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„Genosse Pablo“

Kein anderer Künstler seiner Generation war, noch dazu bis ins hohe Alter, so produktiv: Allein sein künstlerischer Nachlass wurde 1976 auf einen Wert von 1,275 Milliarden Franc geschätzt. Er umfasst: 1885 Gemälde, 7089 Zeichnungen, 19.134 Grafiken, 3222 Keramik-Arbeiten, 1228 Skulpturen und Objekte sowie 175 Skizzenbücher mit rund 7000 Zeichnungen, die er oft als Vorskizzen zu großen Arbeiten angefertigt hat. Hinzu kommen Gedichte, Schauspiele – eins übersetzte Paul Celan („Todesfuge“) ins Deutsche -, Kostüme und Bühnenbilder. Schon damit nimmt er eine Ausnahmestellung in der neueren Kunstgeschichte ein. Weil er kein Testament hinterließ, zerstritten sich seine Erben heillos und zahlten die Erbschaftssteuer in Kunst: Gemälde, Zeichnungen und Skulpturen, die zum Grundstock seines 1985 eröffneten Museums in Paris wurden, das bis heute Publikumsmagnet ist.

Dabei zeugen die Schicksale seiner Erben von seinem eigenartigen Verwobensein mit dem Tod. Enkel Pablito versuchte sich unmittelbar nach dem Tod des Großvaters zu vergiften und starb mehrere Monate später. Sohn Paulo erlag 1975 seiner Drogen- und Alkoholsucht. Marie-Thérèse Walter, die langjährige Geliebte des Malers, erhängt sich 1977; und seine zweite Ehefrau, Jacqueline Roque, erschoss sich 1986. Doch schon als Jugendlicher musste er den Tod seiner achtjährigen Schwester Conchita verkraften, als junger Mann den Selbstmord seines Künstlerfreundes Carles Casagemas, in dessen Pariser Haus er dann zog. Als Reaktion auf den Suizid begann er seinen ersten Schaffensabschnitt, die „Blaue Periode“, mit schwermütigen, pessimistischen, naturalistischen Bildern, die oft abgemagerte Menschen im Elend zeigen.

Picasso 1962. Quelle: Von Argentina. Revista Vea y Lea – http://www.magicasruinas.com.ar/revistero/internacional/pintura-pablo-picasso.htm, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3257370

Zeitlebens wird er auch mit Russland/der Sowjetunion eigenartig verwoben sein. Seine erste Frau Olga Koklowa war eine russische Primaballerina. Der Textilmagnat Sergej Schtschukin kaufte seit 1908 über 50 seiner Bilder und legte damit den Grundstock für das 1923 gegründete Museum für Neue Westliche Kunst in Moskau. Die weltweit erste Monografie über den Künstler wurde 1917 in Russland veröffentlicht. Für Igor Strawinskys Ballett „Pulcinella“ (1920) schuf er die Bühnenbilder. Der befreundete Schriftsteller Ilja Ehrenburg, der ihn halb im Scherz „guter Teufel“ nannte, half 1956, seine Parallelausstellung in Moskau und Leningrad zu organisieren, mit der die Tauwetter-Periode nach der Stalin-Ära begann. Der Andrang war so groß, dass die Besucher die ganze Nacht Schlange standen und er das Publikum beruhigen musste: „Sie haben 25 Jahre auf diese Ausstellung gewartet, jetzt können Sie auch noch 25 Minuten warten“. 1962 überbrachte er ihm gar noch den Lenin-Friedenspreis: Pablo Ruiz y Picasso, der am 25. Oktober vor 140 Jahren in Malaga geboren wurde.

Das Wunderkind als Autodidakt

Sein Vater ist Maler und Zeichenlehrer an der Kunstgewerbeschule, Malmaterial steht bei ihnen überall zu Hause herum. Sein Vater sieht in ihm das „Wunderkind“ und unterrichtete ihn schon früh in akademischem Zeichnen. Sein erstes Bild ist gleich ein Ölgemälde – „Der kleine Pikador“, wozu ihn der Besuch eines Stierkampfes inspiriert hat. Da ist Pablo gerade mal 9 Jahre alt. 1892 wird er an der Kunstschule von Malaga aufgenommen. Neben dem normalen Schulunterricht malt und zeichnet Pablo in jeder freien Minute und qualifiziert sich schnell für höhere Ausbildungsgänge. Nach der Oberstufe wechselt er an die Kunstakademie in Barcelona, kurz danach an die renommierte Akademie San Fernando in Madrid. Aber die Unterrichtsmethoden gefallen dem jungen Maler nicht. Schon nach einem halben Jahr verlässt er das Institut – und bildet sich fortan selbst aus und weiter.

1895 schuf er sein erstes großes Bild im akademischen Stil „Die Erstkommunion“. Seinen Wissensdurst stillt er in Museen, Salons und Ateliers, er studiert die Techniken anderer Künstler und saugt alles auf, was um ihn herum an neuartiger Kunst, Literatur und Musik entsteht. 1899 wurde er Mitglied der Gruppe „Die vier Katzen“ und hatte 1900 eine erste gemeinsame Ausstellung. Zugleich wurden in Zeitungen seine Illustrationen veröffentlicht.  Zum Leben reichen die Verkäufe aber noch nicht, im Gegenteil. Nicht selten übermalt er seine Bilder, weil ihm das Geld für neue Leinwand fehlt. Er lernt den Kunsthändler Pedro Manach kennen, der ihm einen monatlichen Festbetrag für seine Bilder anbietet. Von den Museumsdirektoren und internationalen Kunstsammlern wird Picasso spät entdeckt: erst 1932 hat er seine erste große Einzelausstellung – im Kunsthaus Zürich in der Schweiz.

Picassos Isabeau. Quelle: https://uploads4.wikiart.org/images/pablo-picasso/queen-isabella-1908.jpg!Large.jpg

Seiner Blauen („Königin Isabeau“, „Die Absinthtrinkerin“, „Frau mit Fächer“) schloss sich dann die Rosa Periode an („Mädchen auf der Kugel“, „Harlekin und seine Gefährtin“, „Die Gaukler“). Ab 1908 begründete Picasso mit dem Maler Georges Braques den als revolutionär aufgefassten Kubismus. Der neu entwickelte Stil ging einerseits auf afrikanische Masken zurück und andererseits auf eine veränderte Ästhetikvorstellung, in der Formen und Farben als Zersplitterungen vorherrschen. Die Bildfläche ist dabei in rhythmische Flächen zerkleinert. Eine Folge davon ist, dass Formen in Zeichen aufsplittern und Farben in verschiedene Töne wie Grau, Braun oder Grün. Geometrische Formen geben die Gegenständlichkeit wieder, Bildstrukturen werden abstrakter. Bilder wie „Frau mit Gitarre“ oder „Ma Jolie“ zeugen von dieser neuen Maltechnik. 1906 macht er die Bekanntschaft mit dem damals bedeutendsten französischen Künstler, Henri Matisse, der ihm zahlreiche Kontakte verschafft. Durch ihn lernt Picasso auch Ambroise Vollard kennen, der ihm alle Bilder seiner „Rosa Periode“ abkaufte und ihn zum ersten Mal finanziell sorgenfrei macht. Später trägt der Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler dazu bei, dass Picasso einer der teuersten Künstler des 20. Jahrhunderts wird.

„Ich suche nicht, ich finde“

In die Zeit zwischen 1911 und 1914 fiel die Anfertigung der ersten Klebebilder, der papiers collés. Später verwendete Picasso noch weitere Materialien wie Blech, Holz oder Sand. In der Zeit des Kubismus nutzt er aber auch parallel dazu andere Stile, etwa den Realismus bei seinen Porträtarbeiten. Für die Pariser Uraufführung des Balletts „Parade“ 1917, das auf einem Einakter mit Gedichten Jean Cocteaus basiert und von Eric Satie komponiert wurde, entwarf Picasso das Bühnenbild und die Kostüme – eine Zäsur in seinem Leben. Zum einen übertraf das Ergebnis alle Erwartungen: Statt Ballett-Tutus trugen die Tänzer sperrige Kostüme aus Pappmaché, Holz und Metall – so unbequem, dass die Bewegungen mechanisch und unbeholfen wirkten. Zum anderen lernte er dabei Olga kennen, die er im Jahr darauf heiratete und mit ihr ein Kind hatte.

1918 malte er sie als Ikone, als seine russische Angebetete, elf Jahre später als ein ihn verschlingendes Ungeheuer. Seine Ehe mit ihr war zerrüttet, und jahrelange Auseinandersetzungen brachten ihn an den Rand der Erschöpfung, sodass er für Monate das Malen ganz aufgab: Empörung schreit aus jenem Bild, jedoch formuliert Picasso dort auch die Frau in ihrer ambivalenten Rolle als Glücks- und Todesbringerin. Sechs Jahre später – die Scheidung war gescheitert, innerlich und äußerlich getrennt blieb das Paar zeitlebens juristisch aneinander gebunden – malte Picasso ein surrealistisches Porträt von Olga, das die ganze Hohlheit eines verpfuschten Lebens in großen Augen darstellt. „Auf das Bild vom Menschen in seinem Werk überträgt Picasso sein Gegenüber intuitiv und unvoreingenommen, mit einer diagnostischen Haltung, die man von einem guten Arzt erwartet“, befindet Johannes M. Fox im Ärzteblatt. Daher trifft sein berühmtes Bonmot „Ich suche nicht, ich finde“ ins Schwarze: Er findet in Porträts von ihm Nahestehenden visionär deren untergründige psychische Befindlichkeit.

Picasso vor seinem Gemälde Der Aficionado. Quelle: Von Anonym – RMN-Grand Palais, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=65268198

Ab 1919 orientierte sich der Maler in seinem Schaffen an antiker Mythologie, so sehr gern am Minotaurus. Zwischen 1924 und 1926 wurden große abstrakte Stillleben sein Schwerpunkt. Als Salvador Dalí erstmals nach Paris reiste und Picasso besuchte, war er „so tief bewegt und voller Respekt, als hätte ich eine Audienz beim Papst“. 1927 begegnete er Marie-Thérèse Walter, die sein Modell und seine Geliebte wurde und 1935 eine Tochter gebar. Picassos Bilder zeichnen sich in dieser Zeit dadurch aus, dass sie fast keine Figuren mehr enthalten. Picasso wurde für die Surrealisten eine Symbolfigur der Moderne; in ihren Publikationen brachten sie zahlreiche Abbildungen seiner kubistischen und neoklassizistischen Werke und stellten diese in einen surrealistischen Zusammenhang. Von 1928 und 1929 arbeitete er an Drahtplastiken und erstmals an Eisenskulpturen. Mit einem Besuch in Spanien 1934 tauchten in Picassos Werken Motive aus dem Stierkampf auf.

1936 zum Direktor des Prado ernannt, beauftragte ihn die republikanische Regierung mit dem monumentalen und kriegskritischen Gemälde „Guernica“ für den spanischen Weltausstellungspavillon 1937. Es gilt heute als ein Schlüsselwerk in der Kunst des 20. Jahrhunderts und wurde foto-dokumentierend von seiner Geliebten Dora Maar begleitet, die als Vorlage für alle „Weinenden Frauen“ diente, Mütter, die Blut weinen angesichts ihrer toten Kinder. Picasso klagt die Grauen der Bombardierung der nordspanischen Stadt im Spanischen Bürgerkrieg durch die deutsche Legion Condor an. „Picasso malte nicht seine Destruktivität, sondern er gab einer aus den Fugen rasenden Welt Gestalt. Er malte die grausame Konsequenz menschlichen Handelns im Krieg“, so Fox.

Bis 1940 hielt sich Picasso in Südfrankreich auf und trat am 5. Oktober 1944 der Kommunistischen Partei Frankreichs bei – in Moskau wurde er darum „Genosse Pablo“ genannt. Die Allgegenwart von Tod, Leiden und Angst sublimierte der Maler in einem rauen, schonungslosen und bisweilen wenig gefälligen Stil. Auffallend sind die ungestümen Verzerrungen, die Picasso den Bildgegenständen und Menschen in seinen Bildern auferlegte. Zum Symbol der Hoffnung wird für ihn der „Mann mit Schaf“, eine antiheroische Figur als Beschützer der Schwachen und damit ein Gegenbild zu Arno Brekers Skulpturen, die Picasso 1942 in der Orangerie des Tuileriengartens gesehen hatte. Obschon ab 1940 als „entartet“ diffamiert, arbeitete der Maler wie besessen an Ölgemälden und Plastiken weiter. Bis zur Befreiung von Paris lebte er dort zurückgezogen in seinem Atelier.

„Vanitas eines schöpferischen Menschenlebens“

Nach dem Zweiten Weltkrieg zählte Picasso zu den berühmtesten lebenden Künstlern seiner Zeit. Er nahm 1948 und 1950 an Weltfriedenskongressen teil und entwarf für letzteren die Lithografie „Fliegende Taube“, die als Friedenstaube zum Symbol des Friedens schlechthin wurde. Die Lithografie sollte in den folgenden Jahren zu Picassos meist verwendeter grafischer Technik werden, außerdem experimentierte er mit Glasmalerei und der Herstellung von Keramiken. Der Abstraktion öffnete er sich zeitlebens nie. Der große Aachener Kunstmäzen Peter Ludwig, der neunzehn Museen in fünf Ländern etablierte, verfasste 1949/50 seine Dissertation über das Menschenbild bei Picasso.

Keramik von Picasso. Quelle: https://de.amorosart.com/bild-werk-visage_aux_yeux_rieurs_laughing_eyed_face_1969-1000-1000-82260.jpg

Seit 1943 mit der französischen Künstlerin Françoise Gilot liiert, mit der er zwei Kinder hatte, lernte er 1951 die 46 Jahre jüngere Jacqueline Roque kennen, die er zehn Jahre später heiratete. Ab 1953 wurde der Jahrhundertmaler in unzähligen Retrospektiven geehrt. 1958 hatte Picasso das Schloss Vauvenargues am Fuß der Mont Sainte-Victoire in der Nähe von Aix-en-Provence bezogen, wo er auch begraben wird. Der letzte Lebens- und Arbeitsort Picassos sollte ab Juni 1961 die Villa Notre-Dame-de-Vie in der Nähe des Dorfes Mougins in den Bergen oberhalb von Cannes werden. In den folgenden elf Jahren, die Picasso bis zu seinem Herztod am 8. April 1973 noch blieben, kreiste sein Werk um die Alten Meister – wie Rembrandt van Rijn – und Jacqueline, die sein meist dargestelltes Modell wurde.

Die letzten sehr bewegenden Selbstporträts von 1972, die ihn als todesangstbeladenen alten Mann zeigen, künden bei aller positiven Bilanz eines schöpferischen (Künstler-)Lebens auch von der „Vanitas eines schöpferischen Menschenlebens. Im Angesicht des nahen Endes tragen weder Ruhm noch ein gewaltiges Œuvre, es tragen nicht die menschlichen Beziehungen, keine Religion gibt Halt: ein Scherbenhaufen bleibt. Erschütternd und desillusioniert dokumentiert Picasso, dass alles Aufbäumen in den letzten Jahren, alles Getriebensein nicht half, sein imposantes Lebenswerk als Ernte einzufahren“, erkennt Fox. Am Abend vor seinem Tod überarbeitete er noch den stark abstrahierten „Liegenden weiblichen Akt und Kopf“. Die überbordende Sexualität und Virilität von Picassos Spätwerk wird hier in einer geometrisch-stilisierenden Darstellung gebändigt.

Chateau Vauvenargues. Quelle: Von Malost – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2092520

Denn Beziehungen und Sexualität waren wohl seine Lebensthemen: Die Frauen an seiner Seite behandelte der Künstler oftmals vollkommen rücksichtslos, verletzend und zerstörerisch, um sie anschließend beschädigt zurückzulassen. Biograph John Richardson meint: „Wenn eine andere Frau in Picassos Leben auftaucht, ändert sich alles für ihn. Der Dichter ändert sich, der Freundeskreis ändert sich, das Haus ändert sich. Alles verändert sich mit der Geliebten.“ Seine außerordentliche Fähigkeit, bestehende Konventionen der Kunst, der Lust und des Lebens auszumessen, auszudehnen, zu überschreiten und den Rahmen neu zu setzen, ist bis heute nicht nur bewunderns-, sondern auch geldwert: Der bei einer Auktion 2015 in New York erzielte Umsatzrekord für ein Gemälde von Picasso („Les Femmes d´Algier“, 1955) beträgt 179,4 Millionen US-Dollar.

Der italienische Liedermacher Fabrizio Cristiano de André widmete ihm noch Ende der 1960er Jahre eine 28 Terzetten umfassende Ballade. Das Lied belegt in poetischer Weise, dass der fränkische Herrscher Spuren hinterlassen hat, die bis in unsere Gegenwart hinein reichen. Der österreichische Mediävist Andreas Fischer weiß in der Welt, dass maßgeblich seine militärischen Erfolge dazu beigetragen haben, die ihm ab 875 seine Beinamen Tudites („Stoßer“), später Malleus bzw. Martellus („Hammer“) einbrachten: „Insbesondere sein Sieg über die Araber und Berber in der Schlacht bei Poitiers im Jahr 732 hat ihn zur Identifikationsfigur für die Verteidigung des christlichen Europa gegen den Islam werden lassen.“

Allerdings hinterließ die Schlacht auch in der späteren arabischen Geschichtsschreibung tiefe Furchen – und kommt freilich in ihrer Synthese zu einem anderen Ergebnis, wie, auch in der Welt, der Bonner Islamist Stephan Conermann berichtet: „Zur Verteidigung der eigenen Kultur hat man Anfang des 20. Jahrhunderts von arabischer Seite behauptet, wenn dieser Karl uns nicht besiegt hätte, dann hätten wir eben tatsächlich das gesamte Abendland besiegt. Dann wäre es allerdings auch nie dazu gekommen, dass Europa uns im 16., 17., 18. Jahrhundert so besiegt und so dominiert hätte wie es jetzt der Fall ist.“ Wie auch immer – er stärkte damit seine Stellung innerhalb der fränkischen Notablen und wurde zum Begründer der Karolinger-Dynastie: Karl Martell, der am 22. Oktober 741 in der Königspfalz Quierzy nach schwerer Krankheit ruhig im Bett starb.

Dabei war seine dynastische Karriere gar nicht vorgesehen: Der Sohn Pippins des Mittleren – der zuerst Hausmeier in Austrasien, später Neustrien war -, kam zwischen 688 und 691 unehelich zur Welt und wurde von Bischof Rigobert von Reims getauft. Über das Verhältnis des Heranwachsenden zu seinem Vater, seinen Halbbrüdern Drogo und Grimoald und seiner Stiefmutter Plektrud ist nichts bekannt. Ebenso unklar sind seine Ausbildung, sein tatsächliches Aussehen und seine Jugend; angeblich lernte er nie richtig lesen und schreiben. Er ist der einzige zur Herrschaft aufgestiegene Karolinger, über dessen Aktivitäten vor dem Tod seines Vaters keine Nachrichten vorliegen, und wurde, anders als die beiden Söhne von Pippin, in keiner Weise an der Herrschaftsausübung beteiligt.

Karl Martell. Quelle: https://img.welt.de/img/kultur/history/mobile100679096/8552508707-ci102l-w1024/Martell5-DW-Sonstiges-Monte-Carlo-jpg.jpg

705 heiratete er Chrotrud, die ihm die Söhne Karlmann und Pippin den Jüngeren sowie die Tochter Hiltrud gebären wird. Es sei eine Liebesheirat gewesen, wird bis heute kolportiert: Laut Thomas R.P. Mielke führte Karl stets einen Becher mit sich, der aus der Wurzel des Rosenbuschs geschnitzt war, unter dem Karl und Chrotrud das erste Mal beieinander lagen. Nach ihrem Tod 725 ehelicht er die bayrische Prinzessin Swanahild, mit der er noch den Sohn Grifo bekommt. Diese Ehe bildete die Grundlage für freundschaftliche Beziehungen zum Langobardenkönig Liutprand. Mit seiner Nebenfrau Ruadheid zeugt er noch drei weitere Söhne, darunter Remigius, später Bischof von Rouen.

 „sorgte für das eigene Seelenheil vor“

Da die beiden Halbbrüder früh starben, sicherte Plektrud nach Pippins Tod 714 ihrem Enkel Theudoald die Nachfolge im Hausmeieramt und nahm, um Ansprüchen Karls vorzubeugen, ihn kurzerhand in Haft: die „pippinidisch-karolingische Sukzessionskrise“ begann. Gegen Plektrud rebellierten zunächst neustrische Große, die 715 Theudoald besiegten, 716 einen Mönch Daniel als neuen König Chilperich II. erhoben und bis nach Köln vordrangen, um sich Plektruds Schätzen zu bemächtigen. Unterdessen war es Karl gelungen, aus der Haft zu entkommen, führende Anhänger Plektruds auf seine Seite zu ziehen und sich die Unterstützung des angelsächsischen Missionars Willibrord zu sichern. Nach einer Niederlage gegen die Friesen von Radbod  – es blieb zeitlebens seine einzige – besiegte er die Neustrier 716/17 in zwei Schlachten. Anschließend belagerte er Plektruds Kölner Residenz und zwang sie zur Herausgabe des merowingischen Königsschatzes, womit der Übergang der Herrschaft versinnbildlicht wurde: Der Königsschatz als Machtmittel ermöglichte es seinem Besitzer, Gefolgsleute materiell zu belohnen und so deren Loyalität zu sichern.

