Nach den Umbenennungsorgien „kolonialer“ Straßen und „rassistischer“ Apotheken sind derzeit nicht nur moderne Lebensmittel, sondern selbst historische Tiernamen betroffen. Der Kulturkampf hat Naturkunde und Marketing erreicht. Was folgt als nächstes?
Meine neue Tumult-Kolumne, die gern verbreitet werden darf.
„Das Geheimnis liegt in seiner leisen Beredsamkeit, seinem
scharfen Verstand und seiner angeborenen Fähigkeit, die Menschen um ihn herum
zu bezaubern und zu manipulieren, sei es die Richter in Nürnberg oder die
Journalisten, Verleger und Filmemacher. Das half ihm, die Vergangenheit und
seinen eigenen Anteil daran neu zu schreiben.“ So beschreibt die israelische
Filmemacherin Vanessa Lapa das Charisma des gutaussenden, kultivierten Mannes,
das mitverantwortlich war für eine Legendenbildung, die sich über viele Jahre
halten konnte. In ihrem Streifen „Speer goes to Hollywood“ wollte sie zeigen,
wie es Hitlers Rüstungsminister fast gelang, Hollywood für diese
Legendenbildung einzuspannen. Sein Name zieht bis heute: Der Film feierte auf
der 70. Berlinale vor einem Jahr mit ungeheurem Publikumszuspruch auch aus dem
Ausland Premiere.
Die Geschichte dahinter: 1971 planten die Paramount-Studios des Ex-Ministers Bestseller „Erinnerungen“ zu verfilmen: Zu groß war die Versuchung, das Thema Nationalsozialismus in Kombination mit einem Überlebenden, der zum engsten Führungszirkel der Nazis gehörte, auf die Leinwand zu bringen. Der damals 26 Jahre alte Andrew Birkin – der Bruder von Jane Birkin und später erfolgreicher Regisseur und Drehbuchautor („Der Name der Rose“, „Das Parfum“) – traf sich damals mit ihm, um über Drehbuch und Filmfassung zu sprechen. Diese Gespräche, rund 40 Stunden Ton-Material, hat Lapa für ihren Film ausgewertet und bebildert. Er spräche „frei und ohne Hemmungen“ und „korrigiert die Vergangenheit, während er spricht. Die Aura, die er ausstrahlt, ist die von einem eleganten Mann, der eher einem Landjunker ähnelt als dem Massenmörder von Millionen“, so Lapa.
Paramount gab das
Projekt, das unter dem Titel „Inside the Third Reich“ ins Kino kommen sollte,
schließlich kurzfristig auf, zu risikoreich erschien der Film. Ein Jahrzehnt
später wurden die „Erinnerungen“ übrigens doch noch verfilmt: Der US-Sender ABC machte eine mehrteilige Fernsehserie
daraus. Nicht zuletzt sorgten auch große Kinoproduktionen wie der
oscarnominierte deutsche Spielfilm „Der Untergang“ (2004) dafür, dass die
„Legende“ weiter bestehen konnte. Die akribisch erarbeiteten Erkenntnisse der
Historiker setzten sich bei einem breiten Publikum kaum durch. Erst langsam,
auch wiederum durch einen Film, nämlich Heinrich Breloers „Speer und Er“
(2005), brach der Mythos vom „guten Nazi“ in sich zusammen: dem des Architekten
Berthold Konrad Hermann Albert Speer, der am 1. September 1981 in London starb.
„geringe Ansprüche an
sein architektonisches Können“
Am 19. März 1905 in Mannheim als mittlerer von drei Söhnen hineingeboren
in eine Architektendynastie, besuchte er Schulen in Mannheim und Heidelberg und
studierte auf Drängen des Vaters Architektur in Karlsruhe und München, bevor er
1925 nach Berlin wechselte und Schüler beim Gartenstadt-Vater Heinrich Tessenow
wurde. Von ihm übernahm er einen mit kargen Mitteln arbeitenden, die vertikalen
Linien betonenden monumentalen Baustil, wurde nach dem Diplom 1927 dessen
Assistent und blieb es bis Anfang 1932. Als Student hatte er in Heidelberg die
gleichaltrige Margarete Weber kennengelernt, die er 1928 in Berlin gegen den
Willen von Speers Mutter heiratete. Zwischen 1934 und 1942 bekamen sie sechs
Kinder, von denen einige selbst bekannte Persönlichkeiten wurden. Sein Sohn
Albert war ebenfalls Architekt und Stadtplaner von internationalem Rang, seine
Tochter Hilde Schramm Erziehungswissenschaftlerin und ehemalige Vizepräsidentin
des Berliner Abgeordnetenhauses für die Alternative Liste.
Speers Hinwendung zum Nationalsozialismus Anfang der 1930er Jahre erfolgte aus eigenem Antrieb und nicht aus dem Wunsch nach Versorgungssicherheit: „Für einen großen Bau hätte ich, wie Faust, meine Seele verkauft.“ Er wollte bewusst nicht – wie sein Vater – Miets- und Privathäuser, Gewerbebauten, Villen oder vereinzelt auch mal öffentliche Gebäude errichten. 1930 erhielt er den ersten Bauauftrag einer nationalsozialistischen Organisation: Eine Berliner NS-Kreisleitung beauftragte ihn, eine angemietete Villa in Berlin-Grunewald in ein Parteibüro umzubauen. Danach erhielt er von Joseph Goebbels den Auftrag, das neue Gauhaus in der Voßstraße für Parteizwecke umzugestalten. Beide Aufträge „stellten geringe Ansprüche an sein architektonisches Können, gaben ihm aber die Gelegenheit, sein Organisationstalent unter Beweis zu stellen und sich bekannt zu machen“, so sein Biograph Ludolf Herbst.
Die Entwürfe entsprachen dem Repräsentationsbedürfnis der
schnell wachsenden Partei; er übertrug den nationalsozialistischen Gedanken
erfolgreich in eine architektonische Ästhetik. Im Januar 1931 trat Speer der
NSDAP bei. Seit 1933 entwarf er die Bauten und die Fahnen- und
Scheinwerferinszenierungen für die Maifeier der NSDAP und die Nürnberger
Reichsparteitage. Besonders Hitler und Goebbels fanden Gefallen an dieser
Choreographie, die der nationalistischen Propaganda eine ins Grandiose
gesteigerte Fassade gab. Hitler begriff Speer „als Künstler, dem es gelungen
war, ein Lebensziel zu verwirklichen, an dem er selbst gescheitert war“, meint Herbst.
Bald gehörte er zur engsten Entourage des Führers und nutzte die Möglichkeit,
Macht zu akkumulieren, die seinen fehlenden Rückhalt in der NSDAP mehr als
kompensierte. 1933 wurde er in Anerkennung seiner wichtigen Rolle als
Propagandachoreograph zum „Amtsleiter der NSDAP für die künstlerische Gestaltung
von Großveranstaltungen“ berufen, seit 1934 leitete er das Amt „Schönheit der
Arbeit“ in der Deutschen Arbeitsfront.
Speer war verantwortlicher Leiter der „Lichtdome“ im Rahmen
des Parteitages von 1934. Im selben Jahr ernannte ihn Hitler nach dem Tod
seines bevorzugten Architekten Paul Ludwig Troost zum „Architekten des Führers“,
1936 zum Professor und 1937 zum „Generalbauinspekteur für die Reichshauptstadt
Berlin“ (Germania) im Rang eines Staatssekretärs. Dafür sollte im Spreebogen
als größter Kuppelbau der Welt die Große Halle nördlich des Reichstagsgebäudes
entstehen, die über die „Nord-Süd-Achse“ mit einem neuen „Südbahnhof“ an der
Stelle des heutigen Bahnhofs Südkreuz in Berlin-Tempelhof verbunden werden
sollte. Zwischen 1938 und 1939 baute Speer in Berlin die neue Reichskanzlei. In
diesem Zusammenhang war Speer direkt für die „Entmietung“ der jüdischen
Bevölkerung Berlins und deren Abtransport in die Konzentrationslager
verantwortlich. Auf diese Weise wurden bis zu 18.000 Wohnungen „requiriert“. Nur
wenige seiner Gebäude sind erhalten, die Neue Reichskanzlei ist gänzlich
zerstört.
Mit Heinrich Himmler vereinbarte Speer die Herstellung und
Lieferung von Baumaterial durch KZ-Häftlinge. Das Kapital für die von der SS
gegründete Firma „Deutsche Erd- und Steinwerke GmbH (DEST)“ wurde aus dem
Haushalt Speers finanziert. Das Geld floss direkt in den Aufbau des KZ-Systems.
Der zinslose Kredit für die SS-Totenkopfverbände war rückzahlbar an Speers
Behörde in Form von Steinen. Deshalb wurden fast alle KZs zwischen 1937 und
1942 in der Nähe von Tongruben oder Steinbrüchen gebaut. Nach der Besetzung
Frankreichs im Juni 1940 wurde in den Vogesen auf Vorschlag Speers das
Konzentrationslager KZ Natzweiler-Struthof errichtet, um den dort vorkommenden
roten Granit zu brechen. Auch für das KZ Groß-Rosen in Schlesien legte Speer
1940 den Standort nahe den dortigen Granitvorkommen selbst fest.
Das „Rüstungswunder“
Wenige Stunden nach dem tödlichen Flugzeugabsturz des Rüstungsministers Fritz Todt im Februar 1942 ernannte Hitler für viele überraschend Speer zu dessen Nachfolger in allen Ämtern, also zum Reichsminister für Bewaffnung und Munition, Leiter der Organisation Todt und zum Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen, Generalinspektor für Festungsbau und Generalinspektor für Wasser und Energie. Von seinen Aktivitäten als Organisator des Straßenbaus ist die Linienführung einiger Autobahnstrecken, die er der Landschaft harmonisch einzufügen versuchte, übriggeblieben. Im September 1942 besprach Speer mit Oswald Pohl die Vergrößerung von Auschwitz und stellte dazu ein Bauvolumen von 13,7 Millionen Reichsmark zur Verfügung. In einer auf Gespräche von Speer, Pohl und dem Leiter für das Bauwesen der SS Hans Kammler basierenden Bauakte sind auch die „Kostenüberschläge“ zur „Sonderbehandlung“ mit dem „Gleisanschluss“ für die Rampe, die neuen Krematorien und andere Maßnahmen festgehalten. Nach Abschluss der Verhandlungen hob Amtschef Kammler das „außerordentlich große Bauvolumen“ des Bauvorhabens hervor, das er „Sonderprogramm Prof. Speer“ nannte. Speer hörte auch Himmlers berüchtigte Rede auf der Gauleitertagung in Posen am 3.10.1943, in der dieser die Praxis der Massenvernichtung offenlegte.
Im selben Jahr erfolgte Speers Berufung zum Reichsminister
für Rüstung und Kriegsproduktion. In dieser Funktion war er für die Ausbeutung
und Vernichtung Tausender von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen verantwortlich,
mit deren Hilfe er die Kriegs- und Rüstungsziele zu erreichen suchte. Speer
konnte seinen Machtbereich erheblich ausdehnen: Im Juli 1943 kam die
Marinerüstung hinzu. Im September übernahm er wesentliche Funktionen des
Reichswirtschaftsministeriums. Damit war er auch für die wichtigsten Bereiche
der zivilen Wirtschaft zuständig – jetzt lautete sein Titel „Reichsminister für
Rüstung und Kriegsproduktion“. Schließlich übernahm er 1944 auch die
Luftrüstung. Bis zum Herbst 1944 stieg die Rüstungsproduktion in einer als
erstaunlich wahrgenommenen Weise an, trotz der Zerstörungen durch alliierte
Bombenangriffe. Später sprach man zum Teil von einem „Rüstungswunder“.
Zu dieser Zeit begannen seine Handlungen widersprüchlich zu
werden, er erkannte die bevorstehende Niederlage. So führte er heftige
Auseinandersetzungen mit Joseph Goebbels: Während Speer die Rüstungsproduktion
steigern wollte, suchte Goebbels dieser die Arbeiter zu entziehen, um sie der
Wehrmacht zuzuführen. Im März 1945 verweigerte Speer die Ausführung des Befehls
„verbrannte Erde“, die gesamte deutsche Infrastruktur zu zerstören. Hitler
ernannte Speers Stellvertreter Karl Saur in seinem Politischen Testament vom
29. April 1945 zu Speers Nachfolger. Speer widersetzte sich nicht. Am 24. April
traf er sich in Berlin ein letztes Mal mit Himmler, wobei offen bleibt, ob er
bei diesem Treffen sondieren wollte, inwieweit er Himmlers Kontakte zu
Mittelsmännern im Westen für sich selbst nutzen könne. Jedenfalls hielt er sich
anschließend bei Karl Dönitz in Schleswig-Holstein auf und gehörte nach Hitlers
Tod dem Kabinett Dönitz an, bevor er am 23. Mai 1945 von den Briten auf Schloss
Glücksburg verhaftet wurde.
Da er sich zu einer Mitschuld bekannte, gar ein eigenes
Gasattentat auf Hitler erfand, wurde er 1946 durch das Internationale
Militärtribunal in Nürnberg wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit für
schuldig befunden und zu einer 20jährigen Haftstrafe verurteilt, die er bis
1966 als „Häftling Nr. 5“ im internationalen Militärgefängnis in Berlin-Spandau
verbüßte. Seine langjährige Sekretärin Annemarie Kempf hatte als Zeugin durch
positive Aussagen und gesammeltes Entlastungsmaterial versucht, das Urteil zu
mildern. Der Todesstrafe entkam Speer nur sehr knapp. Zunächst votierten der
sowjetische und der amerikanische Richter für Tod durch den Strang, während der
französische sowie der britische Richter eine Haftstrafe verhängen wollten. Da
eine Mehrheit notwendig war, musste später die Abstimmung wiederholt werden, in
der sich der amerikanische Richter schließlich umstimmen ließ.
