Reim darauf.
Der Daily Express schreibt nach der Konferenz in Dresden: „Der ruhige Tscheche geht als Sieger nach Hause.“ Der neue Parteichef habe in Dresden triumphiert. Ein paar Meter weiter, beim konservativen Daily Telegraph, das komplett gegenteilige Bild: „Nach der panischen kommunistischen Supergipfeltagung scheint es möglich, dass Russland bereit sei, Gewalt anzuwenden.“ Zwei Mal ein Blick in die Glaskugel – denn valide Informationen besitzen beide Blätter nicht. Ganz bewusst wurde in Dresden kein offizielles Protokoll angefertigt: Auch 1968 schon hatte man Angst vor den Leaks im eigenen Apparat. Aber ein inoffizielles gibt es, heimlich stenografiert und von Walter Ulbricht, möglicherweise in Absprache mit Leonid Breschnew, angeordnet.
Während Breschnew in Dresden versucht, zwei Rollen auf
einmal zu bedienen – die des aggressiv Parteidisziplin einfordernden
Chef-Generalsekretärs und die des sorgenden Vaters, für den das Wohl der
sozialistischen Gemeinschaft an oberster Stelle steht, erweist sich
ausgerechnet Polens Parteichef Władysław Gomułka als Scharfmacher: „Ihre
Führung und Ihre Regierung haben im Wesentlichen nichts in der Hand. Sie führen
nicht. Sie regieren nicht. … Wir haben nicht die Absicht, uns in die inneren
Angelegenheiten einzumischen, aber es gibt Situationen, wo so genannte innere
Angelegenheiten äußere Angelegenheiten werden, also Angelegenheiten des ganzen
sozialistischen Lagers.“ Und dann schlägt Breschnew zu: „Wir können der
Entwicklung in der Tschechoslowakei nicht mehr länger unbeteiligt zuschauen.“ Damit
ist das Schicksal des „Prager Frühlings“ und auch seins als Parteichef früh
besiegelt: Alexander Dubček, der am 27. November vor 100 Jahren im
nordwestslowakischen Uhrovec als zweiter Sohn eines Tischlers und Kommunisten
geboren wurde.
„sozialistisch“ nicht
gerechtfertigt
Der Vater folgt dem Aufruf der „Internationalen
Arbeiterhilfe“, sich am Aufbau der Sowjetunion zu beteiligen, übersiedelt mit
seiner Familie 1925 und lebt bis zur Rückkehr 1938 anfangs im kirgisischen Bischkek
(heute Frunse), ab 1933 in Zentralrussland. In dieser Zeit lernte Alexander Maschinenschlosser.
1939 wurde er Mitglied der Kommunistischen Partei der Slowakei (KPS), war ab
1941 Facharbeiter in den Skoda-Werken in Dubnica nad Váhom und nahm 1944 zusammen
mit der Partisaneneinheit „Jan Ziska“ am Slowakischen Nationalaufstand teil. In
den Kämpfen kommt sein älterer Bruder ums Leben. 1945 beginnt er als Schlosser
in einer Hefefabrik in Trencin zu arbeiten und heiratet seine Kindheitsfreundin
Anna. Aus der Ehe gehen drei Söhne hervor. Ab 1949 machte der als spröde, blass
und unscheinbar beschriebene Dubček über verschiedene Parteiämter Karriere,
ging 1955 für drei Jahre zum Studium an die Moskauer Parteihochschule und
erlebt das Tauwetter nach Stalins Tod.
Nach seiner Rückkehr gerät er prompt in Konflikt mit Antonín Novotný, dem damaligen Ersten Sekretär des Zentralkomitees der KPČ. So lehnt er dessen Verfassungsreform von 1958 ab: Nach seiner Meinung war bspw. die Namensänderung von ČSR in ČSSR – also der Zusatz „sozialistisch“ – nicht gerechtfertigt. Der Kampf kulminierte am 31. Oktober 1967: Dubcek fordert auf einer ZK-Tagung seinen Rücktritt, da dessen autoritäres und starres System immer mehr auf Ablehnung innerhalb der Bevölkerung stoße. An diesem Tag hatten Studenten gegen die Zustände in ihren Wohnheimen protestiert, Novotný ließ die Proteste gewaltsam auflösen. Letztlich ging es dabei um Banales, meint der Münchner Historiker Martin Schulze Wessel im DLF: „Es ging darum, dass es in dem Studentenwohnheim keinen Strom und keine Heizung gab. Und man ging dann mit Losungen auf die Straße‚ wir wollen mehr Licht, mehr Wärme, was auch sehr bildhaft zu verstehen war.“ Am 5. Januar 1968 löste Dubček Novotný als Ersten Sekretär der KPČ ab – noch mit Moskauer Zustimmung.
„Wir wussten nicht viel über ihn, aber die Slowaken
versicherten uns, dass er einen beträchtlichen Schub in Sachen Freiheit bringen
würde. Man konnte mit ihm reden. Im Grunde genommen war er ein lieber Mensch,
der versuchte, mit jedem gut auszukommen. Er war nicht dieser traditionelle
Kommunist, der genau wusste, was die Wahrheit ist“, so der Schriftsteller Ivan
Klíma. Schlüsseldokument wurde ein Aktionsprogramm, das Dubček vor dem
Zentralkomitee verteidigte: „Wir müssen der Initiator für die Verfassungsänderung
unserer Republik werden. Dabei geht es nicht nur um die Verbesserung von
Missständen, sondern tatsächlich um ein neues Konzept, das den Bedürfnissen
unserer Gesellschaft in den kommenden Jahren gerecht wird.“ Eine
technokratische Expertenregierung sollte die Krise beenden und wurde im April
unter Oldrich Cernik gebildet, und auch die langjährigen Forderungen der
Slowaken nach stärkerer Selbstbestimmung sollten die Reformer erfüllen.
„die Bürger konnten
Einfluss nehmen“
Das Parteiorgan Rudé
Pravo schrieb von einem „tschechoslowakischen Weg zum Sozialismus“. Besonders
die Gesellschaft soll liberalisiert werden, um dem „Sozialismus ein
menschliches Antlitz“ zu geben. Unter anderem wird die Zensur abgeschafft, den
Bürgern die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit garantiert, Reisen ins
westliche Ausland erlaubt sowie Privatisierungen kleinerer Betriebe sowie
Entscheidungskompetenzen für Betriebsräte eingeleitet. Kommunismus,
Einparteiensystem und die Treue zu Moskau dagegen stellte Dubček nicht in Frage:
„Es ist nicht nötig, darüber zu diskutieren, ob die Partei die führende Rolle
behalten soll oder nicht, aber wir müssen die Art der tatsächlichen Anwendung
dieser Rolle überprüfen.“ Er wird zur weltweit berühmten Symbolfigur des
sogenannten Prager Frühlings, erhält den Tschechoslowakischen Friedens- und den
Dimitroff-Preis.
In kurzer Zeit entwickelte sich in der Tschechoslowakei eine kritische Öffentlichkeit, sagt der Historiker Vítězlav Sommer ebenfalls im DLF: „Die Medien wurden zu einer mehr oder weniger freien Tribüne für den Austausch darüber, in welche Richtung die Reform gehen sollte. Nun wurde die Entwicklung nicht nur von oben, von Politikern und Experten gesteuert, sondern auch die Bürger konnten Einfluss nehmen, von unten.“ Jenseits der Partei entstanden offene politische Gruppierungen wie der „Klub der engagierten Parteilosen“ und unabhängige Studentenorganisationen. Zum bedeutenden Zeugnis des aufkeimenden Pluralismus wurde das „Manifest der 2000 Worte“, das im Juni massive Kritik an der Politik der Partei äußerte. Im September sollte ein vorgezogener großer Parteitag die Reformer endgültig legitimieren.
Doch als Anfang August in Bratislava ein letzter Versuch der
„sozialistischen Bruderländer“ scheiterte, die tschechoslowakischen Genossen zur
politischen Umkehr zu bewegen, okkupieren in der Nacht auf den 21. August
Truppen des Warschauer Paktes das Land. Die DDR-Volksarmee blieb hinter der Grenze,
denn man wollte jede Erinnerung an den Einmarsch der deutschen Wehrmacht
1938/1939 vermeiden. Historiker sprechen von mehr als 100 Toten und 500
Verletzten. Die NATO musste dem Einmarsch tatenlos zusehen, jede Hilfe war
wegen der atomaren Bedrohung völlig ausgeschlossen. Am 12. November 1968 erlässt
der sowjetische Parteichef dann seine „Breschnew-Doktrin“, die von einer
beschränkten Souveränität der sozialistischen Staaten sprach und eine neue
Erstarrung der beiden Blöcke im „Kalten Krieg“ auslöste.
Dubček verharrt im Prager ZK-Gebäude, bis er verhaftet wird. Anschließend wird er nach Moskau verschleppt und unterzeichnet dort mit dem „Moskauer Protokoll“ die Kapitulationsurkunde des Reformprozesses sowie die Einführung politischer Verhältnisse nach sowjetischem Vorbild. Er kehrt als gebrochener Mann zurück. Als er vor dem Radiomikrophon saß, um die Ergebnisse aus Moskau zu verkünden, versagte ihm mehrmals die Stimme. Am 17. April 1969 musste er als Parteichef der KPČ zurücktreten und durfte ein halbes Jahr den unbedeutenden Posten des Parlamentspräsidenten bekleiden. Danach für kurze Zeit als Botschafter in die Türkei abgeschoben, wird ihm im Januar 1970 sein Platz im ZK der Partei, im April sein Mandat im Slowakischen Nationalrat und im Juni seine Parteimitgliedschaft entzogen.
Dubček weigert sich, das Land zu verlassen, und arbeitet bis
zu seiner Pensionierung, abgeschirmt von der Öffentlichkeit durch den
Sicherheitsdienst, als Aufseher eines Fuhrparks der Waldarbeiter in einem
Forstbetrieb in Bratislava. 1974 beschwert er sich in einem Brief an den neuen
Parteichef Husák über die Verweigerung der Promotionsfeier für seinen Sohn und
kritisiert zusätzlich die politische Situation im Lande. Husák, der kein
Stalinist war, aber Realismus mit Opportunismus auf den einen Nenner der Macht
brachte, bescheinigte dem Vorgänger „ehrliches Bemühen“ plus Naivität und
Romantik. Die 1977 vor allem von Václav Havel initiierte „Charta 77“ unterschrieb
Dubček nicht.
unvorsichtige Politik?
1988 darf er auf Drängen der italienischen Kommunisten die
Ehrendoktorwürde für politische Wissenschaften der Universität Bologna im
Rahmen ihrer 900-Jahres-Feier entgegennehmen. Die Prager Reformbewegung wäre
ohne das gewaltsame Eingreifen der Sowjetunion sicherlich erfolgreich gewesen,
ihre Ziele ähnelten denen der Reformpolitik Michail Gorbatschows, sagte er in
seiner Rede. Noch immer jedoch würden Menschen, die so dächten wie er, in der
ČSSR verfolgt. Es war Dubčeks erster öffentlicher Auftritt in einem westlichen
Staat überhaupt. Im Zuge der Reformpolitik ab 1989 wird er Mitbegründer der
Bewegung „Öffentlichkeit gegen Gewalt“ (VPN).
Er trat am 22. November im Rahmen der „Samtenen Revolution“ erstmals wieder in Prag öffentlich auf. Zwei Tage später sprachen Havel und er am Wenzelsplatz zu hunderttausenden Demonstranten und forderten den Rücktritt des Politbüros der Kommunistischen Partei. „Es kommt, glaube ich, sehr selten vor, dass ein Mensch, der bei der Geburt einer großen Bewegung dabei ist, 20 Jahre später wieder in dieselbe Politik zurückkehrt“. Doch es ist nicht dieselbe Politik. Die Bevölkerung will keinen demokratischen Sozialismus, sondern einen freiheitlichen Kapitalismus. Seine Zeit ist vorbei, obgleich die alte Parteiführung ging und er rehabilitiert wurde.
Am 28. Dezember 1989 wieder zum Parlamentspräsidenten
gewählt, erhält er den Sacharow-Menschenrechtspreis und in den nächsten 20
Monaten die Ehrendoktorwürde der Universitäten Madrid, Washington, Bratislava,
Brüssel und Dublin. 1990 stirbt seine Frau Anna. Er verlässt die VPN wegen
deren nationalistischen Bestrebungen, tritt 1992 in die Sozialdemokratische Partei
der Slowakei (SDSS) ein, deren Vorsitz er im Juni übernimmt, und wird als
heißer Kandidat für das Amt des slowakischen Präsidenten gehandelt. Am 1. September
erleidet er dann auf der Autobahn nahe der Stadt Humpolec mit seinem Dienst-BMW
einen schweren Unfall: Aquaplaning und überhöhte Geschwindigkeit, heißt es
später. Er bricht sich Rückgrat und Becken und stirbt am 7. November im Prager
Homolka-Krankenhaus. Die Aufspaltung des Landes in Tschechien und Slowakei
erlebt er nicht mehr.
Da der Chauffeur und ehemalige Mitarbeiter des tschechischen
Geheimdienstes, Jan Resnik, der zudem als rasanter Fahrer verschrien war,
lediglich leicht verletzt wurde, nur wenige Vertraute Route und Ziel kannten
und die Aktentasche Dubčeks, die brisante Dokumente über die Rolle des KGB bei
der Niederschlagung des Prager Frühlings enthalten haben soll, spurlos
verschwindet, wird von seinem Sohn Pavol und anderen bis heute die These eines
gezielten Anschlags diskutiert. Letzteren versuchte der Jurist Liboslav Leksa
in seinem 1998 veröffentlichten Buch „Tragödie am Kilometerstein 88“ zu
beweisen. Doch mehrere staatliche Untersuchungen, die diesem Verdacht
nachgingen, fanden – zuletzt und endgültig 1999 – keine Hinweise auf Unregelmäßigkeiten.
Sowohl in der Tschechischen Republik als auch in der Slowakei wird der „Prager Frühling“ heute zum großen Teil als unvorsichtige Politik gewertet, die die Tschechoslowakei danach zu einem der repressivsten kommunistischen Staaten überhaupt werden ließ. Denn Dubčeks „dritter Weg“ hätte unweigerlich in eine Demokratie geführt: Zu schnell entwickelte sich in breiten Schichten der Bevölkerung der Wunsch, nun alle Freiheiten zu genießen. Jede dieser Freiheiten, zumindest aber ein Mehrparteiensystem, hätte den Sozialismus zweifellos beendet.
So hat der tschechische Reformer ungewollt eines endgültig
bewiesen: Einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, wie ihn Teile der
bundesdeutschen Linken bis heute propagieren, kann es nie geben. „Wer den
Sozialismus vermenschlichen will, muss ihn beseitigen“, meint der Politologe Andreas
von Delhaes-Guenther im Bayernkurier.