Plektrud gab ihre politischen Ambitionen auf und wurde Stifterin des Kölner Konvents von St. Maria im Kapitol. Nach mehrjährigen Wirren erkannte Karl Chilperich an – ein kluger Schachzug, denn so konnten die Neustrier an ihrem König festhalten, während Karl damit die Akzeptanz seiner Herrschaft erhöhte. Nach Chilperichs Tod 721 erhob er mit dem etwa zehnjährigen Theuderich IV. einen neuen Merowingerkönig und beendete zwei Jahre später die Sukzessionskrise, indem er zwei Halbneffen Drogos inhaftieren ließ, da er Ansprüche von ihnen befürchtete. Bis 737 nun versuchte er als „Reisekönig“ seine Herrschaft auch an den äußeren Grenzen des Frankenreichs zur Geltung zu bringen. Die kriegerischen Aktivitäten richteten sich gegen die Völker der Friesen, Sachsen, Alemannen und Bayern sowie die Regionen Aquitanien, Burgund und Provence. Dabei variierte das Ausmaß der Einverleibung der jeweiligen Territorien: Offenbar beabsichtigte Karl die nicht immer.

Ausschnitt aus der Belagerung von Avignon. Quelle: Von Autor unbekannt – http://www.bl.uk/catalogues/illuminatedmanuscripts/ILLUMIN.ASP?Size=mid&IllID=43773, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=59392215

So veranstaltete er mehrere Strafexpeditionen gegen die Sachsen als Vergeltungsschläge für deren Vorstöße und betrieb die Eingliederung Alemanniens ins Frankenreich. Mit Karls Hilfe gründete der heute als heilig verehrte Abtbischof Pirmin zwischen Bodensee/Schwarzwald und Vogesen mehrere Klöster, darunter Reichenau (724), Gengenbach (nach 727) und Maursmünster (728). Die Eingliederung Mainfrankens und Thüringens gelang Karl ohne Kriegszug, auch hier kam es durch Bonifatius zur Gründung von Klöstern, ja ganzen Bistümern. Die Hildesheimer Historikerin Monika Suchan beschreibt diese Herrschaftspraxis im DLF so: „Er band Gefolgsleute und Familienangehörige durch die Übertragung von Funktionsstellen wie Bischofs- oder Abtswürden an sich, setzte sich aber auch für den Schutz kirchlichen und klösterlichen Besitzes ein und sorgte damit für das eigene Seelenheil vor.“ Andererseits säkularisierte er auch Kircheneigentum nach Belieben, um seine Armee zu finanzieren. Im weiteren Verlauf des Mittelalters bildeten sich daher zwei Erinnerungsstränge heraus: Das negative Bild eines Kirchenräubers und das höchst positive eines glorreichen Feldherrn.

734 besiegte er das Heer der Friesen und tötete Herzog Bubo (Poppo) in der Schlacht an der Boorne, womit der Niedergang des Friesischen Großreichs begann. Auch in Bayern mischte er sich ein und unterwarf zuletzt schrittweise Burgund und die Provence. Der Koblenzer Mediävist Ulrich Nonn bilanziert im DLF: „Sein ganzes Leben ist im Wesentlichen geprägt von einer Vielzahl von Feldzügen. Es gibt in den kargen Annalen, den Jahrbüchern aus dieser Zeit, zum Jahr 740 ist es, glaube ich, die Nachricht: kein Feldzug. Das wurde als eine Besonderheit dargestellt, weil Karl fast jedes Jahr – sei es gegen Sachsen an der Grenze, sei es gegen Alemannen, sei es gegen Aquitanien, also modern: im Süden Frankreichs kämpfte, und eben in einer Reihe von Schlachten gegen die große Bedrohung der Sarazenen.“ Denn letztere setzten 711 bei Gibraltar übers Mittelmeer, zerschlugen sämtliche Heere der spanischen Westgoten und eroberten nur drei Jahre später fast die gesamte iberische Halbinsel.

„ein zu Eis erstarrter Gürtel“

Über die Pyrenäen ging die Invasion jetzt nordwärts; 725 wird das Heer des Herzogs Eudo von Aquitanien geschlagen. Eudo flieht nach Paris, in Karls Residenz, und macht ihm Angst: Die wilden Reiter aus dem Morgenland seien pfeilschnell, grausam und zahllos, verspeisen mit Vorliebe Herz und Leber ihrer gefallenen Gegner und plündern und sengen, so dass ganz Südfrankreich einer Wüstenei gleiche. Karl springt darauf an, weiß aber, dass er sich auf sein kampferprobtes Heer verlassen kann. Das besteht zum einen aus dem mit der „Francisca“ bewaffneten Fußvolk – einer Streitaxt, die mit einer Schnur auf kurze Distanz gegen den Feind geschleudert wird und für deren Zustand ihr Träger persönlich verantwortlich ist: Für Nachlässigkeit sind hohe Geldstrafen fällig. Karls entscheidende Streitkraft bilden zum anderen die schweren Reiter auf holzverstärkten Ledersätteln und Steigbügeln mit Helm, Beinschienen und Panzerhemden; die Ausfuhr letzterer war bei Todesstrafe verboten.

Schlacht von Poitiers, gemalt von Carl von Steuben. Quelle: Ursprung unbekannt, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=363367

Abd er-Rachman, Feldherr des mächtigen Kalifen von Damaskus, weiß zwar, dass bei diesen schweren Kavalleristen Vorsicht geboten ist. Doch als ihm seine Späher melden, das Frankenheer sei mit allenfalls 15.000 Mann lächerlich klein, wird er wagemutig: Schließlich haben die Truppen der Moslems noch nie eine Niederlage im Feld erlitten. Normalerweise sind die arabischen Heere jener Zeit allen anderen an Beweglichkeit weit überlegen. Doch auf ihrem Raubzug haben sich die leicht bewaffneten und berittenen Soldaten derart mit Beute bepackt, dass sie diesen Vorteil einbüßen. Karl hingegen lässt nur wenig Gepäck zu und kann die Araber ausmanövrieren. Bei Tours verlegt er ihnen den Weg. Abd er-Rachman hat nur zwei Möglichkeiten: Kampf oder Rückzug. Letzteres ist für den stolzen Moslem undenkbar, also wählt er am 10. Oktober 732 (nach anderen Angaben auch am 18. oder 25.) mit knapp 50.000 Mann die Offensive.

Die Schlachtordnung der Araber besteht aus drei Linien mit allegorischen Titeln: Die erste „Morgen des Hundegebells“ wird von ausgeschwärmten Reitern gebildet; die zweite „Tag der Hilfe“ und die dritte „Abend der Erschütterung“ bestehen aus dichten Reiter- und Fußvolkkolonnen. Die unaufhörlichen Angriffe der arabischen Kavallerie prallen an dem Fußvolk der Franken ab. Der spanische Chronist Isidorus Pacensis berichtet: „Die Männer aus dem Norden standen bewegungslos wie eine Mauer. Wie ein zu Eis erstarrter Gürtel wichen sie nicht und erschlugen ihre Feinde mit dem Schwert.“ Karl beschließt nun, diesen Erfolg auszunutzen, und lässt seine Panzerreiter eingreifen. Er durchbricht an ihrer Spitze die feindlichen Reihen, dringt bis zum arabischen Hauptlager vor und vernichtet alles, was sich den Franken in den Weg stellt. Dass er persönlich seinen Widersacher Abd er-Rachman erschlagen hat, ist eine fromme Legende – der Feldherr kommt während der regellosen Flucht ums Leben. Paulus Diaconus gab in der Historia Langobardorum die Verluste der Sarazenen mit 375.000 Mann an; auf fränkischer Seite seien nur 1.500 Mann gefallen. Real dürften es 5.000 bzw. 1.000 sein.

„Retter des Abendlandes“

Fünf Jahre später beginnt mit dem Tod von Theuderich Karls kurze Zeit der Alleinherrschaft: Bis zu seinem Tod regiert er das fränkische Gesamtreich allein, er war Hausmeier ohne König – eine in der Geschichte des Frankenreichs bislang einmalige Konstellation, deren Beurteilung die ungünstige Quellenlage dieses Zeitraums erschwert. Er hatte seine Stellung durch seine militärischen Erfolge weitgehend abgesichert, dadurch auch sein Ansehen gesteigert und zugleich wichtige Positionen mit seinen Gefolgsleuten und Verwandten besetzt. Seine Stellung als „erwählter Hausmeier“ ließ er laut Andreas Fischer und Matthias Becher von den Franken auf einer Reichsversammlung absichern. Damit setzte sich die Entwicklung zur königsgleichen Herrschaft der Hausmeier fort: Seit 697 ist keine einzige Hofversammlung in Anwesenheit des Königs überliefert.

Vor seinem Tod teilt Karl Martell das Reich zwischen seinen Söhnen Karlmann und Pippin auf. Buchmalerei in einer Handschrift der Grandes Chroniques de France, Quelle: Von Autor unbekannt – Dieses Bild stammt aus der Digitalen Bibliothek Gallica und ist verfügbar unter der ID btv1b55013869k/f149, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8999821

Am Ende dieses Prozesses waren die merowingischen Könige nur noch Marionetten der rivalisierenden Adelsfraktionen. Denn Karl hatte vor seinem Tode eine Reichsteilung nach Königsart vorgenommen, indem er dem älteren Sohn Karlmann Austrien mit Alemannien und Thüringen, Pippin dem Jüngeren Neustrien mit Burgund und der Provence zusprach – er wird der Vater Karls des Großen werden. Grifo sollte im Reichsinnern ausgestattet werden; Bayern und Aquitanien blieben außerhalb dieser Teilung. Ihren Halbbruder Grifo und dessen Mutter setzten Pippin und Karlmann nach Karls Tod gefangen und nahmen 742 eine erneute Reichsteilung vor, die Grifo nicht mehr berücksichtigte. Veranlasst durch Aufstände erhoben sie 743 mit Childerich III. letztmals einen Merowingerkönig. Mit Pippins Erhebung zum König der Franken endete 751 die Phase von machtvollem Hausmeier und schwachem König. Den letzten Merowingerkönig setzte Pippin ab und wies ihn ins Kloster ein.

Bestatten ließ sich Karl Martell in der einstigen Abteikirche Saint-Denis, seit 564 Grablege aller fränkischen und lange Zeit auch der französischen Herrscher. Ab Mitte des 11. Jahrhunderts verblasste im Reich die Erinnerung an Karls Sieg; für Marianus Scottus und Frutolf von Michelsberg war die Schlacht keinen Jahreseintrag wert. Eine Aufwertung seiner Stellung erfuhr er im 13. Jahrhundert: Bei der Grabmalanordnung unter Ludwig IX. 1246/47 wurde er in die Reihe der Könige eingeordnet. Der britische Historiker Edward Gibbon nannte ihn 1788 erstmals „Retter des Abendlandes“ und behauptete, ohne den Sieg Karls hätte es längst in Paris und London Moscheen gegeben, und in Oxford wäre statt der Bibel der Koran gelehrt worden. Ein Schlachtschiff der französischen Kriegsmarine wurde 1897 nach Karl Martell benannt. Seit den 1990er Jahren mehren sich dagegen Stimmen, welche die Bedeutung von Karls Schlachtensieg relativieren und den Erfolg als Abwehr einer insgesamt schon abflauenden Bewegung ansehen.

Im Sommer 2020, nach der vorläufigen Urlaubs-Wiederöffnung der pandemiegeschlossenen Grenzen, veröffentlichte die FAZ übrigens eine Anti-Serie „Reisewarnungen“ mit Zielen, „die man tunlichst vermeiden sollte“. Gleich die zweite Folge widmete sich dem französischen Poitiers. Darin hieß es: „Es lohnt sich nicht. Es gibt nichts zu sehen, außer einer alten, düsteren Kathedrale, ein paar unbehauenen Steinblöcken aus der Vorzeit und einer Erinnerungstafel an eine Schlacht im 8. Jahrhundert, bei der Karl Martell die Muslime zurückgeschlagen haben soll. Inzwischen wird die Bedeutung der Schlacht von Historikern angezweifelt. Dass das Abendland hier gerettet wurde, glauben nur noch ein paar Identitäre, die auf dem Dach der örtlichen Moschee mit Plakaten fuchteln, auf denen steht: ‚Gallier wach auf, Du bist hier zu Hause‘.“ So tragen Medien Tradition und Geschichte nicht weiter, sondern schreiben sie bewusst klein und schaffen sie damit ab.

Ohne die Liebe seiner Mutter wäre die Welt vielleicht um ein Genie ärmer. Als er eines Tages aus der Schule kam, gab er ihr einen Brief: „Mein Lehrer sagte mir, ich solle ihn nur meiner Mutter zu lesen geben.“ Sie habe die Augen voller Tränen gehabt, als sie dem Kind laut vorlas: „Ihr Sohn ist ein Genie. Diese Schule ist zu klein für ihn und hat keine Lehrer, die gut genug sind, ihn zu unterrichten. Bitte unterrichten Sie ihn selbst.“ Viele Jahre nach ihrem Tod stieß er in alten Familiensachen auf ein zusammengefaltetes Blatt Papier, öffnete es und las: „Ihr Sohn ist geistig behindert. Wir wollen ihn nicht mehr in unserer Schule haben.“ Er weinte stundenlang und schrieb dann in sein Tagebuch: „Thomas Alva Edison war ein geistig behindertes Kind. Durch eine heldenhafte Mutter wurde er zum größten Genie des Jahrhunderts.“ Der Erfinder, der zeitlebens 1093 Patente anmeldete, darunter Glühbirne, Phonograph und Zement-Drehrohrofen, starb am 18. Oktober 1931.

Die „Behinderten“-Diagnose beruhe darauf, dass Edison bereits in seiner Kindheit Hörprobleme hatte und sein Leben lang schwerhörig war, sind sich Biographen heute sicher. Er wurde als siebtes und letztes Kind eines unsteten Freidenkers und einer Lehrerin in Milan (Ohio) am 11. Februar 1847 geboren – noch heute als „Erfindertag“ (National Inventors Day) in den USA gefeiert. Das Elternhaus wird als intellektuell stimulierend eingeschätzt. Als er sieben Jahre alt war, zog die Familie nach Port Huron (Michigan), wo er von seiner Mutter unterrichtet wurde. Bereits vier Jahre später erhielt er eine erste Anstellung für den Süßigkeiten- und Zeitungsverkauf als „Trainboy“. Die langen Haltezeiten der Züge in Detroit bis zur Rückfahrt nutzte er für das Lesen von Büchern in der dortigen Bibliothek. Er kritisiert später das amerikanische Ausbildungssystem, äußerte sich geringschätzig über den Wert von Fächern wie Latein und sah die Ausbildung praktisch befähigter Ingenieure als Hauptaufgabe.

1862 bekam er von einem Telegrafisten, dessen Sohn er vor einem Unfall bewahrt hatte, Unterricht in der Telegrafentechnik und arbeitete danach sechs Jahre in wechselnden Anstellungen landesweit als Telegrafist. In dieser Zeit gewann er als Autodidakt nicht nur ein profundes Verständnis für diese Kommunikationstechnik, sondern erkannte auch deren Bedeutung für viele Geschäftsbereiche, begann zu experimentieren und 1868 in Boston selbst Telegrafentechnik zu entwickeln. Im April dieses Jahres veröffentlichte The Telegrapher seinen Bericht zu einer von ihm entwickelten Variante der Duplex-Technik für die gleichzeitige Übertragung von zwei Nachrichten über eine Leitung. Diese erste Veröffentlichung bewirkte zugleich seine Wahrnehmung in der Fachwelt. Im selben Jahr meldete er sein erstes Patent auf einen elektrischen Stimmenzähler für Versammlungen an.

Edison 1922. Quelle: Von Louis Bachrach, Bachrach Studios, restored by Michel Vuijlsteke – Dieses Bild ist unter der digitalen ID cph.3c05139 in der Abteilung für Drucke und Fotografien der US-amerikanischen Library of Congress abrufbar.

Er lernte den Ingenieur Franklin Pope kennen, gründete mit ihm und weiteren Partnern eine erste Firma und erwarb mit ihm gemeinsam Patente für Telegrafen mit Druckvorrichtungen, die unter anderem zur Übermittlung der Goldpreise aus der Börse an die Händler benötigt wurden. Die Branche wurde zunehmend auf sein Talent aufmerksam. 1870 entstand Edisons erste eigen Werkstatt für Entwicklung und Fertigung von Kurstelegrafen und Telegrafen für private Leitungen in New Jersey. Sie markierte den Beginn der Tätigkeit Edisons als Erfinder-Unternehmer und hatte um die 50 Mitarbeiter, die etwa 600 Geräte im Jahr produzierten. Aufgrund zunehmender Einnahmen kaufte er 1871 sein erstes eigenes Haus, heiratete seine Frau Mary und bekam mit ihr drei Kinder.

„Ich bin ein guter Schwamm“

1876 wurde er praktisch über Nacht weltberühmt, nachdem er die Leitung des Menlo Park Laboratoriums übernommen und seine bahnbrechende Erfindung des Phonographen der Öffentlichkeit vorgestellt hatte. Mit konnten erstmals gesprochene Stimmen oder Musik aufgenommen und anschließend durch eine von Hand gedrehte Trommel wieder abgespielt werden. Die nächsten Jahre waren von zahlreichen Erfindungen geprägt, die Edisons internationalen Ruf als visionärer Techniker untermauerten und ihn zu einem reichen Mann machten. Er erkannte die Nützlichkeit und Marktlage von Erfindungen und hatte Managerqualitäten: Es gelang ihm stets, finanzkräftige Investoren für seine zahlreichen Projekte zu finden und sie von deren wirtschaftlichen Perspektiven zu überzeugen.

Da Edison von einer Elektrifizierung urbaner Räume träumte, konzentrierte er sich in den späten 1870er Jahren auf die Entwicklung der Glühbirne, die ihm 1880 erste internationale Erfolge einbrachte. Bis heute wird kolportiert, dass der wahre Erfinder der Glühlampe ein anderer war: Zuletzt galt der in New York ansässige deutsche Uhrmacher Heinrich Goebel als ihr wahrer Erfinder. Doch 2006 kamen neue Studien zu dem Schluss, dass auch er nicht der Richtige sei. Die Geschichte passt zu seiner Selbsteinschätzung: „Ich bin ein guter Schwamm, ich sauge Ideen auf und mache sie nutzbar. Die meisten meiner Ideen gehörten ursprünglich Leuten, die sich nicht die Mühe gemacht haben, sie weiterzuentwickeln“. Er sei ein „homo faber der extremsten Form gewesen…und seine raffinierteste Erfindung sei seine Selbstwandlung zur Kulturikone gewesen“, urteilt Edison-Biograf Neil Baldwin.

Der Meister und sein Phonograph. Quelle: Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=172788

Sein Glanz war zunehmend umstritten. Schon seit seiner ersten Firmengründung kam es immer wieder zu Streitigkeiten und Gerichtsverfahren. Edison führte zahlreiche Urheberrechtsprozesse gegen Andere, geriet aber genauso oft in Verdacht, selbst gegen Urheberrechte zu verstoßen. Nach der Patentierung der Glühbirne folgten die Gründungen unterschiedlicher Unternehmen wie der Edison Lamp Co. oder der Edison Electric Light Co. sowie von Zweigstellen in Europa. Edison meldete allein über dreißig Patente auf technische Entwicklungen rund um die Glühlampe an, die ab 1883 zu einer schrittweisen Stromversorgung New Yorks durch unterirdisch verlegte Kabel führten. Ein Jahr später starb Mary, woraufhin Edison seine zweite Frau Mina heiratete. Auch aus dieser Ehe gingen eine Tochter und zwei Söhne hervor. Sein Sohn Charles wird nach dem Rückzug seines Vaters 1927 die Führung des Konzerns übernehmen, 1940 unter Roosevelt das Amt des Marineministers bekleiden und danach Gouverneur des Bundesstaates New Jersey.

Edisons Konkurrent George Westinghouse hatte in dem kroatischen Erfinder Nikola Tesla, der zuvor kurze Zeit bei Edison tätig gewesen war, einen genialen Mitarbeiter gewonnen, der durch die Idee eines rotierenden magnetischen Feldes den Wechselstrom entwickelt hatte. Zwischen Edison, der den Gleichstrom als einzige Möglichkeit einer Elektrifizierung favorisierte, und Westinghouse kam es dadurch zum sogenannten „Stromkrieg“, der ersten bedeutenden wirtschaftlichen Auseinandersetzung in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Um Teslas Errungenschaften zu denunzieren, ließ er zahlreiche Tiere, darunter auch Katzen und Hunde, im Zuge öffentlicher Vorführungen durch Wechselstrom qualvoll verenden. Mit der Elektrisierung und Tötung eines Elefanten legte er den Grundstein zur Entwicklung des elektrischen Stuhls 1888, der in den USA bis ins Jahr 2013 zur Hinrichtung von zum Tode verurteilten Menschen benutzt wurde.

Partner und nicht Angestellte

1893 ging ein lukrativer Vertrag zur Elektrifizierung der Weltausstellung in Chicago an Westinghouse und nicht an Edisons ein Jahr zuvor gegründete General Electric Co. Nach dieser Niederlage konzentrierte sich Edison auf technische Entwicklungen innerhalb der Filmindustrie und erfand mit dem Kinetographen den direkten Vorläufer der heutigen Filmkamera. 1893 führte er den 35-mm-Film mit Lochperforation für den Transport ein, der Industriestandard wurde. Dieser Erfolg veranlasste ihn, sich ab Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Einrichtung von Filmstudios und der Entwicklung verschiedener Tonträger zu beschäftigten. Damit machte er sich einen Namen als einer der Pioniere der US-amerikanischen Filmindustrie: Ein Stern auf dem Hollywood Walk of Fame war der Lohn.