„eine Nase gedreht“
In der Haft verfasste er seine Memoiren. Deren Dreh- und Angelpunkt ist die persönliche Beziehung zwischen ihm und Hitler; sie zeigen, in welchem Umfang er von dem Diktator psychisch abhängig war – in seinem „Bann“ stand, wie er selbst formulierte. Da von anderen Führungsgestalten des Dritten Reiches keine Memoiren vorliegen, kommt den Speer-Erinnerungen (1969) und seinen „Spandauer Tagebüchern“ (1975), die die Memoiren fortsetzten und ergänzten, eine erhebliche Bedeutung als Quelle zu. Doch damit konstruierte Speer die Legende von seiner Schuldlosigkeit auf literarischer und filmischer Ebene als unpolitischer Technokrat, ja „guter Nazi“ weiter. Dabei unterstützte ihn unabsichtlich Hitler-Biograph Joachim Fest, der 1969 einen dokumentarischen Film mit Speer drehte und später äußerte, Speer habe „uns allen mit der treuherzigsten Miene der Welt eine Nase gedreht.“ Bei Speers Entlassung waren Hunderte Journalisten und Tausende Zuschauer zugegen.
Von Verlegerseite bekam Speer bei der Konstruktion seiner
geschönten Lebensgeschichte unfreiwillige Unterstützung durch Wolf Jobst
Siedler, der seine Bücher verlegte: Neben den „Erinnerungen“ 1981, für deren
Vorabdruck Speer von der Welt 600.000
DM kassierte, auch „Der Sklavenstaat – Meine Auseinandersetzung mit der SS“. Speers
Bücher werden zu einem der größten Memoirenerfolge der Bundesrepublik:
„Deutschlands liebster Ex-Nazi“ nannte ihn Klaus Wiegrefe im Spiegel. Ein Neuanfang als Architekt
scheiterte: Einen Anschluss an moderne Tendenzen der Architektur hatte er nicht
gesucht, zum Bauhaus und zu Repräsentanten der Moderne wie Mies van der Rohe
und Le Corbusier stand er in Distanz. Er lebte überwiegend in der Heidelberger
Stadtvilla seines Vaters und verkaufte regelmäßig auch heimlich Werke aus einer
NS-Raubkunst-Bildersammlung.
Speers Veröffentlichungen verursachten ein Zerwürfnis mit vielen ehemaligen Mitarbeitern und Weggefährten, die ihm – ähnlich wie Kreise der intellektuellen Linken – vorwarfen, sich wie in den 1930er Jahren erneut völlig dem Zeitgeist zu unterwerfen. Demnach sei Speer ein überzeugungsloser Opportunist, der versuchte, in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik Fuß zu fassen. Es kam zum endgültigen Zusammenbruch seiner Beziehung zu seinem engen Freund aus Studienzeiten, Rudolf Wolters. Dieser stieß sich vor allem an der Diskrepanz zwischen Speers öffentlichen Buß-Bekenntnissen und seinem Lebensstil sowie Speers angeblichem Bruch mit Hitler. Albert Speer, so Wolters, sei „ein Mann, für den Geld und Geltung entscheidend waren“. In der Folge machte Wolters seine Akten dem Historiker Matthias Schmidt zugänglich, der 1982 eine erste kritische Biografie veröffentlichte. Im Jahr zuvor war Speer nach einem BBC-Interview in einem Hotelzimmer in London im Beisein seiner deutsch-englischen Freundin an einem Schlaganfall verstorben und in Heidelberg begraben worden.
„Speer ist ein Prototyp für die gesellschaftliche Gruppe der
Funktionseliten, die sich bewusst für Hitler entschieden und dem
Nationalsozialismus durch ihre Fachkenntnisse erst seine eigentliche Dynamik gegeben
haben“, bilanziert der Historiker Magnus Brechtken. „Ohne die ganzen Mediziner,
Juristen und Verwaltungsfachleute hätte die Herrschaft gar nicht so gut
funktionieren können. Speer war im Grunde nur einer der Engagiertesten,
Ehrgeizigsten und Fleißigsten. Deswegen war er nach 1945 auch die ideale Figur
für alle, die sagen wollten: ‚Ich habe zwar mitgemacht, aber von den Verbrechen
habe ich nichts mitbekommen.‘ Selbst Leute, die ganz vorne mitmarschiert sind,
waren ja hinterher angeblich nicht beteiligt. Speer wusste wie alle anderen
genau, was er getan hatte. Er hat das nachher sehr erfolgreich geleugnet und
verdrängt.“ Zeitlebens räumte er eine Gesamtverantwortung ein. Persönliche
Schuld aber nie.
Er war einer der einflussreichsten Naturwissenschaftler seiner
Zeit und wurde in Anspielung auf seinen Zeitgenossen Bismarck auch als
„Reichskanzler der Physik“ bezeichnet. Dreimal gab es Initiativen, ihn zum
Paten einer Maßeinheit zu machen. So unterbreitete 1939 der NS-Bund Deutscher
Technik Hitler den Vorschlag, für die Einheit der Frequenz unter Beibehaltung
der Abkürzung Hz ihn statt Hertz zu verwenden, da dieser jüdischer Abstammung
sei. Der Vorschlag wurde nicht verwirklicht.
Dreißig Jahre später sollte die physikalische Einheit für das
elektrische Doppelschichtmoment nach ihm benannt werden – ebenso erfolglos. Übrig
blieb die Bezeichnung musikalischer Tonsymbole mit Kommata vor oder Apostrophen
nach den Buchstaben wie „a’“ für den Kammerton, die nach ihm „Helmholtz-Schreibweise“
genannt wird: Hermann Helmholtz, der am
31. August 1821 in Potsdam als ältester Sohn eines Gymnasial-Oberlehrers
geboren wurde.
Seinem jüngeren Bruder Otto, der Ingenieur wurde, zeitlebens eng verbunden, besuchte Hermann zunächst das Gymnasium „Große Stadtschule“, an dem sein Vater als Direktor tätig war und von dem er schon zuvor in Philosophie sowie alten und neuen Sprachen unterrichtet worden war. Schon als 17jähriger hatte er großes Interesse an Physik, doch, wie alle Naturwissenschaften galt die als brotlose Kunst. Daher studierte Helmholtz ab 1838 Medizin am Medizinisch-chirurgischen Friedrich-Wilhelm-Institut in Berlin, wo er 1842 mit einer Arbeit in mikroskopischer Anatomie promoviert wurde. Schon früh engagierte er sich dafür, die Physiologie auf eine streng naturwissenschaftliche Grundlage zu stellen und die ominöse „Lebenskraft“ als Erklärungsmodell für physiologische Vorgänge zu verbannen. Bereits in diesem Jahr wies er den Ursprung der Nervenfasern aus Ganglienzellen nach.
Obwohl er ein überdurchschnittlicher Absolvent war, deutete
zunächst nichts auf eine akademische Karriere hin. Er arbeitete ein Jahr lang
als Unterarzt an der Charité und diente ab 1843 in Potsdam als Militärarzt. Seine
Ausbildung setzte er während dieser Zeit fort. Anerkennung in großem Stil
verschaffte sich Helmholtz erstmals 1847 mit seiner Arbeit „über die Konstanz
der Kraft“. Durch physiologische Untersuchungen über Gärung, Fäulnis und die
Wärmeproduktion der Lebewesen, die er hauptsächlich auf Muskelarbeit
zurückführte, gelangte er zur Ausformulierung des Energieerhaltungssatzes, also
eines elementaren Gesetzes der Physik. Mit dieser Leistung ebnete sich
Helmholtz im frühen Alter von 26 Jahren den Weg für seine wissenschaftliche
Karriere. 1848 wurde er auf Empfehlung Alexander von Humboldts vorzeitig
entlassen und unterrichtete Anatomie an der Berliner Kunstakademie.
Natur-
kontra Geisteswissenschaften
Am 26. August 1849 heiratete er Olga von Velten und erhielt einen
Ruf als Professor der Physiologie und Pathologie nach Königsberg, wo er sich
vor allem mit der Physiologie von Auge und Ohr auseinandersetzte. In dieser
Zeit gelang ihm seine bedeutendste Erfindung: Mit dem Augenspiegel machte
Helmholtz erstmals die Netzhaut des menschlichen Auges sichtbar. Zudem verhalf
er der von Thomas Young aufgestellten Dreifarbentheorie des Sehens zum
Durchbruch: Sie beschreibt die drei Primärfarben Rot, Grün und Blau, aus denen
man jede beliebige andere Farbe mischen kann – auch heute noch das
Funktionsprinzip aller Farbfernsehbildschirme und Farbmonitore. Analog dazu
vermutete er, dass es auch im Auge drei Typen von Rezeptoren gibt. Er erfand
1850 das Ophthalmoskop (Augenspiegel) zur Untersuchung des Augenhintergrundes,
1851 das Ophthalmometer zur Bestimmung der Krümmungsradien der Augenhornhaut
sowie 1857 das Telestereoskop. 1852 gelang ihm außerdem die Messung der
Fortpflanzungsgeschwindigkeit von Nervenerregungen.
Seine tuberkulosekranke Frau vertrug jedoch das raue Klima in Ostpreußen nicht. Unter Vermittlung von Alexander von Humboldt zog Helmholtz im Jahr 1855 nach Bonn, um dort den vakanten Lehrstuhl für Physiologie anzunehmen. Ab 1858 nahm Helmholtz eine gut bezahlte Professur in Heidelberg an. Im Dezember 1859 starb seine Frau Olga, die ihn mit zwei kleinen Kindern zurückließ. Am 16. Mai 1861 heiratete Helmholtz seine zweite Frau Anna von Mohl. Aus beiden Ehen gingen insgesamt fünf Kinder hervor: Drei Söhne und zwei Töchter, darunter der Eisenbahnkonstrukteur Richard von Helmholtz und Ellen von Siemens-Helmholtz, Ehefrau des Industriellen Arnold von Siemens. Bis 1870 wird er als erster Inhaber eines Physiologielehrstuhls an der Universität Heidelberg lehren, darunter mit Wilhelm Wundt als Assistent, sowie zeitweise als Rektor fungieren. In seiner noch heute aktuellen Rektoratsrede 1862 hatte er erstmals „Naturwissenschaften“ und „Geisteswissenschaften“ gegenübergestellt und die Schäden durch die Vernachlässigung rationaler naturwissenschaftlicher Schulbildung aufgezeigt.
Er entwickelte eine mathematische Theorie zur Erklärung der
Klangfarbe durch Obertöne, die Resonanztheorie des Hörens, und darauf basierend
„Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie
der Musik“ (1863). Mit der Aufstellung der Wirbelsätze (1858 und 1868) über das
Verhalten und die Bewegung von Wirbeln in reibungsfreien Flüssigkeiten,
lieferte Helmholtz wichtige Grundlagen der Hydrodynamik. 1858 wurde Hermann von
Helmholtz zum korrespondierenden und 1870 zum auswärtigen Mitglied der
Bayerischen Akademie der Wissenschaften gewählt. 1871 verzichtet er auf eine
Berufung in Cambridge und kehrt schließlich nach Berlin zurück, wo er den sehr
gut dotierten Lehrstuhl für Physik übernahm und zeitweise wiederum als Rektor
wirkte. Mathematisch ausgearbeitete Untersuchungen über Naturphänomene wie Wirbelstürme,
Gewitter oder Gletscher machten Helmholtz zum Begründer der wissenschaftlichen
Meteorologie: Nur „die Mangelhaftigkeit unseres Wissens und die
Schwerfälligkeit unseres Kombinationsvermögens“ ließen uns von der „wildesten
Launenhaftigkeit des Wetters“ sprechen.
„er sich
ebenso langweilte wie wir“
Mit seinen Vorlesungen hatte er wenig Erfolg: „Wir hatten das Gefühl, dass er sich selber mindestens ebenso langweilte wie wir“, berichtet Max Planck. Als Schüler hatte er eigentlich nur den ihm kongenialen Heinrich Hertz von 1879-83, der auch 1880 bei ihm promovierte. Zu den herausragenden späten Leistungen zählen die drei Abhandlungen über die „Thermodynamik chemischer Vorgänge“ (1882/1883). Hier wandte Helmholtz die Hauptsätze der Thermodynamik auf die Elektrochemie an und führte den Begriff der „freien Energie“ ein. Die Weite seines systematischen Denkens und seiner Interessen belegen seine erkenntnistheoretischen Arbeiten. Zu ihnen ist die auch auf die Wissenschaftsgeschichte eingehende Behandlung der Allgemeingültigkeit des ursprünglich auf mechanische Bewegungsvorgänge beschränkten „Prinzips der kleinsten Wirkung“ (1886) zu rechnen, die er durch „Das Prinzip der kleinsten Wirkung in der Elektrodynamik“ (1892) abschließt.
1886 entschließt er sich zur
Aufgabe der Leitung des Institutes, nachdem er seinen theoretischen
Untersuchungen zuliebe schon einige Jahre auf experimentelle Arbeiten
verzichtet hat. Mit der Gründung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, die
er 1887 zusammen mit Werner von Siemens ins Leben rief, vollendete er seine
wissenschaftliche Karriere. Bis zu seinem Tod war er Präsident der
Reichsanstalt, die noch heute als Physikalisch Technische Bundesanstalt die
Wissenschaft der exakten Messtechnik vorantreibt.
Viele Schicksalsschläge verdüsterten sein Leben in der letzten
Phase, so der Tod seines Sohnes Robert und der seines Freundes Werner von
Siemens. Im Sommer 1893 besuchte er die Weltausstellung in Chicago und
verletzte sich auf der Rückreise schwer bei einem Ohnmachtsanfall. Am 8.