„Denn der Allmachtsanspruch dieser Ideologie, das Gleichmachen von Ungleichem,
das zwangsweise zum Scheitern verurteilte Wirtschaftskonzept und die Idee, den
Menschen jede Eigenverantwortung zu nehmen, führt zwangsläufig immer in die
Diktatur.“
Keiner kann so ausrasten wie er: 1972 brüllt er den
Regisseur Werner Herzog an, der mit ihm „Aguirre, der Zorn Gottes“ in Peru
dreht. „Sie sind kein Regisseur, Sie müssen bei mir lernen!“, schreit er. „Sie
sind ein Anfänger, ein Zwergen-Regisseur sind Sie, aber kein Regisseur für
mich!“ Die Ureinwohner, mit denen Herzog drehte, boten ihm damals an, den
Schauspieler zu töten, wenn er nicht aufhörte, am Set herumzuschreien. „Dieses
Angebot war sehr ernst gemeint. Ich hätte bloß nicken müssen“, sagte Herzog
2018 dem Tagesspiegel. „Das
Interessante daran war, dass die Leute im Dschungel, unglaublich stille
Menschen, eher dazu bereit waren, einen Mord zu begehen, als ständiges Geschrei
zu ertragen.“
Dabei erweckte zumindest der junge Darsteller mit seinem
unschuldigen Schmollmund, dem entrückten Himmelfahrtsblick und der hohen Stimme
so gar nicht den Eindruck des unberechenbaren Egomanen. Mit markantem Gesicht
und stechendem Blick ist er später der ideale Darsteller für Besessene aller
Art. Rund 140 Filme dreht er – darunter viel Schrott, wie er selbst findet.
„Ich habe in meinem Leben auch Klosetts gescheuert. Und plötzlich hab‘ ich,
anstatt Toiletten zu scheuern, eben Scheißfilme gedreht, weil ich es auch
konnte“, sagt er einmal. Obwohl er von vielen seiner Filme nichts hält, hat er
von sich selbst doch immer die höchste Meinung gehabt und konnte nie genug
bekommen, nicht genug Geld, nicht genug Sex, nicht genug Verehrung: Klaus
Kinski, der am 23. November 1991 in seiner Wahlheimat San Francisco unerwartet an
einem Herzinfarkt stirbt.
Als Klaus Günter Karl Nakszynski kommt er 18. Oktober 1926 im Danziger Stadtteil Zoppot als letztes von vier Kindern eines Apothekers zu Welt. 1930 zog die Familie nach Berlin. Nach eigenen Aussagen musste sich Kinski während der Schulzeit Geld zum Unterhalt selbst verdienen: Als Schuhputzer, Laufjunge und Leichenwäscher. Das ist nicht weiter belegt. Im Zweiten Weltkrieg wurde er 1944 zu einer Fallschirmjägereinheit der Wehrmacht eingezogen, geriet an der Westfront in den Niederlanden, offensichtlich verwundet, in britische Kriegsgefangenschaft und wurde Im Frühjahr 1945 aus einem Lager in Deutschland in das Kriegsgefangenenlager „Camp 186“ in Berechurch Hall bei Colchester in Essex gebracht. Hier spielte er am 11. Oktober in der Groteske „Pech und Schwefel“ seine erste Theaterrolle auf der provisorischen Lagerbühne, die vom Schauspieler und Regisseur Hans Buehl geleitet wurde. In den folgenden Aufführungen spielte er regelmäßig Frauenrollen.
Im Frühjahr 1946 gehörte er zu den letzten Gefangenen, die aus dem Lager zurück nach Deutschland geschickt wurden. Nach eigener Darstellung habe er zunächst mit einer sechzehnjährigen Prostituierten, die er im Zug kennengelernt habe, sechs „wilde“ Wochen in Heidelberg verbracht, diese aber verlassen und danach an Theatern in Tübingen und Baden-Baden gearbeitet, wo er auch vom Tod seiner Mutter durch einen Luftangriff in Berlin erfahren habe. Im Herbst habe er sich illegal nach Berlin begeben, wohin ihn Boleslav Barlog zum Schlosspark-Theater holte.
Doch schon bald brach Kinski mit seinem Förderer, warf ihm die Fensterscheiben der Wohnung ein und begann seine Laufbahn „als Exzentriker der Bühne und des Lebens“, wie die FAZ meinte. Seinen ersten triumphalen Erfolg feierte Kinski mit Jean Cocteaus Einakter „La voix humaine“, wieder verkleidet als Frau – für das prüde Berlin ein Skandal. Er besuchte kurz die Schauspielschule von Marlise Ludwig, wo er unter anderem mit Harald Juhnke Szenen aus William Shakespeares Romeo und Julia einstudierte: „Ich wirkte wortlos und leise neben ihm. Er verströmte Barrikadenduft“, erinnert sich Juhnke.
Zertrümmerte
Luxusrestaurants und verprügelte Polizisten
Seine erste Filmrolle erhielt er in Eugen Yorks „Morituri“, gedreht zwischen September 1947 und Januar 1948. Darin ging es um geflohene KZ-Insassen, die sich vor den Deutschen verstecken. Der Film war umstritten; es gab Drohbriefe, und ein Hamburger Kino wurde zerstört. Kinski befand sich im Jahr 1950 drei Tage lang in psychiatrischer Behandlung in der Berliner Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, nachdem er eine ihm bekannte Ärztin belästigt und tätlich angegriffen und einen Suizidversuch mit Medikamenten unternommen hatte. Kinski zog dann nach München und bewohnte eine Pension mit dem damals noch Jugendlichen Werner Herzog, der ihn als bereits zu dieser Zeit mit exzentrischen Allüren auffallend beschrieb.
1951 lernte er Gislinde Kühbeck auf dem Schwabinger Fasching
in München kennen, heirate sie nach der Geburt der gemeinsamen Tochter Pola und
ließ sich 1955 scheiden. Neben seiner Theaterarbeit machte er sich in dieser
Zeit mit seiner „Ein-Mann-Wanderbühne“ einen Namen. Mit seinen leidenschaftlichen
Rezitationen der Werke Baudelaires und Nietzsches, Villons und Dostojewskis
füllte er Säle. 1955 verursachte Kinski einen Autounfall, zudem ereignete sich
ein Bootsunfall auf dem Starnberger See. Gerichtsverfahren und Strafen
schlossen sich an, die finanziellen Folgen belasteten den Schauspieler
jahrelang.
Im Sommer 1955 dreht er in Wien mit „Um Thron und Liebe“ einen
Film über das Attentat von Sarajevo auf den Österreich-Ungarischen Thronfolger
Erzherzog Franz Ferdinand – er wurde als Attentäter Nedeljko Čabrinović besetzt.
In „Ludwig II – Glanz und Elend eines Königs“ mit O. W. Fischer in der
Titelrolle mimte er dessen Bruder, den geisteskranken Prinz Otto, und empfahl
sich so schon früh für weitere Rollen dieses Typus. Anlässlich der Verleihung
des „Deutschen Filmpreises“ brachte
Kinski die Gestaltung dieser Figur eine Nominierung für das „Filmband in Gold“
ein. Fischer war von seinem jungen Kollegen dermaßen beeindruckt, dass er ihn
für sein Biopic „Hanussen“ über den böhmischen „Hellseher“ engagierte.
Die internationale Filmszene war ebenfalls auf den Deutschen aufmerksam geworden, vor allem durch die unsäglichen, dennoch heute zum Kult gewordenen Edgar-Wallace-Verfilmungen in den 1960er Jahren, in denen Kinski mit irrem Blick und zuckenden Mundwinkeln durch Grünanlagen und Herrenhäuser hastete und als wahnsinniger Psychopath Kinogeschichte schrieb. Erstmals zeigte er sich 1960 in „Der Rächer“, 14 weitere Produktionen sollten bis 1969 folgen, darunter „Die Toten Augen von London“, „Der schwarze Abt“ und „Das indische Tuch“. Nach Berlin übergesiedelt, traf er die 20-jährige Sängerin Brigitte Ruth Tocki und heiratete sie 1960. Aus dieser Ehe, die 1969 geschieden wurde, ging die Tochter Nastassja Kinski hervor, die ebenfalls Schauspielerin wurde. Nach dem Tatort „Reifezeugnis“ von Wolfgang Petersen, in dem sie mit 15 Jahren eine lehrerverführende Lolita geben muss, sagten 55 Prozent der befragten deutschen Männer, sie hätten von Sex mit ihr geträumt.
1965 übersiedelte Kinski nach Rom und erhielt durch seine
Nebenrolle des Anarchisten Kostoyed Amourski in dem Kassenschlager „Doktor
Schiwago“ (1965) nach dem gleichnamigen Roman von Boris Pasternak vermehrt
internationale Angebote. Hauptsächlich fand er Beschäftigung im neuen Genre des
Italo-Western, wo er als perfider Schurke endlich Hauptrollen spielen durfte.
Zum Kultfilm des Western-Genres geriet Sergio Corbuccis „Leichen pflastern
seinen Weg“ (1968), in der Kinski als skrupelloser Kopfgeldjäger Loco
triumphierte. Er lernte 1969 die 19-jährige vietnamesische Sprachstudentin
Minhoï Geneviève Loanic kennen, die er 1971 heiratete. 1976 kam der Sohn Nanhoï
Nikolai zur Welt, im Februar 1979 ließen sich Klaus und Minhoï scheiden. Zertrümmerte
Luxusrestaurants, verprügelte Polizisten und unzählige Affären erzählen von dem
Weg eines kompromisslosen Egomanen, der bürgerliche Konventionen weder
beachtete noch respektierte. Um sein Luxusleben zu finanzieren – er fuhr allein
sieben Ferraris –, dreht er manchmal bis
zu 10 Filme pro Jahr. Das Enfant terrible des internationalen Films war zunehmend
exzentrisch, wirkte krank, ausgemergelt, dem Wahnsinn nahe und gab sich gerne
lasziv und ungepflegt mit seinen strähnigen Haaren. Talkshow-Auftritte mit ihm
endeten fast regelmäßig als Skandal.
„Selbstinszenierung
als Wahrheitsverkünder“
Kinski zeigte sich seit Rom als der Furcht einflößende
Bösewicht in vielen weiteren Wildwest-, Action- und Agentenfilmen. Ein Angebot
von Fellini, das mit einer Gage aufwartet, die eine „Unverfrorenheit“ ist,
schmettert er mit den Worten „Lass‘ Dich in den Arsch ficken“ ab. Wenn er
akzeptiert wird, ist er am Set zumeist diszipliniert und sorgt für einen reibungslosen und schnellen Arbeitsgang
wie bei Jess Francos „Jack the Ripper“, den er in acht Tagen abdreht. Am 20.
November 1971 versuchte sich Kinski als Jesus-Rezitator mit einem
skandalträchtigen Auftritt in der Berliner Deutschlandhalle mit dem Titel „Jesus
Christus Erlöser“. Nach Zwischenrufen von Zuschauern und einem harten Wortgefecht
kam es zu einem frühen Abbruch der Veranstaltung und der geplanten Tournee. Der
entstandene Dokumentarfilm erhielt das Prädikat „Besonders wertvoll“: „Der Sog
von Kinskis besonderer Diktion, seine rebellische, antikapitalistische
Interpretation der Bibel in der Melange mit seiner Selbstinszenierung als
Wahrheitsverkünder und Ankläger machen diesen Auftritt zu einer Provokation,
die das Publikum im Saal aufheizt und sich schnell in einer rasenden Beschimpfungsorgie
entlädt“, ist auf der Webseite der Filmbewertungsstelle zu lesen.
Kinski hat einen sicheren Instinkt, der ihm die Kraft gibt, das zu sein, was er will. Er spielt seine Rollen aus dem Stehgreif. Drehbüchern oder Anweisungen von Regisseuren schenkt er keine Beachtung. Auf Proben pfeift er. „Hin- und Herlatschen, damit die Regisseure auch mal sehen, warum sie keine Fantasie haben, das mache ich nicht.“ Publizität erhält seine Arbeitsweise besonders im Zusammenhang mit Werner Herzog, mit dem er ab den 1970er Jahren „Aguirre“, „Nosferatu“, „Woyzeck“, „Fitzcarraldo“ und „Cobra Verde“ drehte. „Fitzcarraldo“ wurde für den „Golden Globe“ nominiert: Der Abenteurer und Fantast dieses Namens ist als Caruso-Fan von der Idee besessen, in der peruanischen Amazonas-Stadt Iquitos ein Opernhaus zu errichten, und zieht zu diesem Zweck gar einen alten Dampfer in einer tollkühnen Aktion über eine Urwaldhöhe. Obgleich Kinski einmal öffentlich zugibt, gut damit beraten zu sein, nur noch mit Herzog zu drehen, empfindet er nichts weiter als Spott und Verachtung für den selbsterklärten Autodidakten: „Herzog ist ein miserabler, gehässiger, missgünstiger, vor Geiz und Geldgier stinkender, bösartiger, sadistischer, verräterischer, erpresserischer, feiger und durch und durch verlogener Mensch.“
Das Drehbuch zu „Aguirre“ tut er als „analphabetisch
primitiv“ ab. Es ist die Geschichte des spanischen Conquistadors Don Lope de
Aguirre, der sich mit einer Expedition im 16. Jahrhundert auf den Weg durch die
peruanischen Anden macht, um „El Dorado“, das sagenhafte Goldland, zu finden.
Mit der Zeit wird durch Erschöpfung, Krankheit und auch Meuterei die Gruppe um
Aguirre immer kleiner, so dass zum Schluss nur noch der Don übrigbleibt und als
einsamer Irrer auf einem Floß den Amazonas hinunterfährt. Ganz anders „Woyzeck“,
der ihn ob der frappierenden charakterlichen Ähnlichkeit zu dieser Person erschauern
lässt. Es ist so, als würde Kinski das alles schon einmal erlebt haben: „Das
Schlimmste, das ich je beim Film durchmachen musste. Ich habe bereits gesagt,
dass die Geschichte von Woyzeck Selbstmord ist. Selbstzerfleischung. Jeder
Drehtag, jede Szene, jede Einstellung, jedes Photogramm ist Selbstmord.“ Nach
nur 16 Drehtagen ist der Büchner-Streifen abgedreht. Es ist der mit Abstand
beeindruckendste Kinski-Film, dessen Intensität nie mehr erreicht wurde.
„zu viel Brutalität
und Pornographie“
1979 erhielt er das Filmband in Gold für das Murnau-Remake
„Nosferatu“ als bester deutscher Schauspieler, erschien jedoch nicht zur Preisverleihung.
Kinski wirkte auch in mehreren Hollywood-Spielfilmen mit, unter anderem spielte
er mit Jack Lemmon und Walter Matthau im letzten Billy-Wilder-Film „Buddy Buddy“.
In „Little Drummer Girl“ spielte er neben Diane Keaton die Hauptrolle. In dem
US-Fernsehfilm „The Beauty and the Beast“ (1983) war er Hauptfigur neben Susan
Sarandon und Anjelica Huston. Mitte der 1980er Jahre drehte er die Action-Filme
„Codename: Wildgänse“ und „Kommando Leopard“ mit Lewis Collins in der
Hauptrolle. Die beiden Schauspieler kamen jedoch nicht miteinander aus, sodass
im zweiten Film keine einzige Szene mit beiden zusammen gedreht wurde. 1987
ging Kinski eine Beziehung mit der damals 19-jährigen italienischen
Schauspielerin Debora Caprioglio ein, die sich aber 1989 wieder von ihm
trennte. Im selben Jahr stellte er mit „Kinski Paganini“ sein letztes Filmwerk
fertig: Nachdem er den Stoff über Jahre hinweg vergeblich Produzenten und
Regisseuren angetragen hatte, übernahm er schließlich Regie, Drehbuch, Schnitt
und Hauptrolle selbst. Die Rohschnittversion von knapp zwei Stunden Länge wurde
jedoch von der Jury der Filmfestspiele von Cannes wegen „zu viel Brutalität und
Pornographie“ vom Wettbewerb ausgeschlossen, was Kinski zu einer wutentbrannten
Pressekonferenz vor Ort veranlasste.