Edison-Filmstudio. Quelle: Von Thomas Alva Edison – en:Image:Edison Bronx.jpg; uploaded 2007-08-24 by w:User:Walloon, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3142126

1912 wurde das Kinetofon patentiert, eine Kombination von Filmkamera und Phonograph, die den frühen Tonfilm ermöglichte. 1915 wurden er und Tesla für den Nobelpreis vorgeschlagen. Da sie sich jedoch beide weigerten, die Auszeichnung zusammen entgegenzunehmen, wurden sie bei der Auswahl übergangen. Ab diesem Zeitpunkt arbeitete der alternde Edison vermehrt an der Verbesserung elektrisch betriebener Fahrzeuge. Gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern stellte er sich nach der Versenkung der RMS Lusitania durch die Marine im Ersten Weltkrieg der Regierung zur Verfügung, um Abwehrmaßnahmen gegen deutsche U-Boote zu erarbeiten. Er wurde Vorsitzender des Naval Consulting Board, das Vorschläge und Erfindungen prüfen und in Prototypen umsetzen sollte.

Bevor er in New Jersey verstarb, hatte er das Prinzip des Wechselstroms als bessere Lösung anerkannt und seine Arroganz gegenüber Westinghouse und Tesla als gravierenden Fehler zugegeben. US-Präsident Herbert Hoover bat die Amerikaner, anlässlich seiner Beisetzung die elektrischen Lampen auszuschalten. Er wird als charismatische Persönlichkeit beschrieben. Mitarbeiter aus Menlo Park sagten später, er habe ihnen das Gefühl gegeben, Partner und nicht Angestellte zu sein. Bei relativ geringer Bezahlung stellte Edison seinen Mitarbeitern ihren Leistungen entsprechende Anteile an später zu gründenden Unternehmen in Aussicht. Als sich bei der Entwicklung der Glühlampe und der Elektroinfrastruktur erste Erfolge einstellten, hatten selbst geringste Anteile seiner Mitarbeiter bereits den Gegenwert mehrerer Jahresgehälter.

 „99 Prozent Transpiration“

Für den Historiker Keith Near war Edison von allen berühmten Personen diejenige, über die man am wenigsten wisse. Was die meisten über ihn zu wissen glaubten, seien nichts Anderes als Märchen. An der wissenschaftlichen Aufbereitung der umfangreichen Quellen arbeitet ein Team von etwa zehn Historikern seit über 20 Jahren im Projekt The Thomas Edison Papers an der Rutgers University in New Jersey; ein Ende ist nicht abzusehen. Edison hat allein 3500 Notizbücher hinterlassen mit Zeichnungen, die das Entstehen vollendeter Erfindungen dokumentieren, sowie Skizzen von nicht realisierten Ideen. Zu seinen erfolglosen Erfindungen gehören Skurrilitäten wie die Herstellung von Möbeln und Klavieren aus Beton. Auch die aus der Glühlampenherstellung abgeleitete und patentierte Konservierung von Obst in evakuierten Glasbehältern blieb damals erfolglos.

Frühe Glühlampe. Quelle: Von Uploaded at enwp by User:Alkivar – Original source: http://www.classstudio.com/scaltagi/img/internship/sightseeing_day2/edison_bulb.jpg, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1046233

„Was Henry Ford für den Automobilbau ist, George Eastman für die Fotografie und Charles Goodyear für die Gummiherstellung, ist Edison nicht für eine, sondern gleich für mehrere heute grundlegende Technologien“, befand Kathleen McAuliffe in The Atlantic Monthly. Von der Popularität Edisons auch in Deutschland zu jener Zeit zeugt eine Umfrage der Berliner Illustrierte Zeitung zur Jahrhundertwende 1899/1900. Die etwa 6000 teilnehmenden Leser wählten Thomas Edison zum größten Erfinder. „Heute ist die Fachwelt sich praktisch einig, dass Edisons wichtigster Beitrag nicht seine Erfindungen selbst waren, sondern die Erfindung der Erfindungsindustrie. Edison ist kein Geringerer als der Vater der modernen Forschung und Entwicklung“, meint Debra Galant in der New York Times 1997. Er selbst kommentierte sein Erfolgskonzept mit dem legendären Satz: „Genialität besteht zu einem Prozent aus Inspiration und zu 99 Prozent aus Transpiration.“

Es war die nach ihm benannte Studie im Auftrag der von ihm mitgegründeten Deutschen Anthropologischen Gesellschaft von 1874, die ihn heute je nach Perspektive als „wissenschaftlichen Rassisten“ oder „objektiven Anthropologen“ erscheinen lässt. Dafür sollten 6,7 Millionen Schulkinder in Deutschland (mit Ausnahme Hamburgs) anhand von Kriterien wie Schädelformen, Haut-, Haar- und Augenfarbe auf Unterschiede zwischen jüdischen und christlichen Kindern untersucht werden. Dazu wurden damals auch Schädel vermessen – heute ein unverzeihliches Vergehen! Die Forscher wollten durch die Studie Aufschluss über die Verbreitung und die Beschaffenheit der Rassen in Deutschland erhalten, wobei die besonderes Augenmerk auf das Erscheinungsbild einer „jüdischen“ und einer „germanischen Rasse“ legten.

Laut seiner Statistik machten im gesamten Deutschen Reich bei nichtjüdischen Kindern die Blonden nur 31,8 Prozent aus; die Mischtypen überwogen weit mit 54,15 Prozent; bei den jüdischen Kindern wurden 11 Prozent rein blonde Kinder angetroffen. Dabei gab es bedeutende regionale Unterschiede. Gegenüber der Ideologie vom reinrassigen deutschen Ariertum zog Virchow die Folgerung, dass die Juden ein Volk, aber keine Rasse seien; wolle man ein germanisches Deutsches Reich, müsse man weite Teile Süd- und Westdeutschlands davon ausschließen. Den Vertretern der „Völkischen Bewegung“ gefiel diese Erkenntnis naturgemäß gar nicht, sie entwickelten daraus ihre Thesen von Überfremdung oder der jüdischen Gefahr, die Jahrzehnte später bittere Früchte trug.

Virchiw 1891. Quelle: Von Hanns Fechner – http://www.kunsttexte.de/download/bwt/werner.pdf Gabriele Werner, Das Bild vom Wissenschaftler – Wissenschaft im Bild, in: kunsttexte.de Seite 2, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=892753

Sein Resümee „Ja, meine Herren, wohin soll denn das führen, wenn wir plötzlich eine Art von ethnologischer Heraldik treiben, um zu untersuchen, wo jeder einzelne sein Blut hergenommen hat?”, führte gar zu seiner Verunglimpfung im Film „Robert Koch, der Bekämpfer des Todes“ mit Emil Jannings in der Titelrolle von 1939. Doch das schmälerte seinen Ruhm nicht, im Gegenteil – er wird bis heute als Universalgenie gefeiert, der als Arzt, Sozialmediziner, Anthropologe, Ethnologe, Prähistoriker und Politiker unschätzbare Verdienste erlangte: Rudolf Ludwig Karl Virchow, der am 13. Oktober 1821 als einziges Kind des Landwirts und Stadtkämmerers Carl Virchow im pommerschen Schievelbein (heute Swidwin/Polen) geboren wurde.

„Politik ist Medizin im Großen“

Virchow wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf und war oft krank – vielleicht ein Grund für seinen Berufswunsch. Nach der Reifeprüfung am Gymnasium in Köslin studierte er ab 1839 mit Hilfe eines Stipendiums der Berliner militärärztlichen Akademie Medizin und promovierte 1843. Bereits mit 24 Jahren hielt er Privatvorlesungen und bezeichnete das allgemeinen physikalischen und chemischen Gesetzen unterliegende Leben im Wesentlichen als Aktivität der Zelle. Auch seine Vorstellungen zur Entstehung von Venenentzündungen, die bei der Zuhörerschaft erheblichen Widerspruch bewirkten, entwickelte er zu dieser Zeit. 1845 beschrieb er Weißes Blut bei Blutkrebs, dessen Namen Leukämie er ab 1847 prägte. Auch die Bezeichnungen Thrombose und Embolie gehen auf Virchow zurück: Ihm zu Ehren wird sein Geburtstag seit 2014 als Welt-Thrombose-Tag gefeiert.

Als Unterarzt der Charité legte er 1846 sein Staatsexamen ab, habilitierte sich ein Jahr später und gründete das „Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie“, das bis heute als „Virchows Archiv“ ein zentrales Publikationsorgan für die Pathologie ist. Im Auftrag der preußischen Regierung reiste er Anfang 1848 nach Oberschlesien, um eine grassierende Hungertyphus-Epidemie zu untersuchen. Er erkannte deren Ursachen in sozialen Missständen, der Armut und Unwissenheit der Bevölkerung. Die Verantwortung dafür sieht er bei Staat und Kirche. Politische und soziale Reformen, Einführung der Demokratie, Aufbau eines Bildungssystems, lauteten seine Rezepte: „Die Medizin ist eine soziale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen.“ Er forderte einen Gesundheitsrat von Sachverständigen für die öffentliche Gesundheitspflege; an den Universitäten solle der medizinische Unterricht auf eine empirische Basis gestellt werden, um die Medizin zu einer „positiven Wissenschaft“ zu machen. Sein Abschlussbericht rief bei der Regierung keine Begeisterung hervor.

Virchows Hauptwerk. Quelle: Von © Foto H.-P.Haack (H.-P.Haack) – Antiquariat Dr. Haack Leipzig, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2507319

Und kaum wiedergekehrt, bringt Virchow die preußische Führung völlig gegen sich auf: Während der Märzrevolution beteiligt er sich am Barrikadenbau in der Berliner Innenstadt und wurde Mitherausgeber einer sozialpolitischen Wochenschrift namens „Medicinische Reform“. Darin forderte er erneut eine „öffentliche Gesundheitspflege“ und gebraucht erstmals den Begriff „Volksgesundheit“. Infolge seiner politischen Betätigungen drohte ihm die Entlassung aus der Charité, und so nahm er Ende 1849 einen Ruf auf den Lehrstuhl für Pathologische Anatomie in Würzburg an – gegen das Versprechen, sich nicht mehr radikal politisch zu betätigen. Im Jahr darauf heiratete er Rose Mayer, die Tochter eines Geheimen Sanitätsrats, und hat mit ihr insgesamt sechs Kinder.

Zwei Jahre später ging Virchow erneut mit politischen Forderungen an die Öffentlichkeit: nach einer im Auftrag der Württembergischen Regierung durchgeführten Untersuchung der Bevölkerung in den Elendsquartieren verkündete er, dass Bildung, Wohlstand und Freiheit Voraussetzung für die Gesundheit der Bevölkerung seien. Die sieben Jahre in Würzburg gehören aus medizinischer Sicht zu Virchows bedeutendster Zeit. Einen Großteil seiner bekanntesten Schriften verfasst er hier, darunter seine „Cellularpathologie“, in der er seine Überlegung von den Zellen als kleinste eigenständige Einheiten im Körper skizzierte und darin alle Krankheiten auf Veränderungen der Körperzellen zurückführte. Diese „Solidarlehre“ löst die jahrhundertealte „Humoralpathologie“ ab, die Krankheit als eine Störung des Säftesystems (Blut, Schleim, Galle und Schwarzgalle) versteht. So zu Berühmtheit gelangt, holte Berlin Virchow 1856 schließlich auf einen eigens für ihn geschaffenen und in Deutschland einmaligen Lehrstuhl für Pathologische Anatomie zurück.

Die „Trachten der Weiber“

Von 1859 bis zu seinem Tod war Virchow Mitglied der Berliner Stadtverordnetenversammlung. In diesem Gremium setzte er sich für den Bau von Krankenhäusern ein und sorgt für eine Professionalisierung der Krankenpflege sowie eine strukturierte Ausbildung an Krankenpflegeschulen, die an die großen Krankenhäuser angegliedert werden. Zudem führte er das System der Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung Berlins ein. Während der Schwerpunkt der Medizin traditionell auf einem individualistischen Ansatz lag, hatte Virchow die Gesundheit der Gruppe, der Stadt, des ganzen Volkes im Blick – heute würde man „public health“ dazu sagen. Dieser soziale Blick auf eine Medizin, die nicht nur die Gesundheit Einzelner, sondern die der ganzen Gesellschaft im Blick hatte, drehte sich im Dritten Reich ins Negative. Das Individuum zählte nicht mehr, das Volk stand im Mittelpunkt. Dass nach dem Krieg die Individualmedizin wieder dominierte und Virchows Errungenschaften zunächst in den Hintergrund traten, verwundert deshalb nicht.

Deutsche Freisinnige Gruppe mit Virchow im Reichstag. Quelle: Von Julius Braatz – Deutsches Bundesarchiv (German Federal Archive), Bild 147-0935, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5420166

1861 gehörte Virchow zu den Mitbegründern der liberalen „Deutschen Fortschrittspartei“, deren Mitglieder hauptsächlich in besser verdienenden und studierten Berufen arbeiten und für die er von 1862 bis 1867 im preußischen Abgeordnetenhaus vertreten war. Hier gehört er bald zu den schärfsten Kritikern Bismarcks. Dieser wurde gerade zum preußischen Ministerpräsidenten berufen, um im Verfassungskonflikt zwischen dem preußischen König Wilhelm I. und dem Parlament zu vermitteln. Geschickt versucht Bismarck den Konflikt in seinem Sinne zu lösen: Da eine Lücke in der Verfassung bestehe und die Exekutive die tragende Kraft sei, falle dieser – also dem König – im Zweifel die Entscheidungsgewalt bei. Von dieser Machtbeschneidung des Parlaments hält Virchow natürlich wenig. Genauso wenig kann er mit Bismarcks Machtpolitik – „Blut und Eisen“ – anfangen. Er sieht die Stärke und Expansion nach außen vor allem als Weg, um von den Problemen im Inneren abzulenken, und meint, die preußischen „Einigungskriege“ von 1864 (und 1866 sowie 1870) gäben ihm Recht.

Am 2. Juni 1865 kam es zu einer hitzigen Budgetdebatte im Landtag –  Virchow wollte das Geld für den Ausbau des Kieler Kriegshafens lieber in eine Verbesserung der Infrastruktur und in so­ziale Maßnahmen wie Parks und Spielplätze stecken. Bismarck explodiert, er fordert  Virchow zum Duell. Doch der lehnt ab. Ein Waffenduell sei keine zeitgemäße Art der Diskussion, belehrt er seinen Widersacher kühl. Der Cottbuser Anzeiger berichtete von Virchows Studenten, die sich an Stelle ihres Lehrers mit dem Ministerpräsiden­ten schlagen wollten: „Nun sei es ihnen ja klar, welchen unersetzlichen Verlust die Wissenschaft und die Nati­on durch einen unzeitigen Tod Dr. Virchow‘s erleiden würde. Der Gedanke sei ih­nen entsetzlich, dass er bei einem Spiel, dass sie selbst wahrscheinlich bes­ser verstünden als ihr berühmter Lehrer, der Welt entrissen werden könnte.“ Nach dem Eingreifen des Kriegsministers sah Bismarck dann von seiner Forderung ab. Ab 1880 saß Virchow zunächst für die Fortschrittspartei, ab 1884 dann für die Freisinnige Partei im Deutschen Reichstag, wo er sich erneut für den Aufbau einer staatlichen Gesundheitsfürsorge einsetzte – und von Bismarck erneut attackiert wurde.

Darüber hinaus forschte Virchow zur Anthropologie und Urgeschichte, wozu er schon 1857 seine „Untersuchungen über die Entwicklung des Schädelgrundes“ vorlegte, der eine zentrale Rolle auf dem Weg von der pathologischen Anatomie zur Anthropologie zukam. Er trug wesentlich zur Professionalisierung und Institutionalisierung des Fachs in Deutschland bei und reiste zu Studienzwecken nach Österreich-Ungarn und in den Kaukasus, aber auch nach Pommern und in die Mark. Er prägte den Begriff der „Lausitzer Kultur“, unterschied als erster zwischen der slawischen Keramik des Burgwalltyps und der bronzezeitlichen Keramik des Lausitzer Typs und beschrieb 1875 nach einer Exkursion „Die ‚Trachten der Weiber‘ und das wendische kirchliche Leben“. Außerdem besuchte er Heinrich Schliemann in Troja und ging mit ihm nach Griechenland und Ägypten. 1881 gab Schliemann auf Virchows Vermittlung den „Schatz des Priamus“ zur ungeteilten Aufbewahrung nach Berlin.

„der rassistische Gehalt seines Tuns“

Von 1886 bis 1888 beteiligte sich Virchow an der Gründung des Ethnologischen Museums und des Völkerkundemuseums in Berlin: Er und andere Forscher wollen mehr über unbekannte Völker, Kulturen und die Physiognomie des Menschen erfahren. Zu diesem Zweck sammeln sie alles, was von Fernreisen und Expeditionen mitgebracht wird: Neben Artefakten wie Keramiken werden auch menschliche Knochen untersucht, diskutiert und katalogisiert. Virchow trägt in dieser Zeit mehr als 5.000 Skelette und Schädel aus aller Welt zusammen: Die „Virchow-Sammlung“ entstand. Zumeist waren es Schiffsärzte, die in seinem Auftrag aus allen Kontinenten Skelette und Schädel mitbrachten. Für Wissenschaftler sind solche ethnografische Sammlungen von unschätzbarem Wert: Sie betrachten diese Skelette als biohistorische Urkunden, „Sachzeugen“. Die Kritiker dieser Sammlungen dagegen fordern eine Rückgabe der menschlichen Überreste an die Völker der Ursprungsorte, damit sie dort würdig bestatten werden können. Die sogenannte Virchow-Sammlung wird heute vom anthropologischen Institut der Humboldt-Universität verwaltet.

Virchow in seinem Berliner Arbeitszimmer. Quelle: Von Internet Archive Book Images – https://www.flickr.com/photos/internetarchivebookimages/14578454228/Source book page: https://archive.org/stream/lemondemoderne16pari/lemondemoderne16pari#page/n684/mode/1up, No restrictions, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=43783432

Daneben beteiligt sich der Freigeist und Humanist auch an der Praxis, Untersuchungen am „lebenden Objekt“ vorzunehmen. Hierzu holte man sich in die Studierzimmer Menschen aus den sogenannten „Völkerschauen“ wie die des Hamburger Tierparkunternehmer Carl Hagenbeck, die Ende des 19. Jahrhunderts in allen großen europäischen Städten zu sehen waren: Feuerländer und Lappen, Indianer und Nubier wurden dem neugierigen Publikum als „unverfälschte Naturmenschen“ vorgeführt. „Ganz dem Anspruch wissenschaftlicher Objektivität verpflichtet, entging Virchow die Überheblichkeit und der rassistische Gehalt seines Tuns“, dekretiert ebenso ahistorisch wie arrogant und ideologisch das ARD-Portal Planet Wissen.

Doch der geniale Wissenschaftler ist Zeit seines Lebens längst nicht in allen Bereichen genial: Auch ihm unterlaufen Fehler. So giftet er offen über den „Bazillenzirkus“, wie er die These seines einstigen Schülers Robert Koch bezeichnet, wonach Bakterien Krankheiten wie Tuberkulose und Milzbrand auslösen könnten. Diese Hartnäckigkeit selbst angesichts sich häufender, gegenteiliger Befunde erklärt die Universität Würzburg in einer Abhandlung zur Geschichte ihres Pathologischen Instituts mit dem ungeheuren Selbstbewusstsein Virchows und vielleicht auch einem gewissen Hang zur Eitelkeit: „Während Virchow seine eigenen Hypothesen mit einer fast lutherischen Selbstgewissheit verteidigte, hatte er große Mühe, bahnbrechende Ergebnisse anderer großer Forscher anzuerkennen … Manchmal hat man den Eindruck, dass Virchow deren Ideen durchaus enthusiastisch akzeptiert hätte, wären sie nur seiner eigenen Einsicht entsprungen“. Er stand Darwins Evolutionstheorie ebenso skeptisch gegenüber wie dem Befund Johann Carl Fuhlrotts, dass die in der sogenannten Kleinen Feldhofer Grotte bei Düsseldorf gefundenen Schädelknochen einem Urmenschen gehörten. Dass sie tatsächlich 42.000 Jahre alt waren, wurde 1903 kurz nach seinem Tod festgestellt.

Denkmal für Rudolf Virchow nahe der Charite. Quelle: Von Andreas Steinhoff, Attribution, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=527267

Denn im Januar 1902 stürzte Virchow beim Abspringen von einer noch fahrenden Straßenbahn, brach sich den Oberschenkelhals und erholte sich von diesem Unfall nicht mehr. Er starb am 5. September 1902 und wurde auf dem Alten St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg begraben, seit 1952 als Ehrengrab der Stadt Berlin gewidmet. Er war Mitglied vieler Akademien der Wissenschaften weltweit. Die Rudolf-Virchow-Medaille ist die höchste Auszeichnung der Deutschen Gesellschaft für Pathologie. Zudem wurden der Rudolf-Virchow-Preis (DDR) sowie der Virchow-Preis des Aktionsbündnisses Thrombose nach ihm benannt, daneben ein Campus-Klinikum der Charité, Straßen, Plätze, ein Mondkrater, ein Asteroid – und die Rudolf-Virchow-Vorlesung des Römisch-Germanischen Zentralmuseums Mainz. Sein Nachfolger als Professor in Berlin, sein ehemaliger Assistent Johannes Orth, würdigte seinen Lehrer in einem Nachruf als „Praezeptor orbis terrarum“.

