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An ihm scheiden sich die Geister bis heute: War er genialischer Kriegsherr und Hüter des Erbes der Französischen Revolution oder Kriegsverbrecher und Knechter der Völker? Die Geschichte seines Lebens zeichnet den fantastischen Weg eines verschrienen Insulaners zum mächtigsten Mann Europas. Sein Name steht für den Einzug der Moderne in Europa und zugleich für das neue, totale Gesicht des Krieges: „Man kann keinen Eierkuchen backen, ohne ein paar Eier zu zerschlagen“ gehörte zu seinen Weisheiten. Er soll mehr Schlachten geführt haben als Karl der Große, Hannibal und Cäsar zusammen: Napoleon Bonaparte. Am 5. Mai 1821 starb er im Exil auf St. Helena.

Als Napoleone Buonaparte kommt er am 15. August 1769 in Ajaccio zur Welt, der Hauptstadt der Insel Korsika. Von zwölf Geschwistern werden sieben groß werden. Seine Familie stammt ursprünglich aus Italien, seine Eltern gehören dem niederen Adel an. Der Vater arbeitete als Advokat, Richter und als Sekretär von Pascal Paoli, einem Kämpfer, der sich für die politische Unabhängigkeit Korsikas einsetzte. Der Freiheitsgedanke spielte dadurch schon in Napoleons Kindheit eine wichtige Rolle. Der Junge begann seine schulische Ausbildung in der französischen Stadt Autun und punktete dort vor allem in den Fächern Mathematik und Geschichte. Mit neun Jahren kann Napoleon dank eines königlichen Stipendiums für verarmte Adlige auf die Militärschule von Brienne gehen. Dort ist er der einzige Korse und wird wegen seines Insel-Akzents früh von seinen Mitschülern ausgegrenzt. Rasch lernt er aber, sich durch militärisches Geschick Achtung zu verschaffen, und wurde aber aufgrund seiner Fähigkeiten schnell zu einer der besten Militärschulen Frankreichs versetzt.

1785 verlässt er das „École royale militaire“ in Paris und beginnt seine Karriere beim Militär. Im gleichen Jahr starb sein Vater an Magenkrebs, und Napoleon übernahm die Rolle des Familienoberhaupts. Er kümmerte sich um seine Mutter und Geschwister. Um seine Mutter zu entlasten, nahm er seinen elfjährigen Bruder Louis zu sich und kümmerte sich um dessen Erziehung. Währenddessen arbeitete er als Leutnant beim Militär. In seiner Freizeit las er viel, vor allem Literatur aus der Antike, aber auch Goethes „Werter“ hat er verschlungen. Der Französischen Revolution von 1789 verdankt Napoleon seine steile Karriere in der Armee: Er stand hinter dem Ziel des Aufstands unter dem Motto „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ gegen das strenge Regime Ludwigs XVI, wollte er doch, dass sein Heimatland Korsika endlich frei wird und die Bürger ihr verarmtes Land wieder aufbauen können.

Napoleon. Quelle: Von Jacques-Louis David – zQEbF0AA9NhCXQ at Google Cultural Institute maximum zoom level, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=22174172

Als er 1793 erfolgreich die Artillerie der Revolutionstruppen in der Schlacht um Toulon gegen die königstreuen Royalisten führt, wird er zum Brigadegeneral befördert. Doch die universalistischen Prinzipien der Französischen Revolution hatten nun mal eine kolonialistische Kehrseite. Offenkundig wurde dies während der Invasion auf dem Gebiet des heutigen Haiti. In der dortigen französischen Kolonie hatten sich die Sklaven im Jahr 1791 befreit. Bonaparte schickte seinen Schwager Charles Leclerc mit 25.000 Soldaten auf die Insel, um die Revolution zu brechen – was misslang. Zudem ließ Bonaparte in allen französischen Kolonien die Sklaverei wiedereinführen.