Sein Privatleben dokumentierte er als einen einzigen Exzess, nachzulesen in seinen Autobiografien „Ich bin so wild nach Deinem Erdbeermund“ (1975) sowie „Ich brauche Liebe“ (1991) – Bücher, die von vielen als Skandal empfunden wurden. Seine Todesursache Herzversagen ist selbst für die Boulevard-Presse zu unspektakulär, um daraus einen großen Aufreißer zu machen. Die Obduktion ergab, dass das Herz vernarbt war – wahrscheinlich eine Folge mehrerer unbehandelter Herzinfarkte. Der Leichnam wurde seinem Wunsch gemäß verbrannt, die Asche mit einem Boot zur „Golden Gate Bridge“ gefahren und in den Pazifik gestreut. Sein Tod ist schnell abgetan, die üblichen Nachrufe sind schon nach wenigen Tagen durchgestanden. „Kinski spielte Unholde, Visionäre, Besessene, Erotomanen, Narzisse, Magiere, Berserker, Verbrecher, Exhibitionisten“, würdigt ihn das Lexikon des Internationalen Films. „An diesem nervösen Seher von Innenwelten wirkte deshalb alles übersteigert. Rasender und Meditierender zugleich, war er gestisch und mimisch das perfekte Medium seiner inneren Stimmen und Alpträume, denen er wortgewaltig Ausdruck verlieh. Er war ein Avantgardist der Artikulation, das Sprechen entwickelte er zur eigenständigen Kunstform.“
1999 brachte Herzog mit „Mein liebster Feind“ ein Porträt
Kinskis in die Kinos, in dem das besondere Verhältnis der beiden noch einmal
reflektiert wird. „Er war einfach die ultimative Pest. Leute wie Marlon Brando
waren Musterschüler im Vergleich zu ihm“, sagte er, erinnerte sich an „monströse
Kämpfe“ in einer „tiefen, tiefen Freundschaft“. 2001 erschien aus dem Nachlass
der Band „Fieber – Tagebuch eines Aussätzigen“, eine Sammlung mit insgesamt 52
zum Teil wütenden Gedichten. 2011 erhielt er auf dem Berliner Boulevard der
Stars einen Stern. Zwei Jahre später wurde der Avantgardist von seinen Töchtern
vom Sockel gestürzt: In ihrem Buch „Kindermund“ beschreibt Pola, wie ihr Vater
sie seit ihrem 9. Lebensjahr missbraucht hat. Nastassja wurde nach den
Enthüllungen ihrer Schwester gefragt: „Hat Ihr Vater auch Sie missbraucht?“ Kinski antwortete: „No, not in the
way that you mean, but in other ways, yes.“ „Eine Heldin, die ihr Herz,
ihre Seele und damit auch ihre Zukunft von der Last des Geheimnisses befreit hat“,
sagte sie über ihre Schwester. In einem posthumen Brief an seinen Sohn hatte Kinski
einst geschrieben: „Wenn Dir jemand sagt, ich sei tot, glaube es nicht. Ich bin
der Regen und das Feuer, das Meer und der Wirbelsturm. Sei nicht traurig. Ich
sterbe niemals.“
Vor gut einer Woche veröffentlichte Christian Felber seinen Text „30 Gründe, warum ich mich derzeit nicht impfen lasse“ – der, natürlich, auf der Volksverpetzer-Seite mit teils rabulistischen, teils geifernd-ideolgischen Argumenten zerpflückt wurde. Ich hab ihn mir zu eigen gemacht, variiert, ergänzt und stelle ihn hier zur Diskussion.
Im Winter 1227/28 war die einst so beliebte Adlige am Tiefpunkt
ihres Lebens angekommen: Niemand wollte ihr und ihren drei kleinen Kindern
Obdach gewähren. Weder die wohlhabenden Bürger noch der Klerus öffneten ihnen
die Türen. Selbst die Armen, denen sie einst geholfen hatte, verspotteten die
verstoßene Adlige. Als sie mit ihren Kindern schließlich in einen alten
Schweinestall ziehen musste, soll sie bitter festgestellt haben: „Den Menschen
würde ich gern danken, aber ich weiß nicht wofür.“ Für immer mit ihr verbunden
bleibt das sogenannte „Rosenwunder“, das ihre Mildtätigkeit und Heiligkeit
sowie ihre Zuwendung zu den Armen und zur Armut ausschmückt. Da andere Versionen
die Legende auf Elisabeth von Portugal sowie auf Nikolaus von Tolentino
beziehen und eine ihrem Gatten verheimlichte Mildtätigkeit historisch
unwahrscheinlich ist, ist davon auszugehen, dass die Wanderlegende erst nach
ihrer Heiligsprechung auf sie übertragen wurde.
Die Geschichte dazu geht so: Als sie eines Tages in die
Stadt geht, um den Armen Brot zu geben, obwohl gerade dies ihr unter Strafe
verboten ist, trifft sie die Mutter ihres Mannes (in anderen Versionen ihren
Mann selbst), die ihre Barmherzigkeit nicht gutheißt und ihr eine Falle stellen
will. Auf die Frage, was sie in dem Korb (andere Versionen: unter der Schürze)
habe, den sie bei sich trägt, antwortet sie, es seien Rosen im Korb. Ihre
Schwiegermutter bittet sie, das Tuch zu heben, um die wunderbaren Rosen sehen
zu können. Widerwillig hebt sie das Tuch, und im Korb sieht die Schwiegermutter
statt Broten nur: Rosen. Von Hans Gottwald, einem Schüler Tilman
Riemenschneiders, 1515 in Saalburg über Moritz von Schwind 1855 in Eisenach bis
Josef Wittmann 1956 im bayrischen Kehlheim reichen die bildlichen Darstellungen
von ihr und dem Wunder: Elisabeth von Thüringen, die am 17. November 1231 in
Marburg starb.
Geboren wurde sie 1207 auf Burg Sárospatak bei Preßburg. Zeitgleich fand der berühmte „Sängerkrieg“ auf der Wartburg statt. Dichtung und Legende erzählen von der Anwesenheit des zauberkundigen Klingsor aus Ungarn und seinem prophetischen Hinweis auf die Königstochter Elisabeth: Ihr Vater war der ungarische König Andreas II., ihre Mutter Gertrud entstammte der einflussreichen Familie Andechs-Meranien. Über ihre Geschwister, die sie bestenfalls flüchtig kannte, war sie mit dem europäischen Hochadel verbunden: Ihr Bruder Béla folgte seinem Vater auf dem ungarischen Thron, ihre Schwester Maria heiratete Iwan Assen II., den Zaren von Bulgarien.
Aufgrund ihrer Herkunft wurde Elisabeth unter Einfluss der
politischen Interessen von Papst Innozenz III. und einer Fürstenkoalition gegen
Kaiser Otto IV. als politische Schachfigur im Machtspiel der europäischen
Dynastien benutzt. Entsprechend der
damaligen Praxis zog die Prinzessin bereits als Vierjährige zur Familie ihres
Verlobten, Hermann von Thüringen. Dort übernahm die fromme Landgräfin Sophie
die Erziehung ihrer zukünftigen Schwiegertochter. Elisabeth wuchs deshalb
überwiegend auf den Residenzen der thüringischen Landgrafenfamilie auf,
darunter der Neuenburg bei Freyburg/Unstrut, der Runneburg bei Weißensee und
schließlich der Creuzburg an der Werra.
Elisabeth fiel durch Frömmigkeit, Schönheit und Sittsamkeit
auf. Die Verlobungszeit aber verlief so gar nicht nach Plan. Erst fiel
Elisabeths Mutter Gertrud einem politischen Mord zum Opfer. Weil dadurch die
Auszahlung von Elisabeths versprochener Mitgift unsicher wurde, sank auch ihre
Stellung in Thüringen. Dann starb überraschend der älteste Sohn des Landgrafen,
Elisabeths Verlobter Hermann; ein Jahr darauf auch sein Vater. Die unbrauchbare
Kinderbraut solle zurückgeschickt werden, forderten immer lautere Stimmen bei
Hofe. Als Herrscher stand nun der zweitgeborene Ludwig an, der, nachdem er
volljährig geworden war, 1218 als Ludwig IV. Landgraf wurde – und Gefühle für
Elisabeth entwickelt hatte. 1221 heiratete er die Vierzehnjährige in Eisenach.
„ist mir die Welt
gestorben“
Es war eine für diese Zeit völlig unübliche Liebesehe, aus der drei Kinder hervorgingen; darunter Sophie (1224–1275), die später als Herzogin von Brabant in Gestalt ihres Sohnes Heinrich Stammmutter des Hauses Hessen wurde – von ihr stammen alle noch heute lebenden Nachkommen Elisabeths ab. Entgegen späterer Legenden unterstützte der sonst so skrupellose Machtpolitiker Ludwig die karitativen Ambitionen seiner Frau. 1223 gründete das Paar gemeinsam das Maria-Magdalenen-Hospital in Gotha. Als 1225 die ersten Franziskaner nach Eisenach kamen, übte deren Ideal befreiender Besitzlosigkeit großen Einfluss auf Elisabeth aus. Sie gründete unterhalb der Wartburg ein zweites Hospital, unterstützte das Kloster und kümmerte sich selbst um Bedürftige, besuchte Armenviertel. Trotz der Unterstützung, die Elisabeth darin von ihrem Mann erhielt, wurde ihr Engagement von der Familie mehr als skeptisch betrachtet.
Armenfürsorge gehörte zwar zu den traditionellen Aufgaben
einer mittelalterlichen Landesfürstin, doch Elisabeth wollte nicht nur von
ihrem Überfluss geben. Sie verschenkte zunehmend ihren Schmuck und trug nur zu
höfischen Anlässen widerwillig ihre prächtigen Gewänder. Dass sie persönlich
aussätzige Kinder pflegte und sogar Verstorbene für ihre Beerdigung wusch,
empfand ihr Umfeld als Zumutung: Elisabeth solle sich endlich standesgemäß
verhalten und Thüringen als Landgräfin würdig vertreten. Ausführlich berichten
die Legenden, wie sie unerschüttert den Verleumdungen und Vorwürfen ihrer
Umgebung standhielt.
1226 betrat der gefürchtete, redegewaltige Kreuzzugprediger
und Inquisitor Konrad von Marburg den Hof bei Eisenach. Er wurde Elisabeths
geistlicher Leiter und Beichtvater und sah in der frommen Adligen vor allem
seine Chance, als „Macher“ einer neuen Heiligen Ruhm zu erlangen. Der strenge
Priester trieb Elisabeth zu immer neuen asketischen Höchstleistungen an. Bald
war Ludwig die einzige Person, die außer Konrad noch nennenswerten Einfluss auf
Elisabeth hatte. Ludwig war inzwischen dem Deutschen Orden beigetreten und wurde
prompt zum 5. Kreuzzug gerufen. Kurz vor seiner Abreise legte die damals zum
dritten Mal schwangere Elisabeth ein doppeltes Gelübde ab: Soweit dadurch nicht
Ludwigs Rechte betroffen würden, versprach sie auf ihren geistlichen Leiter
hören. Und sollte sie Witwe werden, wollte sie ehelos bleiben und Konrad gar
absoluten Gehorsam leisten.
Ludwig erkrankte im italienischen Brindisi, wurde – schon eingeschifft – in Otranto wieder an Land gebracht und starb dort 1226 an einer Seuche – die Legende berichtet aber auch von einem verderblichen Trank, den er mit der Kaiserin Jolanthe getrunken habe, denn auch sie starb. Elisabeth war tief traurig: „Mit ihm ist mir die Welt gestorben“. Der Legende nach zersprang der Stein ihres Ringes bei der Todesnachricht. Nach dem Tod ihres Mannes wurde Elisabeth mit ihren drei Kindern von ihrem Schwager Heinrich Raspe von der Wartburg vertrieben mit der Begründung, sie verschwende öffentliche Gelder für Almosen. Elisabeth sei nicht mehr zurechnungsfähig, war Heinrich überzeugt.
In Eisenach fand sie keine Unterkunft, habe zunächst in
einem Schweinestall gehaust. Bei ihrem Onkel mütterlicherseits, dem Bischof von
Bamberg, fand Elisabeth dann mit ihren drei Kindern Aufnahme. Der wollte sie
wieder vermählen, aber Elisabeth lehnte selbst die Werbung von Kaiser Friedrich
ab. Rückkehrende Kreuzfahrer brachten ihr Ring und Gebeine Ludwigs; nach seiner
feierlicher Bestattung musste man ihr auf Betreiben von Papst Gregor IX. ihr
Witwengut herausgegeben. Legendär ist, dass Gregor, auf Franziskus‘
ausdrücklichen Wunsch, diesem den Mantel von den Schultern nahm und ihn
Elisabeth zusandte.
„ohne jeden Abscheu“
Konrad übte weiterhin erheblichen Einfluss auf Elisabeth aus.
Das Verhältnis zwischen der jungen Witwe und dem Priester gab schon damals
Anlass zu Spekulationen. In der Moderne wurden Elisabeth sogar psychische
Störungen unterstellt. Ihr Lebenswandel aber erklärt sich nur mit Blick auf
ihre Zeit: Das 13. Jahrhundert war eine Periode intensiver Gottsuche, die sich
schonungslos mit der Problematik ungerechten Besitzes auseinandersetzte. Eine
radikale Armutsbewegung nach der anderen entstand. Während einige als Ketzer
verfolgt wurden, entwickelten sich andere zu den bis heute bekannten
Bettelorden. Ganz in dieser Tradition stand auch Elisabeth.
Die Suche nach einer „kompromisslosen Nachfolge Christi mit dem Ziel ihres persönlichen Heilsstrebens“ erkannte Irmtraut Sahmland im Ärzteblatt. Elisabeth habe sich immer weiter zurückgenommen: der Verzicht auf die Repräsentation ihrer sozialen Stellung im Angesicht des gekreuzigten Christi, die asketische Lebens- und Ernährungsweise, schließlich die Abweisung aller Optionen, die einer Witwe in ihrer Position offen gestanden hätten. Mit ihrer Entschädigungssumme gründete sie 1228 ein Hospital vor den Stadtmauern von Marburg und wählte als Patron den erst kurz zuvor heiliggesprochenen Franz von Assisi. 1229 zog sie dann als einfache Spitalschwester dorthin – auf Konrads Druck isolierte sie sich von ihren letzten Freundinnen, sagte sich von ihrer Familie los und gab ihre Kinder ab.
Isentrud von Hörselgau, eine ihrer Mägde, berichtet 1235 im
„Libellus de dictis quatuor ancillarum sanctae Elisabeth confectus“: „Und
obwohl sie verdorbene Luft nirgends sonst vertragen konnte, ertrug sie doch die
Ausdünstungen der Kranken im Sommer, welche die Mägde nur unter Klagen
aushielten, ohne jeden Abscheu, behandelte die Kranken heiter mit ihren eigenen
Händen und wischte mit dem Schleier ihres Hauptes ihr Antlitz, ihren Speichel,
ihren Auswurf und den Schmutz ihres Mundes und der Nase ab. Außer diesen hatte
sie in demselben Haus noch viele arme Kindlein, für die sie sorgte. Gegen die
war sie gütig und mild, dass alle sie Mutter nannten und zu ihr liefen und sich
um sie scharten, wenn sie ins Haus kam. Unter ihnen liebte sie besonders die
Krätzigen, Kranken, Schwachen, Hässlichen und Ungestalteten, streichelte ihr
Haupt mit den Händen und barg es in ihrem Schoß.“
Im November 1231 wurde Elisabeth krank; es heißt, dass ihre
letzten Tage von kindlicher Heiterkeit überstrahlt waren. Wenige Tage vor ihrem
Tod hatte sie eine Vision von einem Vogel, der zwischen ihr und der Wand
fröhlich sang und sie dazu bewog mitzusingen. Sie verschenkte ihre letzten
Sachen und soll sogar noch ihre Gefährtinnen getröstet haben. Elisabeth starb
im Alter von 24 Jahren, aufgezehrt in der Fürsorge für andere, und wurde am 19.