Ohne je Not gelitten zu haben, versuchte er zusätzliche materielle Sicherheit durch viele Examina, Zeugnisse und Empfehlungsschreiben zu gewinnen: Bis weit ins Erwachsenenalter hinein war er sich seiner musikalischen Berufung offensichtlich nicht sicher. Auch sein Lebensstil war bescheiden. Er galt als depressiv und litt trotz seiner Erfolge sein ganzes Leben an Minderwertigkeitsgefühlen und tiefer Einsamkeit. Die demütige Haltung des Komponisten gegenüber Autoritäten zeigte sich auch darin, dass er seine 7. Sinfonie dem bayerischen König Ludwig II., die 8. Sinfonie dem Kaiser Franz Joseph und die 9. Sinfonie dem lieben Gott widmete, „wenn er sie nehmen mag“. Sein Gottvertrauen gab ihm Kraft, die zahlreichen Anfeindungen seiner Gegner auszuhalten.

Die Rolle von Frauen in seinem Leben erscheint widersprüchlich. Er verfasste zeitlebens schriftliche Heiratsanträge, vorzugsweise an junge Frauen um die 20, war aber durchwegs erfolglos. Sie ähneln seinem rastlosen Drängen nach Anerkennung als Musiker, nur konnte er die von ihm verehrten Frauen mit Zeugnissen und ähnlichem nicht beeindrucken. Seinem ehemaligen Lehrer Otto Kitzler entgegnete er einmal, als dieser ihn auf seine „ungeregelten Verhältnisse“ ansprach: „Lieber Freund, ich habe keine Zeit, ich muss jetzt meine Vierte schreiben!“. Sein Biograph Walter Gerstenberg befand: „Die mönchischen Tugenden des Gehorsams, der Unterordnung und der Enthaltsamkeit haben seinen Lebensweg begleitet.“ Zudem litt er an verschiedenen Zwangsneurosen, etwa einem Zählzwang (Arithmomanie), der sich unter anderem in den durchgängig nummerierten Taktperioden zahlreicher seiner Partituren niederschlug.

Der alte Bruckner. Quelle: Von Ferry Bératon – https://sammlung.wienmuseum.at/objekt/42817-anton-bruckner-komponist/, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1504375

Auf ihm lastete die verbreitete Ansicht, er sei zwar musikalisch hochbegabt, doch letztlich nie seiner provinziellen Herkunft entwachsen. Die gern kolportierte Beschreibung „halb Genie, halb Trottel“ stammt jedoch nicht, wie vielfach angenommen, vom Kollegen Gustav Mahler, sondern vom Dirigenten und Pianisten Hans von Bülow. Der Musikwissenschaftler August Halm nannte ihn „Genie mit Handwerkerbewusstsein“. Dass er ausgebildeter Lehrer mit einer Zulassung für höhere Schulen war und als solcher zur oberen Bildungsschicht gehörte, lässt auch andere Interpretationen seines Verhaltens zu: Dieser große Einzelgänger der Musikgeschichte könnte sich durch ein klobig-kantig anmutendes, ungeschickt erscheinendes Benehmen, das er noch mit seiner Kurzhaarfrisur und überweiten Anzügen unterstrich, gegenüber ihm feindlich gesinnten Menschen wie manchen Musikkritikern bewusst abgegrenzt haben: Anton Bruckner, der am 11. Oktober 1896 in Wien starb.

Entfaltung in Wien

Geboren wurde er am 4. September 1824 in Ansfelden als ältestes von zwölf Kindern eines Dorfschullehrers mit bäuerlichen Vorfahren, zu dessen damaligen Pflichten auch kirchenmusikalische Dienste wie Kantoramt und Orgelspiel sowie das Aufspielen als Tanzbodengeiger auf Festen gehörten. So kam der junge Bruckner bereits früh mit der Musik in Kontakt und fungierte schon als Zehnjähriger gelegentlich als Aushilfsorganist. Nach dem Tod seines Vaters besuchte er dreizehnjährig als Schüler und Sängerknabe das Augustinerchorherrenstift St. Florian und übt wie besessen: Laut seiner Biografin Elisabeth Maier hat er „in der Nacht so viel gespielt, vor allem Bach, dass die Lehrersfrau dann aufgestanden ist und gesagt hat, er soll jetzt endlich Ruhe geben, er stört alle im Haus.“

Ab 1840 ließ er sich in einem Präparandenkurs in Linz zum Lehrer ausbilden. Schon 1841 wurde er Schulgehilfe im Dorf Windhaag, wo es bald schon zu Konflikten mit seinem Vorgesetzten kam, die schließlich zur Versetzung nach Kronstorf führten: Bruckner habe zu viel komponiert und auf der Orgel improvisiert, statt seinen Pflichten nachzukommen, die neben dem Schul- und Kirchendienst auch die Arbeit auf dem Feld und im Wald umfassten. Tatsächlich schrieb er in dieser Zeit drei sogenannte „Choral-Messen“ 1845 absolvierte er schließlich die Lehrerprüfung und trat noch im selben Jahr eine Stelle als Hilfslehrer der Schule von Sankt Florian an. In seiner Freizeit beschäftigte er sich mit der Fugenkunst von Johann Sebastian Bach und mit Volkstänzen.

Brucknerorgel im Stift Sankt Florian. Quelle: Von Bwag – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=106336956

1849 war er in Sankt Florian vorläufiger Stiftsorganist und Hilfslehrer, nahm zwei Jahre später diese Funktionen endgültig wahr und legte 1855 die Prüfung zum Lehrer für Hauptschulen ab. Im gleichen Jahr verließ er das Stift und wurde ein Jahr später in Linz Domorganist. Eine Anekdote besagt, dass sich Bruckner zunächst nicht bewarb, aber schließlich überredet werden konnte, daran teilzunehmen. Obwohl er keine schriftliche Bewerbung eingereicht hatte, wurde ihm erlaubt zu spielen. Keiner seiner Mitbewerber vermochte mit seiner virtuosen Orgelkunst gleichzuziehen, und so bekam er die Stelle. Zusätzlich absolvierte er eine klassische musikalische Ausbildung und bestand 1861 die Prüfung an der Orgel der Piaristenkirche zu Wien. In die Linzer Zeit fällt seine nahezu schicksalhafte Begegnung mit der Musik Richard Wagners, die ihn fortan begleiten sollte. Beide Musikwelten, die altmeisterliche Satztechnik und die moderne Klangführung, miteinander zu verschmelzen, blieb seitdem sein immanentes künstlerisches Streben und wird seine eigentümliche Stellung in der Musik des 19. Jahrhunderts begründen.

Zwischen 1864 und 1868 entstanden nun mit den drei großen Messen in d-Moll, e-Moll und f-Moll sowie der Sinfonie Nr. 1 c-Moll die ersten Meisterwerke. Bruckners angestrengte Arbeitsweise, private und berufliche Enttäuschungen untergruben seine Gesundheit in der Zeit um 1867 und brachten ihn bis an den Rand geistiger Verwirrung. Nach einer Kur trat er 1868 am Wiener Konservatorium die Nachfolge eines ehemaligen Lehrers an und wurde Professor für Generalbaß, Kontrapunkt und Orgel. „Erst auf dem künstlerisch reichen und gerade damals vielschichtigen Boden Wiens konnte sich Bruckners kompositorisches Genie vollends entfalten“, so Gerstenberg. Hier vor allem sind in oft harter und mühevoller Arbeit jene mächtigen Symphonien entstanden, die seinen Ruhm begründet haben. Als Sinfoniker nahm er sich Ludwig van Beethoven zum Vorbild. Aus seinen Werken, besonders aus seiner 9. Sinfonie, holte er sich Anregungen für die eigene Kompositionsweise. In der Kirchenmusik entwickelte Bruckner einen modernen sinfonischen Messestil und schuf eine liturgisch-kirchenmusikalische Ausdruckssprache, der er den zeitgenössischen sinfonischen Charakter unterlegte.

„etwas elementar Überwältigendes“

1869 wurde er zur Einweihung der Orgel der Kirche St-Epvre in Nancy geladen und gab einige Tage später ein umjubeltes Konzert in Notre-Dame in Paris. Der große Erfolg dort wiederholte sich 1871 in der Royal Albert Hall in London. Daheim wurde Bruckner zunehmend in den Streit der beiden musikalischen Parteien hineingezogen, der keine Stadt so leidenschaftlich wie Wien bewegt hat: die neudeutschen Anhänger Liszts und Wagners hielten sich für die Avantgardisten eines musikalischen Fortschritts und zählten ihn zu den Ihren, während Johannes Brahms, der seit 1862 ebenfalls in Wien lebte, als Hauptrepräsentant einer konservativen, von den Gegnern gern als reaktionär bezeichneten Richtung galt. Diese Spaltung der musikalischen Öffentlichkeit, besonders auch die immer unerbittlichere Gegnerschaft des angesehenen Musikkritikers Eduard Hanslick, hat Bruckner enorm mitgenommen und war mindestens teilweise Ursache einiger Uraufführungs-Misserfolge.

„Der Künstler wallt im Sonnenschein, die Tintenbuben hinterdrein.“ Karikatur von Otto Böhler auf Bruckner und seine Kritiker (Eduard Hanslick, Max Kalbeck und Richard Heuberger), in Anlehnung an den Struwwelpeter. Quelle: Von Otto Böhler – Klaus Günzel: Die deutschen Romantiker. Artemis, Zürich 1995, ISBN 3-7608-1119-1, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12221513

Er vollendete weitere Sinfonien, sein Streichquintett F-Dur (1879), ein Te Deum in C-Dur (1881) sowie zahlreiche Chorwerke und Orgelkompositionen. Kaiser Franz Joseph I. zeigte sich vom Te Deum sogar so beeindruckt, dass er Bruckner dafür das Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens verlieh und die Drucklegung zweier Sinfonien finanzierte. Bruckners Selbstkritik verstärkte sich inzwischen derart, dass er immer wieder bereit war, auch schon abgeschlossene fertige Werke oder Teile davon nicht selten von Grund auf umzuarbeiten, was nach seinem Tod zu Aufführungsproblemen führen wird. Allein für seine dritte Sinfonie sind vier Umarbeitungswellen nachgewiesen. 1879 in die kaiserliche Hofkapelle aufgenommen, ehrte ihn 1891 die Philosophische Fakultät in Wien mit der Ehrendoktorwürde, 1894 die Stadt Linz mit der Ehrenbürgerschaft. Ab 1895 wurde ihm, gesundheitlich schon schwer angeschlagen, die Ehre zuteil, im Schloss Belvedere wohnen zu dürfen – bis zu seinem Tod. Seine letzte, neunte Sinfonie blieb unvollendet. Gemäß seinem Testament wurde er bei seinem Berufsanfänger- und Lieblingsinstrument beigesetzt: In der Krypta unter der Orgel des Stifts St. Florian.

Bruckner ist neben Brahms und Wagner derjenige Komponist des späten 19. Jahrhunderts, dessen Schaffen wohl am richtungweisendsten für die folgende Entwicklung der abendländischen Musik wurde. Gustav Mahlers ausdrucksstarke Monumentalsinfonik ist undenkbar ohne Bruckners gründliche Vorarbeit. Vom „Bruckner-Rhythmus“ etwa in der sechsten und neunten Sinfonie ließ sich Jean Sibelius anregen. Selbst Schostakowitsch ist ohne Bruckner kaum denkbar. Seine Bedeutung für die gesamte spätere Musik wurde in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg aber in den Hintergrund gerückt, da die Nationalsozialisten Bruckners Musik als „arisch-deutsch“ bezeichneten und ihre Erhabenheit, Weite, Größe und Repräsentation für propagandistische Zwecke missbrauchten: So wurde nach der Bekanntmachung von Hitlers Tod am 1. Mai 1945 das Adagio der siebenten Sinfonie im Rundfunk übertragen. Der Missbrauch ging sogar so weit, Bruckners Typus – klein, untersetzt, Hakennase – als eigene Unterart des Ariers zu definieren, die besonders gut für die Musik geeignet sei. Daher trauten sich viele Komponisten in der frühen Nachkriegszeit nicht, sich auf Bruckner zu berufen. 2019 krönte der Filmregisseur Reiner Moritz seine Karriere mit dem 96minütigen Dokumentarfilm „Anton Bruckner – Das verkannte Genie“, der im Kino aber nur mäßigen Erfolg hatte.

Viktor Tilgners Bruckner-Denkmal im Wiener Stadtpark, Zustand 1908. Quelle: Von Autor unbekannt – Book: Wien seit 60 Jahren, 1908, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10074348

Seit den 1960er Jahren ist bekannt, dass die authentische Überlieferung seiner Symphonien durch den „wohlmeinenden Rat“ einiger seiner Schüler gefährdet ist: sie erlaubten sich teils weitgehende Eingriffe in das Gefüge der Druckausgaben. Ob Bruckner dabei zugestimmt hat, ist unbekannt. Zu denken gibt, dass er seine unverfälschten Handschriften der Nachwelt durch Bibliotheksvermächtnis erhalten wollte. Gemeinsam mit seinem Umarbeitungsdrang „ist die Frage nach der authentischen, letztgültigen Klang- und Formgestalt von Bruckners Musik so verwickelt wie bei kaum irgendeinem anderen Komponisten und gegenwärtig noch nicht vollständig zu lösen“, resümiert Gerstenberg. Die Tendenz der Erstausgaben gegenüber den Originalfassungen scheint aber klar: während die Schüler-Korrektoren bestrebt waren, sie näher an das neudeutsche Ideal Wagners heranzuführen, ist Bruckners Klanggestalt härter, schärfer in sich abgesetzt, weniger ausladend. Gerstenberg reißt sie gar zu Pathos hin: „Beethoven meißelt seine Formen, Bruckner lässt sie wachsen. Diese Naturkraft seiner Musik hat etwas elementar Überwältigendes“.

Liebe Freunde,

Von Straßen über Apotheken und Vögeln bis hin zu Konsumgütern wie Keksen ist der Bürger inzwi-schen Umbenennungsärger gewohnt. Doch dass Dresdens Museen jetzt auch Alte Meister verunstalten, tut weder der Kultur noch dem sozialen Frieden gut und lässt den Ärger in Wut umschlagen – schrieb ich in meiner aktuellen Tumult-Kolumne, die am Freitag (08.10.21) online ging. Doch da sowohl das Feuilleton der Sächsischen Zeitung als auch SPD-Grande Wolfgang Thierse in derselben noch Anmerkungen tätigten, hier mein aktualisierter Text dazu.

Für Marion Ackermann muss in der alten deutschen Redewendung „Aller guten Dinge sind drei“ das „gute“ durch „schlechte“ ersetzt werden. Die Göttinger Kunsthistorikerin, seit 2016 Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden SKD, hat seitdem drei veritable Skandale hingelegt. Zuerst verbannte sie DDR-Kunst ins Depot, was den „Dresdner Bilderstreit“, einen Aufstand des Kulturbürgertums, nach sich zog. Dann ließ sie sich von Berliner Clangangstern elf unschätzbare und bis heute verschwundene Kleinode aus dem Grünen Gewölbe buchstäblich unterm Hintern wegstibitzen. Die Sicherheitseinrichtungen hätten doch funktioniert, log sie, und freute sich später: Die Räuber hätten doch gar nicht alles mitgenommen, es wäre ja immer noch was da. Und nun vergriff sie sich an teilweise jahrhundertealten, vertrauten Bezeichnungen für Kunstwerke.

Was war geschehen? Im Zeichen der „äußersten Sensibilisierung für Sprache“ wurden insgesamt 143 Exponate in Orwell‘scher Manier um- oder gleich ganz neubenannt, weil ihre Werktitel „rassistische oder anderweitig diskriminierende Begriffe oder Inhalte“ aufwiesen: „Der effektivste Weg, Menschen zu zerstören, besteht darin, ihr eigenes Verständnis ihrer Geschichte zu leugnen und auszulöschen“, schrieb der Brite in „1984“. Aus „Zwerg“ wurde „kleinwüchsiger Mann“, aus „Knabe“ wurde „Junge“, aus „Zigeunermadonna“ wurde „Madonna mit stehendem Kind“, und aus „indischen Eingeborenen“ wurden einfach nur „Menschen“. Der Name des Gemäldes „Landschaft mit mohammedanischen Pilgern“ von Christoph Ludwig Agricola (ca. 1710) wurde beispielsweise in „Landschaft mit betenden Muslimen“ abgeändert. Vor allem die Tilgung von „Mohr“ und „Zigeuner“ fiel auf: Aus einer „Zigeunerin“ etwa wurde eine „Frau mit Kopftuch“. Ob es sich dabei um eine Katholikin im Petersdom oder eine Muslimin handelt, spielt offenbar keine Rolle mehr.

Bei elf Exponaten wurde der Titel nicht umgeändert, sondern durch Asterisken (Sternchen) unkenntlich gemacht. Die Statuette „Mohr mit der Smaragdstufe“ von Balthasar Permoser als Bildhauer und Johann Melchior Dinglinger als Goldschmied, eins der namhaftesten Kunstwerke überhaupt, wurde so etwa zum „**** mit Smaragdstufe“. Ackermanns Begründung in der Sächsischen Zeitung SZ liest sich absurd: Die Trägerfigur symbolisiere – aus europäischer Perspektive – in jedem stereotypen Detail vermeintliche „Andersartigkeit“: dunkle Hautfarbe, als „afrikanisch“ gelesene Physiognomie, Tätowierungen und Schmuckstücke, die wiederum als Repräsentationsformen indigener Kulturen Nordamerikas gedeutet wurden. Aus postkolonialer Sicht ist auch die Herkunft der Smaragdstufe aus kolumbianischen Smaragdminen, die während spanischer Eroberungskriege 1537 erschlossen wurden, problematisch.

Der umstrittene „Mohr“. Quelle: https://image.saechsische.de/954×636/u/y/uyig4x3ry7dgh0y12h4l3m8k30mhu0m5.jpg

Wer denkt, das war jetzt alles, irrt. Denn die – nunmehr bereits arg entzauberte – Smaragdstufe wird auf einem Schildpatt-Tablett dargeboten. Das Staunen über die Schönheit des Materials, so die Generaldirektorin, wird getrübt durch den Gedanken an das viel zu spät ratifizierte Artenschutzabkommen für Meeresschildkröten. „Offenbar hatte August der Starke seinerzeit vergessen zu unterschreiben“, ärgert sich Erik Lommatzsch auf achgut. Kurzum, in der Figur spiegele sich Ausbeutungsgeschichte: der von Menschen und der Natur. Da fällt fast gar nicht mehr ins Gewicht, wie sich ein schwarzer „People of Color“ fühlen muss, wenn er plötzlich nicht mehr benannt, sondern auf vier Symbole reduziert wird. Über 50.000 Bundesbürger tragen den Nachnamen „Mohr“. Auch der Spitzname von Karl Marx soll Mohr gewesen sein, in der DDR erschien der Jugendroman „Mohr und die Raben von London“. Wird der jetzt in „**** und die Raben von London” umbenannt? Mehr Sprach-, mehr Geschichtsklitterung war nie.

„da wird Bewusstsein geschaffen“

Ackermanns Pressesprecher Holger Liebs nennt das gegenüber der Süddeutschen Zeitung einen „didaktischen Ansatz, der die Historie des Begriffs nicht ausblendet, sondern sie im Gegenteil sichtbar macht; da wird Bewusstsein geschaffen“. Sie selbst verteidigte das Vorgehen in der SZ als „übliche Museumsarbeit“, es gehe nicht nur um Begriffe, die historisch bewusst abwertend benutzt wurden, sondern auch um den Sprachgebrauch einer Zeit, in den „unreflektiert Begriffe Eingang fanden, die heute als eindeutig rassistisch oder diskriminierend bewertet“ würden. „Um keine Menschen über die Reproduktion dieser Sprache zu verletzen, werden die Werktitel … sukzessive überarbeitet“; über dies bedürften sie, „je nach Forschungsstand, der wissenschaftlichen Kontextualisierung“, was neben der Vermeidung von Diskriminierung „der kunsthistorischen Begriffspräzisierung“ diene. Ja mehr noch: So könnten „künstlerische Interventionen und Neuproduktionen angeregt und gefördert werden. Wir könnten sagen, der monolithische Status des Objekts wird dadurch aufgebrochen, entmaterialisiert und wieder rematerialisiert.“ Das ist kein Witz.