„Ein Naturereignis“

Dann der Durchbruch: 1796 führt Napoleon den Italienfeldzug. Der Sieg gegen Österreich und die Besetzung Belgiens, der Lombardei und des Rheinufers ebnen ihm den Weg an die Spitze der Macht. Zugleich gelingt ihm der Aufstieg in der französischen Gesellschaft: Er heiratet er die höhergestellte Joséphine de Beauharnais, nachdem er eine unglückliche Romanze mit Désirée Clary hatte, der späteren Königin von Schweden, und sie mit dem autobiographisch gefärbten Roman „Clisson et Eugénie“ bewältigen wollte, der über das Entwurfsstadium aber nicht hinauskam.

1798 bricht er auf Befehl der Revolutionsregierung zur „Ägyptischen Expedition“ auf. Dieser Feldzug an den Nil wird zum Triumph: Napoleon erreicht nicht nur die Loslösung Ägyptens vom Osmanischen Reich, er verursacht mit dem Feldzug auch einen kulturellen Boom – das Interesse am Ägypten der Pharaonen lebt wieder auf. Den moralischen Tiefpunkt des Feldzugs stellte 1799 die Belagerung der osmanischen Stadt Jaffa dar, bei der Napoleon mehrere Tausend Gefangene massakrieren ließ. Christian Morgenstern kommentierte: „Napoleon war ein Naturereignis. Ihn einen großen Schlächter schmähen heißt nichts anderes, als ein Erdbeben groben Unfug schelten oder ein Gewitter öffentliche Ruhestörung.“ Seine große Popularität in der Armee und im Volk verhilft ihm 1799 zum Sturz der Revolutionsregierung. Am 13. Dezember lässt er sich für zehn Jahre zum obersten von drei Konsuln wählen und hat praktisch nun die alleinige Macht.

Er zentralisiert das junge nachrevolutionäre Staatsgefüge Frankreichs und veranlasst Reformen in der Justiz, im Militär und in der Bildung. 1804 veröffentlicht er den „Code civil“, das erste bürgerliche Gesetzbuch Frankreichs. Zentrale Freiheitsgedanken der Revolution gießt Napoleon damit in eine bis heute gültige Gesetzesform. Seine Kriegszüge spülen Geld in die Staatskassen, er kann den französischen Haushalt sanieren. Nachdem er sich 1802 schon zum Konsul auf Lebenszeit hat ernennen lassen, folgt 1804 die Krönung zum Kaiser von Frankreich. Dabei wagt Napoleon den Eklat: In der Pariser Kathedrale Notre Dame entreißt er Papst Pius VII. die Krone und krönt sich kurzerhand selbst. Das war die letzte Konsequenz einer besonderen Form der Politik, die keineswegs zur Gänze vergangen ist: das von oben angeordnete Plebiszit, das den charismatischen Führer bestätigt. Napoleon hat sich seiner in vier Situationen bedient, in denen er seine Macht sprunghaft ausweiten wollte, etwa als er 1802 über sein lebenslanges Konsulat abstimmen ließ oder 1804, als er nach der Erblichkeit der Kaiserwürde fragte. Der „Bonapartismus“ war geboren, eine Diktatur mit plebiszitären Elementen.

Die Schlacht bei den Pyramiden. Quelle: Von Louis-François Lejeune – histoire-image.org. Voir aussi : Collections du château de Versailles, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=153767

Getrieben vom Willen, wie sein Vorbild Karl der Große Herrscher Europas zu sein, führt er als Kaiser Napoleon I. seine aggressive Expansionspolitik fort. Er erobert Italien und Holland und setzt seine Brüder als Könige der Vasallenstaaten ein. In den eroberten Gebieten, besonders auf deutschem Boden, ordnet er drastische Gebiets- und Rechtsreformen an. Seinen größten militärischen Erfolg feiert Napoleon 1805 bei der „Dreikaiserschlacht“ von Austerlitz. Dort schlägt er Österreich und Russland. Der Friedensvertrag von Pressburg versetzt dem schon lange angezählten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation den Todesstoß. Er war ab 1805 auch König von Italien und bis 1813 Protektor des Rheinbundes.