September 1894 starb Helmholtz an einem zweiten Schlaganfall. Er fand seine
letzte Ruhe auf dem Friedhof Wannsee; sein Grab ist seit 1967 als Ehrengrab der
Stadt Berlin gewidmet. Der enorme Erkenntniszuwachs, den er im 19. Jahrhundert
geschaffen hatte, wurde bald schon durch die Entdeckung der Röntgenstrahlung
sowie der Radioaktivität und durch Albert Einstein Formulierung der
Relativitätstheorie überholt, welche die Physik revolutionierten. Nach ihm sind
nicht nur seit 1995 die Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren, Schulen,
Plätze sowie die Helmholtz-Medaille der Deutschen Gesellschaft für Akustik
benannt, sondern auch Mond- und Marskrater sowie ein Asteroid.
Die eigentlich massentauglich erdachte Idee war auch online
gut: der 1. Mopslauf des VfL Brandenburg Anfang April. Dabei sollten Kinder,
Jugendliche, Rentner, ja ganze Familien alle 27 in den vergangenen Jahren „ausgewilderten
Waldmöpse“ (sprich aufgestellten Bronzemöpse) in einem sieben Kilometer langen
Parcours erlaufen, denn: „Ein Leben ohne Möpse ist möglich, aber sinnlos“, wie
der aus der Havelstadt stammende deutsche Jahrhunderthumorist wusste. Dabei war
er Werbung zeitlebens abgeneigt. Als ihn der Macher der FAZ-Kampagne „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf“, Sebastian Turner,
um eine Mitwirkung anfragte, winkte er ab. Turners Idee: Wenn er keine Werbung
für ein Produkt mache, warum dann nicht dagegen? Er willigte ein. Das Motiv
zeigt ihn auf einem Sofa liegend, eingeschlafen, die FAZ über dem Gesicht.
Seine Alleinerbinnen lehnten auch gegen jede Art Promotion mit ihm ab. Eine Firma vertrieb T-Shirts mit dem Satz „Früher war mehr Lametta“; dagegen gingen sie vor. Schon das Landgericht München hatte eine einstweilige Verfügung gegen den Hersteller zurückgewiesen, die nächste Instanz diesen Beschluss nun bestätigt. Seine Besonderheit und Originalität erfahre der Satz durch die „Einbettung in den Fernsehsketch ‚Weihnachten bei den Hoppenstedts‘ und die Situationskomik“. Blende man dies aus, handle es sich um einen „eher alltäglichen und belanglosen Satz“. Die Entscheidung ist rechtskräftig. Anders sah das mit seinen Kreationen aus: Ab Mitte der 1950er Jahre war er etwa für Paderborner Bier, Agfa, den Weinbrand Scharlachberg („Nimm’s leicht“) und die Tabakmarke Stanwell („Drei Dinge braucht der Mann“) aktiv. In Anzeigen und Trickfilmspots kamen seine Knollennasenmännchen zum Einsatz und gewannen mehr und mehr an Popularität.
Manche Dialoge
gingen nicht nur in die deutsche Medien-, sondern auch Sozialgeschichte ein,
etwa die Frühstücksepisode „Das Ei ist hart“, die die Bundespost mit einer
eigenen Briefmarke adelte:
Sie: „Ich
nehme es nach viereinhalb Minuten heraus, mein Gott.“
Er: „Nach
der Uhr oder wie?“
Sie: „Nach
Gefühl. Eine Hausfrau hat das im Gefühl.“
Er: „Aber es
ist hart. Vielleicht stimmt da mit deinem Gefühl was nicht.“
Der Sketch von 1977 schloss mit
den ebenfalls legendären Sätzen: „Ich bringe sie um. Morgen bringe ich sie um.“
Der geniale Schöpfer dieser und vieler anderer Szenen, der freischaffende
Zeichner, Autor, Regisseur, Moderator, Kostüm- und Bühnenbildner sowie
Schauspieler Bernhard-Viktor Christoph Carl „Vicco“ von Bülow, der sich nach
dem Wappentier seiner Familie, dem französischen Wort für Pirol, seit ca. 1950
„Loriot“ nannte, starb am 22. August 2011 in Ammerland bei Bad Tölz.
„seit Jahren täglich eine Flasche Wein“
Die Familie, ein altes
mecklenburgisches Adelsgeschlecht mit gleichnamigem Stammhaus im Dorf Bülow bei
Rehna, beginnt mit Godofridus de Bulowe (1229); der Name wird erstmals bei der Grundsteinlegung
des Ratzeburger Doms 1154 urkundlich erwähnt. Zu seinen Verwandten zählt Reichskanzler
Bernhard von Bülow. Geboren am 12. November 1923 als Sohn eines
Polizeileutnants, lassen sich seine Eltern schon 1928 scheiden, so dass Vicco
mit seinem ein Jahr jüngeren Bruder bei Großmutter und Urgroßmutter in Berlin
und ab 1933 wieder beim erneut verheirateten Vater aufwächst und bis 1938 das
Schadow-Gymnasium in Berlin-Zehlendorf besucht. Schon zu Schulzeiten war sein zeichnerisches
Talent aufgefallen. Die Großmutter spielte ihm Mozart, Puccini und Bach auf dem
Klavier vor, was seine Prägung für klassische Musik befördert. Die Familie zog
dann nach Stuttgart, wo er das Eberhard-Ludwigs-Gymnasium 1941 mit Notabitur
verließ. Hier sammelte er auch erste Erfahrungen als Statist in Oper und
Schauspiel.
Anschließen begann er eine Offizierslaufbahn, war drei Jahre mit der 3. Panzer-Division an der Ostfront im Einsatz, wurde mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet und erreichte den Dienstgrad Oberleutnant. Sein jüngerer Bruder fiel im März 1945 im Oderbruch. Auf die Frage, ob er ein guter Soldat gewesen sei, antwortete er in einem Interview: „Nicht gut genug, sonst hätte ich am 20. Juli 1944 zum Widerstand gehört. Aber für den schauerlichen deutschen Beitrag zur Weltgeschichte werde ich mich schämen bis an mein Lebensende.“ Nach dem Krieg arbeitete er nach eigener Schilderung für etwa ein Jahr als Holzfäller im Solling, um sich Lebensmittelkarten zu verdienen 1946 vervollständigte er in Northeim das Notabitur und studierte auf Anraten seines Vaters bis 1949 Malerei und Grafik an der Kunstakademie in Hamburg.
Von 1950 an war er sowohl als
selbständiger Werbegrafiker als auch als Cartoonist für das Hamburger Magazin Die Straße tätig. Er war ab 1951
verheiratet mit der Hamburger Kaufmannstochter Romi, einer ehemaligen
Modeschülerin, und wurde Vater zweier Töchter Bettina und
Susanne. Eine erste Comic-Serie „Auf den Hund gekommen“ für den Stern beendet Chefredakteur Henri Nannen
nach sieben Folgen: „Ich will den Kerl nie wieder im Stern sehen!“ Umso
erfolgreicher wurde er später für die Kinder-Ausgabe Sternchen, für die er ab 1953 „Reinhold das Nashorn“ zeichnete – 17
Jahre lang. 1954 fand der missglückte Zeitschriftenstart doch noch ein
Happy-Ende: Loriot sandte die Zeichnungen auf Anraten einer Bekannten dem
Schweizer Daniel Keel, der 1952 den Diogenes Verlag gegründet hatte und 44 der
„lieblosen Zeichnungen“ veröffentlichte. So begann eine lebenslange
Zusammenarbeit; Loriot publizierte fortan fast ausschließlich bei Keel.
Eine Kooperation mit dem
Martens-Verlag (Weltbild, Quick) endete 1961 auch im Unfrieden:
Bülow hatte in der 100. Folge seiner Kolumne Der ganz offene Brief den
Zorn von Winzern und Weinhändlern auf sich gezogen, obwohl er „seit Jahren
täglich eine Flasche Wein leere“. Er nahm inzwischen auch kleinere Rollen als
Schauspieler an, etwa in Bernhard Wickis Filmen „Die Brücke“ (1959) und „Das
Wunder des Malachias“ (1961). 1962 gestaltete er das Titelblatt der ersten
Ausgabe der Satirezeitschrift pardon
und zog ein Jahr später nach Ammerland, das ihn später zum Ehrenbürger machen
sollte. 1967 begann dann seine Arbeit fürs Fernsehen. Für Serien wie
„Telekabinett“, „Cartoon“ und „Loriot I bis VI“, beim Südwestfunk und bei Radio
Bremen entstanden, sollte Loriot ursprünglich nur die Sketche schreiben – vom
Spielen war keine Rede. Bis sich herausstellte, dass für Profi-Akteure kein
Geld da war: „Dann machen Sie es doch selbst.“ Er machte.
„Na warte“
1971 schuf er mit dem Zeichentrick-Hund Wum ein Maskottchen für die „Aktion Sorgenkind“ in der ZDF-Quizshow „Drei mal Neun“, dem er anfangs selbst auch die Stimme lieh. Zu Anfang noch der treue Freund eines Männchens, des eigentlichen Maskottchens, stahl er dem jedoch mehr und mehr die Show und verdrängte es schließlich völlig. Zu Weihnachten 1972 wurde Wum dann zum Gesangsstar: Mit dem Titel „Ich wünsch’ mir ’ne kleine Miezekatze“ mit von Bülows Sprechgesang belegte er für neun Wochen die Spitze der deutschen Hitparade. Wum blieb auch in der Nachfolgesendung „Der Große Preis“ bis in die 1990er Jahre hinein als Pausenfüller erhalten, bald schon als Duo zusammen mit dem Elefanten Wendelin und später dem außerirdischen Blauen Klaus.
1976 entstand mit Loriots sauberer Bildschirm die erste
Folge der sechsteiligen Personality-Serie „Loriot“ bei Radio Bremen, in der er sowohl Zeichentrickfilme als auch Sketche
präsentierte. Die Serie mit köstlicher bis absurder Situationskomik wie „Herren
im Bad“, „Auf der Rennbahn“ oder „Weihnachten bei Hoppenstedts“ gilt als
Höhepunkt seines Fernsehschaffens und machte ihn zu einem festen Bestandteil
deutscher Fernseh-, Literatur-, Kultur- und Sozialgeschichte. Dabei geht es oft
um die „Tücke des Objekts“, noch häufiger aber um Kommunikationsstörungen,
zumal zwischen Frau und Mann, die aneinander vorbeireden. Einige Erfindungen
und Formulierungen Loriots wurden im deutschen Sprachraum Allgemeingut, etwa
das Jodeldiplom oder die Steinlaus, die sogar mit einem Eintrag im Pschyrembel,
dem alphabetischen Verzeichnis der gebräuchlichsten und wichtigsten Begriffe
der Medizin, vertreten ist; aber auch Sätze wie „Da hab’ ich was Eigenes“, „Das
ist fein beobachtet“, „Das Bild hängt schief!“ oder „Frauen haben auch ihr
Gutes“. Auffallend ist, neben gekonnt eingesetzten schlüpfrigen Akzenten, der meisterhafte
Gebrauch der deutschen Sprache. 1978 auf seinen Wunsch eingestellt, werden viele
Sketche der Reihe bis heute wiederholt.
Seine Sketchpartnerin Evelyn Hamann entsprach anfangs gar nicht seiner Idealvorstellung: Eigentlich war er auf der Suche nach einer „kleinen, blonden, pummeligen Hausfrau“ und sagte zu Hamann, nachdem sie ihm vorgespielt hatte: „Liebe Frau Hamann, wenn Sie auf unsere Kosten mehrere Wochen täglich Schweinshaxen essen, meinen Sie, Sie werden dann fülliger?“ Jahrelang spielte sie an Loriots Seite – und überzeugte die Kritiker auf ganzer Linie. Mit unbewegter Miene und hanseatisch trockenem Humor schrieb sie Fernsehgeschichte, etwa als Hildegard in dem Sketch „Die Nudel“ beim Treffen mit Bülow als eitlem Verehrer, dem eine Nudel hartnäckig im Gesicht klebt („Bitte sagen Sie jetzt nichts, Hildegard“), oder „Englische Ansage“, in der sie über die vielen „th“ in Orts- und Personennamen schier den Verstand verliert. Sie verstand sich mit ihm zuletzt blind. Unvergessen bleibt 2007 sein Nachruf bei Beckmann: „Liebe Evelyn, dein Timing war immer perfekt. Nur heute hast du die Reihenfolge nicht eingehalten.“ Und nach einer Pause schließlich mit ganz feinem Lächeln: „Na warte.“
Die achtziger Jahre kann man als
Loriots musikalisches Jahrzehnt beschreiben. 1982 dirigierte er das
„humoristische Festkonzert“ zum 100. Geburtstag der Berliner Philharmoniker.
Wiederholt führte er seine Erzählfassung des „Karnevals der Tiere“ auf. Als Regisseur inszenierte Loriot die Opern
„Martha“ (Stuttgart, 1986) und „Der Freischütz“ (Ludwigsburg, 1988). Seit 1992
wird seine Erzählfassung von Wagners „Ring des Nibelungen“ in Mannheim
aufgeführt. Bis 2006 moderierte er auch die Operngala zugunsten der Deutschen
AIDS-Stiftung, seine Moderationstexte bildeten später den Grundstock für
„Loriots kleinen Opernführer“. Für Leonard Bernsteins Operette „Candide“
verfasste er neue Texte für eine konzertante Aufführung, welche die Handlung
besser verständlich machten und dem Stück in Deutschland zu neuer Popularität
verhalfen.