Aufgedeckt hatte den Frevel der kulturpolitische Sprecher der sächsischen AfD-Landtagsfraktion Thomas Kirste MdL mit einer Kleinen Anfrage. „Allein der Nennung ‚Kopf eines Eskimos‘ Diskriminierung zu unterstellen und daraus ‚Kopf eines Inuit‘ zu machen, ist keine ‚kunsthistorische Begriffspräzisierung‘, wie die SKD behauptet, sondern schlichte Zeitgeistanbiederung, die das Fremde höher schätzt als das Eigene – und damit das Gegenteil dessen betreibt, was sie zu bezwecken vorgibt“, erregt sich der kunstpolitische AfD-Fraktionssprecher Baden-Württembergs, Dr. Rainer Balzer MdL: Ackermann hatte zuvor sechs Jahre das Kunstmuseum Stuttgart geleitet. Prompt warnte Balzer die baden-württembergische Museumslandschaft davor, dem abwegigen sächsischen Vorbild zu folgen. „Man stelle sich vor, Nicola Grassis ‚Hiob, von seinem Weib verspottet‘ in der Stuttgarter Staatsgalerie würde nun heißen ‚Hiob, von seiner Frau verspottet‘“.

weiteres Beispiel. Quelle: https://image.saechsische.de/954×636/j/5/j5ftawiaovu1i8uy30sc5knuodqm7lyj.jpg

Auch dass Werke überhaupt einer „kunsthistorischen Begriffspräzisierung“ bedürfen, ist eine ungeheuerliche Unterstellung, die alle Kunstinteressierten unten den Generalverdacht der Dummheit stellt – hier trifft ebenfalls das Gegenteil zu. Und geradezu unverfroren ist es zu behaupten, dass diese Praxis „eine übliche, seit Jahrhunderten in sehr vielen Museen in aller Welt stattfindende Praxis“ sei: Damit mutieren Orwells Phantasien langsam zu Tatsachenbeschreibungen. Die Anbiederung an den Zeitgeist wird besonders daran deutlich, dass das Kirste antwortende Dresdner Kunstministerium abwiegelte und auf Nachfrage von Bild sagte, dass es „eine solche Überprüfung weder veranlasst noch durchgeführt“ habe – der Schluss liegt mehr als nahe, dass Ackermann in vorauseilendem Gehorsam aktiv wurde.

Besonders perfide erscheint dabei das Eingeständnis, dass diese stille Tilgung in dem seit 1560 bestehende Museumsensemble bereits seit 2020 vollzogen wird. In diesem Jahr hatte sich die Initiative „DDekolonisieren“ in einem Offenen Brief an das Albertinum und die Staatlichen Kunstsammlungen gewandt und darin beklagt: „Die Ausstellungen setzen viel Wissen zu den geschichtlichen und kolonialen Hintergründen voraus, anstatt diese Kontexte direkt zu thematisieren und zu erläutern.“ Auch sei die Reproduktion von rassistischer Sprache und rassistischen Stereotypen „erschütternd und besorgniserregend“. Prompt heißt es seitens der Aktivisten, die von der linken und grünen Jugend unterstützt wurden: „Sie müssen Verantwortung übernehmen für die Kontextualisierung ihrer Ausstellungsstücke in einer kolonial geprägten Gesellschaft und für die zugehörige Bildungsarbeit.“

„reißerische Zuspitzungen“

Sich heute von Kunstwerken und Worten aus früheren Jahrhunderten beleidigt zu fühlen, sagt mehr über die Beleidigten als über die Kunstwerke und deren Benenner: „abgrundtiefe Bildungsdefizite – gepaart mit verbohrter Ideologie. Eine höchstgefährliche Kombination, wie die Geschichte lehrt“, erkennt der Ex-Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus, in Tichys Einblick TE. Wer einmal an den SKD tätig werden durfte, galt forthin als kunstpolitische Koryphäe, als Lordsiegelbewahrer höchster Kultur, als souveränes Bollwerk gegen den Zeitgeist, ja als Hüter manifester Beweise für die Existenz der Ewigkeit. Damit scheint es spätestens jetzt vorbei zu sein. Denn die zu Kandinsky promovierte Museumschefin entblödete sich nicht, parallel dazu eine „Antidiskriminierungs-AG“ zu etablieren, „in die so viele interne Mitarbeiter*innen wie möglich einschließlich externer thinkers of color eingebunden“ wurden. Auch das ist kein Witz.

Prompt ließen die Relativierungen des Vorgangs, den der DLF „Diskriminierungscheck“ nannte, nicht lange auf sich warten. Der Gesamtbestand aller bislang in der Datenbank der SKD erfassten Objekte beträgt über 1,48 Millionen – die Aktualisierungen entsprächen damit gerade 0,01 Prozent der katalogisierten Titel, hieß es eilfertig. Außerdem hinge die Bearbeitung von Werk- oder Objekttiteln damit zusammen, dass diese bis ins 19. Jahrhundert hinein nur selten von denen betitelt wurden, die sie geschaffen haben. Insofern würden sie in den allermeisten Fällen keinen vom Künstler vergebenen Originaltitel ausweisen. „Da herrschte nicht nur eine gewisse Willkür, sondern es wurden auch sachliche Fehler gemacht“, behauptet Sebastian Frenzel im Monopol-Magazin, ohne diese These zu belegen. Oder gilt neuerdings als sachlicher Fehler, sich damals aus dem damaligen Sprachschatz bedient und nicht den heutigen, überdies ideologisch aufgeladenen antizipiert zu haben?

Ackermann am „Tatort“. Quelle: https://image.saechsische.de/954×636/c/1/c1bzdzf3ula4fh92pbo922j9a6zmd7g3.jpg

Außerdem beziehe sich der Vorgang vorerst (!) nur auf die Online-Datenbank und die Recherche darin. „Da haben wir die Möglichkeit, einen sehr demokratischen Zugriff [sic!] zu erlauben. Wenn man von außen kommt, kann man wählen, welche Titel man sich anzeigen lassen möchte“, so Ackermann im DLF. Wer sich für das Anzeigen des historischen Ti­tels entscheide, werde Beschreibungen sehen, die rassistisch oder diskriminierend sind, heißt es dort warnend, und dass sich die Sammlungen von diesem Sprachgebrauch distanzierten. Bei extremen Fällen mit diskriminierenden Begriffen seien auch andere Tabuworte mit Sternchen ersetzt worden. Wer auf die Sternchen klicke, könne sich das Originalwort dann trotzdem noch anzeigen lassen. Da gehe es um Begriffe wie „Bastard“, „Mischling“, „Viertelblut“ oder „Hottentotten“, erklärt Ackermann.

Die Tabuisierung bestimmter Wörter dürfe es in Museen nicht geben, und wenn sich Titel über die Jahre verändern, dann sollte das auch sichtbar sein, kritisiert Reinhard Spieler, Vorstand des Deutschen Museumsbunds und Direktor des Sprengel Museums in Hannover, im MDR:Ich finde, wir sind als Museen historische Institutionen und wir wollen eigentlich sichtbar machen, dass man in anderen Kulturen und zu anderen Zeiten andere Werte vertreten hat. Das ist der Sinn von Museen.“ „Und das soll jetzt kultursensibel sein?“, empört sich Gabriele Kremmel auf TE. „Kulturbanausentum würde wohl eher passen. Da machen Leute ihre eigenen Vorurteile zum Maßstab aller Dinge und radieren die Begriffe, die sie mit ersteren verbinden, moralinsauer aus der Öffentlichkeit, peinlich berührt von ihren eigenen Assoziationen? Ich nenne es Kulturverleugnung.“

Auch der jüdische Historiker Michael Wolfssohn sieht die Umbenennungen kritisch. Der Bild-Zeitung sagte er: „Die Schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA war da in den 1960er-Jahren viel klüger: ‚Schwarze‘ war lange ein Schimpfwort. Sie drehten den Spieß um und machten daraus: ‚Schwarz ist schön‘.“ Die Staatlichen Kunstsammlungen merkten gar nicht, wie sie sich und ihre eigentlich gute Absicht zum Gespött machten. „Wie viele Meter ist diese Dame vom IS in Palmyra entfernt“, fragt gar Jörg Themlitz auf achgut. Ackermann sprach, bezogen auf solche Äußerungen, von „reißerischen Zuspitzungen“: „Es ist immer das Problem, dass die Dinge sehr komplex sind“, sagte sie dem MDR. Man habe es mit einem transparenten Prozess zu tun.

„entwurzelte Selbstdarstellerin“

Kunsthistoriker fürchten nun, dass die Umbenennungen zu erheblicher Verwirrung in den wissenschaftlichen Katalogen führen werden. Doch das ist nur die akademisch-logistische Perspektive, gesellschaftlich relevanter ist die traditionspolitische. Dresden hat es geschafft, seine Schätze durch die DDR-Zeit zu bewahren und zu halten, selbst den Abriss des Schlosses und anderer Gebäude zu verhindern und jüngst sogar quasi verschwundene Kunstwerke wie Frauenkirche und Taschenbergpalais wiederauferstehen zu lassen. Dresden hat immer wieder bewiesen, dass es Geschichtsbewusstsein hat und das Tradierte, Überlieferte zu schätzen weiß. Nie also hätte man ausgerechnet in Dresden so etwas erwarten können. Prompt richtete sich der vor allem sächsische Unmut gegen die Hessin Ackermann.

Erläuterungsversuch der SKD. Quelle: https://www.skd.museum/forschung/werktitel/

„Warum muss die ostdeutsche Kulturlandschaft dreißig Jahre nach der Wende immer noch als Entsorgungsplatz des westdeutschen akademischen Prekariats dienen?“, empört sich ein Kommentator auf TE. „Wollen wir uns wirklich fast neunhundert Jahre sächsische Geschichte von einer Dame kaputtmachen lassen, die dazu nachweislich weder einen Bezug noch Verständnis hat?“, ein anderer. Eine „entwurzelte Selbstdarstellerin“, die „nur im Jetzt lebt und keine echte Beziehung zu den Kunstschätzen und ihrem Land“ hat, „möchte nur ihren tagespolitischen Eifer dokumentieren“, erkennt ein dritter. Kopfschütteln als Dauergeste, Fremdscham als Daueremotion.

Torsten Küllig, Stadtrat der Freien Wähler Dresden, startete am 20. September eine Online-Petition, in der die Staatlichen Kunstsammlungen aufgefordert werden, „die 143 Kunstwerke wieder so zu benennen, wie sie seit Generationen schon immer heißen. Das sind wir insbesondere unseren Vorfahren, die diese Werte erschaffen und erwirtschaftet haben, schuldig.“ Diese Kunstwerke gehören den sächsischen Bürgern, argumentiert er einerseits, Ackermann sei „lediglich die Sachwalterin dieser weltweit einzigartigen Kunstschätze. Ohne sich bei den Sachsen, also den Eigentümern, für so einen weitreichenden Eingriff die Zustimmung einzuholen, fehlt der Museumsleitung schlichtweg jedwedes Mandat.“

Andererseits seien Eingriffe in die Sprachgestaltung grundsätzlich autoritären Regimen zuzuschreiben und von Demokraten klar abzulehnen: „Sprache entwickelt sich dynamisch, das ist klar, aber das funktioniert in einer freiheitlichen Gesellschaft nur von unten nach oben, niemals umgekehrt. Sobald sich Vertreter von staatlichen Einrichtungen unmittelbar oder auch mittelbar in die Sprachgestaltung einbringen, sollten wir alle sehr aufmerksam werden, denn die Manipulation der Sprache ist letztendlich auch die Manipulation des Denkens.“ Das trifft ins Schwarze: Unaufhebbare Unterschiede zwischen Menschen sollen also durch sprachliche Manipulationen aufgehoben, unkenntlich gemacht oder eingeebnet werden. Prangerte ich in meiner letzten Kolumne noch die Manipulation realer Dinge wie Straßen, Vögel oder Kekse an, sind es nun irreale Dinge, nämlich ästhetische Interpretationen visueller Wahrnehmungen.

Die britische Anthropologin Mary Douglas war in „Reinheit und Gefährdung“ (1966) der Ansicht, dass die „Vorstellung vom Trennen, Reinigen, Abgrenzen und Bestrafen von Überschreitungen vor allem die Funktion haben, eine ihrem Wesen nach ungeordnete Erfahrung zu systematisieren“. Die Trennung der Welt in Rein und Unrein schafft Ordnung in einer ungeordneten Welt. Dabei ist charakteristisch, dass die Trennung in Rein und Unrein sich auf unsichtbare Gefahren bezieht. Die Bedrohung kommt aus einer sinnlich nicht wahrnehmbaren Welt und greift über in die sichtbare Welt der Erscheinungen. „Die Parallele zu der vorherrschende Corona- und Klima-Angst ist evident“, erkannte Gérard Bökenkamp auf achgut. An die Stelle von Geistern und Dämonen treten Viren, Treibhausgase und ideologische Zuschreibungen. Wie bei archaischen Kulturen besteht die Antwort in die gesamte Gesellschaft erfassenden Reinigungsritualen, ob von Klimaskeptikern oder Coronakritikern wie von Sprachtraditionalisten oder Kunstwahrern.

„Folgt Identitätsraub auf Kunstraub?“

Ackermann gibt sich unbeirrt: „Wir müssen einen Weg finden, diese Zerrissenheit der Gesellschaft und die Vielstimmigkeit umzusetzen und Angebote zu machen für die Menschen“, sagt sie im DLF. Wie man mit Fragen der Umbenennung weiter verfahre, kann sie sich als Teil einer öffentlichen Diskussion vorstellen. „Ich habe mir überlegt, eine Art Bürgersprechstunde für unsere Forschungsabteilung einzurichten, damit die Menschen gerade nach dieser Debatte die Möglichkeit bekommen können, Einblick zu nehmen, wie hier entschieden und gearbeitet wird.“ Das ist ebenfalls kein Witz. Kein Wort darüber, die „Zerrissenheit der Gesellschaft“ zu überwinden, sie zu einen; stattdessen ihre Abbildung, gepaart mit einer Demokratiesimulation, um Partizipation, ja Einfluss vorzugaukeln.

 „Folgt Identitätsraub auf Kunstraub?“ fragt sich ob solch diktatorischer Arroganz Küllig, dessen Petition nach zwei Wochen bei 3.700 Unterschriften verharrt. Und als sei ihm diese Marke Fanal, hat sich prompt der sattsam bekannte SZ-Feuilletonist Oliver Reinhard Anfang Oktober in die Debatte gemischt und Küllig der „rhetorischen Schaumschlägerei“ geziehen. Was der Nordrhein-Westfale jedoch – entweder in völliger historischer Unkenntnis oder ebenso geschichtsklitternd wie Ackermann – für eine Argumentation entfaltete, lässt einem den Atem stocken. „Wer Dinge sagt wie ‚Eingriffe in die Sprachgestaltung sind grundsätzlich autoritären Regimen zuzuschreiben und von Demokraten klar abzulehnen‘, hat offenkundig auch jegliches Angebot zur Wissenserweiterung über Rechtschreibreformen oder die Sprachwandel-Kanonisierungen der Duden-Redaktion klar abgelehnt“, ist da zu lesen.

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Wer wandelt da was? Reden westdeutsche Stahlkocher oder ostdeutsche Bergleute so? Diese Anmaßung erzürnte selbst SPD-Grande Wolfgang Thierse in der SZ, weil sie „Ausdruck einer befremdlichen Angst wäre und einer geradezu bestürzenden Unterschätzung des Publikums“. Oder gar: „Doch wer sich wirklich um Sprache sorgt, geht mit ihr auch beim Äußern von Kritik verantwortungsvoll um, statt identitätstrunken den vulgärpopulistischen Phrasenhammer zu schwingen“. Wie redete doch der Präsident des DDR-Schriftstellerverbandes, Hermann Kant, am 30. Mai 1979: „Wer die staatliche Lenkung und Planung auch des Verlagswesens Zensur nennt, macht sich nicht Sorgen um unsere Kulturpolitik – er will sie nicht.“ Beides ist reine Ideologie, einfach nur erschreckend und lässt uns plötzlich wieder da sein, wo wir nie wieder sein wollten.

„Nein zur Auslöschung von irritierender Erinnerung, nein zur Beseitigung von historischen Stolpersteinen, nein zur Einebnung von Differenz“, empfand das Thierse, jüngst selbst mit der Keule der Identitätspolitik gedroschen, ähnlich. „Denn aus gereinigter Geschichte ist nichts wirklich zu lernen“, weiß er und mahnt zu Behutsamkeit. Denn „wer entscheidet darüber, welche und wessen Verletzungen der Maßstab dafür sind?“ Ein Museum mag auch moralische Lehranstalt sein, es ist aber auch „ein Ort der Differenz: zwischen Geschichte und Gegenwart, zwischen dem Fremden und dem Eigenen, zwischen dem Alten und dem Jetzigen. Genau diese Differenz erst ermöglicht ästhetische Erfahrung und, ja, auch Urteilen und Lernen.“ Sein Appel lautet prompt: „Schüttet nicht das ästhetische Kind mit dem moralischen Bad aus! Haltet also Maß.“

Der Vorgang erscheint wie ein Mosaikstein im Wandel von der deutschen Kulturnation zu einer von den historischen Wurzeln der Deutschen losgelösten „multikulturellen Willensnation“, den der Berliner Politikwissenschaftler Martin Wagener („Kulturkampf um das Volk“, 2021) jüngst behauptete. In Politik und Medien sei eine ausgeprägte Distanzierung vom Eigenen zu beobachten: Das reiche vom Rassismusvorwurf gegen Heino, der für seine Tournee 2021 den Titel „Heino goes Klassik – Ein deutscher Liederabend“ gewählt hatte, wodurch sich Migranten ausgeschlossen fühlen könnten; bis zur Basis der Grünen, die das Wort „Deutschland“ aus dem Titel des Bundestagswahlprogramms tilgen wollte, weil es „negativ assoziiert“ werde. Parallel dazu verschwänden historische Anknüpfungspunkte durch Prozesse der „Hypokognition“, also der sprach­lichen Vernachlässigung, aus dem Be­wusstsein. Und diese Vernachlässigung wird durch Ideologen wie Ackermann aktiv betrieben. An dieser Stelle schließt sich der Kreis zu Orwell: „Um die Lügen der Gegenwart durchzusetzen, ist es notwendig, die Wahrheiten der Vergangenheit auszulöschen.“ Das klingt so erschreckend wie es ist.

Der Suppenalchemist

Dass aus dem Dorf am Berg Hohentwiel eine florierende Stadt wurde, hat viel mit seinem unternehmerischen Geschick zu tun – aber auch mit den Zollbestimmungen im damaligen Großherzogtum Baden sowie damit, dass Singen am Gleisnetz der deutschen Eisenbahn lag. Das erleichterte den Weitertransport seiner Produkte in alle Teile des wichtigen, weil im Vergleich zur Schweiz vielfach größeren deutschen Markts. 1887 hatte dort Frauen, zum damaligen Spitzenlohn von 80 Pfennigen pro Tag, zunächst die Abfüllung einer Sauce begonnen, die heute weltweiten Erfolg hat. Seit Corona sei die Nachfrage nach seinen Produkten um zehn Prozent gestiegen, berichtet Betriebschef Alfred Gruber im Südkurier: „Die Kulinarik boomt, weil die Leute zu Hause mehr kochen“. Im März 2020 gab es sogar Hamsterkäufe bei den Ravioli. Für die über 600 Beschäftigten bedeutet das teilweise zusätzliche Schichten an Sonntagen.

Dabei war er in seinem Führungsstil geradezu revolutionär, erzählt die Historikerin Daniela Schilhab ebenfalls dem Südkurier. Er hatte für seine Arbeiter zahlreiche soziale Verbesserungen eingeführt: unter anderem einen werkseigenen Kindergarten und ein betriebseigenes Ferienheim, Regelungen bei Lohnausfall, Arbeiterwohnungen, eine Betriebskrankenkasse und später bezahlten Urlaub. 1912 sei ein Arbeiterausschuss gegründet und der erste Tarifvertrag in der Lebensmittelindustrie geschlossen worden. Noch heute sind je nach Schicht Vesper, Mittag- und Abendessen sowie Getränke kostenlos. Der Grund sei damals schlicht Angst vor Betriebsspionage gewesen: Die Firma Knorr soll 1893 versucht haben, Fabrikarbeiter abzuwerben, um so hinter seine geheimen Rezepturen zu kommen: Julius Michael Johannes Maggi, der am 9. Oktober 1846 als fünftes von sechs Kindern eines italienischen Müllers aus der Lombardei und einer Züricher Lehrerstochter in Frauenfeld zur Welt kam.

Der gealterte Maggi. Quelle: https://img.luzernerzeitung.ch/2018/4/14/48f0f734-3835-46bc-8ab6-f8c7f9be85e3.jpeg?width=1360&height=1863&fit=crop&quality=75&auto=webp

Seine Jugendzeit verläuft turbulent, Julius wechselt häufig die Schule. Nach der Schulzeit nahm er 1863 eine Lehre im Handelshaus Gerôme Stehelin in Basel auf. Dort zeichnete sich der fleißige und patente Maggi durch sein unternehmerisches Geschick aus und kam nach verkürzter Lehrzeit 1867 als Fabrikbeamter in die Erste Ofen-Pester Dampfmühlen-Aktiengesellschaft in Budapest, wo ihm nach zwei Jahren das Amt des stellvertretenden Direktors übertragen wurde. Dazwischen besuchte er noch die Rekrutenschule der Kavallerie. Im praktischen Geschäftsleben ist er voller Tatendrang. So gewinnt er schließlich das Vertrauen seines Vaters, von dem er 1869 die Hammermühle im Kempttal übernimmt. 1871 heiratet er Helene, die schon zwei Jahre später stirbt, 1879 die Pfarrerstocher Louise. Er hatte insgesamt sechs Kinder. Die Familie erwirbt weitere Mühlen und Gemüseanbaubetriebe in der Schweiz: Keine handwerklichen Traditionsbetriebe mehr, sondern halbindustrielle Unternehmen – denen es schlecht ging.