Der war am 16. Juli 1806 aus anfangs 16 Ländern gegründet worden mit der Pflicht zur militärischen Unterstützung Frankreichs und zum Austritt aus dem Heiligen Römischen Reich. Daraufhin legte Franz II. die Kaiserkrone nieder. Bereits 1808 hin gehörten fast alle deutschen Staaten außer Österreich und Preußen zu diesem „Dritten Deutschland“. Umfangreiche Zentralisierung des Staatswesens nach französischem Vorbild – im oft noch ständisch organisierten „Flickenteppich“ Deutschland – ging mit der Einführung von Prinzipien der Französischen Revolution, wie Gleichheit, Eigentumsrechte und dergleichen, aber auch mit der Reform des Agrar-, Bildungs-, Wirtschafts-, Steuer- und Finanzwesens einher.

„ein Haufen Scheiße“

Als Feldherr besticht Napoleon durch die Schnelligkeit seiner Entscheidungen und die militärische Aufklärung über den Feind. Seine Späher besorgen Informationen über die gegnerischen Pläne aus allen möglichen Quellen. Noch am Vorabend der Schlacht von Austerlitz ändert er seine Strategie komplett – mit Erfolg. Seit Austerlitz genießt seine Armee einen legendären Ruf. Mit raschen Angriffskriegen bringt er eine neue Kriegsphilosophie auf. Seine Kriege sind total, sie stellen die Existenz ganzer Staaten in Frage und mobilisieren ganze Völker. Napoleons Zeitgenosse Carl von Clausewitz schreibt 1812: „Nun hatten die Mittel, welche aufgewandt, die Anstrengungen, welche aufgeboten werden konnten, keine bestimmte Grenze mehr; die Energie, mit welcher der Krieg selbst geführt werden konnte, hatte kein Gegengewicht mehr, und folglich war die Gefahr für den Gegner die äußerste.“

Huldigung der Rheinbund-Fürsten. Quelle: Von Charles Etienne Pierre Motte – http://talleyrand.slub-dresden.de/detail_09_03b.html, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2980899

Mit der sogenannten Kontinentalsperre schafft Napoleon sogar eine neue Kriegsform: den Wirtschaftskrieg. Um Großbritannien in die Knie zu zwingen, verhängt er 1806 einen radikalen Importstopp für sämtliche Güter der britischen Insel und ihrer Kolonien. Nachdem Preußen mit Russland ein geheimes Bündnis geschlossen hatte, wurde er am 26. August 1806 ultimativ aufgefordert, unter anderem seine Truppen hinter den Rhein zurückzuziehen. Dies betrachtete Bonaparte als Kriegserklärung und stieß im Oktober 1806 mit seinen Truppen vom Main aus durch Thüringen auf die preußische Hauptstadt Berlin vor. Die in der Schlacht bei Jena und Auerstedt geschlagene preußische Armee löste sich in den folgenden Wochen nahezu auf.

Am 7. Juli 1807 ist Napoleon auf der Höhe seiner Macht: Im Frieden von Tilsit schnürt er ein Bündnis mit Russlands Zar Alexander I. Alle Gebiete westlich der Elbe gingen verloren und wurden Grundlage für das neue Königreich Westphalen. Die von Preußen bei den Teilungen Polens 1793 und 1795 einverleibten Gebiete wurden zum Herzogtum Warschau erhoben. Insgesamt verlor Preußen etwa die Hälfte seines bisherigen Territoriums, musste zudem noch hohe Kontributionen zahlen und durfte nur noch in einem beschränkten Umfang eine Armee unterhalten. Vom Südzipfel Spaniens bis zum östlichsten Ende Polens reicht nun Napoleons Einflussgebiet. Er will einen Thronfolger und lässt daher 1809 die kinderlose Ehe mit Joséphine scheiden. Zur neuen Frau nimmt er die österreichische Kaisertochter Marie Louise. Mit ihr bekommt er 1811 seinen einzigen legitimen Sohn, Napoleon II. Allerdings hatte er mindestens zwei, nach manchen Biographen gar sechs uneheliche Kinder mit verschiedenen Mätressen.