„Lieber Gott, viel Spaß!“
1988 drehte Loriot als Autor, Regisseur und Hauptdarsteller den Film Ödipussi. Die Geschichte um ein neurotisches Muttersöhnchen lockte 4,6 Millionen Zuschauer in die Kinos. 1991 folgte dann Pappa ante portas, in dem er den heimischen Haushalt betriebswirtschaftlich zu organisieren suchte und daneben auch einen Straßenmusiker mit Geige und den Dichter Lothar Frohwein mit Schluckauf bei einer Lesung spielte: „Kraweel, Kraweel!“ 34 Mal musste Hamann durch einen Hundehaufen laufen – erst bei der letzten Aufnahme war es Loriot beiläufig genug. „Die getreulichste Spiegelung der bundesrepublikanischen Wirklichkeit findet sich zweifellos bei Loriot“, schrieb die „FAZ“ und stellte fest: „Er allein hat die Archetypen der Bonner Republik entworfen, Männlein wie Weiblein.“ Ein „Rinnsal seniler Sketche“ eines „emeritierten preußischen Spaßadlers“ nannte dagegen der Spiegel den Film, den 3,5 Millionen Zuschauer sahen. Unter dem Titel „Wo es um Freundschaft geht“ präsentierten Loriot und Walter Jens 1994 in Hamburg, Wien und Zürich Ausschnitte aus dem Briefwechsel zwischen Friedrich dem Großen und Voltaire. In München las Loriot 1996 aus Thomas Manns Werken. In jenem Jahr soll er der meistgespielte Bühnenautor in Deutschland gewesen sein.
Loriot gründete in seiner Geburtsstadt Brandenburg die Vicco-von-Bülow-Stiftung, die den Erhalt von Denkmälern und Kunstschätzen fördert, aber auch bedürftige Einwohner der Stadt unterstützt. Er gehörte dem im August 2004 in München aus Protest gegen die Rechtschreibreform gegründeten Rat für deutsche Rechtschreibung e. V. als Ehrenmitglied an und gab im April 2006 Loriot bekannt, sich als Fernsehschaffender zurückzuziehen: Seiner Meinung nach war in diesem Medium wegen der entstandenen Schnelllebigkeit keine humoristische Qualität mehr zu erzielen. Zudem beklagte er, der für einen Sketch Mitte der siebziger Jahre noch 1.500 Mark bekam, die Ökonomisierung der Unterhaltungsbranche. Als er starb, galt er bereits als „größter Unterhalter der Nachkriegszeit“: Schon 2007 landete er bei der ZDF-Sendung „Unsere Besten – Komiker & Co“ auf Platz eins vor Heinz Ehrhardt. Eine Woche nach seinem Tod wurde er in Berlin beigesetzt.
Bundestagspräsident Norbert Lammert würdigte Bülow als eine der großen Persönlichkeiten, die das kulturelle Leben in Deutschland über Jahrzehnte geprägt und als Loriot ganz wesentlich dazu beigetragen habe, „dass die Deutschen ein gelassenes Bild ihrer Mentalität und Gewohnheiten gewinnen konnten“. „Für unsere Nation war er so etwas wie ein heimlicher Bundespräsident. Hätte er jemals tatsächlich zur Wahl gestanden, er wäre vollkommen zu Recht im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit gewählt worden“, so Komikerkollege H.P. Kerkeling. Manche nannten ihn „Karl Valentin des Cartoons“, „Deutschlands komischste Figur“ oder „Legende des anspruchsvollen Humors“ (Horst Seehofer). Der Art Directors Club trauerte um sein Ehrenmitglied in einer Zeitungsanzeige mit den Worten: „Lieber Gott, viel Spaß!“
Ein warmer Aufwind brachte den Tod. Als er am 9. August 1896
seinen selbstgebauten Segelgleiter beim brandenburgischen Örtchen Stölln in
eine sogenannte Sonnenbö steuerte, richtete sich das Fluggerät zunächst auf und
blieb dann quasi in der Luft stehen. In einem verzweifelten Steuermanöver warf
er noch Beine und Oberkörper nach vorn – doch das reichte nicht, um einen
Absturz aus 15 Metern Höhe zu vermeiden. Der Pilot brach sich die
Halswirbelsäule und habe unmittelbar nach dem Absturz zu seinem Mechaniker gesagt:
„Ist nicht so schlimm, kann mal vorkommen. Ich muss mich etwas ausruhen, dann
machen wir weiter“. Er wurde – bereits im Koma – in die Berliner Uniklinik
kutschiert und starb am folgenden Tag. „Opfer müssen gebracht werden“, sollen
seine letzte Worte gewesen sein – auch wenn dieser angeblich letzte Satz in
Wahrheit erst 1940 an seinem Berliner Ehrengrab angebracht wurde: Otto
Lilienthal, der bis heute als der
deutsche Flugpionier gilt.
Geboren wurde er am 23. Mai 1848 als erstes von acht Kindern eines Tuchhändlers und einer studierten Musikerin in Anklam. Fünf Geschwister starben im Alter von wenigen Monaten oder Jahren. Als die Familie in wirtschaftliche Schwierigkeiten geriet und nach Amerika auswandern wollte, durchkreuzte der plötzliche Tod des Vaters den Plan. Die Mutter verdiente den Lebensunterhalt für sich und ihre drei Kinder durch ein kleines Putzgeschäft sowie durch Erteilen von Musikunterricht und gelegentliche Auftritte als Konzertsängerin. 1856 bis 1864 besuchte Otto Lilienthal das örtliche Gymnasium. Gemeinsam mit seinem ein Jahr jüngeren Bruder Gustav, dem er über zahlreiche Projekte und Erfindungen zeitlebens eng verbunden blieb, studierte er bereits dort den Flug der Störche, die über die Felder der pommerschen Landschaft glitten, führte erste Flugexperimente durch und baute ein erstes kindliches Flügelpaar. „Fliegen wie ein Vogel“ – dieser Traum setzte sich in ihm fest.
1866 erhielt er an der Gewerbeschule in Potsdam sein
Reifezeugnis „mit Auszeichnung“, absolvierte dann in der Firma Schwartzkopf ein
einjähriges Praktikum im Fach Maschinenbau und besuchte im Anschluss daran bis
1870 die Königliche Gewerbeakademie in Berlin. Er lebte in dieser Zeit als
„Schlafbursche“ und musste sein Bett mit einem Droschken- und einem
Rollkutscher teilen, wie er in einer Chronik berichtete. 1867 und 1868 bauten
die Brüder Lilienthal in Anklam Experimentiergeräte zur Erzeugung von Auftrieb
durch Flügelschlag. Das Ergebnis war eine maximal hebbare Masse von 40 kg. Zu
den entscheidenden Experimenten wurden die darauf folgenden Untersuchungen des
gewölbten Flügels in der Luftströmung ohne Flügelschlag. Nach seinem Studium
meldete sich Lilienthal für ein Jahr zur freiwilligen Teilnahme am
deutsch-französischen Krieg und erlebte als Infanterist die Belagerung von
Paris.
„Vogelflug als
Grundlage der Fliegekunst“
Danach arbeitete er in der Zeit von 1871 bis 1880 für die
Berliner Maschinenbaufirma Weber und war teilweise parallel als
Konstruktionsingenieur für das Maschinenunternehmen C. Hoppe in Berlin tätig.
In dieser Zeit war er an der Entwicklung von Bergbaumaschinen beteiligt: Das
Patent auf eine Schrämmaschine führte zwar zu einer Serienfertigung, jedoch
nicht zu einem eigenen Unternehmen, das er mit Gustav, der inzwischen Architekt
war, anstrebte. In dieser Zeit fing Lilienthal an, öffentlich Vorträge über die
Probleme des Fliegens zu halten. 1874 experimentierte Lilienthal mit ebenen und
gewölbten Tragflügeln, um die Luftkräfte zu messen. Dazu führte er Versuche mit
Drachen und Flugmodellen durch, bei denen Schwester Marie protokollierte. Bei
Messungen mit Mehrkomponentenwaagen erkannte er die kraftsparenden
Eigenschaften gewölbter Flügel und ermittelte genaue Werte für Auftrieb und
Widerstand bei verschiedenen Anstellwinkeln.
1878 heiratete Lilienthal die sächsische Bergmannstochter Agnes Fischer, mit der er vier Kinder hatte. Im Jahr darauf entwickelte er mit Gustav ein Baukastensystem für Kinder mit Steinen aus Firnis, Kreide und Sand, deren Vermarktung aber ebenfalls nicht gelang. Schon 1880 verkauften sie das Herstellungsverfahren an den Geschäftsmann Friedrich Adolf Richter aus Rudolstadt, der sofort ein Patent anmeldete und die Steine im Rudolstädter „Anker-Werk“ produzieren ließ. Unter diesem Namen traten sie ihren Siegeszug an – die Brüder Lilienthal konnten sich nur noch verschiedene Auslandspatente für ihre Erfindung sichern und stritten bis 1887 mit Richter, der letztlich gewann. Dem Erfolg konnten die Unstimmigkeiten aber nichts anhaben: Über drei Milliarden Anker-Bausteine wurden hergestellt, Albert Einstein, Erich Kästner und Walter Gropius sollen damit gespielt haben.
Der dritte Versuch als Unternehmer war dann erfolgreich. 1881
erhielt Lilienthal ein Patent für einen Schlangenrohrkessel, das den erhofften
Erfolg brachte: Zusammen mit einer kleinen Wand-Dampfmaschine entstand der
Lilienthalsche Kleinmotor, der ab 1883 in einer eigenen Firma hergestellt
wurde, die schnell zur Fabrik mit bis zu 60 Mitarbeitern anwuchs und auch
Akkordsirenen für Nebelhörner produzierte. Es folgten weitere 19 Patente,
darunter vier Luftfahrtpatente. Mit dem Ethiker Moritz von
Egidy bekannt und sozial engagiert, beteiligte er seine Arbeiter mit 25 % am
Unternehmensgewinn und richtete eine Volksbühne im Berliner Ostend-Theater ein.
War er zusammen mit Gustav schon 1873 Mitglied in der „Aeronautical Society of Great Britain“ geworden, trat er 1886 dem „Deutschen Verein zur Förderung der Luftschifffahrt“ in Berlin bei. In diese Zeit fallen auch die ersten Versuche mit Fluggeräten, die einen Menschen transportieren. Als er Ende der 1880er Jahre ein Patent auf den gewölbten Tragflügel anmelden wollte, musste er konstatieren, dass ihm der Engländer Horatio F. Phillips zuvor gekommen war, der 1907 den ersten bemannten Motorflug in Großbritannien absolvieren wird. All seine Erfahrungen und Erkenntnisse bis hierhin verwertete Lilienthal 1889 in „Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst“. Als Protagonist des „Schwerer als Luft-Prinzips“ war er überzeugt: „Die Nachahmung des Segelflugs muss auch dem Menschen möglich sein, da er nur ein geschicktes Steuern erfordert, wozu die Kraft des Menschen völlig ausreicht.“ Das bis dahin favorisierte „Leichter als Luft-Prinzip“ der Ballonfahrten geriet ins Hintertreffen. Die im Buch enthaltene graphische Darstellung des Zusammenhangs zwischen Auftrieb und Widerstand unter Angabe des Anstellwinkels ist in dieser Form noch heute üblich und wird als Lilienthalsche Polare bezeichnet. Nach der Veröffentlichung experimentiert er ohne Gustav weiter.
Im März 1891 gelang ihm ein Gleitflug zwischen Derwitz und
Krielow nahe Potsdam über die Distanz von mehr als 25 Metern. 1892 setzte
Lilienthal seine Flugversuche mit neuen Geräten fort. Dabei gelangen ihm in
Gollenberg bei Stölln bahnbrechende Gleitflüge bis zu einer Weite von 250
Metern. Auch im Flugzeugbau experimentierte der emsige Forscher weiter. Unter
seinen Flugapparaturen befand sich auch ein Flügelschlagapparat, der für einen
Motorantrieb vorgesehen war. Zwischen 1890 und 1896 konstruierte Lilienthal
rund 30 Flugapparate, die er zu mehr als 2.000 Flugversuchen in Berlin und
Umgebung einsetzte und dabei sagenhafte Weiten von über 400 Metern erreichte. Sein
so bezeichneter „Normalsegelapparat“ ging 1894 in Serie und wurde zum
Stückpreis von 500 Mark neunmal verkauft. Den ersten erwarb der Schweizer Industrielle
Charles E. L. Brown, einer der beiden Gründer des Elektrotechnikkonzerns „Asea
Brown Boveri“, einen weiteren der amerikanische Zeitungsmogul William Hearst.
„Er war wohl zu
wagemutig“
Die Reise-, Transport- und Verkehrsdimension seiner Entdeckung sei Lilienthal nicht bewusst gewesen, ist der stellvertretende Direktor des Otto-Lilienthal-Museums Anklam, Peer Wittig, auf dem Portal heise.de überzeugt. Lilienthal habe in seinem Normalsegelapparat in erster Linie ein Sportfluggerät gesehen. In einem Brief an Egidy schwärmt Lilienthal aber trotzdem von den friedensstiftenden Möglichkeiten der Fliegerei. „Die Grenzen der Länder würden Ihre Bedeutung verlieren, weil sie sich nicht mehr absperren lassen; die Landesverteidigung, weil zur Unmöglichkeit geworden, würde aufhören, die besten Kräfte der Staaten zu verschlingen, und das zwingende Bedürfnis, die Streitigkeiten der Nationen auf andere Weise zu schlichten als den blutigen Kämpfen um die imaginär gewordenen Grenzen, würde uns den ewigen Frieden verschaffen.“ In diesem Punkt, sagt Wittig, habe sich Lilienthal gewaltig geirrt.