November in ihrem Franziskushospital in Marburg bestattet. Viele Menschen
sollen als Zeichen ihrer Verehrung während der Aufbahrung Stücke von den
Tüchern, die Elisabeths Gesicht bedeckten, abgerissen, ihr Haupthaar, Nägel und
sogar einen ihrer Finger abgeschnitten haben. Konrad von Marburg leitete
spätestens im Frühjahr 1232 ihr Heiligsprechungsverfahren ein und trieb es bis
zu seinem Tod energisch und geschickt voran – er wurde 1233 von Adligen wegen
seines Fanatismus‘ erschlagen. Von ihm stammt die „Summa Vitae“; die erste
Biographie Elisabeths.
„Es kündet St.
Elisabeth“
Während des Verfahrens wurden über 600 Zeugen vernommen und 105 medizinische Wunder verzeichnet, die die Elisabeth lebend oder tot vollbracht haben soll; die Hälfte davon bei Kindern unter 14 Jahren. Die Heiligsprechung wurde zu Pfingsten 1235 offiziell verkündet. Der Deutsche Orden, der seinen Verwaltungssitz in Marburg hatte, erweiterte Elisabeths Spital und ließ nach der Heiligsprechung bis 1283 die ihr geweihte Kirche als ersten gotischen Bau in Deutschland errichten. 1236 erfolgte die Erhebung ihrer Gebeine im Beisein des Kaisers Friedrich II. von Hohenstaufen; er stiftete eine Krone, mit der der gesondert abgetrennte Kopf gekrönt wurde. Das Reliquiar befindet sich heute ohne Inhalt im Historischen Museum in Stockholm, das Haupt wird in der Klosterkirche zur Hl. Elisabeth in Wien aufbewahrt.
1240 wurde die neue Predigerkirche in Eisenach der
Landgräfin geweiht, 1245 der goldene Schrein mit ihren Gebeinen in Marburg mit
der Inschrift „Gloria Teutoniae“ versehen. Die Überlieferung und Verehrung von
Elisabeth wurde ab Mitte des 13. Jahrhunderts stark beeinflusst durch die von
Dietrich von Apolda vor 1240 verfasste Lebensgeschichte. Die Wallfahrt – durch
wundersame Heilungen sich ausbreitend – wuchs nun so schnell, dass sie bald
eine mit der zu Jakobus nach Santiago de Compostela vergleichbare Bedeutung
erreichte. Besonders die Bettelorden förderten ihre Verehrung als einer Frau
königlicher Herkunft, die sich dennoch um Arme kümmert, und sie breiteten die
Verehrung in ganz Europa, besonders in Belgien, Frankreich, Italien und Ungarn
aus. Im 14./15. Jahrhundert wurden ihr viele Spitäler geweiht.
Philipp von Hessen ließ Elisabeths Reliquien 1539 im Zuge der Reformation aus dem Sarg entfernen und gab den Befehl, die sterblichen Überreste seiner Ahnfrau so zu zerstreuen, dass sie nicht wieder auffindbar sein sollten, um die Verehrung zu beenden. Der Statthalter Georg von Kolmatsch missachtete aber die Weisung, ließ die Gebeine auf sein Wasserschloss Wommen bringen und musste die nach der Niederlage der Protestanten im Schmalkaldischen Krieg 1548 an den Deutschen Orden zurückgeben. Seit dem frühen 19. Jahrhundert erlebte Elisabeths Verehrung neuen Aufschwung mit romantischer Verklärung ihres Tuns und der von ihr gewirkten Wunder. Sie wurde in der bildenden Kunst und der Musik vielfach gewürdigt, etwa durch Franz Liszts Oratorium „Die Legende von der heiligen Elisabeth“ (1865). An ihrem 750. Todestag im Jahre 1981 veranstalteten die Kirchen in der atheistisch-sozialistischen DDR (!) ihre erste Massenversammlung, bei der Zehntausende auf dem Platz unterhalb des Erfurter Domes zusammenkamen. 1994 stellte sich bei seiner Neugründung das Bistum Erfurt unter ihr Patronat.
Der österreichische Kulturhistoriker Friedrich Heer nannte
Elisabeth „eine der zartesten, innigsten und liebenswertesten“ Heiligen des
Mittelalters; der katholische Theologieprofessor Alban Stolz schrieb, „dass
außer der Mutter Gottes Maria noch keine weibliche Person eine größere, weiter
verbreitete Verherrlichung auf Erden gefunden hat als die Heilige Elisabeth“. Im
deutschen Sprachgebiet ist der 19. November, ihr Begräbnistag, Elisabeths
Gedenktag – wie der evangelische und anglikanische. In anderen Ländern ist dagegen
ihr Todestag, der 17. November, der katholische Gedenktag. Sie ist Patronin von
Thüringen und Hessen, der Witwen und Waisen, Bettler, Kranken, unschuldig
Verfolgten und Notleidenden, der Bäcker, Sozialarbeiter und
Spitzenklöpplerinnen, des Deutschen Ordens, der Caritas-Vereinigungen, und zweite
Patronin des Bistums Fulda. Auch eine Bauernregel ist ihr gewidmet: „Es kündet
St. Elisabeth / was für ein Winter vor uns steht.“ Eine Gedenktafel für sie fand
Aufnahme in die Walhalla.
Was wäre in diesem Jahr für eine Diskussion entbrannt! „Wie
kann man die Pockenimpfung einführen, ohne selbst mit gutem Beispiel
voranzugehen?“, schrieb sie in einem privaten Brief an Friedrich II. von
Preußen. Sie ließ Mitte Oktober 1768 eigens den britischen Arzt Tomas Dinsdale
kommen, der die Impfmethode der sog. „Inokulation“ praktizierte, die in Indien
seit der Antike bekannt war: Bis zu 15 winzige Schnitte wurden in der Haut
gemacht, so dass es kaum blutete. Auf die Wunden wurde ein Stück Stoff gelegt,
das mit einer Lösung aus Wasser und Flüssigkeit aus Pockenpusteln getränkt war,
in ihrem Fall von einem 6-jährigen Jungen.
Der Arzt führte ein Tagebuch über ihren Zustand: „In der Nacht nach der Impfung schlief die Kaiserin gut, es gab leichte Schmerzen und der Puls beschleunigte sich. Der Gesamtzustand war ausgezeichnet. Das Essen bestand aus Eintopf, Gemüse und etwas Hühnerfleisch.“ Am 18. Oktober hatte sie zum ersten Mal Fieber, verlor den Appetit, und an ihrem Körper bildeten sich Pockenpusteln. Nach zehn Tagen waren alle Symptome vollständig abgeklungen, und am 1. November nahm sie nicht nur die Glückwünsche ihres Hofstaates entgegen, sondern ließ auch ihren Sohn Paul Petrowitsch erfolgreich impfen.
Dass sie Angst vor den Pocken hatte, lag auch an ihrem Mann
Peter III., der als Kind schwer erkrankt war und noch immer unter den Folgen
litt: seine Gesundheit war irreversibel beschädigt und sein Gesicht für immer
entstellt von Pockennarben – was erotisch so wenig anziehend war, dass sie sich
mit über 20 Liebhabern umgab. Ob ihrer erfolgreichen Immunisierung ernannte
sie Dinsdale zum Baron und gab ihm eine jährliche Rente. Dann impfte der
englische Arzt den höchsten russischen Adel. Nach seiner Rückkehr nach England
war Dimsdale so reich, dass er eine Pockenimpfklinik und eine Bank eröffnete.
Er kehrte 1781 noch einmal nach Russland zurück, um auch Konstantin und Alexander
zu impfen, ihre Enkel: Katharina II. „die Große“, die vor 225 Jahren, am 17.
November 1796, an einem Schlaganfall in Petersburg starb.
Hochzeit und erste
Liebhaber
Als Sophie Auguste Friederike Prinzessin von Anhalt-Zerbst
kam sie am 2. Mai 1729 als Tochter des preußischen Generals und Staathalters
von Stettin in der Ostseestadt zur Welt. Ihre unbeschwerte Kindheit verbrachte
sie, die anfangs als unscheinbar, aber bildungs- und sprachbegeistert beschrieben
wird, im Stettiner Schloss, unterbrochen von Verwandtschaftsbesuchen in Zerbst,
Braunschweig oder Berlin sowie 1739 im Eutiner Schloss, wo sie ihrem
zukünftigen Gatten Karl Peter Ulrich von Schleswig-Holstein-Gottorf, einem Cousin
zweiten Grades, erstmals begegnete. Nach dem Tod ihres Großvaters und der
dadurch bedingten Regierungsübernahme ihres Vaters zog die Familie im Dezember
1742 ins Zerbster Schloss. Fast parallel dazu entschloss sich die kinderlose Kaiserin
Elisabeth Petrowna, ihren Neffen Karl Peter zum Thronfolger zu ernennen. Der
nahm an, trat zum russisch-orthodoxen Glauben über und wurde als Peter
Fjodorowitsch Großfürst. Im Jahr darauf riet Friedrich II. Elisabeth, ihren
Nachfolger mit Sophie zu vermählen.
Elisabeth folgte dem Rat, und so traf die 14jährige im Februar 1744 in Moskau ein. Mit Ehrgeiz und Zielstrebigkeit lernte sie Russisch und versuchte, sich am Hof zu integrieren. Der Verlobung im selben Jahr folgte im Spätherbst 1745 die Hochzeit, die zehn Tage dauerte. Trotz großer Vorbehalte ihres Vaters konvertierte sie vom evangelisch-lutherischen zum orthodoxen Glauben und bekam zu Ehren der Kaiserinmutter den Namen Jekaterina Alexejewna. Ein Porträt von Louis Caravaque zeigt sie 1745 als bildhübsche junge Frau. Doch die Ehe war weder harmonisch geschweige glücklich. Schon in der Hochzeitsnacht wurde deutlich, dass der Großfürst nur wenig Interesse für Katharina empfand: Während sie auf ihn im Schlafgemach wartete, kam er spät nachts betrunken von seiner Feier wieder. Er selbst unterhielt ein Verhältnis mit Gräfin Woronzowa.
Katharina wird jetzt als lebensfroh beschrieben, reitbegeistert,
intelligent, musikalisch und belesen, wobei sie neben historischen auch
politische Bücher von Montesquieu oder Voltaire las. Während sie jeden
Gottesdienst besuchte und am religiösen, aber auch höfischen Leben teilnahm,
schuf sich Großfürst Peter seine eigene Welt in Oranienbaum (heute Lomonossow).
Peter liebt Preußen, Katharina Russland; Peter begeistert sich für Zinnsoldaten,
Katharina für Voltaire; Peter mag Uniformen, Katharina gründet
Wohlfahrtsverbände. Anfangs band er Katharina noch in seine Spiele mit den kleinen
Soldatenfiguren ein und ließ sie die preußische Uniform tragen. Doch schon bald
verloren beide jeglichen Bezug zueinander, sie nimmt ihn als kindisch und
unwissend wahr.
Als nach sieben Jahren das Großfürstenpaar immer noch
kinderlos ist, verliert Kaiserin Elisabeth die Geduld und verlangt nach einem
Thronfolger, den der Ehemann nicht zeugen kann oder will. Der Kammerherr Sergej
Saltykow wird mit Hilfe Elisabeths der Liebhaber Katharinas und kann als Vater
des Erben, Paul I., gelten, der am 1. Oktober 1754 zur Welt kommt – und von
Peter als sein eigener Sohn anerkannt wird. Doch schnell wird Sergej ihr untreu,
verrät sie, berichtet sogar über die Affäre mit ihr. Das trifft Katharina sehr
und prägt ihr Verhältnis zu Männern im weiteren Leben. Saltykow wird von der
Zarin als Diplomat nach Schweden, später nach Hamburg geschickt.
Der polnische Politiker Stanisław Poniatowski wird ihr
zweiter Liebhaber. Er hat gute Manieren, ist der gebildetste Mann, den sie
jemals haben wird. Und für ihn ist Katharina die Liebe seines Lebens. Am 9.
Dezember 1757 bringt sie die kleine Anna zur Welt, die mit Sicherheit als Tochter
Poniatowskis gilt. Die Erziehung beider Kinder, die jeweils sofort nach der
Geburt von ihrer Mutter getrennt wurden, übernahm Elisabeth selbst. Anna starb
bereits nach zwei Jahren. Katharina schickt den Vater nach Polen zurück und
macht ihn dort 1764 zum polnischen König Stanislaus II. August. Mit dem dritten Liebhaber, dem adligen
Eskorteoffizier Grigori Orlow, hat sie 1762 wiederum einen Sohn, Alexei. Orlow
kämpfte im Siebenjährigen Krieg, war wohl ein Kerl wie ein Baum – und sollte
das Schicksal seiner Dienstherrin und seines Landes entscheidend beeinflussen.
Staatsstreich und
Machtübernahme
Denn 1761 starb Elisabeth, und Peter wird neuer Zar. Sein angeblich ungebührliches Auftreten während der Trauertage verärgerte Katharina und auch große Teile des Hofes und des Volkes. Zudem schließt er außenpolitisch einen Separatfrieden mit Preußen, der zwar das Ende des Siebenjährigen Krieges bedeutete, für Russland allerdings Nachteile brachte, und führte innenpolitisch ein umfangreiches Reformprogramm ein, wodurch er sich die Feindschaft der konservativen Kräfte des Landes zuzog, zumal der Kleinadligen. Zudem besagten Gerüchte, dass Peter plante, nach seiner Thronbesteigung Katharina aus dem Weg zu räumen, um dann seine Mätresse zur neuen Zarin zu machen. Orlow nun will Peters schwache Regierung und Preußenliebe sowie ihn als Konkurrenten nicht hinnehmen, Katharina nicht ihre Kaltstellung, und so schmieden beide den Plan für einen Staatsstreich.
Am 9. Juli 1762 proklamieren die Garderegimenter in einer
Kirche Katharina II. als neue Kaiserin Russlands. Zugleich legt Grigori Orlow
dem Herrscher des größten Reichs Europas die Abdankungsurkunde vor. Peter III.
unterschreibt. „Der Zar ließ sich entthronen wie ein Kind, das man zu Bett
schickt“, höhnt Friedrich der Große in Potsdam. Damit nicht genug: Elf Tage
später starb er unter ungeklärten Umständen. In einigen Quellen wird Alexei
Orlow, der Bruder von Katharinas Liebhaber, des Mordes beschuldigt. Dabei
diente die Kopie eines Briefs von Orlow an Katharina II. lange Zeit als Indiz; sie
wird nach neueren linguistischen Untersuchungen als Fälschung angesehen. Andere
sprechen von einem natürlichen Tod. Inwieweit Katharina II. etwas mit einer
möglichen Ermordung zu tun hat, lässt sich nicht mehr eindeutig klären. Während
einige Historiker annehmen, dass die Gebrüder Orlow auf eigene Faust gehandelt
hatten, bezichtigen andere Katharina der Mitwisserschaft oder sehen sie sogar
als mögliche Auftraggeberin des Mordes. Orlow wird für die nächsten zwölf Jahre
der neue Mann an ihrer Seite, sie ernennt ihn zum General und Befehlshaber der
Artillerie, nimmt ihn jedoch nicht zum Ehemann.