Frankreichs Kaiser drängt es nach mehr Macht. Nach seinem Verständnis führt er Krieg, um anderen Nationen Vernunft und Freiheitsliebe beizubringen, und schlägt die Warnung seines wichtigsten Außenpolitikers, Außenminister Talleyrand, in den Wind, ein derartiges Vorhaben sei das beste Mittel, „den Freiheitsgedanken verhasst zu machen und seinen Triumph zu verhindern“. Legendär ist der Zusammenprall der beiden im Januar 1809, nachdem Talleyrand wieder einmal versucht hat, Napoleon auszutricksen. „Sie sind ein Haufen Scheiße in Seidenstrümpfen“, pöbelt der Kaiser. Sein Minister verneigt sich. Es gibt viele solcher Anekdoten. Dessen ungeachtet bricht Napoleon 1812 mit dem russischen Zaren und marschiert auf Moskau zu. Der Russland-Feldzug, zu dem er Armeen aus nahezu allen Teilen seines Einflussbereichs mobilisiert, wird Napoleons Desaster.

„Marmor, woraus man Götter macht“

Die Schlacht von Borodino konnte er zwar gewinnen, aber sie wurde zur verlustreichsten Auseinandersetzung der napoleonischen Kriege überhaupt: etwa 45.000 Tote oder Verwundete auf russischer Seite und 28.000 auf französischer Seite waren zu beklagen. Erst im Ersten Weltkrieg gab es noch höhere Opferzahlen an einem einzigen Tag. Napoleon ist nun in der Defensive. Russland verbündet sich erfolgreich mit Preußen und Österreich. Napoleon verliert schließlich die Leipziger „Völkerschlacht“ vom 16. bis 19. Oktober 1813. Die alliierten Truppen jagten ihn weiter und nahmen nach der Schlacht bei Paris am 31. März 1814 die Hauptstadt ein. Der Kaiser verlor daraufhin jegliche Unterstützung der Armee, der Politik und selbst enger Getreuer. Am 2. April 1814 sprach der Senat die Absetzung des Kaisers aus. Am 6. April dankte er zu Gunsten seines Sohnes ab.

Napoelons Rückzug aus Rußland. Quelle: Von Adolph Northen – [1][2], Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=298121

Damit waren die Alliierten nicht einverstanden. Sie verlangten vom Kaiser, bedingungslos abzudanken und boten den Vertrag vom 11. April 1814 zur Unterschrift an. Diese Offerte unterschrieb Napoleon unter dem Datum vom 12. April, nachdem er in der Nacht vom 12. auf den 13. April einen Suizidversuch unternommen haben soll. Ihm wurde die Insel Elba als Wohnsitz zugewiesen und einzig der Kaisertitel belassen. Doch durch ein Netz von Agenten wusste er genau, dass es in Frankreich nach der Restauration unter Ludwig XVIII. eine weit verbreitete Unzufriedenheit gab. Ermutigt von diesen Meldungen kehrte Napoleon am 1. März 1815 nach Frankreich zurück. Die Soldaten des 5e régiment d’infanterie, die ihn hätten aufhalten sollen, liefen zu ihm über.

Es gelingt ihm, eine gut ausgerüstete Armee von 125.000 erfahrenen Soldaten auszuheben. Er ließ eine provisorische Regierung unter Marschall Davout in Paris zurück und marschierte gegen die Allianz. Wie gewohnt plante Bonaparte, die Gegner nacheinander zu schlagen. Anfangs gelang es ihm bei Charleroi, einen Keil zwischen die britische Armee unter Wellington und die preußischen Truppen unter Blücher zu treiben. Am 16. Juni schlug er die Verbündeten in der Schlacht bei Quatre-Bras und der bei Ligny. Am 18. Juni griff Napoleon die alliierte Armee von Wellington nahe dem belgischen Ort Waterloo an. Wellington gelang es, die günstige Stellung gegen alle französischen Angriffe im Wesentlichen zu halten: Der Ruf „Ich wollte, es wäre Nacht oder die Preußen kämen“, wird ihm zugeschrieben. Die preußischen Truppen unter Marschall Blücher trafen rechtzeitig ein, Napoleon wurde geschlagen. Damit war die „Hundert-Tage-Herrschaft“ vorbei.