1895 unternahm Lilienthal mehrere Auslandsreisen, um sich im
Kontakt mit anderen Flugforschern und -technikern auszutauschen. In diese Zeit fallen
auch seine ersten Flugversuche mit Doppeldeckern. Zu den Erkenntnissen, die er
bei seinen Konstruktionen und ihrer Erprobung gewann, gehören die Entdeckung
des Vorteils von an der Vorderkante des Flügels verdickten Profilen und die
Zweckmäßigkeit scharfer Hinterkanten – Ergebnisse, die für den Flugzeugbau heute
allgemeingültig sind. Über Lilienthals Flüge wurde im In- und Ausland
berichtet; die sensationellen Flugfotografien erschienen in wissenschaftlichen
und populären Veröffentlichungen vieler Länder. Regelmäßig erschienen seine
Artikel in der Zeitschrift für
Luftschifffahrt und Physik der Atmosphäre sowie in der populären
Wochenschrift Prometheus,
Übersetzungen in den USA, Frankreich und Russland. Die Gebrüder Wright
verwendeten Lilienthals Arbeiten als Grundlage für den Bau ihres ersten
flugfähigen Motorflugzeugs der Welt: „Der deutsche Ingenieur Otto Lilienthal
lieferte wohl den größten Beitrag zur Lösung des Flugproblems, der je von einem
Mann geleistet wurde“, schrieb Wilbur Wright 1901.
Mit Lilienthals Tod auf einem seiner Normalsegelapparate endete Deutschlands Vorreiterrolle im Flugwesen mit Tragflächen; ein gleichermaßen mutiger wie systematischer Nachfolger fand sich nicht. Er war der erste, der die Wirkung verschiedener Flügelprofile systematisch vermaß und dokumentierte, aufbauend auf diesen Messungen kontrolliert geflogen ist und seine Erkenntnisse regelmäßig publizierte. Und schließlich war er der erste, der einen Flugapparat zur Serienreife entwickelte und verkaufte. Porträts und Flugapparate Lilienthals dienten als Würdigung der technischen Pionierleistung auf Briefmarken, Medaillen und in anderer Form in vielen Ländern als Vorlage. Häufig ist die Darstellung mit dem Ikarusmotiv verbunden. Schulen, Straßen, Vereine und Körperschaften tragen seinen Namen, darunter die Otto-Lilienthal-Kaserne im fränkischen Roth.
Vor fünf Jahren bauten Forscher des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) den 20 Kilogramm schweren, 6,70 Meter breiten Normalsegelapparat aus Weidenholz und Stoff nach und testeten ihn im Windkanal. Bei Windgeschwindigkeiten von bis zu zehn Metern pro Sekunde zeigte er sich verblüffend modern in seinen Leistungswerten: „Aus den Daten lässt sich auf den ersten Blick keine kritische Flugeigenschaft ableiten, die Lilienthal in Gefahr bringen musste“, sagt Physiker Henning Rosemann dem Spiegel. Um alle drei Achsen stabil, gutmütige Flugeigenschaften: „Je länger man sich mit dem Fluggerät beschäftigt, desto mehr Hochachtung bekommt man“. Wohl auch, weil das Fliegen ein Kraftakt ist: der Pilot hängt wie ein Reckturner zwischen den Flügeln und steuert allein mit Körperbewegungen. Eine technische Todesursache wurde ausgeschlossen – Overconfidence, zu großes Vertrauen, nennt man das Problem bei heutigen Piloten: Die Böe zu stark, der plötzliche Anstellwinkel zu steil. „Er war wohl zu wagemutig“, so Rosemann. „Das hat ihn das Leben gekostet.“
Zwar findet die Documenta 15 wie geplant kommenden Sommer statt. Doch sie ist kulturhistorisch ins Visier linker Kritik geraten: Nazi-Vorwürfe befeuern alte und neue Schuld-/Opfer-Identitäten als weiteren Auswuchs von Identitätspolitik, der die Politisierung von Kunst weiter vorantreibt.
Meine neue Tumult-Kolumne, die gern geteilt werden kann.
Wohl für eine „Professorenidee“ hielt Bismarck die
Vorstellung, dass in einem geeinten Land mit einer modernen Verwaltung und
einer aufblühenden Industrie und Medienlandschaft auch die Rechtschreibung
genormt werden müsse. Zwar war um 1800 die Vereinheitlichung der deutschen
Rechtschreibung schon recht weit gediehen: Goethe und Schiller richteten sich
nach Johann Christoph Adelungs Wörterbuch (1774–1786), könnte man etwas
vereinfacht sagen. Und dieser erste wissenschaftlich vorgehende Wörterbuchautor
orientierte sich an der Rechtschreibung von Martin Luthers Meißner
Kanzleisächsisch, die seit drei Jahrhunderten vor allem die Drucker nach und
nach immer klarer geregelt hatten.
Das änderte sich im Zuge der frühbürgerlichen Revolution ausgerechnet
durch Jakob Grimm, der, getrieben von der romantischen Idee, dass im
Mittelalter alles besser gewesen sei, die Rechtschreibung der Gegenwart durch
die Wiedereinführung mittelhochdeutscher Schreibgewohnheiten reformieren wollte:
So schlug er radikale Kleinschreibung und die Ersetzung von ß durch sz vor. Der
Mediävist Karl Weinhold forderte gar, man sollte künftig leffel statt Löffel
schreiben, weil sich das unhistorische ö nur durch fehlerhafte Aussprache seit
dem Mittelhochdeutschen eingeschlichen habe. Die Anhänger Grimms und Weinholds
wurden deshalb von ihren Gegnern als „leffel-Fraktion“ verspottet.
Diese Gegner nannten sich „fi-Partei“. Als Vertreter des phonetischen Prinzips „Schreibe, wie du sprichst“ wollten sie die Buchstaben f, v und ph durch ein einheitliches f ersetzen und das Dehnungs-h weitgehend abschaffen – dann hätte man nicht mehr „Vieh“, sondern „fi“ geschrieben. Aber leichter gesagt als getan, denn man hatte nur lateinische Buchstaben, und für einige Laute der deutschen Sprache gab es keine Zeichen. Zum Beispiel für das „ch“ wie in „Becher“ oder das „sch“ wie in „Schwer“. Zeichenkombinationen mussten helfen. Beide Lager trafen auf der Berliner „Orthograpischen Konferenz“ 1876 aufeinander: Der preußische Kultusminister nahm die reichsweit einheitliche, verbindliche Regelung der Rechtschreibung in die Hand, nachdem als erstes Land Hannover im Jahr 1855 verbindliche Regeln für die Schulorthografie aufgestellt und Württemberg nachgezogen hatte.
Auf der Konferenz setzten sich mit demokratischer Mehrheit die
„fi“-Phonetiker durch. Bismarck tobte, verbot die neue Rechtschreibung in
Preußen und drohte, „jeden Diplomaten in eine Ordnungsstrafe zu nehmen, welcher
sich derselben bediene“. Der Abgeordnete Lucius notierte, was der Reichskanzler
dachte: „Man mute den Menschen zu, sich an neue Maße, Gewichte und Münzen zu
gewöhnen, verwirre alle gewohnten Begriffe, und nun wolle man auch noch eine
Sprachkonfusion einführen. Das sei unerträglich.“ Einen Monat später erklärte
Kultusminister Falk die Konferenz für gescheitert. Den Zug zur
Einheitsschreibung konnte Bismarck damit aber nur entschleunigen, nicht
aufhalten. Denn ein Vertreter der „fi-Fraktion“ nahm die schon existierenden
Regelbücher, verglich sie, ermittelte die häufigsten Schreibweisen, von denen
man annehmen konnte, sie würden sich mittelfristig durchsetzen, und legte das
Resultat vier Jahre später vor: Konrad Duden, der am 1. August vor 110 Jahren in
Sonnenberg starb.
Beurteilung nach Sprachtradition
des Lehrers
Er war am 3. Januar 1829 als zweiter Sohn eines Gutsbesitzers,
Branntweinbrenners und Eisenbahnbeamten auf Gut Bossigt in Lackhausen bei Wesel
am Niederrhein geboren worden. 1833 zog seine Familie in die Altstadt von
Wesel, wo er 1846 sein Abitur ablegte. Danach studierte er vier Semester
Geschichte, Germanistik und Philologie in Bonn, wo er der Studentenverbindung
Germania beitrat. Im Revolutionsjahr 1848 beteiligte sich Duden an den
Demonstrationen der Burschenschaften, brach das Studium aus finanziellen
Gründen ab und nahm eine Stelle als Hauslehrer in Frankfurt an, um seinen
Lebensunterhalt zu finanzieren. Bis 1854 war er bei der Familie des Senators
Eduard Franz Souchay beschäftigt und unternahm ausgedehnte Studienreisen nach
England und in die Schweiz.
1854 holte er mit besonderer Genehmigung das Staatsexamen an der Universität Bonn nach und promovierte im gleichen Jahr „in absentia“, also mit schriftlich eingereichter Arbeit und ohne mündliche Prüfung, in Marburg. Die an die Promotion anschließende Referendarzeit in Soest bricht Duden vorzeitig ab und nimmt eine Hauslehrerstelle in Genua an. Hier lernt er Adelinde Jakob kennen, die Tochter des deutschen Konsuls, die er 1861 heiraten und mit ihr sechs Kinder bekommen wird. Zwei Jahre zuvor war er nach Deutschland zurückgekehrt und hatte eine Stelle als Prorektor an einem Soester Gymnasium angenommen. Nach zehn Jahren wechselt er 1869 als Gymnasialdirektor ins thüringische Schleiz.
Hier stellt er 1871 erstmals Regeln zur Rechtschreibung nach
dem phonetischen Prinzip zusammen. Denn in Schleiz trafen fränkische, thüringische
und sächsische Dialekte zusammen, so dass die Beurteilung der Orthographie
eines Schülers davon abhing, aus welcher Sprachtradition der jeweilige Lehrer
kam: was bei dem einen richtig war, strich der andere als Fehler an. Durch sein
Standardwerk hatte Duden insbesondere bildungsfernen Schichten das Lesen und
Schreiben erleichtern wollen. Diese Schrift, zum Gebrauch in seinem Gymnasium
bestimmt, war bald in Fachkreisen sehr bekannt und wurde 1872 erweitert zur Abhandlung
„Die deutsche Rechtschreibung. Abhandlungen, Regeln und Wörterverzeichnis mit
etymologischen Angaben“ – dieser sog. „Schleizer Duden“ war die Grundlage
seiner Einladung zur Berliner Konferenz. Im Konferenzjahr wechselte er als
Direktor des Königlichen Gymnasiums nach Hersfeld, wo er bis 1905 wirkte.
„schnelle und sichere
Lösung“
Als er dann am 7. Juli 1880 sein „Orthographisches
Wörterbuch“ vorlegte, hatte er auf 187 Seiten etwa 27.000 Wörter gesammelt, die
er in den Regelbüchern vor allem aus Bayern, Preußen, Österreich und sogar Kleinstaaten
wie Mecklenburg-Strelitz fand. Es ist
die Urform des heute längst nach seinem Begründer einfach nur Duden genannten Nachschlagewerks, das
gerade in der 28. Auflage erschienen ist. Bevorzugt entschied sich Duden für
die Varianten des amtlichen Preußischen Regelbuchs, das sein Gesinnungsgenosse
Wilhelm Wilmanns kurz zuvor im Auftrag des neuen preußischen Bildungsministers
Robert Viktor von Puttkamer verfasst hatte – immer noch gegen Bismarcks Willen.
Die Anzeige im „Börsenblatt“ versprach jedermann für eine Mark ein „Nachschlagebuch, das ihnen in jedem Zweifel schnelle und sichere Lösung bringt“. Weil es sich an der Praxis der Schreibenden orientierte, entwickelte es sich bald zum Bestseller. Schulen, Setzer, Drucker und Korrektoren richteten sich nach ihm, und Konrad Duden erreichte, was die erste staatliche Konferenz vergeblich angestrebt hatte: die Einheitsschreibung im gesamten deutschen Sprachraum. Im Vorwort schrieb er: „Dem Wunsche, diese Orthographie in ganz Deutschland und demnächst, soweit die deutsche Zunge klingt, zum Siege gelangen zu sehen, bringt der Verfasser gern seine besonderen, die Rechtschreibung betreffenden Wünsche zum Opfer.“ Das Opfer lohnte sich.
Ab 1880 wurde der
Duden vom Bibliographischen Institut herausgegeben, das zunächst in Leipzig
angesiedelt war und heute seinen Sitz in Mannheim hat. 1892 übernahm auch die
Schweiz seine Schreibweisen, später Österreich-Ungarn. Die zweite
„Orthographische Konferenz“ in Berlin 1901 legte dann zu großen Teilen nur noch
amtlich fest, was dank Dudens Bestrebungen längst überall praktizierte
Rechtschreibung war. Am Rande bleibt die Anekdote, dass Kaiser Wilhelm II.
darauf bestand, dass bei der Eliminierung des Buchstabens „h“ aus Wörtern wie
„Noth“ oder „Thür“ der „Thron“ unangetastet blieb – bis heute. 1955 wurden die
Regeln durch die Kultusministerkonferenz als verbindlich bestätigt und
behielten ihre Gültigkeit bis zur neuen Rechtschreibreform, die zum 1. August
1998 in Kraft trat und nach Ansicht vieler Experten eine Verschlimmbesserung
war. Deshalb hat der Rat für Rechtschreibung 2010 eine Reformulierung des
amtlichen Regelwerks beschlossen.
Duden publizierte noch mehrere Bücher, darunter die „Etymologie
der neuhochdeutschen Sprache“ (1893) und zog sich 1905 nach Sonnenberg bei
Wiesbaden zurück, wo er auch starb. Nach ihm sind sowohl der Konrad-Duden-Preis
für Germanisten als auch der Konrad-Duden-Journalistenpreis benannt. Die
aktuelle 28. Auflage umfasst fast 1.300 Seiten und nahezu 150.000 Stichwörter –
so viele wie noch nie, mehr als fünf Mal so viele wie die Erstausgabe. Der
waren Wörter wie Social Distancing, Abwrackprämie, Selfie, fremdschämen oder
tindern einfach noch fremd.