Stattdessen stürzt sich die 33jährige in die Politik und
beginnt, inspiriert von den Ideen der Aufklärung, das zersplitterte,
verknöcherte Russland zu einen und in die Gegenwart zu führen. Sie setzt
zahllose Reformen durch, spannt ein Wirtschafts- und Verwaltungsnetz über das
Riesenreich und baut Schulen in jedem Winkel. So wurde Russland in 40
Gouvernements eingeteilt und bekam eine neue Lokalverwaltung. In allen
russischen Bezirksstädten gab es gegen Ende ihrer Regierungszeit eine
Volksschule und in jeder Provinz bis auf den Kaukasus ein Gymnasium. Der
Schulbesuch war freiwillig und kostenfrei. Ab 1764 erweiterte Katharina den
Winterpalast in Sankt Petersburg um einen Anbau für Ihre Gemäldesammlung: Es
entstand die Eremitage.
Eine ihrer ersten Amtshandlungen war am 22. Juli 1763 das „Einladungsmanifest“, das alle Ausländer aufforderte, „in Unser Reich zu kommen, um sich in allen Gouvernements, wo es einem jeden gefällig, häuslich niederzulassen“. Darin versprach Katharina zahlreiche Anreize für die Einwanderer aus dem Westen: Befreiung vom Militärdienst, Selbstverwaltung, Steuervergünstigungen, finanzielle Starthilfe, 30 Hektar Land pro Kolonistenfamilie. Zudem wurde die Sprachfreiheit zugesichert, speziell für die deutschen Einwanderer. Vor allem aber: „freie Religions-Übung nach ihren Kirchen-Satzungen und Gebräuchen“. Damit beginnt die lange Migrationsgeschichte der Russlanddeutschen auf der Suche nach Heimat zwischen Deutschland und Russland. Bereits in den ersten fünf Jahren nach dem Manifest kamen über 30.000 Menschen nach Russland, die meisten davon aus Deutschland. Sie siedelten sich vor allem in der Umgebung von Sankt Petersburg, in Südrussland, am Schwarzen Meer und an der Wolga an: Allein im Wolgagebiet entstanden über 100 neue Dörfer.
Sie bildet ihr Politikverständnis im intensiven Briefwechsel
mit Aufklärern wie Voltaire, der sie wiederum in den höchsten Tönen preist wie
in diesem Brief vom 22.12.1766: „Diderot, d’Alembert und ich errichten Ihnen
Altäre. Sie machten mich wieder zum Heiden: ich werfe mich mit Anbetung zu den
Füßen Ihrer Majestät und bin mit der tiefsten Hochachtung der Priester Ihres
Tempels – Voltaire.“ Französisch erhob sie später zur Hofsprache. Katharina
hasst Despotismus, verteidigt aber unnachsichtig die absolute Macht, um ihren
Ideen in allen Winkeln Russlands Geltung zu verschaffen. Aufstände von
Volksgruppen wie den Kosaken werden niedergeschlagen. Selbst eine Bauernrevolte,
den Pugatschow-Aufstand 1773 – 75, lässt sie blutig unterdrücken: Obwohl sie kritisch
zur Leibeigenschaft stand, verschlechterte sich die Lage der Bauern während
ihrer Regentschaft dramatisch, gleichzeitig wurden die Privilegien des Adels gestärkt.
In der alten Heimat half sie während der großen Hungersnot des Jahres 1772,
indem sie eine große Menge Roggen zollfrei nach Zerbst schickte.
hemmungsloses
Sexmonster
Orlow muss schließlich Major Grigori Potemkin den Platz
räumen. Der soll nicht schön gewesen sein, aber charismatisch und wohl auch
eitel. Als Liebespaar halten sie es nur etwas mehr als zwei Jahre miteinander
aus, doch als Regenten des Landes bis zum Lebensende. Potemkin half ihr als
Mitglied des Reichsrates und Präsident des Kriegskollegiums am meisten, den
Machtbereich Russlands in einem Maße auszubauen wie kein russischer Herrscher
vor ihr; er baute die Schwarzmeerflotte auf, gründete Städte wie Sewastopol und
Odessa und organisiert die Landwirtschaft. In zwei russisch-türkischen Kriegen
1768–1774 sowie 1787–1792 eroberte Russland den Zugang zum Schwarzen Meer und
weite Küstengebiete und gewann im Ergebnis der drei Teilungen Polens eine
Million km² Landgebiete und sechs Millionen Menschen dazu. Die Eroberung
Konstantinopels und die Neugründung des Byzantinischen Reiches unter russischer
Herrschaft scheiterten geradeso am einseitigen Kriegsaustritt Österreichs im
letzten der beiden Türkenkriege. Die Krim wurde 1783 annektiert. Und nebenbei
wurde durch Katharinas Vermittlerrolle im Frieden von Teschen der Bayerische
Erbfolgekrieg beendet.
An ihrem Lebensende hat sie mit Alexander Mamonow, der sie wegen einer sechzehnjährigen Hofdame verließ, und Fürst Subow, der bei ihrem Tod gerade 29 Jahre alt war, noch weitere verbürgte Liebhaber. Zahlreiche Pamphlete und Karikaturen stellten sie als hemmungsloses Sexmonster dar, das sich kompanieweise von Männern, ja Pferden befriedigen ließ. Motiviert wurden die Bettgeschichten zum einen durch schwüle Träume von der Favoritenkultur am Hof der Zarin, zum anderen durch politische Publizisten im Zuge der Französischen Revolution. Die Autokratin sollte damit desavouiert werden. Die Französische Revolution versetzte sie übrigens in Schrecken und bewirkte eine Veränderung ihrer Innenpolitik: Erstmals in ihrer Regierungszeit kam es zur massiven Verfolgung regierungskritischer Intellektueller.
Im Jahr vor ihrem Tod hatte sie aus ihrer privaten Sammlung und den angekauften Beständen der Bibliotheken von Voltaire und Denis Diderot die Russische Nationalbibliothek gegründet, die erste öffentlich zugängliche Bibliothek des Reiches. Außerdem probierte sie sich als Dramatikerin, schrieb den Fünfakter „Aus Rjuriks Leben“ um den Gründer der Kiewer Rus sowie „Drey Lustspiele wider Schwärmerey und Aberglauben“ und verfasste ihre Memoiren. Die Rückständigkeit ihres Reiches und dessen ungeheure Ausdehnung setzen ihrem Gestaltungswillen Grenzen. Trotzdem errichtet Katharina bis zu ihrem Tod die Grundmauern der russischen Nation. Sie ist bis heute die einzige Frau unter den „Großen“ der Geschichte. Ihr wurde der Titel „die Große“ von ihrer Gesetzgebenden Kommission verliehen, die dabei wiederum Peter I. vor Augen hatte.
Das englische Gentleman´s
Magazine bezeichnete Katharina als „große Fürstin“, der die „bedeutendste
aller Revolutionen in der Geschichte der Menschheit gelungen war, nämlich die
Zivilisierung eines so großen Teiles der Erdbevölkerung und die Kultivierung
der wildesten und unerschlossensten Einöden.“ Für die Historikerin Jill
Graw sticht sie „auch hinsichtlich ihrer religiösen Toleranz, ihrer Fürsorge
für die Schwachen, ihrer Bescheidenheit und ihrer in allen Lebensbereichen
gelebten Authentizität aus der Masse anderer Herrscherfiguren hervor.“ Zahlreiche
Spiel- und Fernsehfilme wurden über Katharina produziert, in denen sie unter
anderem von Marlene Dietrich, Julia Ormond und Catherine Zeta-Jones verkörpert
wurde. Ihre Erinnerung wird in zahlreichen Denkmälern bewahrt. Sie regierte im
„goldenen Jahrhundert für den russischen Adel“ 34 Jahre; von den Romanows hatte
nur Peter I. der Große länger regiert.
Das Narrativ der „Sauberen Wehrmacht“ geht vor allem auf
seine „ritterliche“ Kriegsführung zurück. Bei der Verbreitung half erheblich Hans
Speidel, 1944 sein Stabschef, der den Mythos unbeschadet in die Nachkriegszeit
überträgt. Mit seinem 1949 erschienenen Buch „Invasion 1944“ legte er den
Grundstein für die Umdeutung seines Vorgesetzten vom hitlertreuen General zum
Widerstandskämpfer, der dem NS-Regime zum Opfer fiel. Er habe die „wachsende
Amoralität des Regimes“ erkannt und Hitler im Juli 1944 verhaften wollen. Nur
seine schwere Verwundung habe verhindert, dass er „zur Tat schreiten“ konnte.
Speidel, seit 1950 militärischer Berater Adenauers und Mitplaner der
Bundeswehr, gelingt es, seiner Perspektive breite gesellschaftliche Zustimmung
zu verschaffen.
Er wird nun zum soldatischen Vorbild auch der Bundeswehr und
dient der Traditionsbildung der neuen Streitkräfte. Im November 1956 spricht
Speidel als Bundeswehrgeneral erstmals vor Soldaten am Grabe des
Feldmarschalls. Er habe sein Gewissen über den Gehorsam gestellt, so Speidel,
sein Leben gereiche „den besten Traditionen deutschen Soldatentums und unseres
deutschen Volkes überhaupt zur Ehre.“ Zwei Jahrzehnte hat das neue Leitbild
Bestand. Straßen, Kasernen und ein Zerstörer werden nach dem Feldmarschall
benannt. Erst Ende der 1970er-Jahre gerät das Bild in die Kritik, und es
beginnt um ihn ein Deutungsstreit, der bis heute andauert: Johannes Erwin Eugen
Rommel, der am 15. November 1891 in Heidenheim an der Brenz zur Welt kam.
Rommel, drittes von fünf Kindern eines Lehrers, ist ein verträumter, blasser und oft kränkelnder Junge, auch in der Schule ist er nicht erfolgreich. Erst später entwickelt sich sein mathematisches Talent, und er interessiert sich für die Fliegerei. Die Zeppelinwerft am Bodensee hat es ihm angetan: Er will Flugzeugingenieur werden. Doch der Vater stellt ihn vor die Wahl: Lehrer oder Offizier. Rommel entscheidet sich für das Militär und tritt am 19. Juli 1910 als Fahnenjunker in das Infanterie-Regiment „König Wilhelm I.“ im oberschwäbischen Weingarten ein. Er wird Leutnant, bildet für das Regiment Rekruten aus und hat eine Freundin: Walburga Stemmer, die im Dezember 1913 Tochter Gertrud zur Welt bringt. Rommel will sie nicht heiraten, sie stirbt 1928 mutmaßlich durch Suizid. Zeitlebens gibt er sich als Gertruds Onkel aus.
1911 hatte er während eines Kriegsschullehrgangs in Danzig Lucie-Maria
Mollin kennengelernt, beide heiraten 1916. Im 1. Weltkrieg kämpft Rommel immer
an vorderster Front, wird mehrfach verwundet, befördert und ausgezeichnet. Im
Oktober 1917 steht er als Kompaniechef des württembergischen Gebirgsbataillons
einer italienischen Übermacht an der Isonzo-Front gegenüber. Für die Eroberung
des Monte Matajur ist der höchste Orden ausgesetzt: der Pour le Mérite. Rommel
will ihn haben. Er erstürmt an der Spitze seiner Truppe den Matajur und hat
Erfolg.
Jüngster deutscher
Generalfeldmarschall
Nach dem Krieg entgeht er der Entlassung nach den
Bestimmungen des Versailler Vertrags. 1921 bis 1929 ist er Chef einer
Maschinengewehrkompanie in Stuttgart, wo 1928 auch sein Sohn Manfred zur Welt
kommt, der spätere Stuttgarter Oberbürgermeister. Danach lehrt er bis 1933 an
der Dresdner Infanterieschule. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten
begrüßt Rommel, da er sich eine Revision des Versailler Vertrags erhofft. Er
wird Bataillonskommandeur in Goslar und zum Major befördert. Nach einem
Intermezzo als Lehrgangsleiter der Infanterieschule Potsdam wird er 1936 in das
militärische Begleitkommando von Hitler berufen und veröffentlicht im Jahr
darauf sein Buch „Infanterie greift an“, das sich bis 1945 über 400.000 Mal
verkauft. Gefördert durch Hitler macht er nun eine Bilderbuch-Karriere und wird
zum Helden der NS-Propaganda. Beim deutschen Einmarsch in das Sudetengebiet
1938 hat Rommel den Oberbefehl über das Führerbegleitkommando und wird 1939
Kommandant des Führerhauptquartiers bei der Besetzung von „Resttschechei“ und
Memelland.
Als Generalmajor hat er dann bei Beginn des Zweiten Weltkriegs die reguläre Leitung des Führerhauptquartiers inne. Als Kommandeur der 7. Panzerdivision nimmt er 1940 am Frankreichfeldzug teil und erhält das Ritterkreuz. Rommel hatte bis dahin zwar keinerlei praktische Erfahrung in der Führung von Panzerverbänden, erwies sich mit seiner eigenwilligen „Vorne-Führung“ aber als erfolgreich: Er führte lieber aus dem Befehlspanzer von vorne als vom Kartentisch weit hinter der Front. Die Unvorhersehbarkeit und Geschwindigkeit seiner Operationen irritierten nicht nur seine Gegner, sondern auch das deutsche Oberkommando und brachte seiner Einheit den Beinamen „Gespensterdivision“ ein. Er hat einen Auftritt in der NS-Wochenschau. Auch Bildpostkarten sind in dieser Zeit schon weit verbreitet: Rommel entspricht dem Idealtyp des jungen, modernen Offiziers. Nach seiner Beförderung zum Generalleutnant erhält Rommel 1941 mit dem „Unternehmen Sonnenblume“ den Oberbefehl über das deutsche Afrikakorps in Libyen gegen den Widerstand des Oberbefehlshabers des Heers, Walther von Brauchitsch.
Mit einer Offensive gegen die britischen Truppen zu Beginn des
Afrikafeldzugs gelingt ihm im Frühjahr die Rückeroberung der Cyrenaika (Libyen),
obwohl das Oberkommando des Heeres ihn vorher mehrfach angewiesen hatte, auf
das Eintreffen von Verstärkung zu warten. Da die Briten die
Enigma-Verschlüsselung entschlüsselt hatten, hörten sie die wiederholten
Wartebefehle an Rommel ab und erwarteten keine weiteren Schritte, weshalb ihm
weitere Vorstöße gelangen. Prompt wird er Befehlshaber der „Panzergruppe
Afrika“. Seine Erfolge bewegen Goebbels und Hitler, ihn zum Volkshelden zu
stilisieren. Im April 1941 wird Rommel in der Zeitschrift „Das Reich“ als
soldatischer Führer beschrieben, „dem jede neue Aufgabe und jeder neue Boden
willkommen ist, Lehrer und Vorbild, politischer Kämpfer und militärischer
Schriftsteller, (…) eine Gestalt, die von den jungen Deutschen als diesem
Jahrhundert gemäß empfunden wird.“ Insgesamt war der deutsche Einsatz in
Nordafrika von Nachschubproblemen aufgrund der bevorzugten Versorgung der
deutschen Truppen im Krieg gegen die Sowjetunion geprägt. Umso beachtlicher
sind seine Erfolge. Der britische Historiker Paul Kennedy bezeichnet etwa die
Niederlage der amerikanischen Landstreitkräfte bei Kasserine als „demütigendste
Niederlage“ im gesamten Krieg neben der Schlacht um die Philippinen.