Die Briten verbannen ihn auf die englische Insel St. Helena, mitten in den Südatlantik. Dort stirbt Napoleon am 5. Mai 1821, vermutlich wie sein Vater an Magenkrebs. Andere Vermutungen zur Todesursache sind weitgehend vom Tisch, darunter die einer Arsenvergiftung durch die arsenhaltige Farbe (Schweinfurter Grün) in seinen Tapeten. 1840 lassen die Franzosen seine Gebeine in einem Prunksarg unter der Kuppel des Pariser Invalidendoms aufbahren. Laut Totenschein soll Napoleon 1,66 Meter gemessen haben. „Napoleon-Komplex“ nannte der österreichische Psychotherapeut Alfred Adler prompt das Verhalten, wenn Menschen ihre geringe Körpergröße durch Erfolge und Statussymbole kompensieren wollen.

Napoleons Sarkophag, Krypta des Invalidendoms, Paris. Quelle: Von Thesupermat – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15531310

Nach seinem Tod beginnt die Auseinandersetzung um die Bedeutung Napoleons für die Nachwelt. Talleyrand beurteilte die Nachricht vom Ableben seines ehemaligen Kaisers lakonisch: „Es ist nur noch eine Neuigkeit, aber kein Ereignis mehr.“ Heinrich Heine schrieb: „Napoleon ist nicht von dem Holz, woraus man Könige schnitzt – er ist von jenem Marmor, woraus man Götter macht.“ Der romantische Schriftsteller und Diplomat Chateaubriand bemerkt, nun habe „der mächtigste Lebensodem, der jemals menschlichen Lehm beseelt hat“ aufgehört zu atmen. Seit 1908 tauchte die Figur des Napoleon in mehr als 300 Spielfilmen oder TV-Produktionen auf. Damit zählt er neben Hitler zu den historischen Persönlichkeiten, die am häufigsten in Filmen zu sehen sind.

Die Verteidigung einer Doktorarbeit an der Universität in Cambridge: „Das ist das Albernste, was mir je in meinem Leben vorgekommen ist“, sagt der Doktorand, noch bevor ihm die Professoren Bertrand Russell, späterer Literaturnobelpreisträger, und George Edward Moore ihre ersten Fragen stellen können. „Er hatte mich überzeugt, dass die Probleme der Logik zu schwer für mich waren“, schreibt Russel Jahre danach. Die Diskussion bleibt kurz und der Prüfling stur, viel hat er nicht zu sagen. Zum Abschluss klopft er den beiden Prüfern auf die Schulter und sagt: „Ich weiß, ihr werdet es nie verstehen.“ Damit ist er Doktor der Philosophie.

Seine Philosophie in Kürze zu erklären ist kaum möglich. Seine Werke sind nicht als Lehre zu verstehen, sondern zeigen vielmehr eine Herangehensweise. Er formulierte keine zusammenhängenden Texte wie die meisten Philosophen, sondern schrieb einzelne Sätze bzw. Absätze, bestehend aus wenigen zusammenhängenden Sätzen. Man kann sagen, dass man ihn beim Denken beobachtet, wenn man seine Werke liest. Er entwickelte seine Philosophie während des Schreibens, wodurch es möglich ist, seinen Gedankengängen zu folgen, auch denen, die letztendlich ins Leere laufen. Für ihn ist nur ein „seltsamer Zufall, dass alle die Menschen, deren Schädel man geöffnet hat, ein Gehirn hatten.“

Wittgenstein. Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/media/thumbs/c/cca7c082729589136d16752380dfed22v1_max_635x357_b3535db83dc50e27c1bb1392364c95a2.jpg?key=838593

Nach seinem Ziel in der Philosophie gefragt, antwortete er „Der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zeigen.“ Die Fliege sei in ihrer Falle gefangen in ihrer Art, den Ausweg zu suchen. Sie strebt dabei der Faszination des Lichts entgegen und übersieht, dass es die Option gäbe, die Fliegenfalle wieder so zu verlassen, wie sie hineingeraten ist. Die Aufgabe der Philosophie könnte es nun sein, das Glas abzudecken, sodass die Faszination weg fällt und die Fliege den Weg erkennt. Mit der Dissertation namens „Logisch-philosophische Abhandlung“ (Tractatus logico-philosophicus) begründet er den Logischen Positivismus und schließt mit dem Satz: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“. Damit beendet er mit einem Handstreich ein paar Jahrtausende Philosophiegeschichte: Ludwig Wittgenstein, der am 29. April 1951 starb.