„abenteuerliche
Kreationen“
Allerdings ebenso fremd dürfte Duden heute sein, was unter dem Label der „Geschlechtergerechtigkeit“ mit der Sprache – und seinem Standardwerk – geschieht. Denn die Redaktion des Duden gibt für eine geschlechtergerechte Sprache traditionelle Wortbedeutungen auf: Sie „gendert“ und schafft das generische Maskulinum ab. Erstmals enthält der Rechtschreib-Duden auf drei Seiten eine Übersicht zum Gender-Instrumentarium: Hingewiesen wird auf den zunehmenden Gebrauch des Gendersternchens und anderer Genderzeichen. Wer auf Duden.de „Mieter“ eingibt, sieht als Wortbedeutung jetzt: „männliche Person, die etwas gemietet hat“.
„Die Festlegung des grammatischen Genus Maskulinum auf das natürliche Geschlecht entspricht nicht der Systematik des Deutschen“, sagt die Sprachwissenschaftlerin Ursula Bredel im DLF. „Sprachsystematisch führt ein Total-Verzicht auf maskuline Personenbezeichnungen in geschlechtsneutraler Deutung zu Lücken“, befindet ebenda auch die Linguistin Gisela Zifonun. Ihr Kollege Hennig Lobin dagegen erhebt in seinem Buch „Sprachkampf“ den Vorwurf, dass der Widerstand gegen politisch korrekte Sprache und Genderdeutsch Teil einer „neurechten Agenda“ sei und mit der Ablehnung der „Gendersprache“ etwa durch die AfD „eine traditionelle Vorstellung von Familie und Gesellschaft allgemein“ verbunden sei.
Die Rolle als maßgeblicher Hüter der Rechtschreibung hat der Duden seit 25 Jahren verloren. Stattdessen entscheidet der Rat für deutsche Rechtschreibung über die Weiterentwicklung der Regeln. Doch sprachpolitisch macht der Duden weiter Druck und hat Einfluss. Die Geschäftsführerin des Rats, Sabine Krome, bezweifelt, dass „abenteuerliche Kreationen“ wie „Gästin“ oder Neubildungen wie „Bösewichtin“ eine relevante Rolle spielen. Der Duden missbrauche seine Deutungs-und Definitionshoheit über die deutsche Sprache, meint die Bozener Sprachwissenschaftlerin Ewa Trutkowski, er propagiere eine einseitige Sichtweise. Sprache entwickelt sich aber als natürlicher Prozess aller Sprachverwender und nicht als Spielwiese weniger Sprachvorschreiber. Duden-Nutzer könnten die Variante als Sprachrealität missverstehen – was sie nicht ist. Der Stuttgarter AfD-Fraktionschef Bernd Gögel MdL bilanziert: „Der neue Duden ist eine einzige linkspolitisch, genderideologisch und denglisch verzerrte Enttäuschung, die ihren großen Ahnherrn Konrad Duden im Grab rotieren lässt“.
Die See seiner Wahl war die baltische. Von Berlin aus reiste
er sommers von 1908 bis 1921 auf die Insel Usedom und von 1924 bis 1935 nach
Deep an der pommerschen Ostseeküste nahe Kolberg, wo Skizzenzeichnungen
entstanden, die er „Natur-Notizen“ nannte. „Mit ihnen schuf er sich die
Grundlage für das Kapital, aus dem er bis zu seinem Tode künstlerisch schöpfte“,
so der Kunsthistoriker Ulrich Luckhardt in der Welt. Die Zuneigung zur Ostsee blieb auch in seiner Geburtsstadt
New York lebendig, in die der amerikanische Staatsbürger 1937 remigrierte.
Im selben Jahr beschlagnahmten die Nazis in den deutschen
Museen 410 Werke des Künstlers, zeigten acht Gemälde und mehrere Grafiken als „Entartete
Kunst“. „Ich fühle mich 25 Jahre jünger, seit ich weiß, dass ich in ein Land
gehe, wo Phantasie in der Kunst und Abstraktion nicht als absolutes Verbrechen
gelten wie hier“, schrieb Feininger vor der Abreise seinem Sohn. „Hier male ich
seither anders, aber nicht besser“, befand er dennoch in seinem Todesjahr: Lyonel
Charles Adrian Feininger, der am 17. Juli 1871 in New York als Kind zweier
angesehener deutscher Musiker zur Welt kam.
Der Sohn eines Konzertgeigers und einer Pianistin reiste mit 16 Jahren mit seinen Eltern, die auf Konzerttour waren, erstmals nach Deutschland. Er sollte dort am Leipziger Konservatorium Musik studieren, um auch Geiger zu werden. Doch bereits auf der Überfahrt änderte der junge Feininger seine Pläne, da ihm das reine Reproduzieren von Musik auf dem Instrument nicht genügte. Mit väterlicher Erlaubnis durfte er die Kunstgewerbeschule Hamburg besuchen. Am 1. Oktober des folgenden Jahres bestand er die Aufnahmeprüfung der Königlichen Akademie in Berlin. Er fing früh an, für Verleger und Zeitschriften zu zeichnen. 1892 nahm er ein Studium an der Pariser Académie Colarossi auf, die vom italienischen Bildhauer Filippo Colarossi gegründet worden war.
Nach siebenmonatigem Aufenthalt in Paris kehrte er 1893 nach
Berlin zurück, wo er als freier Illustrator und Karikaturist für Zeitschriften wie
Harpers Young People, Humoristische Blätter, Ulk, Das
Schnauferl und Die Lustigen Blätter
tätig wurde. Seine Themen variierten zwischen harmlosen Witzbildern und
politischen Karikaturen, deren Themen allerdings von den Redakteuren der
Blätter vorgegeben wurden, für die er arbeitete. Sein Interesse galt ohnedies
mehr der künstlerischen Ausarbeitung dieser Sujets, und sein graphischer Stil
orientierte sich zunehmend an Fläche und kantigen Konturen mit deutlichem Hang
zur Groteske, was ihm schon um die Jahrhundertwende in der Kritik erste
Beachtung einbrachte.
„neue
Weltperspektive“
1901 heiratete Feininger die Pianistin Clara Fürst und bekam
mit ihr die Töchter Leonore und Marianne. Nachdem er 1905 die Liebe seines
Lebens, die jüdische Künstlerin Julia Berg kennengelernt hatte, die an der Großherzoglichen
Kunstschule Weimar studierte, trennten sich beide von ihren Familien. Zusammen
reisten sie 1906 nach Paris, wo Sohn Andreas zur Welt kam, später ein bekannter
Fotograf. Feininger schloss mit der Chicago
Sunday Tribune einen Vertrag über zwei kurzlebige Comic-Serien, darunter „Wee
Willie Winkie’s World“, eine traumhafte Serie von kurzen Bildergeschichten mit
Prosatexten, in denen die Metamorphosen diverser Landschaften aus der Sicht
eines kleinen, phantasievollen Jungen geschildert werden. Häuser bekommen
Gesichter, Bäume, Wolken werden zu phantastischen Gestalten, Naturgeistern
gleich, und Gegenstände rund um den Kamin stecken plötzlich voller Leben. Sie wird
heute zu den Klassikern des Genres gezählt. 1908 heirateten Lyonel und Julia,
ließen sich in Berlin nieder und bekamen zwei weitere Söhne, Laurence und
Theodore Lux, der ebenfalls ein erfolgreicher Maler wurde und vor 10 Jahren
101jährig starb.
1909 wurde er Mitglied der „Berliner Secession“, die in jenem Jahr mit 97 Mitgliedern, darunter Max Beckmann, Ernst Barlach und Wassily Kandinsky, ihren künstlerischen Höhepunkt erreichte. In dieser Zeit kam er erstmals mit dem Kubismus in Berührung, lernte die Künstlergruppe „Brücke“ kennen, stellte seine ersten architektonischen Kompositionen her und nahm gemeinsam mit den Künstlern des „Blauen Reiter“ 1913 auf Einladung von Franz Marc am Ersten Deutschen Herbstsalon teil. Zugleich verlässt er die Secession wieder.
Als Mittdreißiger verhältnismäßig spät wandte er sich
ausschließlich der Malerei zu und entwickelte, ausgehend von seinen
Karikaturen, einen sehr markanten Malstil, der Objekte abstrahiert und
gestalterisch überhöht. Nach der ersten großen Einzelausstellung in Herwarth
Waldens Galerie „Der Sturm“ zieht er sich 1918 mit seiner Familie aufgrund der
schwierigen Situation als amerikanischer Staatsbürger am Ende des Ersten
Weltkriegs nach Braunlage (Harz) zurück.
Hier legt er bis 1920 sein einzigartiges Holzschnittwerk von
über 300 Drucken an. Neben dem Erfindungsreichtum der Motive verblüfft vor allem
die Radikalisierung der Bildsprache, für die auch die Zeichnungen seiner Söhne
eine inspirierende Rolle spielen. Kinder erreichen sofort, wonach die damalige
Avantgarde sucht – eine von Vorwissen unverdorbene Wahrnehmung der Welt. Kinder
zeichnen nie „richtig“ im Sinne einer korrekten Wiedergabe, sondern begnügen
sich mit dem, was ein Motiv in ihren Augen „vollständig“ macht. Fluchtpunkt und
Tiefenraum haben für sie keinen Sinn, sie denken konsequent in der Fläche und
bevorzugen die Bedeutungsperspektive. Darum zeichnen sie das Wichtige groß und
das Nebensächliche klein. Zum Vorschein kommt das Paradox einer
gegenständlichen Naturferne. Sie ist künstlerisch genau das, was Feininger die
„neue Weltperspektive“ nannte. Ihr Ziel ist, die konkrete Form des Gesehenen in
der abstrakten Bildgesetzlichkeit zu klären.
1919 unterschreibt Feininger das Programm des „Arbeitsrats für Kunst“, der versucht, die Novemberrevolution 1918 auch auf den Bereich der Kunst auszudehnen. Zugleich beruft ihn Walter Gropius als ersten Lehrer, nämlich „Meister der Formlehre“ und Leiter der Druckwerkstätten, ans Bauhaus in Weimar. Auf dem Titelblatt des Bauhausmanifests von 1919 ist sein Holzschnitt „Kathedrale” abgebildet. Besonders das Weimarer Land, aus dem Julia stammte, mit Dörfern wie Oberweimar, Vollersroda und Gelmeroda, die er mit dem Fahrrad erkundete, fesselten seine Phantasie.
Vor allem tat es ihm die kleine gotische Dorfkirche von
Gelmeroda an, die er in unzähligen Naturnotizen und Gemälden festhielt und die zum
Symbol einer romantisch verklärten Märchenwelt wurde, die er in seine anderen
Werke einfließen ließ und die von seltsam überlängten und historisch
gekleideten Menschen bevölkert sind. Etwa seit Anfang der 1920er Jahre
erschienen Städte und Dörfer im Lichte einer eingefrorenen Weltentrücktheit und
Spiritualität und bezeichnen Feiningers romantische Hinwendung zu einer Welt,
die durch Massengesellschaft und Industrialisierung vor dem Untergang stand und
nur noch in einer illusionären „Traumstadt“ zu finden war.
„einfach wonnig“
1923 hatte er eine große Ausstellung in New York und gründete
im Jahr darauf mit Kandinsky, Paul Klee und Alexej von Jawlensky die Künstlergemeinschaft
„Die Blaue Vier“, die 1925 wiederum in New York ihre erste große Ausstellung
hat. „Es hat ausgeweimart, meine Herren, wir gehen jetzt dessauern“ schrieb er
im selben Jahr in einem Brief an Julia. Gemeint war der bevorstehende Umzug des
Bauhauses nach Dessau, nachdem es in Weimar infolge von Eingaben der
thüringischen Handwerkerschaft und des deutsch-völkischen Blocks im Thüringer
Landtag geschlossen worden war.
Im Jahr der Eröffnung 1926 waren die Meisterhäuser fertiggestellt worden, auch Feininger konnte mit seiner Familie eine der Doppelhaushälften beziehen. Die anfänglichen Vorbehalte, die er gegenüber deren Architektur hatte, waren bald verflogen: „Ich sitze hier auf unserer Terrasse, die einfach wonnig ist“, schrieb er begeistert. Allerdings ließ sich Feininger auf eigenen Wunsch von sämtlichen Lehrverpflichtungen am Bauhaus entbinden, blieb aber bis 1932 auf Drängen Gropius‘ „Meister“. In dieser Zeit entstanden unter anderem seine vielgerühmten Stadtansichten von Halle.
Trotz seiner Erfolge als Maler und Lehrer ließ die Musik Feininger nie los. Als Autodidakt am Klavier lernte er das „Wohltemperierte Klavier“ von Johann Sebastian Bach kennen, den er glühend verehrte. Durch hartnäckiges Üben – oft mehr als sechs Stunden am Tag – konnte er bald alle 48 Präludien und Fugen auswendig spielen und von jedem beliebigen Ton aus transponieren. Er komponierte von 1921 bis 1927 dreizehn Fugen, drei für Klavier und zehn für Orgel. 1924 wurde zum ersten Mal ein Stück von ihm im Meistersaal des Bauhauses öffentlich präsentiert. Der Erfolg dieser Aufführung bestärkte ihn darin, weiter „auf autodidaktischem Wege Musik zu gestalten“.