Am 20. Januar 1942 wurde Rommel als erster Soldat des Heeres
mit den Schwertern zum Ritterkreuz mit Eichenlaub ausgezeichnet. Aus Rommel
wird so „Unser Rommel“, ein Offizier, der immer ganz nahe bei „seinen“ Soldaten
ist, ein harter und fordernder Kommandeur, auf den man sich verlassen kann.
Nach der Eroberung von Tobruk ernennt Hitler Rommel im Juni zum
Generalfeldmarschall, dem jüngsten Deutschlands, woraus weitere Konflikte mit
der Generalstabsführung erwachsen. Er rückt bis El Alamein in Ägypten vor, tritt
im Berliner Sportpalast auf und wird von der Propaganda als Kriegsheld
gefeiert. Nach der Gegenoffensive erteilt Hitler den Befehl zum Halten der
Stellung, doch im November beginnt Rommel den Rückzug.
mutiger Feldherr und
großer Taktiker
Als die Niederlage der deutschen Truppen abzusehen war, verließ Rommel, zuvor noch zum Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Afrika ernannt, am 6. März 1943 den Kontinent: Die von der deutschen Bevölkerung verehrte Propagandafigur sollte nicht mit der Niederlage in Verbindung gebracht werden. Nur Tage später verlieh Hitler Rommel die Brillanten zum Ritterkreuz mit Eichenlaub und Schwertern als erstem Soldat des Heeres. Wegen seiner Befehlsmissachtung war es erstmals zu Spannungen zwischen Hitler und Rommel gekommen, die sich erst auflösten, als sich Rommels Einschätzung der nicht mehr abzuwendenden Niederlage in Nordafrika im Mai schließlich bestätigte. Insgesamt brachten ihm die Erfolge im Afrikafeldzug große Popularität in der Heimat und offenen Respekt im Ausland sowie den Spitznamen „Wüstenfuchs“ ein. Er gilt als risikobereiter Befehlshaber, der im Gefecht die gegnerischen Schwächen brillant ausnutzen, die Gegenseite durch schnelle und überraschende Vorstöße überrumpeln kann und auch von den Gegnern als mutiger Feldherr und großer Taktiker anerkannt wurde. Im Ausland galt er als der nach Hitler bekannteste Deutsche.
Nach der alliierten Landung in Sizilien erhält Rommel das
Kommando über die Heeresgruppe B. Als im August Benito Mussolini gestürzt wird,
besetzt Rommel mit seiner Heeresgruppe Italien. Im November bekommt er den
Auftrag zur Kontrolle der Verteidigungsmaßnahmen an der französischen
Atlantikküste und ist damit Hitler direkt unterstellt – er galt, obwohl nie
NSDAP-Mitglied, als Hitlers Lieblingsgeneral. Im März 1944 unterzeichnete
Rommel wie alle anderen Generalfeldmarschälle eine Loyalitätserklärung
gegenüber Hitler, obwohl er diese als unnötig empfand, da seiner Ansicht nach
ein einmal gegebenes soldatisches Treuegelöbnis ohnehin dauerhaften Bestand
habe.
Noch im Juni 1944, als die alliierte Invasion unmittelbar
bevorsteht, beteiligt er sich an Plänen des Propagandaministers, eine „Zersetzungspropaganda“
gegenüber den westalliierten Truppen aufzubauen. „Er ist auch persönlich an
dieser Propaganda interessiert und möchte sie mit allen Mitteln fördern. Er hat
sich selbst Gedanken darüber gemacht und bringt praktische Vorschläge für
einzelne Sendungen und Themen!“, schreibt Goebbels Beauftragter Alfred-Ingemar
Berndt nach einem Frankreich-Besuch bei Rommel. Sowohl in persönlichen
Besprechungen mit Hitler im Juni 1944 als auch in seinem Schreiben
„Betrachtungen zur Lage“ vom 15. Juli machte er dann deutlich, dass er einen
Sieg der deutschen Truppen für unwahrscheinlich hielt.
Am 17. Juli wurde Rommel bei einem Tieffliegerangriff schwer
verwundet: er erlitt einen dreifachen Schädelbruch und ein zugeschwollenes
linkes Auge, dessen Bewegungsnerven abgequetscht waren. Nachdem er seinen
Oberbefehl über die Heeresgruppe niedergelegt hatte, hielt er sich zur Erholung
in seinem Haus in Herrlingen auf. Nach dem Attentat vom 20. Juli wird er aus
Kreisen der Wehrmachtsführung der Beteiligung am Widerstand beschuldigt: Er
habe von den Anschlagsplänen gewusst und sich einer möglichen neuen deutschen
Regierung im Vorfeld als potentieller Reichspräsident zur Verfügung gestellt. Schon
in den Wochen vor seinem Tod habe der Vater gegenüber der Familie von
Todesängsten gesprochen, berichtet Manfred Rommel in Interviews nach dem Krieg.
Er bekommt am 7. Oktober den Befehl, sich in Berlin zu melden, um sich vor dem
Volksgerichtshof zu verantworten. Mit Verweis auf seinen gesundheitlichen
Zustand lehnt er ab. Daraufhin sind am 14. Oktober Hitlers Chefadjutant Wilhelm
Burgdorf und der Chef für Ehrenangelegenheiten im Heerespersonalamt Ernst
Maisel bei Rommel in Herrlingen angemeldet.
„Offizier aus dem
Geiste des Nationalsozialismus“
Nach späteren Verhörprotokollen soll Burgdorf das Protokoll eines Verhörs mit von Hofacker, einem der am Attentat Beteiligten, dabeigehabt haben. Von Hofacker belastet Rommel darin schwer. Auch Maisel gibt später zu Protokoll, dass Rommel, konfrontiert mit der Aussage von Hofackers, geantwortet habe: „Ich habe mich vergessen und ich werde die Konsequenzen ziehen.“ Nach anderen Quellen streitet Rommel die Vorwürfe ab und sieht sich als Opfer einer Intrige. Die Abgesandten Hitlers bleiben unbeeindruckt. Die Generäle stellen ihn vor die Wahl: Entweder er wird dem Volksgerichtshof überstellt und seine Familie in Sippenhaft genommen, oder er begeht Selbstmord und erhält ein Staatsbegräbnis. Rommel entscheidet sich für den Selbstmord. Den Generalen soll Rommel noch gesagt haben: „Ich habe den Führer geliebt und liebe ihn noch…“.
Der 15 Jahre alte Manfred darf sich noch von seinem Vater
verabschieden, für immer. Kurz hinter dem Ortsausgang von Herrlingen nimmt sich
der Generalfeldmarschall mit der von den Generalen mitgebrachten
Zyankali-Kapsel das Leben. Offiziell heißt es: „Generalfeldmarschall Rommel ist
an den Folgen einer schweren Kopfverletzung, die er als Oberbefehlshaber einer
Heeresgruppe im Westen durch einen Kraftfahrzeugunfall erlitten hatte,
verstorben.“ Die NS-Propaganda kann aufgrund seines Nimbus den Slogan „Unser
Rommel“ nicht ohne Prestigeverlust Hitlers und seines Regimes ins Gegenteil
verkehren. Sie muss den Schein wahren, ja ihn durch ein Staatsbegräbnis sogar
noch stärken. Rommel muss gewusst haben, dass er dadurch die Deutung seiner
Person und seiner Taten an das Regime abtreten würde. Um seine Familie vor
Verfolgung zu schützen, schweigt er und fügt sich in das Unabwendbare. Beim
feierlichen Staatsakt im Ulmer Rathaus lässt sich Hitler vom Oberbefehlshaber
West, Generalfeldmarschall von Rundstedt, vertreten: Rommel sei ein Offizier
„aus dem Geiste des Nationalsozialismus“ gewesen. Sein Herz habe dem Führer
gehört.
Rommels Bewertung als unpolitischer, genialer Befehlshaber
und Opfer des Nationalsozialismus prägt sein Bild bis heute. Die erste
Biographie schrieb ausgerechnet der Brite Desmond Young 1950, der in Nordafrika
selbst gegen Rommel gekämpft hatte. Im selben Jahr hatte Rommels Witwe seine
Memoiren veröffentlicht mit dem Titel „Krieg ohne Hass“. Damit war laut Daniel
Sternal auch „eine positive Leitfigur“ in den Nachkriegswirren erschaffen und
dankbar angenommen worden. Weiteren Auftrieb bekam seine Popularisierung mit
dem Hollywoodfilm „The Desert Fox: The Story of Rommel“ mit James Mason, der
1952 zum Kassenschlager wurde. Nach dem Krieg entstanden Gruppen wie der
„Verband Deutsches Afrika-Korps e.V.“ sowie das „Rommel Sozialwerk e.V.“, die
ein Übriges taten.
Ausgerechnet der rechtskonservative Historiker David Irving hatte mit einer 1978 auf Deutsch erschienen Rommel-Biographie erstmals mit großer öffentlicher Resonanz die Beteiligung Rommels am Widerstand angezweifelt. Linke haben inzwischen nachgezogen, vor allem beim Umgang mit seinen Denkmälern, zumal dem am Ortsrand seiner Geburtsstadt Heidenheim. Die „Heidenheimer Geschichtswerkstatt“ hat dessen Umgestaltung oder gar Entfernung gefordert. Eine 2011 angebrachte Informationstafel mit Erläuterungen wurde als peinliches Dokument geschichtlicher Ahnungslosigkeit 2014 wieder entfernt. Seit 2020 wirft ein Gegendenkmal einen „Schatten“ darauf – ein Minenopfer an Krücken, um auf Rommels „Teufelsgärten“ hinzuweisen: Labyrinthe aus hufeisenförmigen Minenfeldern, deren Öffnungen in Richtung der britischen Widersacher wiesen.
„Wenn es um ‚Führerkult‘ und ‚Volksgemeinschaft‘ ging, stand
Rommel dem Nationalsozialismus sehr positiv gegenüber. Wenn man aber unter
einem ‚Nazi‘ einen Antisemiten, einen Kriegsverbrecher und einen radikalen
Weltanschauungskrieger versteht, dann war Rommel kein ‚Nazi‘. Im Gegenteil, er
missachtete mehrmals verbrecherische Befehle“, so der Potsdamer
Militärhistoriker Jürgen Lieb in der Welt.
In der wissenschaftlichen Literatur überwiegt heute das Bild des
opportunistischen Karrieristen, der als Produkt seiner Generation wie große
Teile des deutschen Offizierskorps lange unfähig, aber bis zu einem gewissen
Grad auch unwillig war, die politischen Ziele des Nationalsozialismus in
adäquater Weise zu erfassen.
Stirbt die Natur zum Winter hin, werden die Menschen im
Sternbild Skorpion geboren. Kein Wunder, dass ihnen zu Leid, Vergänglichkeit, Tod,
Trauer und Erlösung eine besondere existenzialistische Nähe nachgesagt wird –
die sie manchmal suchen, die sie manchmal aber auch ungewollt ereilt. Sein
Leben und Werk ist ein Paradebeispiel dafür. Als kleiner Junge lief er voller
Angst vor einem Wolf durch ein Sonnenblumenfeld in die Arme des Bauern Marai,
der mit seinen erdverschmierten Fingern ein Kreuz auf seine Stirn malt, erinnert
er sich. „Er war ein Vertrauter der Hölle“ schrieb Thomas Mann. Seit seiner
Kindheit Epileptiker, erlebte er bei seinen Anfällen Gefühle, die aus
Nahtod-Erfahrungen bekannt sind: „Ich fühlte mich, als wenn der Himmel auf die
Erde herabgekommen wäre und mich einhüllte“, schreibt er in einem Brief.
Die tiefste Erfahrung aber wurde ihm am 22. Dezember 1849 in Petersburg zuteil – der 28jährige war gemeinsam mit anderen wegen des Vorwurfs umstürzlerischer Umtriebe zum Tod durch Erschießen verurteilt worden. In weiße Leichenkittel und Kappen eingekleidet und bereits an den Pflöcken festgebunden, wurde dann ein Erlass von Zar Nikolaus verlesen, der ihm alle Vermögensrechte absprach, ihn für vier Jahre zur Zwangsarbeit in die Verbannung schickte und danach zum einfachen Soldaten verpflichtete – Stefan Zweig gestaltet dieses Ereignis in den Sternstunden der Menschheit. 1864 musste er dann den Tod seiner ersten Frau, seines Bruders Michail und eines guten Freundes verkraften, woraufhin er 1865 nach Wiesbaden fuhr und aus Verzweiflung versuchte, seine finanzielle Lage durch das Roulettespiel zu verbessern. Er verlor jedoch alles, was er besaß, und wurde spielsüchtig. Auch zwei der vier Kinder seiner zweiten Frau musste er früh begraben – und lebte und schrieb weiter.
Der dänische Slawist Adolf Stender-Petersen hat sein Schreiben
als „psychologischen Realismus“ charakterisiert. Jahrzehnte vor der Begründung
der Psychoanalyse sondierte er minutiös die menschliche Seele, zeigte ihre
inneren Widersprüche und die Macht des Unbewussten auf und bemühte sich um eine
Rehabilitierung des Irrationalen. Sigmund Freud und Alfred Adler haben sein
Werk studiert und konnten bei der Entwicklung ihrer Lehren aus Entdeckungen
schöpfen, die er bereits ausführlich dargestellt hatte. Friedrich Nietzsche hat
einmal geschrieben, er sei der einzige Psychologe, von dem er habe lernen
können. „Er hat die Herrschaft der Großinquisitoren und den Triumph der Macht
über die Gerechtigkeit vorausgesehen“, wies ihm Albert Camus gar eine
prophetische Begabung zu: Fjodor Michajlowitsch Dostojewski, der am 11.
November 1821 als jüngster Sohn einer verarmten Adelsfamilie in Moskau geboren
wurde.
Ideal eines
christlichen Sozialismus
Er hatte acht Geschwister, von denen sieben das
Erwachsenenalter erreichten. Der russisch-orthodoxe Glaube spielte in der
Familie eine große Rolle: Die Mutter hatte die Söhne mit religiösen
Kinderbüchern alphabetisiert. Einen Großteil seiner Kindheit verbrachte
Dostojewski in der Klinik, in der sein Vater als Arzt arbeitete. Diese
bedrückende Atmosphäre prägte den Charakter des jungen Fjodor, der wenig
Kontakt zur Außenwelt hatte und früh die Welt der Bücher für sich entdeckte.
Vor allem Puschkin verehrte Dostojewski sein ganzes Leben lang als Halbgott. Er
war Vielleser und verschlang daneben auch populäre Unterhaltungsliteratur der
Zeit. Von 1833 bis 1837 besuchten er und sein Lieblingsbruder Michail zwei
private Internatschulen. Nach dem frühen Tod der Mutter siedelte die Familie 1837
nach St. Petersburg über, wo zwei Jahre später auch sein Vater starb.
Ab 1838 studierte Dostojewski an der Militärakademie und begann im August 1843 seinen Dienst als Militäringenieur, zunächst als unbedeutender Militärzeichner. Als ihm eine Versetzung außerhalb Petersburgs drohte, reichte er 1844 seinen Abschied ein. In diesem Jahr hatte sich Dostojewski mit der Übersetzung französischer Prosa beschäftigt; seine Übertragung von Balzacs Eugénie Grandet wurde gedruckt. Aus Briefen ist bekannt, dass er daneben eigene schriftstellerische Versuche unternahm, die jedoch verloren gegangen sind. Sein erster erhaltener Text ist 1845 der Briefroman Arme Leute. Er porträtierte als erstes Werk in der russischen Literatur Menschen in Armut und Elend mit der ganzen Zartheit und Komplexität ihrer Gefühle und ihres Leidens. Die russische Intelligenzija feierte es enthusiastisch. Im selben Jahr lernte er den Kritiker Belinskij kennen, der einen atheistischen Sozialismus vertrat, ihn für die Lektüre von Ludwig Feuerbach warb und 1846 seine Novelle Der Doppelgänger veröffentlichte.