„Alle Philosophie ist Sprachkritik“

Als Ludwig Josef Johann Wittgenstein wurde er am 26. April 1889 in Wien als Sohn einer reichen Industriellen-Familie geboren. Der Vater Karl und die Mutter Leopoldine stammten aus früh assimilierten jüdischen Familien. Karl begründete das erste österreichische Eisen-Kartell und erwarb sich als Stahlmagnat unvorstellbaren Reichtum. Er zog sich schon mit 52 Jahren aus dem Stahlgeschäft zurück und investierte in Immobilien, Aktien und Anleihen. Durch geschickte Anlagepolitik vergrößerte sich das Familienvermögen auch noch nach seinem Tod während des Ersten Weltkrieges, weshalb alle Wittgensteinkinder als großzügige Mäzene auftreten konnten; Ludwig etwa half Georg Trakl. Der einflussreiche Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek war sein Großcousin. Der Anspruch in der Familie mit insgesamt acht Kindern war immens hoch: „Es galt immer, den bequemen Weg zu vermeiden und den schwierigsten zu wählen“, erkennt Barbara Giese im DLF.

Dieser Zwang, sich mit etwas zu beschäftigen, was er eigentlich gar nicht wollte, passt gut in das Bild eines Menschen mit schweren Depressionen. In der Tat galt Wittgenstein stets als depressiv. Russel sagte einst über ihn: „Seine Verfassung ist die eines Künstlers, intuitiv und stimmungshaft. Er sagt von sich, dass er jeden Morgen voller Hoffnung beginne, aber jeder Abend in Verzweiflung ende.“ Die Veranlagung zu Depressionen scheint bei Wittgenstein in der Familie zu liegen, denn immerhin begingen seine drei Brüder Hans, Kurt und Rudolf Selbstmord. Ludwig studierte von 1906 bis 1908 Ingenieurwissenschaft in Berlin. Nach dem Abschlussdiplom als Ingenieur 1908 ging Wittgenstein nach Manchester, wo er an der Universitätsabteilung für Ingenieurwissenschaften versuchte, einen Flugmotor zu bauen. Diesen Plan gab er jedoch bald auf. Er konstruiert später eine neue Antriebstechnik für Flugzeuge, bei der die Brennkammern an den Blattspitzen des Rotors angeordnet sind. Mit dem „Wittgensteinschen Antrieb“, für der er am 17. August 1911 ein Patent erhielt, benötigt man kein Getriebe und keinen Heckrotor als Drehmomentausgleich.

Aus der Patentschrift. Quelle: https://brill.com/view/book/9783846765708/9783846765708_webready_content_m00001.jpg

In Manchester wurde er mit Russells Schriften über die Grundlagen der Mathematik bekannt, die ihn so sehr beeindruckten, dass er 1912 sein Ingenieurs-Studium aufgab, um in Cambridge unter Russells Anleitung Mathematik und Logik zu studieren: „Ich fange an, ihn zu mögen; er kennt sich aus in der Literatur, ist sehr musikalisch, angenehm im Umgang, und ich glaube, wirklich intelligent.“ Unter dem Einfluss auch von Friedrich Ludwig Gottlob Frege begann Wittgenstein eine umfassende Theorie über die Grundlage der Logik und die Wirkungsarten der Sprache zu entwickeln. Dieses Projekt verfolgte er mit großem Eifer während eines Aufenthalts 1913/14 in Norwegen und während der Kriegsjahre, in denen er sich freiwillig als Artillerist an die Ostfront meldete.