Im Sinne einer gegenseitigen Durchdringung der Künste
versuchte Feininger aber auch, die „vielstimmig aufeinander bezogene
Komplexität und gleichzeitige Durchschaubarkeit“ der Bach’schen Kompositionen
auf seine Malerei zu übertragen und eine „klare Raumgestaltung“ sowie
thematische und formale Bezüge innerhalb der Bilder herzustellen. Besonders das
Konstruktivistische und Architektonische in seinem Malstil lässt sich aus
seiner intensiven Beschäftigung mit dem musikalischen Kompositionsprinzip der
Fuge herleiten. Es sollte bis zu seinem 50. Todestag 2006 dauern, da erstmals
eine CD mit seinen Orgelfugen erschien, interpretiert von neun verschiedenen
Organisten.
Feininger reist 1936 für eine Lehrtätigkeit am „Mills College“ in Oakland (Kalifornien) erstmals in die USA, kehrt aber Ende des Jahres zunächst nach Berlin zurück. Zuvor hatte er den promovierten Juristen und Bauhaus-Studenten Hermann Klumpp kennengelernt und sich mit ihm angefreundet. Klumpp hat dann 64 Feininger-Bilder gerettet und nach Quedlinburg überführt, nachdem er dem Ehepaar geholfen hatte, am 11. Juni 1937 Deutschland in Richtung USA zu verlassen. Feininger arbeitete als freier Maler in New York und entwirft 1939 Wandbilder für die Weltausstellung in New York. Während die ersten Exilbilder noch stark von den Erinnerungen an die Heimat Deutschland geprägt sind, werden die Wolkenkratzer Manhattans in den folgenden Jahren zu seinem neuen Bildmotiv.
1944 stellte er eine Retrospektive im Museum of Modern Art
aus, wurde 1947 zum Präsidenten der Federation of American Painters und
Sculptors gewählt und ein Jahr vor seinem Tod zum Mitglied des National
Institute of Arts and Letters ernannt. Feininger beteiligte sich 1953 an der
dritten Jahresausstellung des Deutschen Künstlerbundes in Hamburg sowie 1955 der
ersten „documenta“ und stellte auch in Frankfurt, Baden-Baden und Düsseldorf
aus. Er entwirft ein Wandbild für den Passagierdampfer „Constitution“ und malt
zuletzt vor allem Aquarelle. Am 13. Januar 1956 starb er in New York und wurde
dort auch begraben. Seine Frau wird ihn um 14 Jahre überleben. Neben Radwegen
auf Usedom und in Thüringen wurde ein Asteroid nach ihm benannt und eine
Sondermarke der Deutschen Post für ihn aufgelegt.
„ein Versäumnisurteil
erlassen“
Sein Erbe führte allerdings noch zu einer kulturpolitischen
Posse zwischen der DDR und den USA. Denn sind die 64 geretteten Bilder Klumpps
Eigentum oder gehören sie Feiningers Söhnen? Darüber wurde seit 1971 am
Bezirksgericht Halle verhandelt. Das Urteil 1976 ist eindeutig: Die
überwiegende Mehrheit der Bilder gehört den Amerikanern. Doch inzwischen haben
sich die DDR-Behörden eingeschaltet. Als „schützenswertes Kulturgut“ dürfen sie
nach DDR-Recht nicht außer Landes gebracht werden.
1983 platzt den amerikanischen Anwälten der Geduldsfaden: Sie verklagen die DDR vor einem New Yorker Gericht. DDR-Außenminister Oskar Fischer richtet folgende Worte an das SED-Politbüro: „Geht dem Gericht eine termingerechte Erwiderung nicht zu, kann ein Versäumnisurteil erlassen sowie Antrag auf Zwangsvollstreckung gestellt werden.“ Nun kommt endlich Bewegung in die Verhandlung. Die Amerikaner geben ein wenig Raubkunst von 1945 zurück und Feiningers Söhne bekommen ihr Erbe.
Hermann Klumpp jedoch gerät mit den ihm verbliebenen Werken
in die Zwickmühle: Solche Kulturschätze in privater Hand sind dem
Kulturministerium ein Dorn im Auge. In einer internen Vorlage des Amtes für
Rechtsschutz heißt es: „Klumpp ist nicht bereit, mit staatlichen Institutionen
zur Sicherung und Nutzung der Sammlung zusammenzuarbeiten.“ Schließlich gelingt
es doch: der Rat des Kreises Quedlinburg gründet 1986 die
Lyonel-Feininger-Galerie und Hermann Klumpp übereignet ihr seine Sammlung. Als
wenige Tage nach Feiningers 30. Todestag die Feininger-Galerie in der Domstadt eröffnet
wird, erinnerte eine Gedenktafel auch an ihn. Das Museum ist seit 2014 Teil der
Kulturstiftung Sachsen-Anhalt, beherbergt einen der weltweit umfangreichsten
geschlossenen Bestände von Grafiken, Radierungen, Lithografien und Holzschnitten
des Künstlers und ist zudem das einzige Feininger-Museum in Europa.
Die minderheitenfreundlich getarnte Einmischung in die inneren Angelegenheiten Ungarns einerseits – die Feigheit vor tatsächlich homophoben Nationen andererseits: Nie entlarvten sich Doppelmoral und Gratismut westlicher Dekadenz besser als unter dem Symbol des Regenbogens im „Pride Month“.
Meine neue Tumult-Kolumne, die gern verbreitet werden kann.
Thomas Burmeister erkannte bei dpa ein Leben, „in dem unentwegt Flaschen geleert, Fische geangelt,
Frauen geliebt und Viecher aller Art geschossen wurden, kein Kriegsschauplatz
ausgelassen und nun auch noch eine neue wunderbare Droge entdeckt wurde –
Afrika.“ Und dort kam er 1954 bei Flugzeugabstürzen gleich zweimal fast ums
Leben. Der erste ereignete sich bei einem Sightseeing-Trip in Belgisch-Kongo,
der zweite tags darauf auf dem Weg ins Hospital in Entebbe. Der
schwergewichtige Autor konnte sich nur retten, indem er die Flugzeugtür mit seinem
Schädel aufbrach. Er verlor Gehirnflüssigkeit, erlitt Risse in Nieren, Milz und
Leber, eine Quetschung des Rückenwirbels und Verbrennungen auf dem Kopf. Aber
er war dem Tod so knapp entkommen, wie es sich für einen echten Abenteurer
gehört. Doch es war der Beginn seines quälend lang andauernden physischen
Verfalls.
Er ist ein Mann, der fünf Frauen verschliss und nur eine davon nicht zu seiner Ehefrau machen konnte: Die Krankenschwester Agnes von Kurowsky pflegte den Kriegsverwundeten im Lazarett in Italien. Aus dieser Affäre entsteht 1929 sein einziger Liebesroman „In einem anderen Land“. Der Enttäuschung über die Frau, die ihn verschmäht hat, macht er Luft, indem er sie im Roman sterben lässt. Der Tod, eine Situation, die der Mensch nicht verändern kann. Der Moment des Todes hat den Schriftsteller von jeher so fasziniert, dass er ihn am liebsten hätte zu Eis erstarren lassen. Einfach aus Angst, dass er eintritt, aber auch, um zu erforschen, warum. Früh wird er mit gewaltsamem Tod konfrontiert, nicht nur in diesem „anderen Land“ im ersten, sondern auch im Deutschland des zweiten Weltkriegs. Grund genug, um ihn in sein Schaffen einzubeziehen, sich zur Aufgabe zu machen, den Tod zu entmystifizieren, um dem menschlichen Leben einen Hauch von Ewigkeit zu verleihen.
Seine Gegner verurteilten ihn wegen seiner brutalen Dialoge,
seine Verehrer liebten ihn für die oft melancholisch anmutenden Erzählpassagen,
für die Sehnsucht, die nicht nur den Protagonisten, sondern auch den Leser in
die Tiefen seiner Seele führt. So paradox dieser lakonische Stil war, so
paradox war der Autor selbst. Als psychisch kranker Alkoholiker gilt er, und
diesem Umstand schreibt man auch seinen Selbstmord zu: „Er war ein Mann der
Extreme, er wollte leben und töten, lieben und kämpfen – und alles am besten
exzessiv“, so Anne Lederer im Ärzteblatt.
Seine Hobbys hatten allesamt mit dem Tod zu tun: Krieg und Hochseefischen,
Stierkampf und Großwildjagd – ein ausgestopfter Löwe und die Hörner eines Kudu
zieren noch heute sein Archiv in der John F. Kennedy Library in Boston. Ein
Macho also, dessen Männlichkeitswahn gar die Liebe zu sich selbst übersteigt,
so dass er sich nach dem Genuss eines New York Strip Steak mit gebackener
Kartoffel und Sour Cream am 2. Juli 1961 mit seiner Lieblingsflinte, seiner „glatten,
braunen Geliebten“ erschoss: Ernest Hemingway.
„die Kunst des
Weglassens“
Geboren wurde Ernest Miller Hemingway am 21. Juli 1899 als
zweites der insgesamt fünf Kinder eines Landarztes und einer eher erfolglosen
Opernsängerin in Oak Park/Illinois. Von 1913 bis 1917 besuchte er die Oak Park
High School und begann seine Laufbahn als Lokalreporter in Kansas City. 1918
meldete er sich im Ersten Weltkrieg freiwillig als Fahrer des „American Field
Service“, eine Art Sanitätstransportgruppe, an der norditalienischen und
französisch-deutschen Front, wo er zweimal schwer verwundet und von Kurowsky monatelang
gesundgepflegt wurde. 1919 kehrte er in die USA zurück, begann sich erstmals an
Prosa zu probieren und wurde 1920 erst Mitarbeiter beim Toronto Star und dann Polizeireporter in Chicago. Hier lernte er
seine erste Liebe Hadley kennen und heiratete sie sogleich. Private und
berufliche Reisen in die Schweiz, nach Italien, Spanien und in den Nahen Osten
folgten.
1921 zog er nach Paris und verschrieb sich der Schriftstellerei ganz, wobei er die Bekanntschaft anderer dort lebender Amerikaner machte, darunter F. Scott Fitzgerald, Ezra Pound und Gertrude Stein, die zwei Jahre später auch Taufpatin seines ersten Sohns John Hadley Nicanor wurde. Stein und Pound lehrten ihn die Kunst des Weglassens und sahen seine Texte durch. Hemingway revanchierte sich, indem er Steins Arbeiten korrigierte und Pound das Boxen lehrte. Das Jahr 1923 führte ihn erstmals ins spanische Pamplona, der Stadt der Stiertreiberei und des Stierkampfs, der für Hemingway eine besondere Bedeutung hatte, betonte er doch Eleganz, Mut und Männlichkeit.
Im selben Jahr erschien seine Erstlingsanthologie „Three
Stories and Ten Poems“ mit seiner Premierenerzählung „Up in Michigan“ (1921).
Weitere Kurzgeschichten folgten, die geprägt sind von Hemingways hochgelobtem
Stil, auch komplizierte Gefühlsverzweigungen durch eine einfache Sprache und
Wortwahl zum klaren Ausdruck zu bringen. Viele dieser Shortstories sind heute
Hemingway-Klassiker wie etwa „Indianerlager“, „Der Doktor und seine Frau“ oder
„Das Ende von Etwas“. 1926 erzielte er einen ersten Erfolg mit dem Roman
„Fiesta“, der die „Lost Generation“ thematisiert, die den ersten Weltkrieg
miterlebte.
1927 wurde „Männer ohne Frauen“ veröffentlicht, 14
Kurzgeschichten, die von Krieg, Sport und dem Mann-Frau-Verhältnis handeln. Er lernt
Pauline Pfeiffer kennen, seine zweite Frau, die er 1927 heiratete, nachdem er
sich im gleichen Jahr von Hadley hatte scheiden lassen. Nach sechs Jahren
Aufenthalt in Paris, in denen Hemingway den Wandel vom Journalist zum
Schriftsteller vollzog, ging er mit seiner neuen Ehefrau im Frühjahr 1928
zurück in die USA und bezog in Haus in Key West. Mit Patrick und Gregory
folgten bis 1931 zwei weitere Söhne.
Hemingway reiste 1929 abermals nach Spanien und veröffentlichte 1932 den Roman „Tod am Nachmittag“, in den seine Leidenschaft für den Stierkampf einfloss. Im selben Jahr nahm er mit seiner Frau erstmals an einer Safari in Afrika teil. 1935 erschien „Die grünen Hügel von Afrika“, in dem er Erlebnisse und Eindrücke der Reise verarbeitete, 1936 dann die Kurzgeschichte „Schnee auf dem Kilimandscharo“. Davor hatte er das zwölf Meter lange Fischerboot „Pilar“ gekauft und unternahm Segeltörns in der Karibik.
1937 ging Hemingway im Auftrag der North American Newspaper
Alliance NANA erneut nach Spanien und publizierte im Jahr darauf „Wem die
Stunde schlägt“, in dem er seine Erlebnisse aus dem spanischen Bürgerkrieg
verarbeitete und den viele Kritiker als seinen gelungensten Text lobten.
Parallel dazu betrieb er die Scheidung von seiner zweiten Ehefrau Pauline und lebte
mit seiner dritten Ehefrau, der Journalistin Martha Gellhorn, ab 1939 auf Kuba.
Das Ehepaar erwarb nahe Havanna das Landgut Finca La Vigía im später
eingemeindeten San Francisco de Paula. Er nahm die „Pilar“ mit und wurde Stammgast
in der Bar El Floridita, wo heute eine Bronzestatue von ihm steht und der
legendäre „Hemingway“-Cocktail entstand: Ein Daiquiri ohne Zucker, dafür mit doppeltem
Rum („Papa Doble“), ergänzt um Grapefruitsaft und Maraschinolikör. Auf Kuba
wird Hemingway heute noch verehrt: Es gibt Museen, Literaturfestivals und
Münzen.