Parallel zur Publikation weiterer kleiner Prosaarbeiten wie „Weiße Nächte“ (1848) nahm er an Treffen der Petraschewzen teil und las dort ein „kriminelles Schreiben“ Belinskijs an Nikolai Gogol vor – nach Denunziation führte diese Lesung zum Prozess und zum Todesurteil. 1850-54 verbrachte er in Ketten in der Omsker Katorga, wo die politischen Häftlinge zusammen mit gewöhnlichen Kriminellen untergebracht waren. Er durfte nicht schreiben, lag aber einige Zeit in der Krankenstation, wo er heimlich ein Notizbuch führen konnte. Revolutionsideen und früheren politischen Überzeugungen schwor Dostojewski während der Gefangenschaft und des anschließenden Militärdienstes vollständig ab, hielt jedoch sein Leben lang am Ideal eines christlichen Sozialismus fest: der Idee, dass Menschlichkeit durch ihre spirituelle Kraft ein Paradies auf Erden schaffen könne.
Nach der Entlassung musste er sich im westsibirischen
Semipalatinsk (heute Semei/Kasachstan) dem 7. Sibirischen Linienbataillon
anschließen. Weil sich Freunde für ihn einsetzten, brauchte er nicht in der
Kaserne zu wohnen, wurde 1855 zum Offizier befördert und durfte seit 1856 wieder
veröffentlichen. Sein erster Text waren die „Aufzeichnungen aus einem
Totenhaus“, in denen er präzise und authentisch die dürftigen Bedingungen der
Katorga schilderte. Die Veröffentlichung mehrerer Kapitel scheiterten zuerst an
der Zensur: Dostojewski hatte befürchtet, dass seine Enthüllung der Grausamkeit
der Lagerrealität Anstoß erwecken würde. Doch das Gegenteil war der Fall: Ein
Zensor kritisierte, dass potenzielle Straftäter durch die Schilderung nicht
ausreichend abgeschreckt würden. Der Text begründete das Genre der
„Lagerliteratur“, in dessen Tradition später auch Solshenizyn schrieb.
finsterste Winkel der
menschlichen Seele
1857 heiratete er die Witwe Marija Issajewa, die einen 9-jährigen Sohn mit in die Ehe brachte, erhielt seine Bürgerrechte zurück und schrieb weiter, so die Novelle Onkelchens Traum oder den Roman Erniedrigte und Beleidigte. Da sich seine Epilepsie verschlimmerte, wurde er 1859 aus dem Militärdienst entlassen, siedelte erst nach Twer und nach Zar Nikolaus‘ Tod wieder nach Petersburg über. Ab 1861 gab er zusammen mit seinem Bruder die Zeitschrift Die Zeit heraus, nach deren Verbot Die Epoche. Seine Einnahmen ermöglichten ihm dann drei größere Europareisen, auf denen ihn teilweise seine Geliebte Polina Suslowa begleitete. Die dritte diente zur Bewältigung seines Schicksalsjahres 1864. Die Zeit der großen Ideenromane begann – insgesamt 35 Romane wird Dostojewski am Ende geschrieben haben, in denen er die finstersten Winkel der menschlichen Seele ausleuchtet, auch die seiner eigenen.
1866 erschien Schuld
und Sühne, in dem er die seelischen Reuequalen von Rodion Raskolnikow gestaltet,
der aus Nächstenliebe und Mitleid zum Mörder wird. Im selben Jahr engagierte er
die 20-jährige Stenographin Anna Snitkina, der er in 24 Tagen den Kurzroman „Der
Spieler“ diktierte – und die er 1867 heiratet. Die Personalie „könnte im
Zeitalter von MeToo Brisanz entfalten“, zieht Tilman Krause in der Welt genüsslich vom Leder. Denn seine
zweite Gattin sei nicht nur „zur kompetenten Mitarbeiterin, ja sogar zur
Verlegerin mutiert. Sie schrieb dann auch die erste Dostojewski-Biografie. War
das nun Ausbeutung oder Förderung?“ Im selben Jahr flüchtet er wegen
anhaltender finanzieller Schwierigkeiten mit Anna bis 1871 ins Ausland,
darunter lange nach Deutschland. Er spielte wieder, überwarf sich mit
Turgenjew, erlebte in der Schweiz Geburt und Tod seiner ersten Tochter und veröffentlichte
1868 Der Idiot, in dem er seinen
Fürst Myschkin mit seiner christusähnlichen Mitleidskraft zum Sonderling der
Gesellschaft macht. Im Jahr darauf kam seine zweite Tochter Ljubow in Dresden zur
Welt, wo er mit Unterbrechungen zwei seiner vier Auslandsjahre verbrachte.
Heute erinnert ein Denkmal an der Elbe nahe dem Sächsischen Landtag daran.
Die Eheleute Dostojewski spazieren auf den Spuren des hoch verehrten Friedrich Schiller, trinken Kaffee in der „Schillerlinde“, hören im Großen Garten die Konzerte der Regimentskapelle, machen Dampferfahrten auf der Elbe oder holen sich russische Bücher aus der Pachmann‘schen Leihbibliothek in der Wilsdruffer Straße. Und fast täglich besuchen sie die Gemäldegalerie und dort immer wieder Raffaels „Sixtinische Madonna“, wobei er Ärger mit einem Wärter bekommt, da der Kurzsichtige auf einen Stuhl steigt, um sie besser betrachten zu können. Hier schreibt Dostojewski die ersten zwei Bände der Dämonen und nennt darin Dresden einen „Schatz in einer Schnupftabakdose“, der „noch dazu eine kleine Schweiz im Taschenformat hat“. In den fast 60 Briefen, die Dostojewskij aus Dresden schrieb, spielt ihr Leben in der Stadt jedoch kaum eine Rolle. Mit seinen Gedanken war er allein in Russland, von dessen missionarischer Sendung für die Welt er sich durch seine Erfahrungen in Westeuropa bestätigt fühlte. In einem Brief spricht er vom „Licht aus dem Osten, das zu der erblindeten Menschheit im Westen strömt, die Christus verloren hat“.
Zurück in Petersburg gebar seine Frau den ersten Sohn
Fjodor. Er vollendet den dritten Teil der Dämonen
und veröffentlicht 1875 Der Jüngling.
Im selben Jahr kommt sein zweiter Sohn Aljoscha zur Welt, der drei Jahre später
schon wieder stirbt. 1880 erschien der letzte und umfangreichste Roman Die Brüder Karamasow, eine hochkomplexe
kriminalistische Familiengeschichte mit einer immensen Anzahl an Figuren und
vielen Handlungssträngen, in denen Dostojewski sämtliche Ideen und Menschenentwürfe,
die ihn bis dahin bewegt hatten, erneut behandelte. Die zentralen Fragen, die
von den Protagonisten auf jeweils eigene Weise beantwortet werden, sind die
nach der Existenz Gottes und dem Sinn des Lebens. Das künstlerische Autorentum
Dostojewskis erreicht hier seinen Höhepunkt, was Sigmund Freud zu dem Urteil
veranlasste, dies sei „der großartigste Roman, der je geschrieben wurde“. Hermann
Hesse las ihn als Prophezeiung des Unterganges des europäischen Geistes.
Dostojewskis mehrdeutige Sentenz „Wir sind Revolutionäre (…) aus
Konservatismus“ wurde 1921 von Thomas Mann aufgegriffen und in das Schlagwort
einer „konservativen Revolution“ umgemünzt. Seine finanzielle Lage hatte sich
in den letzten Jahren aufgrund seines Ruhmes verbessert, doch sein
Gesundheitszustand verschlechterte sich rapide. Fjodor Dostojewski verstarb am
28. Januar 1881 nach einem Blutsturz infolge eines Lungenemphysems.
getrieben von Liebe
und Sehnsucht
An der Trauerfeier am 31. Januar nahmen 60.000 Menschen teil. Begraben ist er auf dem Tichwiner Friedhof im Alexander-Newski-Kloster. Mit Iwan Turgenjew und Leo Tolstoi gehört Dostojewski zum unangefochtenen Dreigestirn des russischen Romans, zu den Giganten der russischen Literatur. Er avancierte mit moderner psychologischer Erzählweise und der philosophischen Komplexität seiner Gedankenwelt zu einem der bedeutendsten Autoren des 19. Jahrhunderts, der seinerseits nahezu alle namhaften Autoren nach ihm beeinflusste. Bezeichnend für seinen Stil ist die große emotional-emphatische Eindringlichkeit der Beschreibung der Charaktere seiner Protagonisten. Seine Gestalten sind entweder von einem bösen Dämon gerittene Wesen, andere wieder von einer fast überirdischen Reinheit und Weichheit. Immer ist er von tiefstem Mitleid und Verstehen der gequälten Menschheit besessen. „Thema seines gesamten Schaffens ist das Leben der Erniedrigten und die verzweifelte Menschenseele, die aber trotz aller Verirrungen sich immer wieder erhebt, getrieben von Liebe und Sehnsucht nach dem Guten“, befindet Georg Bürke auf dem Blog Deutschland-Lese.
Seine Romane spielen fast ausnahmslos in der Großstadt,
besonders in Petersburg, dessen Elendsviertel er mit ungeheurer Kraft und
Anschaulichkeit schildert und ins Unheimliche, ja Dämonische steigert. Doch er lehnt
alle Versuche ab, die sozialen Probleme durch äußere Mittel zu lösen, und ersehnt
Erlösung allein durch die erbarmende Liebe Gottes, der sich dem Demütigen und
Liebenden offenbart, selbstherrliches Übermenschentum aber an der eigenen
Überheblichkeit scheitern lässt. Besonders in seinem Spätwerk zeigt sich als
leitendes Motiv die vom Sozialismus übernommene Idee eines goldenen Zeitalters.
Trotzdem wurde er, beginnend bei Lenin und Maxim Gorki, bis 1956 in seiner
Heimat als „reaktionär“, „bourgeois“ und „individualistisch“ verfemt. Seine
Werke wurden in mehr als 170 Sprachen übersetzt. „Bei Dostojewski gab es
Glaubhaftes und Unglaubhaftes“, bilanzierte Ernest Hemingway seine Lektüre, „aber
manches davon so wahr, dass es beim Lesen einen anderen Menschen aus dir macht“.
Er ist zu groß, zu dünn, sieht schlecht – und will doch
Soldat werden. Allerdings wird er von einer Armee nach der anderen abgelehnt:
vom österreichischen Militär, der französischen Fremdenlegion, der britischen
Armee. Ein anderes Land, weiter weg, befindet sich jedoch im Krieg und braucht
jeden Mann: In den Vereinigten Staaten kämpfen Südstaaten gegen Nordstaaten. In
Hamburg verpflichtet er sich für die U.S. Union Army, die Nordstaatentruppe;
für Kriegsfreiwillige ist die Atlantiküberfahrt kostenlos. Er landet 1864 in
Boston und kämpft auf der Seite der Nordstaaten – ohne ein Wort Englisch zu
sprechen.
19 Jahre später kauft er die Abendzeitung New York World für 346.000 Dollar und steigert die Auflage von 15.000 auf 600.000 Exemplare. Sein erstes Editorial geriet zu einem Manifest für die Unabhängigkeit des Journalismus. Dessen Aufgabe sei der Kampf für Fortschritt und Veränderung, gegen Ungerechtigkeit, Armut und Korruption. Verleger und Journalisten dürften keiner Partei angehören und müssten auch sonst „radikale Unabhängigkeit“ bewahren. Kurz zusammengefasst: Zeitungsmenschen seien nicht spezifischen Interessen, sondern dem Allgemeinwohl verpflichtet. Diese wesentlichen Grundprinzipien schreibt rund 150 Jahre später der Bundesverband deutscher Zeitungsverleger als „Wächterrolle“ in sein Leitbild. Seit 1969 vergibt die „Stiftung Freiheit der Presse“ jährlich einen „Wächterpreis der deutschen Tagespresse“, darunter 1990 an Michael Klonovsky.
Er wie auch sein Hauptkonkurrent William Randolph Hearst
versuchten dennoch mit wahren, aber auch gefälschten Sensationsmeldungen die
„kleinen Leute“ auf ihre jeweilige Seite zu bringen. Höhepunkt: der Aufstand
der Kubaner gegen die spanische Kolonialmacht und der daraus folgende
amerikanisch-spanische Krieg. Die Kubaner wurden zu Opfern einer
rücksichtslosen Kolonialmacht stilisiert – und die US-Amerikaner als ihre
Retter: Der Kongress stimmte schließlich einer Kriegserklärung von US-Präsident
William McKinley zu, nachdem das Kriegsschiff „USS Maine“ am 16. Februar 1898
aus ungeklärter Ursache im Hafen von Havanna explodiert war und 260 Menschen
starben. Die „Goldenen Tage des Printjournalismus“, in denen mehrere Ausgaben
täglich gedruckt, von den Zeitungsjungen, den „News Boys“, auf der Straße
ausgerufen und an den Leser gebracht wurden, waren geboren, und er war einer
der Geburtshelfer: Joseph Pulitzer, der am 29. Oktober 1911 starb.
stark
sensationalistisch
Pulitzer wurde am 10. April 1847 als ältester Sohn eines
wohlhabenden ungarisch-jüdischen Kornhändlers und einer streng katholischen
deutschen Mutter in Makó bei Szeged geboren und nach dem Umzug der Familie nach
Budapest auf Privatschulen und von Privatlehrern unterrichtet. Nach dem Tod des
Vaters ging es aber rapide bergab, so dass er die Chance in den USA wahrnahm
und bis zum Ende des Bürgerkriegs im 1. New Yorker Kavallerie-Regiment diente,
das hauptsächlich aus Deutschen bestand. Nach vielen Gelegenheitsjobs, unter
anderem als Kofferträger und Kellner, die er teilweise als Obdachloser
bestritt, wurde er 1867 nach mehreren Schummeleien amerikanischer Staatsbürger:
er sei fünf und nicht erst drei Jahre im Land, und er erfand zudem einen
Abschluss in Jura. Auf Arbeitsuche kam er 1868 nach St. Louis (Missouri).
Die Anekdote besagt, er habe in einem Schachklub zwei spielende Männer beobachtet und einen Schachzug kommentiert. So lernte er Emil Preetorius kennen, Mitherausgeber der überregionalen deutschen Zeitung Westliche Post, bei dem er als „Mädchen für alles“ anheuert. Er folgt Gerüchten, deckt Missstände auf, lernt den Job von der Pike auf. Als Lokalreporter wichtigen Leuten nachzurennen, in Geschäften sich nach Stories umzuhören war alles andere als ein Vergnügen, noch dazu, wenn man wegen einer größeren Nase mit der Verballhornung „Pull-it-Sir“ gehänselt wurde. Doch er machte seine Sache gut, wurde bald von Kollegen anerkannt und zum Lieblingsschüler von Preetorius. Durch den Kontakt zu den richtigen Leuten fand Pulitzer sehr schnell heraus, wie Politik im Land gemacht wurde: über und mit der Presse.