Ergebnis dieser Studien war der Tractatus, mit dem Wittgenstein seine philosophische Aufgabe für beendet hielt. Abgesehen von zwei kleineren philosophischen Aufsätzen und einem Wörterbuch für Volksschulen blieb er das einzige zu Lebzeiten veröffentlichte Werk Wittgensteins. Philosophische Probleme kann nur verstehen oder auflösen, wer begreift, durch welche Fehlanwendung von Sprache sie überhaupt erst erzeugt werden, so Wittgenstein. Ziel philosophischer Analysen ist die Unterscheidung von sinnvollen und unsinnigen Sätzen durch eine Klärung der Funktionsweise von Sprache: „Alle Philosophie ist ‚Sprachkritik‘.“

Unter anderem mit Russells Unterstützung wurde Wittgenstein im November 1911 in die elitäre Geheimgesellschaft Cambridge Apostles gewählt. In David Pinsent fand er dort seinen ersten Geliebten. In Skjolden in Norwegen ließ er auf einem entlegenen Fels ein von ihm selbst entworfenes Holzhaus aufstellen, das er mit Pinsent bewohnte und wo er, mehrmals für einige Monate ab 1913, an einem System der Logik arbeitete – das 1958 abgetragene Haus wurde 2019 wieder am originalen Standort aufgebaut. Dass Wittgenstein homosexuell war, wurde zuerst durch seinen Biographen William Warren Bartley im Jahre 1973 auf der Basis von Aussagen anonymer Freunde Wittgensteins und zweier in Geheimschrift verfasster Tagebücher öffentlich gemacht.

Die ersten beiden Ebenen des Tractatus gemäß der Wittgenstein’schen Nummerierung. Quelle: Von Mkleine – Mindmap wurde von mir selbst erstellt, CC BY-SA 3.0, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=1433211

Nach der Lektüre der „Kurzen Darlegung des Evangeliums“ von Leo Tolstoi äußerte er den Wunsch, in Zukunft Kinder das Evangelium zu lehren. Durch die Schrecken des Krieges wurde er vom Logiker zum Mystiker im Sinne der „negativen Theologie“. So reifte in ihm der Plan, Lehrer zu werden. Nach der Entlassung aus italienischer Kriegsgefangenschaft ließ er sich deshalb als Volksschullehrer ausbilden, um 1920 in kleinen österreichischen Dörfern zu unterrichten: Von Trattenbach über Puchberg nach Otterthal führte sein Weg. Bekannt ist, dass er seine Schüler und sich selbst hoffnungslos überforderte und mit seinen Bildungsidealen dramatisch scheiterte. „Die Trattenbacher hatten in Wittgenstein den verrückten Sonderling gesehen, in Cambridge dagegen galt er als faszinierender Exzentriker. Gerecht werden ihm wohl beide Einschätzungen nicht“ befand Andrea Roedig im DLF. „Er mag ein engagierter, vielleicht sogar guter Lehrer gewesen sein. Ein Pädagoge war er nicht“, meinte Libuše Moníková.

„Sprache ist viel zu ungenau“

1926 ließ er sich in Wien nieder und erstellte bis 1928 zusammen mit dem Architekten Paul Engelmann, einem Schüler von Adolf Loos, für seine Schwester Margarethe Stonborough-Wittgenstein ein repräsentatives Stadt-Palais in Wien (Haus Wittgenstein). Das im Stil der Moderne erbaute Palais wurde bald zu einem Mittelpunkt kulturellen Lebens in Wien und zu einem Treffpunkt des Wiener Kreises, einer Gruppe von Philosophen und Wissenschaftstheoretikern, mit denen er in Kontakt stand. Wittgenstein war hauptsächlich für die innenarchitektonische Gestaltung des Hauses zuständig. Daneben war er bildhauerisch tätig.

Auch bei diesen praktischen Tätigkeiten zeigte sich die selbstbezogene Arbeitsweise Wittgensteins. Ziel seiner Arbeit war nicht allgemeiner gesellschaftlicher Nutzen, sondern er strebte intellektuelle und psychische Reinheit und Klarheit an. In den folgenden Jahren nahm Wittgenstein Kontakte mit Moritz Schlick und dem einflussreichen „Wiener Kreis“ auf, wo der „Tractatus“ mit größtem Interesse studiert wurde. 1929 kehrte Wittgenstein nach Cambridge zurück, um dort seine philosophische Arbeit fortzusetzen. Seine Vorlesungen und Notizen aus den Jahren 1930-36 zeigen die Entwicklung neuer Gedanken, die er ab 1936 zu den „Philosophischen Untersuchungen“ zusammenstellte.