„volkstümliche Nahrungsmittel“

Denn technische Neuerungen brachten erhöhte Produktivität auf einem begrenzten Markt, und auch zunehmender Importhandel verstärkte den Konkurrenzdruck; Pleiten waren keine Seltenheit. Das Unternehmen – seit 1872 Julius Maggi & Cie., einige Teilhaber hatten zusätzliches Kapital eingebracht – durfte sich nicht länger ausschließlich auf die Herstellung und den Handel von Getreidemehlen verlassen, wenn es überleben wollte. In dieser Zeit trafen zwei glückliche Umstände zusammen. Zum einen befreundete er sich mit dem Arzt Fridolin Schuler, der sich jahrelang mit der Ernährungssituation der Arbeiterschicht befasst hatte. Deren Ernährung war damals einseitig und ungesund, es fehlt an Zeit und Geld für eine gesunde Ernährung. Die Arbeitswege sind lang, die Essenpausen kurz, manchmal ersetzt Schnaps die Mahlzeit; und so bleibt die Küche immer öfter kalt: Den schlecht ernährten Fabrikarbeitern fehlten schlicht Platz, Zeit und Geld, um Obst und Gemüse anzubauen oder gute Lebensmittel zu kaufen. 

Zum anderen hatte 1882 auf Schulers Initiative die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) angesichts weit verbreiteter Unterernährung bei Fabrikarbeitern und deren Familien Alarm geschlagen. Und so machte sich Maggi als SGG-Mitglied, anfangs zusammen mit Schuler, an die Entwicklung einer Spezialkost nach den Vorgaben der SGG: Guter Nährwert, leichte Zubereitung und vor allem ein selbst für Geringverdiener bezahlbarer Preis. Ein wichtiger Grundstein war zwei Jahrzehnte zuvor gelegt worden: 1863 hatte die großindustrielle Produktion von Fleischextrakten zur Herstellung von Suppen begonnen. Traditionelle Suppen aus Bier, Obst, Milch, Brot und Mehl verloren an Bedeutung. Die Basis für den Aufstieg auf Pflanzen basierender Würze und Suppen war geebnet. Das Zauberwort hieß Leguminosen: Hülsenfrüchte wie Bohnen, Erbsen, Linsen, Erdnüsse und Lupinen.

Frühe Maggi-Produkte. Quelle: https://www.maggi.de/sites/g/files/cisvdi421/files/inline-images/Maggi-U%CC%88ber-Maggie-Boullions-1900_0.jpg

Als Müller kennt sich Maggi mit Mehl aus. Daher versucht er sich zuerst an einem Leguminosenmehl aus Bohnen und Erbsen, das sich durch Beigabe von Wasser in eine Suppe verwandeln lässt, und richtete im Kempttaler Mühlenbetrieb 1882 eine Röstpfanne ein. Zwei Jahre später bringt er schließlich das erste nahrhafte Leguminosen-Mehl auf den Markt – und forscht immer weiter. Seine Begeisterung für die Arbeit bei der Herstellung von Suppenkonzentraten auf dieser Basis war so groß, dass er eine seine drittgeborene Tochter Lucy fast „Leguminosa“ genannt hätte – was nur schärfste Familienproteste verhinderten. Die SGG übte anfangs eine Art Schirmherrschaft aus, unterstützte die Popularisierung des neuen Produkts und behielt sich dabei eine Preiskontrolle vor – heute würde man „public-private partnership“ sagen. Als Zweck der 1886 neu gebildeten Kommanditgesellschaft „J. Maggi & Co.“ mit ihm als unbeschränkt haftendem Teilhaber wurden „Herstellung und Verkauf von volkstümlichen Nahrungsmitteln“ genannt.

Im selben Jahr kommt die erste kochfertige Maggi Suppe aus Erbsen-und Bohnenmehl auf den Markt. Bald sind es 22 Sorten. Da der Geschmack anfangs noch nicht optimal war, widmete sich der Fastfood-Pionier nun der Entwicklung des Bouillon-Extracts, der heutigen Suppenwürze. Kurioserweise wurde in der Folge Liebstöckel auf Grund der Ähnlichkeit des Aromas im Volksmund als „Maggi-Kraut“ bezeichnet – obwohl es gar nicht enthalten ist. Dieses „gewisse Tröpfchen Etwas“ machte ihn in aller Welt bekannt. Eigenhändig entwirft Julius ein Jahr später die typische braune Würzflasche mit dem gelb-roten Etikett und dem Kreuzstern. Die Farben und die Form der Flasche sind mit leichten Modifizierungen bis heute gleich geblieben. Sogar sein Direktionszimmer wurde komplett in gelb-rot eingerichtet – ein erster Meilenstein auf dem Weg zum Konzept der Integrierten Kommunikation. 1972 machte Joseph Beuys das kleine Fläschchen gar zum Kunstobjekt für seine Installation „Ich kenne kein Weekend“ – und das Seite an Seite mit einem Reclam-Band von Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“.

„Alles Wohl beruht auf Paarung“

Gerade weil diese Produkte nicht sinnlich-konkret Nährwert und Geschmack kommunizieren konnten, bedurfte es noch anderer „kommunikativer Stellvertreter“ der Marke: Reisende Händler, firmenintern anerkennend als „Apostel des Maggi-Evangeliums“ bezeichnet. Die „Apostel“ führten auch vor, wie man mit Maggi-Produkten das Essen verfeinern konnte. Diese Tradition der Kochvorführungen wurde später im 20. Jahrhundert fortgesetzt, in den 1950er-Jahren mit dem reisenden „Fridolin“ und dann bis heute mit dem Maggi-Kochstudio. Maggi ging es darum, eine persönliche Beziehung zwischen Käufer und Produkt zu schaffen. Die dafür nötige Kommunikation sollte ein „Reclame- und Pressebureau“ leisten, das er ebenfalls 1886 gründete und mit dem damals unbekannten, aber begabten 22-jährigen späteren Dramatiker Frank Wedekind besetzte – der hatte sein Jurastudium abgebrochen und war in finanzieller Not. Er präsentierte er 1887 die Firma bei der I. Internationalen Ausstellung für Kochkunst und Volksernährung in Leipzig und kassierte dort stellvertretend eine Goldmedaille.

Maggi-Flaschen im Wandel der Zeit. Quelle: https://www.maggi.de/sites/g/files/cisvdi421/files/inline-images/Maggi-U%CC%88ber-Maggie-Wu%CC%88rzflaschen-U%CC%88bersicht.jpg

Obwohl die Produkte als günstige und nahrhafte Mahlzeit für die Arbeiterschaft beabsichtigt waren, sprach die Werbung vor allem reichere Bürgersfrauen, Hotels und Restaurants an. Dank der Strahlkraft der bürgerlichen Wertvorstellungen wirkte die am Bürgertum ausgerichtete Werbung aber auch in den Unterschichten. Wedekind hielt es allerdings nur acht Monate bei Maggi aus, denn er fühlte sich „mit Leib und Seele verschachert“, wie er in einem Brief an seine Mutter schrieb. Zu seinen Hauptaufgaben gehörte das Verfassen von 12 bis 18 Reklametexten in Prosa oder Vers pro Woche, deren  handschriftlichen Originale in einer Sondersammlung der Aargauer Kantonsbibliothek zu sehen sind. Resultate waren Köstlichkeiten wie „Frohsinn, Scherz und Maggiwürze bessern jedes Mahl in Kürze!“ oder gar solche Elogen:

Was dem einen fehlt, das findet
In dem Andern sich bereit;
Wo sich Mann und Weib verbindet
Keimen Glück und Seligkeit.
Alles Wohl beruht auf Paarung;
Wie dem Leben Poesie
Fehle Maggi‘s Suppen-Nahrung
Maggi‘s Speise-Würze nie!

1897 wird die Maggi Gesellschaft mbH in Singen als eigenständige deutsche Firma gegründet. In Berlin entsteht das erste Auslieferungslager. Ab 1900 führt Maggi den Suppenwürfel, den Soßenwürfel und den Fleischbrühwürfel ein. Besonders letzterer wird ein voller Erfolg; ein Fleischbrühwürfel ist um 1910 circa 30mal günstiger als ein Kilo Suppenfleisch. Daneben verlagert Maggi seine Aktivitäten zunehmend nach Frankreich und suchte dort die Unterstützung des berühmten Meisterkochs Auguste Escoffier für die „Nobilitierung seiner Produkte“. 1899 gründete er in Paris ein Unternehmen für nichtalkoholische Getränke, zog zur Weltausstellung 1900 mitsamt seiner Familie für fünf Monate nach Paris und baute 1902 mit der „Société laitière Maggi“ ein Verteilersystem für pasteurisierte Milch auf, deren Qualität durch ein von ihm gegründetes Labor kontrolliert wurde. Vor der Einführung der pasteurisierten Maggi-Milch waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts 90.000 Kinder in Frankreich, davon 20.000 in Paris, an infantiler Cholera gestorben.

Saarland als Maggi-Weltmeister

In der Pariser Zeit hatte Julius Maggi eine Liaison mit einer Schauspielerin und geizte nicht mit repräsentativen Ausgaben. Den erworbenen Lebensstandard trugen er und seine Familie durchaus offen zur Schau: Sie waren im Besitz von Dienern, einer vierspännigen Kutsche und den Dampfjachten „Maggi I“ bis „Maggi IV“ an der französischen Küste. In Zürich ließ er die „Villa Sumatra“ repräsentativ umbauen und ausgestalten. Er arbeitete nahezu ununterbrochen. Der Unternehmer vertrat dabei die eigenwillige Theorie, seinen Schlafmangel – er schlief täglich nur drei bis vier Stunden – durch zusätzliche Nahrungsaufnahme ausgleichen zu können. 1911 fuhr Maggi schließlich in Folge einer Blinddarmentzündung das erste Mal in seinem Leben in den Erholungsurlaub. Doch schon im Jahr darauf litt der Unternehmensgründer unter Bewusstseinsstörungen, die sich innerhalb weniger Wochen verschlimmerten. Während einer Arbeitssitzung erlitt er einen Schlaganfall und wurde noch in die Schweiz überführt, wo er am 19. Oktober 1912 in einem Sanatorium starb und auf dem Gemeindefriedhof Lindau im Kanton Zürich begraben wurde.

Erste Ravioli 1958. Quelle: https://www.maggi.de/sites/g/files/cisvdi421/files/inline-images/Maggi-U%CC%88ber-Maggie-Historie-Eier-Ravioli-Kult-Kollage_0.jpg

Als sein Nachfolger leitete in der Folge Sohn Harry die „Maggi AG“. Die starke Abwehr der übrigen Pariser Milchhändler und das schon ungünstig gewordene politische Klima führten zu verschiedensten, teilweise aggressiven Kommunikationsaktivitäten. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurden das Labor und fast alle 850 Auslieferungsstellen der „Société laitière Maggi“ in Paris von einem wütenden Mob angegriffen und verwüstet. Es kursierte das Gerücht, dass die Maggi-Produkte und insbesondere die Milch vergiftet seien – man hielt Maggi für ein deutsches Unternehmen, das nur als Tarnung für Spionageaktivitäten gegenüber Frankreich diente.

Ein anderes Gerücht besagte, dass Monsieur Maggi, der in Wirklichkeit schon fast zwei Jahre tot war, bei dem Versuch verhaftet worden sei, mit 40 Millionen Francs, die in Milchkannen versteckt waren, aus Paris zu fliehen. 1934 wurden alle Maggi-Gesellschaften in der Holding „Alimentana AG“ zusammengefasst und 1947 mit „Nestlé“ zur „Nestlé Alimentana AG“ in Vevey (Schweiz) vereinigt. Ein mit Erbsenmehl verfertigtes Nebenprodukt war übrigens Hoosh, suppenähnliche Eintopfgerichte auf englischsprachigen Antarktisexpeditionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Maggi-Kochstudio heute. Quelle: https://www.maggi.de/sites/g/files/cisvdi421/files/styles/maggi_desktop_image_style/public/maggi-events-frankfurt.jpg?h=4f5b30f1&itok=8lx8T5D6

In keinem anderen Bundesland übrigens verbrauchen die Menschen so viel Maggi-Würze wie im Saarland: Fast ein Liter jährlich. Der hohe Verbrauch hängt auch mit der Industriegeschichte des Landes zusammen. So würzten sich insbesondere die Bergmänner früher ihre oft kargen Mahlzeiten mit ein paar Tropfen Maggi. Bis heute genießt die Würze in der braunen Flasche in weiten Teilen des Saarlandes Kultstatus und gilt im Volksmund als eine Art saarländisches Grundnahrungsmittel. So setze sich der saarländische Adventskranz angeblich aus einem Ringel Lyoner und vier Maggi-Flaschen zusammen. Uwe Hoffmann vom Eiscafé „Favretti“ in Saarbrücken kreierte 2017 gar ein „Maggi-Eis“. Dazu passt eine Nachricht aus diesem Frühjahr: Danach wollten „Axe“ und das „Maggi-Kochstudio“ als Kooperationspartner ein neues Duschgel mit dem unverwechselbaren „Maggi-Würze-Geruch“ auf den Markt bringen. Das Saarland sollte als Testregion dienen. Manche Saarländer sollen traurig gewesen sein, als die Meldung als Aprilscherz enttarnt wurde.

Sein Rollenfach sei der Draufgänger, ob als Offizier, Reporter oder Möbelpacker, „ein Anarchist des Alltags, ein Desperado, der auf keine andere Fahne schwört als auf den frechen Wimpel der eigenen Unwiderstehlichkeit“, wie Hans-Christoph Blumenberg urteilt. Ein anderer Kritiker nennt ihn „den Troubadour des 20. Jahrhunderts“, etwas farblos zwar, „aber von gewinnender seelischer Blondheit“. Selbst Udo Lindenberg bekennt sich in seinem Buch „El Panico“ als Verehrer des „Breitwantologen“, der eins seiner größten Vorbilder gewesen sei: Er „guckte nach oben und kriegte deshalb das berühmte Sahneauge, diesen unkopierbaren Geilblick. Irgendwie war der auch nicht so ganz von dieser Welt.“

Als er im Frühjahr 1943 seine Berliner Hotelsuite für den König von Bulgarien räumen sollte, weigerte er sich – mit der Bemerkung, er sei selbst ein König. So eine Tollkühnheit hätte andere sofort den Kopf gekostet. Sie zeugt von Systemverachtung ebenso wie von Selbstverliebtheit, wie Schauspielkollege Fritz Kortner nach dem Krieg betonte: Er habe aus Gesprächen mit ihm erkannt, „dass sich seine Abneigung gegen den Diktator Hitler auch auf den Publikumsliebling Hitler bezog. Er fand sich von ihm auch auf diesem Gebiet in den Schatten gestellt.“ Gern sagt er „So wahr ich der liebe Gott bin“, erscheint wie eine Lichtgestalt am Set und begrüßt lautstark alle Anwesenden, die den Gruß im Chor erwidern: Hans Philipp August Albers, der am 22. September 1891 in Hamburg als Sohn eines Schlachtermeisters geboren wurde und als „blonder Hans“ zum Volksidol wurde.

Vier Töchter und ein Sohn bevölkern das Haus schon; sowohl die Schwestern als auch die Mutter sollten ihn lebenslang verhätscheln. Schon als Kind entdeckt er das Theater: Das Hansa-Varieté am Steindamm, wo er lernt, was Applaus ist, und wo er Otto Reutter erlebt. In der Schule hat er kein Glück: Von der Uhlenhorster Oberrealschule wurde er nach einem tätlichen Konflikt mit einem prügelnden Lehrer als Quartaner verwiesen; ähnliches erlebte er in der St. Georgs-Realschule. Mehr Anerkennung fand Albers als begeisterter Jungsportler im Schwimmklub Alster. Dort schrubbt er Ausflugsboote, um sich seine wachsende Theaterleidenschaft zu finanzieren. Er ist 14, als er anfängt, die Tapete seines Zimmers mit seinem Namenszug vollzukritzeln: Als Übung, wie die Unterschrift eines Stars aussehen müsste. Denn da weiß er schon, dass er Schauspieler werden muss.

Hans Albers. https://www.stuttgarter-nachrichten.de/media.media.e48a9150-222f-4cfd-9701-becf87be4baf.original1024.jpg

Als Lehrling in einer Chemikalienhandlung nimmt er heimlich Schauspielunterricht. Der Vater, keineswegs begeistert, verbannt ihn nach Frankfurt. Dort steht Hans Albers, tagsüber Kommis in einer Seidenfirma, 1911 als Bedienter in Kleists „Der zerbrochene Krug“ zum ersten Mal auf einer Bühne. Erfahrungen als Darsteller sammelte er dann am Theater des sächsischen Kurorts Bad Schandau, anschließend am Frankfurter „Neuen Theater“ und am Stadttheater Güstrow sowie bei einer mecklenburgischen Wanderbühne und einem Vaudeville-Theater in Köln. 1913 wird er erstmals in Hamburg engagiert, 1915 erhielt er in „Jahreszeiten des Lebens“ seine erste Stummfilmrolle. Bekannt bis heute ist er als Protagonist in „Der böse Geist Lumpaci Vagabundus“ nach der Zauberposse von Johann Nestroy (1922). Zur Armee eingezogen, wurde er als Soldat im Ersten Weltkrieg an der Westfront schwer verwundet und entging nur knapp einer Beinamputation.

„vom Kronleuchter runter springen“

Nach dem 1. Weltkrieg spielte Albers an verschiedenen Berliner Theatern und trat in Revuen und Operetten als Schauspieler, Sänger, Tänzer, Komiker und Artist auf. Er ist ein Kraftprotz, für keinen Gag, kein akrobatisches Kunststück ist er sich zu schade: „So schnell siegt man ja nicht … tausend nackte Beine, da musste ich dann vom Kronleuchter runter springen, und da habe ich die harte Schule des täglichen Theaterspielens durchgemacht.“ „Hinreißend leuchtet dieser Mensch von innerer, mutwilliger Freude, scheint zu jeglicher Tollheit bereit, scheint zu allem fähig, was fröhlich, überschäumend und dabei leise selbstparodistisch ist“, formuliert es Bambi-Erfinder Felix Salten. Claire Dux, Primadonna der Hofoper, verliebt sich in den neun Jahre jüngeren Schauspieler, lässt sich für ihn scheiden – und heiratet doch einen Fleischkonserven-Millionär in den USA.

1928 gelang ihm dann ein großer Erfolg als „seriöser“ Charaktermime, nachdem er als schurkischer Kellner Gustav Tunichtgut in dem Stück „Die Verbrecher“ besetzt wurde. Albers erntete glänzende Kritiken: „Es war eine Sternstunde des Theaters. Albers ist kein Durchschnittsmime, sondern ein Vollblutkünstler.“ Die drei Jahre danach verschafften ihm dann den Durchbruch. Nach über hundert Stummfilmrollen als charmanter Herzensbrecher, Liebhaber, Schurke, Zuhälter, skrupelloser Verführer oder Mann von Welt spielte er 1929 als fast Vierzigjähriger in einem der ersten deutschen Tonfilme „Die Nacht gehört uns“. „Ich bin ja der größte Schauspieler der Welt! Du, ich kann ja wirklich was! Die Sache hat ja hingehauen“: Diese Jubelworte soll Albers ausgerufen haben, als er den Film zu Gesicht bekam. Er war einer der wenigen, die den Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm überstanden, da er Mimik und Sprache in gleichem Maße beherrschte.

Hans Albers in seiner Lieblings- und Paraderolle als Liliom. Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 183-V20141-0043 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5437654

Obwohl Hans Albers in vielen Filmen gefährliche Szenen drehen wird, ließ er sich nie doubeln. Er war sportlich durchtrainiert und hielt nichts davon, andere die Risiken seiner Arbeit tragen zu lassen. Eine Haltung, die in gewissem Sinne typisch für sein Leben war. 1930 folgte der legendär gewordene „Blaue Engel“ nach dem Roman „Professor Unrat“ von Heinrich Mann – obwohl Hauptdarsteller Emil Jannings dafür sorgte, dass entscheidende Szenen mit Albers aus der fertigen Fassung herausgeschnitten wurden. Im gleichen Jahr kam der Krimi „Der Greifer“ in die Lichtspielhäuser – knapp drei Jahrzehnte sollte Albers diese Figur, allerdings nun als pensionierter Kripo-Kommissar, in einem Remake spielen. Und 1931 schließlich stellt die Titelrolle als Karussell-Ausrufer in Franz Molnars „Liliom“ an der Berliner Volksbühne den Höhepunkt seiner Bühnenkarriere dar – über 1.800 Mal wird er ihn zeitlebens spielen: „Komm auf die Schaukel, Luise!/ Es ist ein großes Plaisir. / Du fühlst Dich wie im Paradiese / und zahlst nur ‘nen Groschen dafür.“

Mit „F.P. 1 antwortet nicht“ feiert Albers 1932 seinen ersten großen Filmerfolg, der dazugehörige Filmsong „Das Fliegerlied“ („Flieger, grüß mir die Sonne“) wird ein populärer Schlager – wie viele weitere Filmsongs, darunter „Jawoll, meine Herr’n“ aus der Kriminalkomödie „Der Mann, der Sherlock Holmes war“ gemeinsam mit Heinz Rühmann (1937). Als Josef Goebbels den deutschen Film „reformiert“ und der Prototyp des Optimismus in den Dienst der Nazi-Propagandamaschinerie gerät, werden Filme und Rollen strammer. Die Toupets, die er seit zehn Jahren tragen muss, sitzen inzwischen perfekt. „Jeder Zoll ein Naziführer“, urteilt der Philosoph Ernst Bloch 1934 im Exil; „Albers, was für ein ekelhafter Bursche“, schimpft der ebenfalls geflohene Schriftsteller Klaus Mann, „dasselbe Volk, das den Autor von ‚Mein Kampf‘ zu seinem Führer, zu seinem Gott gemacht hat, quietscht vor Wonne, wenn Albers, der Unausstehlich-Unwiderstehliche, seine rohen Kunststücke zeigt.“

„ich finde alles ganz großartig“

„Seine Augen leuchten wie Jupiterlampen, der eisblaue Blick duldet keinen Widerspruch“, meint Emanuel Eckardt in der Zeit. Es ist wahr: Der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda ist von dem „Teufelskerl“ fasziniert. Schützend hält er seine Hand über ihn. Albers macht sich nie viele Gedanken darüber, welche Wirkungen seine Filme und sein persönliches klassisch-deutsches Aussehen ausüben; als Star wird er verwendbar: Gustav Ucickys „Flüchtlinge“ (1933), Johannes Meyers „Henker, Frauen und Soldaten“ (1935), Herbert Selpins „Wasser für Canitoga“ (1939), „Trenck, der Pandur“ (1940) und „Carl Peters“ (1941) gehören zu den schärfsten Propagandafilmen. Das Dubiose dabei: Albers meidet offizielle Veranstaltungen. Bei der Verleihung des Staatspreises für „Flüchtlinge“ lässt er sich vertreten – ein Affront. Es gibt kein Foto, das ihn mit einer Nazigröße zeigt; anders als die meisten seiner Kollegen erhält er nie ein signiertes Bild des „Führers“: Hans Albers verachtet das System, das ihn auf Händen trägt, zum „Gottbegnadeten“ macht und unvorstellbare Gagen zahlt.