So lernte er, wie freundliche Berichterstattung über
Parteien oder Personengruppen sich in Form von Inseratenaufträgen bezahlt
machte – eine Erkenntnis, die im Übrigen auch heute noch gilt. Für den Amerikanisten
Wolfgang Hockbruck ist er im WDR „eigentlich
der Erfinder einer unabhängigen Presse in den Vereinigten Staaten gewesen.
Regierungskritisch. Immer da, wenn eine Regierung oder Regierungsämter – was in
Washington damals schon ziemlich häufig vorkam – in Korruptionsskandale
verwickelt waren. Gleichzeitig arbeitet er stark sensationalistisch.“
In den folgenden Jahren machte er seine ersten politischen
Gehversuche als Unterstützer von
Freunden des liberalen Flügels der Republikaner in St. Louis. Durch einen
Zufall – ein anderer Kandidat war erkrankt und Pulitzer war bei der Wahl
zufällig anwesend – kam er auch kurzfristig ins Parlament von Missouri.
Politisch verfolgte er ein Hauptziel: den Kampf gegen die Korruption und
Verschwendung von öffentlichen Geldern. Einer der Anlässe war der Bau eines
Asyls für Geisteskranke in St. Louis, bei dem einiges schief gelaufen war.
1872 stand die Westliche Post ziemlich schlecht da: Sie hatte bei Wahlen die falschen Kandidaten unterstützt, so dass jetzt Leser, Unterstützer und Inserate ausblieben. Doch Pulitzer, inzwischen durch seine politische Tätigkeit zu bescheidenem Vermögen gekommen, half aus und erwarb einen Anteil an der Zeitung. Doch bald kam es zu Unstimmigkeiten mit den Mitherausgebern. Pulitzer ließ sich ausbezahlen und erhielt ein Vielfaches seiner Einlagen zurück – über 30.000 Dollar. Plötzlich war er ein gemachter Mann, der nicht mehr regelmäßig arbeiten musste.
Er reiste nach Europa, befasste sich privat ein wenig mit
juristischen Studien, um im amerikanischen Rechtssystem sattelfest zu werden,
passte Kleidung und Wohnadresse an die neuen finanziellen Verhältnisse an und
war bereit für risikoreichere Investitionen. So kaufte er eine bankrotte
Zeitung auf, die aber einen lukrativen Anteil an einem Vertriebssystem hatte.
Keine zwei Tage später verkaufte er sie wieder mit dem beachtlichen Gewinn von
20.000 Dollar. Aus einer risikoreichen Investition in den Bau eines
Schifffahrtskanals zum Mississippi generierte er ebenfalls einige zehntausend
Dollar.
„Konzentration auf
das Wesentliche!“
Auch politisch orientierte sich Pulitzer neu: Nach
Unstimmigkeiten mit seinen republikanisch orientierten Freunden und ehemaligen
Förderern wechselte er die Seite und wurde im Herbst 1874 Demokrat. Vor allem seine
jüdische Herkunft, die er zu verschleiern suchte, machte es ihm nicht leicht: Die
New York Times schrieb 1876: „Pulitzer
gehört zu der großen Gruppe unbeachteter Narren, die sich fälschlicherweise für
bedeutende Männer halten“. 1878 gelang
Pulitzer die familiäre Etablierung: Er heiratete Kate Davis, Tochter eines
heruntergekommenen Plantagenbesitzers. Wenige Tage vor der Hochzeit brachte er
seine Braut zur Verzweiflung, weil er plötzlich nach New York verschwand, um
eine bankrotte Zeitung zu kaufen – was er dann aber doch nicht tat. Mit Kate
hatte er dann sieben Kinder haben, von denen zwei sehr früh starben.
Im selben Jahr kaufte Pulitzer in St. Louis eine finanzschwache Zeitung, die er später mit einer anderen kränkelnden lokalen Zeitung zum St. Louis Post-Dispatch verband. Damit beherrschte er den boomenden Abendzeitungsmarkt in St. Louis. In kurzer Zeit konnte er die Auflage von 4.000 auf 20.000 Exemplare steigern. Sein Erfolgsgeheimnis: „Wir brauchen in der Zeitung jeden Tag mindestens eine außergewöhnliche, eine gut recherchierte Geschichte.“ Eine Geschichte „to talk about at dinner table“ sagte er dazu – Stern-Chef Henri Nannen nannte das rund 100 Jahre später „Küchenzuruf“.
So wurden die Steuererklärungen sehr wohlhabender Mitbürger
veröffentlicht, die sich dem Finanzamt gegenüber als mittellos deklarierten.
Auch die schamlos hohen Monopoltarife der St. Louis Gas-Light Company konnte
das Blatt mit Erfolg bekämpfen. Pulitzers Jahreseinkommen lag jetzt bei rund
50.000 Dollar, seine Zeitung warf einen
Jahresgewinn von 150.000 Dollar ab. 1883 gelang es Pulitzer, eine große Werbe-
und Spendenkampagne für den Bau des Sockels der Freiheitsstatue zu initiieren,
um die nötigen Finanzmittel zu sammeln. Im selben Jahr wurde er ins
US-Repräsentantenhaus gewählt.
Prompt wurde es ihm in St. Louis zu eng. Die Familie
übersiedelte nach New York, wo auch sein jüngerer Bruder Albert im
Zeitungsgeschäft tätig war – und er bei der New
York World zugriff. Der Spruch in seinem Arbeitszimmer „The World has no
friends“ sollte die Unabhängigkeit des Blattes dokumentieren. 1895 war sie die
erste Zeitung auf der Welt, die mit teilweisem Farbdruck erschien und auch
Comics veröffentlichte. Manche sagen, die Schlagzeilen seien nur so groß, damit
der aufgrund seiner Diabetes fast blinde Pulitzer sie selbst lesen kann. Der Comic
mit dem Yellow Kid, einem grinsenden Kind mit gelbem Kittel, wird das
Markenzeichen der Zeitung und gibt der Yellow Press, der Sensationspresse,
ihren Namen. „Genauigkeit! Klarheit! Konzentration auf das Wesentliche!“ – das
sind Pulitzers Prinzipien für guten Journalismus. Er hatte auch ein gutes
Gespür für junge Journalisten: So stellte er etwa Nellie Bly an. Sie war mit
verdeckten Reportagen bekannt geworden und ließ sich unter anderem einmal in
ein Haus für nervenkranke Frauen einweisen, um dort „undercover“ zu
recherchieren. Sie gilt als erste Investigativjournalistin der Welt.
Nach dem viermonatigen Spanien-Krieg distanzierte sich
Pulitzers World von dieser Art
Journalismus, betrieb wieder schonungslosen, gut recherchierten, investigativen
Journalismus und setzt auf gut recherchierte Stories – vielleicht auch, weil
die Hearst-Presse derart skrupellos vorging, dass man sie in dieser Hinsicht
perspektivisch schlecht übertrumpfen konnte. Dies brachte ihn und seine Zeitung
in große Schwierigkeiten, als er 1909 den Bestechungsskandal um den
Panamakanal, d. h. die Zahlung von 40 Millionen US-Dollar der USA unter dem
US-Präsidenten Theodore Roosevelt an die French Panama Canal Company,
aufdeckte. Pulitzer wurde daraufhin von Roosevelt und dem Finanzier J. P.
Morgan verklagt. Aus dem Verleumdungsprozess ging Pulitzer siegreich hervor,
was er als Sieg des freien Journalismus feierte und ihn noch populärer machte –
doch lange konnte er sich nicht darüber freuen, denn zwei Jahre später starb
er.
Schon 1892 wollte Pulitzer der Columbia University in New York einen hohen Geldbetrag für die Gründung eines Journalismus-Instituts spenden. Die Annahme wurde von der Universität, möglicherweise wegen Pulitzers drängendem Auftreten, jedoch abgelehnt. Nach seinem Tod vermachte er der Universität zwei Millionen Dollar, und 1912 wurde das Institut, das sich „Columbia University Graduate School of Journalism“ nannte, eröffnet. Seit 1917 wird von der Universität ebenfalls aus Pulitzers Nachlass jährlich der Pulitzer-Preis für hervorragende journalistische Arbeiten in verschiedenen Kategorien vergeben, seit 1948 auch für Publizistik. Die Liste der Preisträger liest sich wie ein Who is Who moderner US-Literatur: Ernest Hemingway, William Faulkner, Harper Lee, Saul Bellow, Norman Mailer, John Updike, Philip Roth. Die World wurde nach Pulitzers Tod von seinem Sohn weitergeführt, der 1913 das erste Zeitungs-Kreuzworträtsel der Welt veröffentlichte.
Den New Yorker Philharmonikern vermachte er daneben 700.000
Dollar, wogegen seine Erben erfolglos klagten. Zu seinen bekanntesten Zitaten
gehört: „Es gibt kein Verbrechen, keinen Kniff, keinen Trick, keinen Schwindel,
kein Laster, das nicht von Geheimhaltung lebt. Bringt diese Heimlichkeiten ans
Tageslicht, beschreibt sie, macht sie vor aller Augen lächerlich. Und früher
oder später wird die öffentliche Meinung sie hinwegfegen. Bekannt machen allein
genügt vielleicht nicht – aber es ist das einzige Mittel, ohne das alle anderen
versagen.“ Wie aber würde dann Pulitzer heute über das urteilen, was sich in
Deutschland Journalismus nennt? „Wie bereits zu Pulitzers Zeiten kann das
Verhältnis zwischen Medien und Politik als mindestens kompliziert bezeichnet
werden. Wenn es aber um den Erhalt der Demokratie geht, so sitzen beide im selben
Boot“, befand 2018 Hamburgs Mediensenator Carsten Brosda (SPD) in der Journalistik.
Prompt fragte Brosda, „ob
die ökonomischen Probleme vieler Medienunternehmen perspektivisch die
Qualität, Vielfalt und Freiheit der Presse strukturell einschränken.“ Und
ebenso prompt kritisierte er: „Noch
immer wird die
Förderung von Journalismus
nicht als eigenständiger
gemeinnütziger Zweck anerkannt.“ Und genauso prompt forderte er „einen
neuerlichen Blick darauf, welche Schritte notwendig sind, um die
Demokratieressource Journalismus dauerhaft zu sichern.“ Das hat der Bundestag
sicher auch im Blick gehabt, als er ein 200 Millionen Euro schweres
Förderprogramm unter der Federführung des Bundeswirtschaftsministeriums
beschloss. Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen jubelte, dass
kritischer, unabhängig recherchierender Journalismus unbedingt erhalten werden
müsse, da er in einer Demokratie „systemrelevant“ sei – das Wort kennen wir
seit der Bankenkrise.
Dass nahezu alle Zeitungen in Größenordnungen Leser
verlieren, hat aber auch, wenn nicht nur, mit der Staatshörigkeit sowie
Journalisten wie Relotius, Restle oder Reschke zu tun, sondern vor allem mit
der Glaubwürdigkeitskrise eines Berufsstands, der weder seine Blase verlassen
noch seinen volkpädagogisch-linken Impetus ablegen will. Selbst der US-Reporter
Matt Taibbi befindet aktuell in der NZZ:
„Doktrinärer Aktivismus ist ein Problem. Wenn ich die Storys eines bestimmten
Mediums vorhersagen kann, weil ich seine politische Stoßrichtung kenne, dann
betreibt es für mich Propaganda … Aktivistischer Journalismus macht abhängig
– er ist intellektuell uninteressant, aber höchst effizient“. Subventionen
fördern nun aber nicht die journalistische Unabhängigkeit, sondern führen zur
Huldigung der Subventionierenden. Es ist ein Zeichen demokratischer Reife, wenn
Leser aufwachen und sich dem gesteuerten Zugriff auf die eigene
Urteilsfähigkeit entziehen. Das ist das eine.
„freiwillige
Gleichschaltung“
Das andere ist ein „Tendenz-Journalismus“ als „Begleiterscheinung einer Gesellschaft, die immer mehr von staatlicher Bevormundung, Intoleranz und Beschränkung der Freiheit geprägt ist, in der Ideologie Pragmatismus verdrängt, Emotion die Vernunft, Radikalität das Augenmaß, elitäres Bewusstsein die Nähe zu den Bürgern“, wie Laszlo Trankovits auf Tichys Einblick erkennt. „Unsere Medien werden schon seit Jahren ihrer Bedeutung als „vierte Gewalt“ in der Demokratie immer weniger gerecht, sie vernachlässigen sträflich ihre Aufgabe, vor allem den Mächtigen – im eigenen Land, nicht in den USA, Israel, Ungarn oder Großbritannien – auf die Finger zu schauen“, bilanziert er.
Der Leipziger Kommunikationswissenschaftler Christian
Hoffmann betonte gar in der NZZ, dass
die „Schlagseite der Branche“ sogar noch zunehme, weil sich immer mehr
Journalisten in den Redaktionen ohne jedes Unrechtsbewusstsein auch als
Aktivisten für das Gute in der Welt ansähen. Die linke Ausrichtung der ARD-Anstalten wurde auch von einer
Umfrage unter den ARD-Volontären aus
dem vergangenen Herbst bestätigt, der zufolge sich 57 Prozent zu den Grünen, 23
Prozent zu den Linken und elf Prozent zur SPD bekannten. Fazit: „Der
Haltungsjournalismus heute ist im Grunde nichts anderes als die Übernahme des
marxistischen Objektivitätsbegriffs: Objektivität als Parteinahme im Sinne der
Geschichte, und zwar der Geschichte der richtigen Entwicklung der Gesellschaft.
Nur dass Geschichte ersetzt wird durch „moralisch richtige
Seite“, erbost sich Hans Mathias Kepplinger auf Tichys Einblick und spricht von „freiwilliger Gleichschaltung“. Der
Leipziger Journalistik-Emeritus Michael Haller, der die bislang umfassendste
wissenschaftliche Studie vorlegte, die sich mit der Rolle der deutschen Medien
während der Hochphase des Flüchtlingszustroms beschäftigte, zieht im Rückblick seiner
von der Otto Brenner Stiftung in Auftrag gegebenen Studie ebenfalls ein
ernüchterndes Fazit. Journalisten seien ihrer Rolle als Aufklärer nicht gerecht
geworden; statt kritisch zu berichten, habe der „Informationsjournalismus die
Sicht, auch die Losungen der politischen Elite“ übernommen und sei selbst mehr
als politischer Akteur denn als neutraler Beobachter aufgetreten. Sorgen und
Ängste der Bevölkerung seien hinter der großen Erzählung von der
„Willkommenskultur“ fast völlig zurückgedrängt, Andersdenkende diskursiv
ausgegrenzt worden.
Haller geht davon aus, dass dies eine „Frontbildung“ in der
Gesellschaft befördert habe. Erst nach den Ereignissen der Kölner
Silvesternacht 2015 „entdeckten die Medien die reale Wirklichkeit hinter der
wohlklingenden Willkommensrhetorik“. Haller sieht Parallelen zur
Flüchtlingskrise, „als viele Journalisten ihre Willkommenseuphorie im Rückblick
als naiv und parteiergreifend erkannten“. Prompt macht er heute die
Übereinstimmung von Journalisten mit Regierungspositionen als großes Problem
aus. Im Tagesspiegel kritisiert er
Malte Lehming vom Tagesspiegel, der
das Phänomen als „Ausdruck einer Wertegemeinschaft“ verteidigt hat. Die
handwerklichen Fähigkeiten, die seriösen Journalismus ausmachen, würden so „unter
den Meinungsteppich“ gekehrt. Pulitzer dürfte ob solcher Befunde im Grab
rotieren.