„eine neue Milde“
1941 wird er vom KGB angeworben, als „dilettantischer Spion“
aber rasch wieder fallen gelassen. 1943 begab er sich samt Frau in das
asiatische Kriegsgebiet des Zweiten Weltkrieges, im Jahr darauf fuhr er allein
nach Europa und nahm zunächst an der Ardennenoffensive als
Kriegsberichterstatter teil. Zeitweilig wechselte er auf die Seite der Aktiven
und führte in einer umstrittenen Rolle als Kommandeur oder Berater eine kleine
Gruppe von Widerstandskämpfern in Rambouillet. Im August 1944 erlebte er die
Befreiung von Paris mit und beobachtete als Kriegsreporter im November 1944 die
Schlacht im Hürtgenwald. Die grausamen Kämpfe an der deutschen Westfront bei
Aachen führten bei ihm nicht nur zur Veränderung seines bisher kriegsverherrlichenden
Weltbilds, sondern auch zu lange andauernden Irritationen bezüglich seines
Verhältnisses zur Wehrmacht.
„Einmal habe ich einen besonders frechen SS-Kraut umgelegt. Als ich ihm sagte, dass ich ihn töten würde, wenn er nicht seine Fluchtwegsignale rausrückte, sagte der Kerl doch: Du wirst mich nicht töten. Weil du Angst davor hast und weil du einer degenerierten Bastardrasse angehörst. Außerdem verstößt es gegen die Genfer Konvention. Du irrst dich, Bruder, sagte ich zu ihm und schoss ihm dreimal schnell in den Bauch, und dann, als er in die Knie ging, schoss ich ihm in den Schädel, so dass ihm das Gehirn aus dem Mund kam, oder aus der Nase, glaube ich.“ Das schrieb Hemingway am 27. August 1949 seinem Verleger Charles Scribner. „Ich töte gern“, verlautbarte er und schrieb am 2. Juni 1950, dass er 122 Deutsche getötet habe. Eines seiner letzten Opfer sei ein junger, auf einem Fahrrad flüchtender Soldat gewesen – „ungefähr im Alter meines Sohnes Patrick“. Er habe ihm mit einer M1 von hinten durch das Rückgrat geschossen. Die Kugel zerfetzte die Leber.
Dass er gegen die Genfer Konvention verstoßen hat,
verschweigen selbst seine Bewunderer nicht. Mit der Zahl und Details
konfrontiert, wiegeln sie aber meist ab: Man müsse verstehen, es sei Krieg
gewesen. Hemingway hat zwar immer dick aufgetragen, den Macho demonstriert –
aber was trieb ihn ohne Not zu diesem Eingeständnis? Die Briefe blieben bis
heute in allen Ausgaben unkommentiert. Obwohl es keinen Zeugen für die 122
Morde gibt, mit denen er prahlt, sind jedoch nicht wenige Verehrer entsetzt
über den „Massenmörder an deutschen Kriegsgefangenen“ (Alfred Mechtersheimer):
Die Stadt Triberg im Schwarzwald setzte daraufhin 2002 ihr Festival „Hemingway
Days“ ab. Ein Gutachten der Universität Hamburg von 2008 kommt zu dem Ergebnis,
es handle sich bei den einschlägigen Briefpassagen um „fiktionale“ Aussagen.
Hemingway fällt in eine tiefe Depression; der Kriegsroman,
den alle von ihm erwarten, wird nie erscheinen. „Die reine Friedensliebe ist
zwar nicht über ihn gekommen, aber eine neue Milde und ein überraschender
Sanftmut fallen nach 1945 schon an ihm auf“, konstatiert Wolfgang Stock. Ein
Jahr nach dem Krieg begann Ernest Hemingway die Schreibarbeiten zu dem Romanvorhaben
„Land, See und Luft“, aus dem insgesamt vier Romane/Novellen wurden, von denen
drei erst posthum erschienen. Er ließ sich von seiner dritten Frau Martha
scheiden und ging seine vierte Ehe mit Mary Welsh ein, die die Finca nach
seinem Tod dem kubanischen Staat schenken wird.
1948 begann er einen Italientrip, den er zu einer
Europa-Reise ausdehnte. Bei einem Venedig-Aufenthalt lernte er die damals
18-jährige Adriana Ivancich kennen, die ihn zu dem Roman „Über den Fluss und in
die Wälder“ inspirierte. Die platonische Liebesgeschichte belastete die Ehe des
Schriftstellers bis in die 1950er Jahre. 1952 erschien „Der alte Mann und das
Meer“, das sein wohl bekanntestes Werk wurde. Innerhalb von zwei Tagen
verkaufte sich das Buch fünf Millionen Mal – das letzte, das zu seinen
Lebzeiten erschien. Hemingway wurde 1953 dafür mit dem Pulitzer-Preis geehrt
und 1954 mit dem Nobelpreis. Da er gar nicht gerne redete, erschien er nicht
einmal zur Verleihung und ließ stattdessen in seinem Namen eine knappe
Dankesrede verlesen, in deren Manuskript es unter anderem heißt: „Ein
Schriftsteller sollte das, was er zu sagen hat, nicht sagen, sondern
niederschreiben.“
„soll er aussparen,
was ihm klar ist“
Im Mittelpunkt der Handlung steht der alte kubanische Fischer Santiago, der tagelang bei Wind und Wetter, Nacht und Nebel mit einem riesigen Marlin ringt, den er zwar töten und längsseits vertäuen kann, der aber letztlich von Haien verspeist wird, so dass er am Ende mit leeren Händen wieder in den Hafen einläuft. Einige Interpreten sehen darin hintergründig die Beziehung zwischen Mensch und Gott, die Novelle handle im religiösen wie im nicht-religiösen Sinne von der Begrenztheit des Menschen – „Man kann vernichtet werden, aber man darf nicht aufgeben“, ruft Santiago immer wieder sich selbst zu – und der Allmacht der Natur. Die Novelle wurde mehrfach verfilmt: Bereits 1958 mit Spencer Tracy, 1989 entstand als Neuverfilmung ein Fernsehfilm mit Anthony Quinn.
Vorbild für Santiago war der 2002 mit 104 Jahren gestorbene Fischer Grigorio Fuentes, der für 250 Dollar im Monat und freiem Gin und Whiskey Bootsmann der Pilar wurde: „Ich war sein Koch, Seemann, Kapitän, Begleiter“, sagte er dem Spiegel. Fragte man ihn, warum er das Buch nie gelesen habe, antwortete er nur, er wisse ja, was drinstehe. Nur Kritik an seinem Kapitän ließ Fuentes nicht zu. Einmal soll ihn ein argentinischer Fernsehmann gefragt haben, ob Hemingway nicht ein manischer Säufer und Frauenheld gewesen sei. Da erzählte Fuentes keine seiner Geschichten, sondern antwortete dem frechen Journalisten mit einem Fausthieb.
Die Novelle bedeutet sicher den Höhepunkt seines
literarischen Schaffens und zugleich auch den Gipfel seines „Eisbergmodells“ – ein
erzähltheoretischer Ansatz des „modernen Klassizismus“, den er in einer
vielzitierten Passage in „Tod am Nachmittag“ entwickelte: „Wenn ein
Prosaschriftsteller genug davon versteht, worüber er schreibt, so soll er
aussparen, was ihm klar ist. Wenn der Schriftsteller nur aufrichtig genug
schreibt, wird der Leser das Ausgelassene genauso stark empfinden, als hätte
der Autor es zu Papier gebracht. Ein Eisberg bewegt sich darum so anmutig, da
sich nur ein Achtel von ihm über Wasser befindet.“ Der eigentliche,
tiefergehende oder symbolische Bedeutungsgehalt einer kunstvoll aufgebauten
Erzählung liegt demzufolge größtenteils im Verborgenen und muss vom Leser durch
dessen eigene Vorstellungskraft oder Erfahrung aktiv erschlossen werden: Der
Subtext dominiert den Text. „Er ist der Meister des hochdramatischen
Schweigens, der Erfinder des schreienden Understatements“, befand Marcel
Reich-Ranicki.
Auf den Nobelpreis folgten eine Europareise und eine Afrikasafari mit den beiden Abstürzen. Er schreibt ohne Ende und zeigt seine „neue Milde“, indem er das Schicksal seiner angefahrenen Katze „Uncle Willie“ beklagt. Um sie von ihren Qualen zu erlösen, tötete Hemingway sie mit einem Kopfschuss – und war am Boden zerstört: „Ich habe Menschen erschießen müssen, doch nie jemanden, den ich gekannt und elf Jahre lang geliebt habe“, klagte er am 22. Februar 1953 in einem Brief. „Nicht jemanden, der schnurrte, mit zwei gebrochenen Beinen.“ 1959 reiste er letztmals nach Spanien. In dieser Zeit soll er auch für die CIA tätig gewesen sein und die Pilar mit einem Maschinengewehr und Handgranaten sowie einem Feuerlöscher voll Sprengstoff ausgestattet haben. „Mein Vater“, sagte Patrick Hemingway dem Spiegel, „wollte eben ein bisschen Krieg spielen … Bis zu seinem Ende träumte er von der Rückkehr auf die Insel, die er gegen Deutschlands U-Boote zu schützen versucht hatte.“
Da sich Hemingways Gesundheitszustand Ende der 1950er Jahre
zusehends verschlechterte und die Beziehungen zwischen Kuba und den USA nach
der kubanischen Revolution ebenfalls zerrüttet waren, entschied das Ehepaar,
wegen der besseren Behandlungsmöglichkeiten in die USA zurückzukehren. 1959
erwarb Hemingway ein Landhaus in Ketchum in den Ausläufern der Rocky Mountains.
1960 litt Hemingway mehrfach wieder an Depressionen, weshalb er in eine Klinik
kam und mittels Elektroschock-Therapie behandelt wurde. 1961 unternahm er
bereits mehrere Selbstmordversuche, bevor er ernst machte – wie übrigens sein
Vater 1928 auch, wie seine Schwester Ursula und sein Bruder Leicester. 35 Jahre
nach Ernest nahm sich als Fünfte seine Enkelin Margaux, Schauspielerin und
Fotomodell, ebenfalls das Leben. Mediziner vermuten eine bipolare Störung in
der Familie.
„Angst vor dem
Nichts“
Nach seinem Tod wurden zahlreiche Manuskripte aus seinem
Nachlass veröffentlicht, darunter „Inseln im Strom“ (1970) und „Der Garten Eden“
(1986). Sein Buch „Die Wahrheit im Morgenlicht“, in dem Hemingway seine letzte
Safari in Kenia beschreibt, die er 1953 in Begleitung seiner vierten Frau und
seines Sohnes Patrick unternahm, wurde erst 1999 publiziert. Das Buch „Paris –
Ein Fest fürs Leben“ (1964) ist nach den Anschlägen vom 13. November 2015, bei
denen in Frankreich 130 Menschen getötet wurden, plötzlich zum Bestseller und
zum Symbol geworden: Täglich sollen es bis zu 500 Ausgaben sein, die über den
Ladentisch gehen – vorher waren es laut „Le Figaro“ zehn am Tag. Mitauslöser
für den Hemingway-Boom war ein TV-Beitrag des französischen Fernsehsenders
BFMTV, in dem eine Frau die Lage in Paris reflektierte und dabei das Buch
erwähnte. „Es ist sehr wichtig, ‚Paris – ein Fest fürs Leben‘ von Hemingway
mehrmals zu lesen, denn wir sind eine sehr alte Zivilisation und wir tragen
unsere Werte sehr stolz“, sagte die 77-Jährige kurz nach den Anschlägen – der
Autor berichtet ganz einfach von seinen Pariser Erlebnissen 1921 – 1926.
Seinem Leben widmeten sich mindestens acht Dokumentationen und Theaterstücke, darunter 1996 „In Love and War“ mit Chris O’Donnell und Sandra Bullock oder 1999 „Hemingway Adventure“ vom „Monthy Python“ Michael Palin. „Zeitweise scheint ihm seine perfekte Selbstinszenierung wichtiger gewesen zu sein als seine Prosa“, befindet Reich-Ranicki in der FAZ. „Auf der Suche nach der Einheit von Wort und Tat schreckte er vor keinerlei Konsequenzen zurück, kein Risiko war ihm zu groß, um die Synthese von Leben und Literatur zu verwirklichen. Wie dieser Odysseus sein eigener Homer wurde, so wollte dieser Homer um jeden Preis sein eigener Odysseus sein. Er hat zunächst erzählt, was er erlebt hat, während er später zu erleben bemüht war, was er erzählen wollte.“ Seit 1980 richtet die Hemingway Look-Alike Society einen Wettbewerb in Key West aus, auf dem der Mann gesucht wird, der Ernest Hemingway am ähnlichsten sieht.
Die besondere Aussage der Werke Hemingways läge in der
Symbolkraft der Natur, meint Lederer. Im Schutz der Bäume, in der Macht
gewaltiger Berge, in der Tiefe der Täler und der Unendlichkeit des Meeres
findet der Hemingway-Protagonist Zuflucht. Die Natur und ihre Gewalten deuten
ihm seinen Weg, wenn der Autor es regnen und stürmen lässt, wenn die Sonne
brennt und der Schnee fällt: „Die Natur ist oft das Letzte, worauf sich der
Mensch bei Hemingway verlassen kann, und oft auch das Einzige, mit dem zu
kommunizieren sich für ihn lohnt.“
Bei Hemingway findet jeder seinen Frieden in der Natur – aber
nur so lange, wie er auch mit ihr allein ist. Denn es ist die Menschheit, die
einen immer wieder aufmerksam macht auf die eigenen Schwächen. Gelingt es
nicht, den Konflikt zu bewältigen, dann steht am Ende aller Schwächen der Tod.
Der Mensch als intelligentes Wesen besitzt dann, gegenüber der Natur, das
Privileg, ihn selbst eintreten zu lassen. Diese Freiheit hat Ernest Hemingway
sich genommen, bilanziert Lederer: „Größer als die Angst vor dem Nichts war die
Angst, diesen Moment nicht selbst bestimmen zu können“.