Albers als Münchhausen. Quelle: https://srv.deutschlandradio.de/media/thumbs/8/839140a2f4018a03982e6e2f35028996v1_max_635x357_b3535db83dc50e27c1bb1392364c95a2.jpg?key=321a25

Er zieht sich zurück, kauft in Garatshausen am Starnberger See ein prächtiges Anwesen, züchtet Rosen und weigert sich, der Reichsfilmkammer beizutreten, was für Schauspieler Pflicht ist. Als sein Pass gesperrt wird und fällige Gagennachzahlungen einbehalten werden, wird Albers Problem namhaft: Es heißt „Hansi, ‚nichtarisch‘“ – mit der Tochter seines Mentors Eugen Burg ist er seit 1925 liiert. Er arrangiert eine Scheinehe mit dem Norweger Erich Blydt, doch Hansi wird der Druck zu groß. 1939 nutzt sie einen Urlaub in der Schweiz, um sich nach London abzusetzen. Hans Albers bleibt und trägt damit zur Befriedung und Moral der „Heimatfront“ bei. Er ist bald fünfzig, spricht kein Englisch und ist im Ausland kaum bekannt. Außerdem hat er gut zu tun, obwohl er, um sich dem nationalsozialistischen System so weit wie möglich zu entziehen, bis 1945 nicht mehr Theater spielt.

Albers trinkt mehr und mehr, vor allem Cognac, schwankt aber nie, sondern redet frei von der Leber weg: „Kinder, ich finde alles ganz großartig, nur zwei Sachen müssten anders sein. Einmal müsste meine Hansi hier sein, denn die hat heute nur noch arisches Blut, nachdem ich jahrelang mit ihr zusammen war. Und dann reden Rundfunk und Zeitungen seit Jahren dauernd von Hindenburg und Hitler, da gehöre ich doch dazu, mein Name ist schließlich genauso bekannt.“ „Albers ist gewissermaßen ein ins Filmische transportierter Nationalsozialismus, die bewusste Flucht aus dem pessimistisch gefärbten, pomadigen Opportunitätsdusel des Alltags“, schreibt ein anonymer völkischer Filmbeobachter. Denn den Hans lieben sie alle, auch und gerade in den roten Arbeitervierteln. Albers-Premieren, die jetzt im Abstand von wenigen Monaten stattfinden, gehen nie ohne hysterische Tumulte, ohne einen schier rauschhaften Jubel ab.

In dem Farbfilm „Münchhausen“, dessen Drehbuch Erich Kästner wegen Schreibverbots unter dem Pseudonym „Berthold Bürger“ verfasst hat, kann Albers 1943 als Lügenbaron nochmals seine schauspielerischen Fähigkeiten beweisen. 6,6 Millionen Reichsmark wird der Streifen am Ende kosten. Die Premierenfeier, einen Monat nach Stalingrad, findet ohne Albers statt, der schon seinen nächsten Farbfilm „Große Freiheit Nr. 7“ dreht – seinen größten und zugleich merkwürdigsten Film, ein Meisterwerk. Eigentlich will die Marine ein Denkmal für ihre Heroen. Aber Regisseur Helmut Käutner macht die Sehnsucht nach der Seefahrt zum Thema und das Leben auf St. Pauli. Die Helden sind betrunken, die deutsche Frau raucht und ist überhaupt sehr selbstbewusst, nicht zuletzt in ihrer Partnerwahl. Viele Szenen müssen Studios im besetzten Prag gedreht werden, da Hamburg schon zu zerstört ist.

Albers in der „Großen Freiheit“. Quelle: https://www.filmdienst.de/bild/9290

Käutner gelingt es, mitten im „totalen Krieg“ eine Welt ohne Waffen und Trümmer zu zeigen, dennoch voll bitterer Abschiedsgewissheit und existenzialistischer Melancholie. Dazu gibt es surrealistisch anmutende Traumsequenzen und kühne Schnitte. Kein einziges Hakenkreuz ist zu sehen, nur ganz am Schluss, der jedes Happy End verweigert, flattert eins. Von Durchhaltepropaganda keine Spur, stattdessen der Titelsong „La Paloma“ mit Zeilen wie „Einmal muss es vorbei sein“ und „Früh oder spät schlägt jedem von uns die Stunde“: Ein starkes Stück, mit diesem Film überschritt Albers alle Grenzen. Großadmiral Dönitz legt sein Veto ein, der Film wird umgehend verboten, und Goebbels gerät in Rage, als er von der bizarr hohen Gage von 460.000 Reichsmark erfährt, die sein Schützling für dieses „defätistische Machwerk“ kassiert hat.

„Das ist das Ende“

Noch am 4. April 1945 verfügt der Minister, dass alle Verträge mit dem Schauspieler Albers aufzulösen sind – das ist auch eine Kapitulation. „Nur seine beispiellose Popularität schützte ihn vor Verhaftung, wie hätte man das Verschwinden des blonden Ideal-Ariers den Millionen Verehrern plausibel machen sollen“, erkennt Axel Eggebrecht. Im September 1945 wurde der Film im Berliner Westsektor als erste Filmpremiere nach dem Zweiten Weltkrieg gezeigt, ein halbes Jahr später lief er in den Ostberliner Kinos an. Der Film wurde ein beispielloser Erfolg und mit dem Schwedischen Kritikerpreis ausgezeichnet. Hans Albers galt nach dem Krieg als erster deutscher Star auf der Kinoleinwand.

1946 kehrt Hansi zurück, wirft die im Haus wohnende Frau binnen fünf Minuten raus, überschüttet ihn mit Fragen und Vorwürfen – und zieht doch wieder ein: Um 15 Jahre wird sie die Liebe ihres Lebens schließlich überleben, während Albers unverheiratet bleibt. Seine erste Produktion nach Kriegsende war der 1947 gedrehte und in Berlin spielende Film „…und über uns der Himmel“, der ihn als Kriegsheimkehrer zeigt. Er konnte seine Filmkarriere nahtlos fortsetzen, unter anderem in dem sehr erfolgreichen Streifen „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ mit Heinz Rühmann. Aus dem Sieger ist ein Melancholiker geworden. Wieder trifft er damit die Stimmung seines Publikums. Der alternde Seemann, der Kapitän, der nach Hause zurückkehrt, wird seine neue Paraderolle. Ein Höhepunkt seines späten Filmschaffens war die 1956 gedrehte Literaturverfilmung „Vor Sonnenuntergang“ nach Gerhart Hauptmann, die auf der Berlinale einen „Goldenen Bären“ erhielt. Es folgten Filme wie „Der tolle Bomberg“ oder „Das Herz von St. Pauli“. Sein letzter Film „Kein Engel ist so rein“ 1960 schließt mit dem von Hans Albers gesprochenen Satz: „Das ist das Ende“.

„Vor Sonnenuntergang“. Quelle: https://m.media-amazon.com/images/M/MV5BMGQzZDZiMzYtNzljYy00ODA2LWE1MzctNmFhOTY5ZDUxNDFlXkEyXkFqcGdeQXVyMTAyNDU2NDM@.V1.jpg

Während einer Theateraufführung von Zuckmayers „Katharina Knie“ war er mit schweren inneren Blutungen zusammengebrochen, konnte aber im Juni 1960 noch das Bundesverdienstkreuz aus der Hand von Bundespräsident Heinrich Lübke entgegen nehmen. Albers starb am 24. Juli 1960 in einem Sanatorium im bayerischen Kempfenhausen. Viele, die die Nachricht im Rundfunk hörten, waren erschüttert. Einen Tag nach seinem Tod schreibt eine Hamburger Zeitung: „Es ist, als ob jemand ein Stück des Hamburger Michels abgerissen hätte.“ Albers‘ Leichnam wurde eingeäschert und die Urne unter großer Anteilnahme der Bevölkerung –  rund dreißigtausend Fans nahmen Abschied von dem Schauspieler – auf dem Friedhof Ohlsdorf in seiner Geburtsstadt Hamburg beigesetzt.

Er spielte in rund 180 Filmen, stand in zahllosen Rollen auf der Theaterbühne und machte sich auch für nachfolgende Generationen mit rund achtzig Schallplattenaufnahmen aus den Soundtracks seiner Filme unsterblich. Der Theaterkritiker Friedrich Luft feierte ihn, indem er ein für alle Mal dem Begriff „Volksschauspieler“ alles Herabsetzende nahm: „Er gehört zu denen, deren Rollen man eigentlich gar nicht sehen will. Man geht hin, ihn zu sehen, sich an seinem unbeschnipselten Selbstbewusstsein zu stärken. Denn Schwierigkeiten mit sich selbst scheint Albers nicht zu kennen, er ist immer mit Hans Albers gründlich zufrieden. Er strahlt, er gefällt sich erst einmal selber, darum gefällt er auch den Leuten so gut. Kerle wie er sind ein Gottesgeschenk, weil man selbst gerne so wäre.“

Als genialer Vordenker nahm er unter anderem die Gen- und Nanotechnik, den bargeldlosen Zahlungsverkehr und den Biochip früh vorweg. Im Jahre 1954, bevor überhaupt an das World Wide Web zu denken war, entwarf er bereits Computernetze und ließ in seinem Roman Lokaltermin die Vorläufer der Suchmaschinen vom Stapel. Seine „Insperten“, ein genial übersetztes Kofferwort aus Inspektor und Experten, führten Untersuchungen zu Themen der „allgemeinen Ariadnologie und Labyrinthik“ durch und kamen schon damals zu dem Ergebnis, die „Informationsumwelt“ sei „von einer fürchterlichen Menge an Unsinn und Lügen verschmutzt“. Am Ende seines Lebens wurde er zum Kritiker der Informationsgesellschaft, weil diese die Nutzer zu „Informationsnomaden“ mache, die nur „zusammenhangslos von Stimulus zu Stimulus hüpfen“ würden. 2003 sagte er der FAZ den legendären Satz: „Der Mensch ist eine unangenehme Gattung, sehr peinlich, ja.“

Den vielleicht prophetischsten Satz schrieb er 1961 in seinem Roman Solaris: „Wir brauchen keine anderen Welten, wir brauchen Spiegel“. In dem dreimal verfilmten Science-Fiction-Epos – so von  Andrei Tarkowski 1972 mit Donatas Banionis und Steven Soderbergh 2002 mit George Clooney – stoßen Wissenschaftler auf einer Raumstation mit einer fremden Planeten-Intelligenz zusammen, die als eine Art Denk-Ozean wundersame Kräfte besitzt, die über das Vorstellungsvermögen der Menschen weit hinausgehen. Die Astronauten werden in einen Wettstreit gegensätzlicher Emotionen gestürzt: Xenophobie gegen Neugier. Dieses Grundthema findet sich in vielen Romanen: Ob in Eden oder Der Unbesiegbare, oft ging es um die Erforschung fremder, extraterrestrischer Formen der Intelligenz und deren Abgleich mit den Grenzen des menschlichen Geistes. Er gilt als erfolgreichster polnischer Autor des 20. Jahrhunderts, dessen Werk in 57 Sprachen übersetzt ist und in einer Auflage von über 45 Millionen weltweit erschien: Stanisław Lem, der am 12. September seinen 100. Geburtstag feierte.

Er kam als Sohn einer polnisch-jüdischen Arztfamilie in Lemberg auf die Welt und studierte nach einer behüteten Kindheit von 1940 bis zur Besetzung Lembergs durch deutsche Truppen 1941 Medizin an der dortigen Universität. Mit einem Intelligenzquotienten von 180 galt er einst als „klügstes Kind Südpolens“. Er beschrieb sich als Lesenarr und Träumer: „Ich zeichnete darüber hinaus auch solche Monster, die es nicht gab, die es aber offensichtlich meiner Ansicht nach gegeben haben sollte. Ich bin also mit meiner Phantasie in andere Zeiten und andere Welten geflüchtet, und obwohl ich verstanden habe, dass dies nur scheinbar ist, ein Spiel, hütete ich meine Geheimnisse.“

Stanislaw Lem 1975. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/3f6fd8ab-0001-0004-0000-000000285825_w996_r2.194_fpx40.5_fpy49.98.jpg

Zwar konnte er mit gefälschten Papieren seine jüdische Herkunft verschleiern; der Großteil seiner Familie kam im Holocaust um: „Ich hab Hitler gebraucht, um draufzukommen, dass ich jüdisch bin“, schrieb er in seinen Erinnerungen. Während des Krieges arbeitete er als Hilfsmechaniker und Schweißer für eine deutsche Firma, die Altmaterial aufarbeitete, und half dem Widerstand gegen die deutsche Besatzungsmacht. Als gegen Ende des Krieges Polen durch die Roten Armee befreit wurde und das Land zum Einflussbereich der Sowjetunion gehörte, setzte er sein Studium in Lemberg fort.

1945 musste er, nachdem seine Heimatstadt an die Sowjetunion gefallen war, nach Krakau ziehen, wo er an der Jagiellonen-Universität sein Medizinstudium zum dritten Mal aufnahm und als Forschungsassistent an Problemen der angewandten Psychologie arbeitete. In diese Zeit fielen auch seine ersten literarischen Versuche: Geschichten, ein Theaterstück und eine erst nach Lems Tod wiedergefundene, 2009 herausgegebene antistalinistische Satire. 1948 entstand sein erster Roman Die Irrungen des Dr. Stefan T., der wegen der Zensur erst acht Jahre später erscheinen konnte. Ebenfalls in dieser Zeit lernte er seine spätere Frau Barbara Leśniak kenne, eine Radiologin, die er 1953 heiratete und mit ihr sein gesamtes Leben verbrachte. Als seine Lieblingsschriftsteller wird er Dostojewski, Rilke, Kafka nennen – und die Brüder Arkadi und Boris Strugazki (Stalker), die etwa zeitgleich mit ihm zu publizieren begannen.

technische Evolution statt Futurologie

Da er sich in seinem letzten Examen weigerte, Antworten im Sinne der genetischen Irrlehre des Russen Lyssenko zu geben, entging er zwar einem Dasein als Militärarzt, konnte deswegen aber auch nicht als Arzt praktizieren, arbeitete in der Forschung und verlegte sich immer mehr aufs Schreiben. Sein erstgeschriebener Roman Der Mensch vom Mars von 1946 erschien in Buchform erst 1989. 1951 wurde sein erster Roman Der Planet des Todes veröffentlicht und 1960 von der DEFA unter dem Titel Der schweigende Stern verfilmt. Es war einer von nur vier Science-Fiction-Kinofilmen der DDR; in der Bundesrepublik lief der Film später als Raumschiff Venus antwortet nicht. Hauptthema des Films ist die zu Zeiten des kalten Krieges auf die Venus verlegte Warnung vor einer nuklearen Katastrophe – ein Thema, das Lem immer wieder umtreiben sollte.

Filmszenenbild 1960. Quelle: https://www.rbb-online.de/content/dam/rbb/rbb/fernsehen/filmzeit/111samstag/Der-schweigende-Stern_DEFA-Stiftung_Foto-Waltraut-Pathenheimer-5-.jpg.jpg/size=966×543.jpg

Seinen literarischen Durchbruch schaffte er 1956 mit der Veröffentlichung von Gast im Weltraum. In den darauffolgenden Jahren schrieb er seine wichtigsten Science-Fiction-Romane, darunter die Sterntagebücher, die Kyberiade und Die Stimme des Herrn. Mit Ijon Tichy (abgeleitet von polnisch Cichy, „Der Stille“) schuf Lem eine Art Weltraum-Münchhausen, der auf fremden Welten irrwitzige Abenteuer erlebt, die vor Absurdität strotzen. Er ist die Hauptfigur in den Sterntagebüchern und weiteren Romanen wie dem pessimistischen Der futurologische Kongress, Lokaltermin und Der Flop. Das ZDF verfilmte 2007 und 2011 mehrere Episoden unter dem Titel „Ion Tichy: Raumpilot“ in einem verdächtig an eine studentische Altbauwohnung gemahnenden Flugobjekt mit „so unverhohlener kindlicher Freude am Trash, dass man sich kurz vergewissern muss, ob man tatsächlich den oft als ‚Kukidentkanal‘ verspotteten Mainzer Sender eingeschaltet hat“, wunderte sich Peter Luley im Spiegel.

Das Faktotum „Analoge Halluzinelle“ als kongenialer Sidekick Tichys spielte Nora Tschirner (Tatort). Kreiert, um Tichy durch die gelegentliche Übernahme des Steuers ein wenig Schlaf zu ermöglichen, verschuldet sie bspw. eine Bruchlandung auf dem unwirtlichen Planeten Torkov. Dort wird der Raketenzündschlüssel von einer kilometergroßen haarigen Kulupe gefressen, einem Monster, das so viel Schrecken verbreitet wie Samson aus der Sesamstraße. Um ihn wiederzubeschaffen, übergießt sich Tichy nach kurzem Nachschlagen in der „Kosmischen Enzyklopädie“ mit Pilzsoße und lässt sich als lebenden Köder verspeisen, um dann im Innern der Kulupe eine Bombe zu zünden.

Der Deutsche Fernsehpreis und eine Grimme-Nominierung waren der Lohn für solch Spektakel. Unvergessen ist auch, wie der tölpelhafte Pilot Pirx, eine weitere Lieblingsfigur Lems, mit verdorbenen Lebensmitteln, vergesslichen Robotern und den Sinnlosigkeiten der Weltraum-Bürokratie kämpft. „Lems Helden sind sternenfahrende Don Quichottes, die nicht gegen Windmühlen kämpfen, sondern gegen die Invasion der Technokratie in die geistige Welt“, befindet Andreas Borcholte im Spiegel.

Tichy und Halluzinelle. Quelle: https://m.media-amazon.com/images/I/41pmsz1ZyvL.jpg

Anfang der 1960er Jahre entstand auch sein wichtigstes nicht-fiktionales Werk Summa technologiae. Der Titel bezieht sich auf die großen „Summen“ der Theologie: Summa theologica von Thomas von Aquin bzw. Summa Theologiae von Albertus Magnus. Es geht Lem darin eher um eine Metatheorie technischer Evolution als um Futurologie, da die moderne Technologie erstmals in der Geschichte dem Menschen die Welt mit Hilfe immer komplizierterer Regelsysteme verfügbar machen – und ihn damit von der Natur emanzipieren will. Den technokratischen Anwälten amoralischer Sachzwänge gibt er zu bedenken: „Unser weiteres Vorgehen muss von einem moralischen Kanon geleitet sein, der uns als Ratgeber bei der Entscheidung zwischen den Alternativen dient, die die amoralische Technologie hervorbringt.“ Seine Diskussion dieses imaginären Kanons liest sich immer noch genussvoll, et-wa sein Blick auf „maschinelle Ehestifter“ sprich Heiratscomputer. Alle Literaturkritik aber ist bis heute hilflos, wie seine philosophische Tiefgründigkeit mit seinem utopischen Humor zu vereinen sei.

„gemacht, was ich konnte“

Nachdem in Polen das Kriegsrecht verhängt worden war, verließ Stanisław Lem 1982 sein Heimatland und arbeitete in West-Berlin am Wissenschaftskolleg. Ein Jahr später ging er nach Wien, wo sein einziger Sohn Tomasz die American International School besuchte. In Berlin und Wien schrieb Lem unter anderem den preisgekrönten Krimi Der Schnupfen und Fiasko – sein letzter zu Lebzeiten veröffentlichter Roman. Lem kehrte erst 1988 im Zuge der politischen Veränderungen nach Polen zurück. Er hielt in Krakau Vorlesungen zur Futurologie, gründete die polnische Astronautische Gesellschaft, war Mitglied mehrerer Schriftsteller- und Gelehrtenverbände sowie mehrfacher Ehrendoktor und wurde 1976 auf Betreiben von Philip K. Dick (Blade Runner) Ehrenmitglied in der Science Fiction and Fantasy Writers of America. Dicks psychische Krankheit führte allerdings dazu, dass er gegen Lem – den er für eine geheime Organisation namens L.E.M. hielt – eine Anzeige an das FBI schrieb und ihm auf sein Betreiben diese Ehrenmitgliedschaft vorübergehend wieder entzogen wurde.

„Ich habe auch genug geschrieben. 40 Bücher reichen“, erklärte er 1996 auf telepolis. „Ich war keineswegs ein allwissender Prophet der kreativen technischen Explosion mit einem wunderbar sonnigen Avers und einem schwarzen und düsteren Revers. Diese Aufteilung ergab sich irgendwie von selbst, und erst jetzt, am Ende meiner schriftstellerischen Arbeit, kann ich dieses aus zwei Hälften zusammengesetzte Ganze erkennen“, schrieb er ein Jahr später. Der Mensch als gottgleiche Kreatur, die dank wissenschaftlicher Erkenntnisse die Gesetze der Natur aushebelt und beherrscht – diese Vorstellung war Lem ein ewiges Menetekel. „Die Tragik des 20. Jahrhunderts liegt darin, dass es nicht möglich war, die Theorien von Karl Marx zuerst an Mäusen auszuprobieren“, schrieb er. Bis zuletzt verweigerte er sich dem Internet. Lem starb nach längerer Krankheit am 27. März 2006 in einer Klinik in Krakau an Herzversagen. Auf seinem Grabstein steht die Inschrift „Feci, quod potui, faciant meliora potentes“ – „Ich habe gemacht, was ich konnte, mögen die es besser machen, die dazu imstande sind.“

Lems Grab. Quelle: Von Gapcior – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11108254

Seine Kurzgeschichten, Romane und Essays zeichnen sich durch überbordenden Ideenreichtum und fantasievolle sprachliche Neuschöpfungen aus, wobei auch die Kritik an der Machbarkeit und dem Verstehen der technischen Entwicklung im Kontext philosophischer Diskurse immer ein zentraler Bestandteil seiner Werke ist. „Seine schier unbändige Phantasie, Fabulierlust und sein immer wieder durchdringender Humor macht ihn zu einem der herausragenden Autoren, der, sagen wir es ehrlich, einen Nobelpreis verdient hätte“, befand Matthias Weidemann in der Leipziger Internetzeitung. Durch seine utopischen Werke erwarb sich der als schwer übersetzbar geltende Lem den Ruf, einer der größten Schriftsteller in der Geschichte der SF-Literatur zu sein; neben den Strugazkis der größte des einstigen Ostblocks sowieso: Allein in der DDR erfuhr jedes seiner Bücher mindestens eine zweite, oft vierte oder fünfte Auflage. 1992 wurde ein Asteroid nach ihm benannt, 2013 der polnische Forschungssatellit Lem mit einer russisch-ukrainischen Dnepr-Trägerrakete in eine Erdumlaufbahn transportiert. Der Sejm, das polnische Parlament, erklärte 2021 zum Stanisław-Lem-Jahr.

Kommunistischer Kaiser

Im Jahrzehnt 1949-59, auf der Höhe seiner Macht, sah er sich ausgerechnet in der Tradition der chinesischen Kaiser. Sein Vorbild: Reichsgründer Qin Shihuangdi („Erster erhabener Gottkaiser von Qin“), ein besonders grausamer Herrscher, der im Jahr 221 nach Christus das Reich der Mitte mit äußerster Brutalität einte. Sonst war er kein großer Theoretiker, kein Intellektueller, kein Denker. Die theoretischen Schriften des Marxismus-Leninismus interessierten ihn nie wirklich. Wenngleich er seine eigenen literarischen Ergüsse millionenfach unter das Volk brachte und als Pflichtlektüre verordnete – und daran vorzüglich verdiente –, ist er doch nicht als kommunistischer Klassiker in die Literaturgeschichte eingegangen. Seine damals frenetisch gefeierten Phrasen wie „Der Revolutionär muss sich im Volk bewegen wie im Wasser“ zeugen von eher bescheidenem literarischen Talent.

1957 macht er den Spatz als Feind aus, der Getreide wegfrisst und damit verhindert, dass die Ernte noch besser ausfällt. Millionen Chinesen werden aufgerufen, so lange Lärm zu schlagen, bis die Spatzen erschöpft vom Himmel fallen, weil sie sich nicht getrauen, zu landen. Zwei Milliarden Vögel sollen auf diese Art getötet worden sein. Dummerweise vermehren sich anschließend: Die Insekten, zumal die Heuschrecken. Er sieht seinen Irrtum zwar ein, hat aber viele neue Ideen. Darunter die, Universalmenschen zu schaffen, die Arbeiter, Bauern und Intellektuelle zugleich sind. Die sind ein Jahr nach dem Spatzenkrieg 1958 aufgerufen, den „Großen Sprung“ zu schaffen – den Sprung zum Kommunismus, den Sprung ins 20. Jahrhundert: China soll von einem Agrarland zur Industrienation werden, in kürzester Zeit schaffen, wofür der Westen 100 Jahre brauchte.

Mao. Quelle: Von неизвестный (unknown) – http://sarbaharapath.com/wp-content/uploads/2015/11/Mao2.jpg, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=70869121

Was dazu fehlte, war nach seiner Ansicht Stahl. Und der sollte nun auf den Dörfern in kleinen Hochöfen aus Lehm von Arbeiterbauern hergestellt werden. „Das Problem war allerdings dass sie sehr minderwertigen Stahl produziert haben und auch die Landwirtschaft stark vernachlässigt und die Ernte sehr schlecht eingeholt wurde“, so der Kölner China-Experte Felix Wemheuer im mdr. Der große Sprung endet deshalb in einer Katastrophe: Am Ende gibt es weder Stahl noch Getreide, sondern eine der größten Hungersnöte auf Erden mit 30 Millionen Toten. Der Urheber dieser Katastrophe: Mao Zedong (Tse-tung; „Wohltäter des Ostens“), der am 9. September 1976 in Peking starb.

Hoffnungsträger Oktoberrevolution

Geboren wurde er am 26. Dezember 1893 in Shaoshan (Provinz Hunan) als Sohn eines Bauernpaars nicht unbedingt in verelendeten Verhältnissen, er lernte beispielsweise lesen und schreiben. Seine Mutter war sehr religiös, ihr Volksbuddhismus beeinflusste Mao für sein ganzes Leben.  Doch wie alle bäuerlichen Existenzen wurde auch er mit Entbehrungen, Hunger und Not konfrontiert, denn China war ein Armenhaus. Die im Reich der Mitte herrschende Dynastie der späten Kaiserzeit war inkompetent und korrupt. Die Folge: Landesweit verelendete die chinesische Bevölkerung. Von innen heraus schlecht geführt und völlig bankrott, wurde China von außen durch Kolonialmächte bedrängt und geknechtet: Das Deutsche Reich, Italien, die USA, vor allem aber Japan hatten China im Würgegriff.

Im Alter von vierzehn Jahren wurde Mao mit der achtzehnjährigen Luo Yigu zwangsverheiratet. Mao lehnte diese Ehe ab und versteckte sich; sie blieb unvollzogen. Nach der Schule absolvierte er von 1913 bis 1918 ein Lehrerseminar in Changsha. Dann wechselte Mao nach Beijing (Peking), wo er sich vorübergehend als Aushilfe in der Universitätsbibliothek verdingte. Der ihm vorgesetzte Bibliothekar beeinflusste ihn nachhaltig im Sinne des Marxismus, zu dem er sich fortan bekannte. Viele Chinesen, die unter den politischen und sozialen Missständen des frühen 20. Jahrhunderts schwer leiden mussten, fühlten sich zum Kommunismus hingezogen, schien er doch die einzige Möglichkeit, die bestehenden, ungerechten Verhältnisse umzukehren und aus der Verelendung herauszukommen. Als 1918 die Oktoberrevolution in Russland ausbrach, schöpften viele Chinesen Hoffnung. Die ersten Kommunisten waren also unzufriedene Idealisten, die die bestehenden Zustände ändern wollten.

Geburtshaus von Mao Zedong in Shaoshan, heute vor allem für Chinesen eine Touristenattraktion. Quelle: Von Brücke-Osteuropa – Eigenes Werk, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9733746

Mao gehört dazu. Er gab eine Jugendzeitung heraus, bekam eine Stelle als Grundschuldirektor, eröffnete ein Buchgeschäft für politische Literatur und gründete eine Gesellschaft zum Studium Russlands. 1920 traf er die Tochter seines mittlerweile verstorbenen Lehrers und Freundes, Yang Kaihui, und heiratete sie. Erst 1921 bezogen sie eine gemeinsame Wohnung. In diesem Jahr wirkte Mao an der Gründung der Kommunistischen Partei KP Chinas in Shanghai mit. Bereits zwei Jahre später trat der wissbegierige und belesene junge Mann in deren Zentralkomitee und Politbüro ein. Nachdem sich die KP mit der herrschenden Volkspartei Guomindang KMT unter Chian Kai-shek verbunden hatte, übernahm Mao bedeutende Koordinierungsaufgaben zwischen beiden Organisationen. Etwa ab Mitte der 1920er Jahre wandte sich der KP-Funktionär der Bauernbevölkerung zu, deren revolutionäres Massenpotential er erkannte und für kleinere Aufstände zu nutzen begann. Sein Traktat „Über die Lage der Bauern in Hunan“ brachte ihn 1927 in Konflikt zur offiziellen Parteilinie, die das städtische und nicht das ländliche Proletariat zur treibenden Kraft einer künftigen Revolution erhoben wissen wollte. 1930 wurde Yang Kaihui von der KMT verhaftet und ermordet, sie hatte drei Söhne geboren.

Gegen Ende der 1920er Jahre zogen die sich verschärfenden parteiinternen Differenzen den vorübergehenden Ausschluss Maos aus den Führungsgremien der KP nach sich. Zur gleichen Zeit erfolgte 1927 der Bruch zwischen KMT und KP, worauf die KMT unter der militärischen Führung von Chiang Kai-Shek eine blutige Unterdrückung der Kommunisten einleitete. Mao ließ sich indessen in der südöstlichen Provinz Jiangxi nieder, um dort mit Guerillaverbänden einer eigens geschaffenen chinesischen Roten Armee eine Räterepublik zu errichten, die auf einer grundlegenden Umwälzung der Agrarordnung gründete. Ein Guerillaführer betrieb 1928 aus Machttaktik die Heirat der Dolmetscherin He Zizhen mit Mao, der nie hochchinesisch sprach. Beide bekamen bis 1938 sechs Kinder; zwei davon gingen auf Fluchtwirren verloren, zwei weitere verstarben früh, ein Sohn fiel im Koreakrieg.

Auf die Militärschläge der KMT-Regierung gegen die kommunistische Republik reagierte Mao mit dem sogenannten „Langen Marsch“ 1934 bis 1935 in die nordwestliche Provinz Shaanxi. Der Fluchtweg erstreckte sich über eine Länge von 12.000 Kilometern. Von ursprünglich 100.000 bis 120.000 Kommunisten, die sich auf den Weg machten, überlebten nur etwa 10.000 die Entbehrungen und Strapazen der Irrfahrt. Es gab Flügelkämpfe zwischen den Moskau-treuen Kommunisten und dem chinesischen Flügel, dem Mao vorstand. Durch Seilschaften, Intrigen und taktisches Geschick putschte sich Mao ganz nach oben und machte sich zur Nummer Eins in der KP. Gegen Jahresende 1936 erzielte Mao einen Waffenstillstand mit den KMT-Truppen, um sich fortan gemeinsam gegen die japanischen Besatzer zu wenden.

Landbevölkerung als Träger der Revolution

Der 1937 eröffnete chinesisch-japanische Krieg endete 1945 mit der Niederlage Japans, auf die nach erfolglosen Koalitionsbemühungen erneut der Bürgerkrieg zwischen KMT und KP folgte. Die Rote Armee eroberte in der Folge das gesamte chinesische Territorium, das Mao am 1. Oktober 1949 in Peking zur Volksrepublik China proklamierte. Als Vorsitzender der nun gebildeten „Zentralen Volksregierung“ und der „Revolutionären Militärkommission“ vereinte Mao die höchsten Staatsämter auf sich. Um die Unterstützung in der Bevölkerung zu verbreitern und aus Sorge um den Zusammenhalt der KP hatte Mao ab Ende 1939 – in dem Jahr heiratete er seine vierte Frau Jiang Qing – das Konzept der „Neuen Demokratie“ entwickelt. Es umfasste die staatliche Achtung von Eigentum, die Förderung des chinesischen Unternehmertums, die Förderung ausländischer Investitionen, die Kontrolle von Schlüsselsektoren durch den Staat, ein Mehrparteiensystem mit Koalitionsregierung und demokratische Freiheiten.

Mao beim Arbeiten. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/662b5cf2-0001-0004-0000-000000818029_w948_r1.778_fpx39.03_fpy49.85.jpg

Die Kommunistische Partei beanspruchte in diesem Konzept jedoch die Führungsrolle. Gegenüber ausländischen Besuchern erklärte Mao, dass die Neue Demokratie ein notwendiger Zwischenschritt Chinas auf dem Weg zum Sozialismus und letzten Endes dem Kommunismus sei. 1954 wurde Mao nach der Verkündung einer neuen Verfassung zusätzlich auch zum Staatspräsidenten erhoben. Zu Beginn der Machtübernahme wurde er vom chinesischen Volk begeistert gefeiert. Er verstand es, den Chinesen etwas Entscheidendes zurückzugeben: Selbstwertgefühl und Vertrauen in die Zukunft. Mao versprach das Ende der Unterdrückung und propagierte die glorreiche Wiederauferstehung des Reichs der Mitte – Balsam für die geschundene chinesische Seele.

Und er versprach eine gerechtere Gesellschaft, eine radikale Umverteilung. Auf diese Weise richtete Mao gleich zu Anfang seiner Herrschaft die Identität der Chinesen wieder auf und einte das Land mit einem neuen Nationalgefühl. Er begründete auf philosophisch-ideologischem Gebiet eine neue Interpretation der Lehren von Marx, Engels und Lenin und entwickelte eine neue Revolutionstheorie, die die besonderen Bedingungen der sogenannten „Dritten Welt“ berücksichtigte und daher nicht die städtische Arbeiterschaft, sondern die unterdrückte Landbevölkerung zum Träger der proletarischen Revolution erhob. Nach Auffassung des „Maoismus“ war die Revolution in einem Land der Dritten Welt durch einen Guerillakrieg auszulösen, der sich sukzessive zum Volkskrieg ausweiten sollte, dessen Ziel der Sturz der herrschenden Klasse und die Errichtung der Diktatur des Proletariats waren. Kambodscha sollte sich als grausames Experimentierfeld dieser Lehre erweisen.

Für die nachrevolutionäre Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft propagierte der Maoismus die Aufrechterhaltung einer permanenten inneren Revolution, durch die nicht nur die Wirtschafts- und Sozialstruktur, sondern auch die individuellen Bewusstseinslagen nachhaltig verändert und hinsichtlich der Ausbildung neuer Hierarchien und Klassengegensätze immer wieder hinterfragt werden sollten. Mit Hilfe seiner enormen Machtfülle trieb Mao in den 1950er Jahren gemäß den ideologischen Prämissen des Maoismus die grundlegende Umgestaltung der chinesischen Gesellschaft voran, die eine Bodenreform, die Gleichstellung der Frau und die Verstaatlichung der Wirtschaft umfasste. Verschiedene propagandistische Kampagnen wie die „Hundert-Blumen-Bewegung“ von 1956/57 sollten den Umbau im Innern ideologisch absichern.

Mao mit Nixon 1972. Quelle: Von White House Photo Office (1969 – 1974) – White House Photo Office (1969 – 1974), Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=50321500

Im außenpolitischen Bereich kam es im Verhältnis zur kommunistischen Führung der Sowjetunion nach dem Tod Josif W. Stalins und der Machtübernahme durch Nikita Sergejewitsch Chruschtschow im Jahre 1953 zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten, die schließlich um 1960 in einen langfristigen Bruch der beiderseitigen Beziehungen mündeten. Schon Stalin hatte Mao misstraut, den er wiederholt als „Höhlenmarxisten“ bezeichnet hatte. Mao sinnierte etwa, dass ein Atomkrieg zwar die Hälfte der Menschheit ausrotten, dafür aber dem Kommunismus zum Sieg über den Kapitalismus verhelfen würde.

zu „70 Prozent positiv“

Aufgrund des Misserfolgs seiner Wirtschaftspolitik, die keinen Durchbruch zur Industrialisierung zeitigte, trat Mao auf parteiinternen Druck 1959 als Staatspräsident zurück. In der Folge wirkte er vor allem als ideologischer Führer der KP. Ab 1962 eröffnete Mao mit Unterstützung der Armee eine „sozialistische Erziehungskampagne“ unter der Bevölkerung. Die „Große Proletarische Kulturrevolution“ von 1965/66 sollte kapitalistischen und bürgerlichen Tendenzen in Partei, Staat und Gesellschaft entgegenwirken. Mit der Parole „Die Liebe zu Mutter und Vater gleicht nicht der Liebe zu Mao Zedong“ forderte er Kinder auf, ihre Eltern als „Konterrevolutionäre“ oder „Rechtsabweichler“ zu denunzieren – wie überhaupt die Förderung der Denunziation eines von Maos wirksamsten Herrschaftsinstrumenten war.

Das erklärte Ziel der Kampagne war die Beseitigung reaktionärer Tendenzen unter Parteikadern, Lehrkräften und Kulturschaffenden. In Wirklichkeit sollte durch das entstehende Chaos die erneute Machtergreifung Mao Zedongs und die Beseitigung seiner innerparteilichen Gegner erreicht werden. Durch die Einsetzung von Revolutionskomitees riss er erneut die Macht an sich, um fortan einen Führerkult um seine Person aufzubauen. Mao regierte im folgenden Jahrzehnt als „großer Vorsitzender und Steuermann“ über das chinesische Riesenreich, über dessen Grenzen hinaus seine im „roten Buch“ gesammelten politischen Weisheiten als „Mao-Bibel“ mit einer Milliardenauflage seit 1964 weltweite Verbreitung fanden. Innenpolitisch fiel er 1968 nochmals durch einen absurden „Mango-Kult“ auf, außenpolitisch war die Aufnahme Chinas in die UNO 1971 Maos größter Erfolg.

37 Meter hohe Statue  im Bezirk Tongxu in der zentralen Provinz Henan. Quelle: https://img.welt.de/img/vermischtes/mobile150674533/7361626707-ci23x11-w1136/title.jpg 

Mao genoss ungeheure Privilegien und verstieß gegen alle Sittlichkeitsvorstellungen, Zwänge und Entbehrungen, die er seinem leidgeprüften Volk auferlegte. Mao aß und trank im Überfluss, war zeitweise Kettenraucher und führte ein ausschweifendes Sexualleben mit zahlreichen jungen Mädchen, da er fest an die lebensverlängernden Praktiken der taoistischen Tradition glaubte. Er besaß Luxusautos, Villen und Schwimmbäder, auf Sonderkonten verfügte er über enorme Summen. Mit äußerster Brutalität und Menschenverachtung unterdrückte Mao jede Opposition und überzog China mit einem Netz aus Terror und Misswirtschaft. Er war schlau, gerissen und instinktsicher, und besonders in späteren Jahren nur sich und seinen Interessen verpflichtet, ausgestattet mit einem absoluten Willen zur Macht. Dadurch bis ins Mark korrumpiert, bestimmte schließlich tiefes Misstrauen seinen Umgang selbst mit seiner engsten Umgebung, er schottete sich am Ende gegen alles und jeden ab, verlor den Bezug zur Realität, zu seinem eigenen Volk. Seinen Leitspruch „die Wahrheit in den Tatsachen suchen“ aus den 1920er Jahren kehrte er selbst ins Gegenteil. Seine Überreste wurden 1977 in einem Mausoleum am „Platz des Himmlischen Friedens“ aufgebahrt. Selbst sein Schlafanzug ist noch Museumsstück. Mao ziert mehr als 2.000 Statuen und bis heute alle Geldscheine der Volksrepublik.

Und bis heute diskutiert die westliche Geschichtswissenschaft, ob ein China ohne Mao eine schnellere und menschlichere ökonomische Entwicklung erfahren hätte. Zwangsläufig musste er von seinen politischen Nachfolgern immer neu erfunden, zu einem Zerrbild uminterpretiert werden. Die Kulturrevolution wurde erst nach Maos Tod offiziell als beendet erklärt. 1981 gestand die KP erstmals offiziell die Misserfolge der Kampagnen ein, ohne sich dabei gegen Mao auszusprechen: Die Kulturrevolution sei ein „grober Fehler“ gewesen, Maos Wirken insgesamt aber zu „70 Prozent positiv“ zu bewerten, da die Leistungen die Irrtümer mehr als ausgeglichen hätten. Heute spricht man von einer „sozialistischen Marktwirtschaft mit chinesischen Besonderheiten“. Maos politische „Kampagnen“ sollen insgesamt 76 Millionen Tote nach sich gezogen haben. Der Spatz steht in China heute noch auf der Liste der bedrohten Arten.

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