Haus Wittgenstein. Quelle: Von Thomas Ledl – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0 at, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=39620610

1939 erhielt Wittgenstein eine Professur in Cambridge und beschäftigte sich vor allem mit Problemen der Bedeutungsanalyse und wurde dadurch zu einem der Begründer der sprachanalytischen Philosophie. Da die natürliche Sprache eine Reihe von Unzulänglichkeiten besitzt, wie beispielsweise die Mehrdeutigkeit der Wörter, entwickelte er die Idee der Schaffung einer künstlichen, logisch vollkommenen Sprache, die aus Symbolen geschaffen wird, wie sie in der Logik üblich sind. Von der Möglichkeit, eine logisch perfekte Sprache zu schaffen, eine Zeichensprache, die einer logischen Grammatik gehorcht, sagte sich Wittgenstein jedoch später wieder los. Entgegen der Etikette an der englischen Elite-Institution trug er niemals Hut, Krawatte oder Anzug. Mit offenem Hemd, Wollpullover oder Lederjacke hielt er seine Vorlesungen.

Etwa ab 1936 begann Wittgenstein mit den „Philosophischen Untersuchungen“, die sich bis etwa 1948 hinzogen. Dieses zweite große Werk hat er selbst weitgehend fertiggestellt, es erschien jedoch erst posthum 1953. Hierdurch gelangte er schnell zu Weltruhm. Während der Kriegsjahre 1941-44 arbeitete Wittgenstein als Hilfskraft in Krankenhäusern in London und Newcastle. 1943 schloss er sich als Laborassistent einer medizinischen Forschungsgruppe an, die den hämorrhagischen Schock untersuchte, und entwarf Experimente und Laborgeräte. Er entwickelte Apparaturen zur kontinuierlichen Messung von Puls, Blutdruck, Atemfrequenz und Atemvolumen, dabei bediente er sich auch der Erfahrungen, die er während der Entwicklung seines Flugmotors gemacht hatte.

1944 nahm er seine Vorlesungen in Cambridge wieder auf, entwickelte jedoch so großen Widerwillen gegen die Lehrtätigkeit und das akademische Leben, dass er 1947 seinen Abschied einreichte, um fortan in ländlicher Abgeschiedenheit in Irland zu leben und zu arbeiten. Der Schwerpunkt seiner Arbeiten lag auf der „Philosophie der Psychologie“, die Gegenstand des II. Teils der „Philosophischen Untersuchungen“ wurde. Es ist umstritten, ob die Aufnahme dieser Gedanken in die Philosophischen Untersuchungen dem Willen Wittgensteins entspricht. 1949 konnte er sein zweites Hauptwerk dann abschließen. Darin stellte er fest, dass die reale Verwendung der Sprache überhaupt nicht zu den im Tractatus festgehaltenen Folgerungen passte. Die Sprache ist viel zu ungenau, um den Regeln der Logik folgen zu können. Als er darüber nachdachte, erkannte er, dass man die Bedeutung gesprochener Wörter nur verstehen kann, indem man ihre Verwendung im Alltag versteht.

„ein wundervolles Leben gehabt“

Wittgenstein bezeichnete Kommunikation als Sprachspiel, das ein Mensch mit einem anderen Menschen spielt, wenn er mit ihm spricht. Dieses Spiel folgt gewissen Regeln, die man durch Beobachtung ableiten kann. Wer die Regeln nicht kennt, kann an dem Sprachspiel nicht teilnehmen. Wittgenstein zieht in den Philosophischen Untersuchungen einen Vergleich zum Schachspiel. Die Regeln des Schachspiels sind nicht absolut. Wer kein Schach spielen kann, kann durch Beobachtung von zwei Schachspielern auf die Regeln schließen. Ob die Spieler aber die „absoluten“ Schachregeln befolgen oder nach ihren eigenen Regeln spielen, bleibt dem Beobachter verborgen. Haben sich die beobachteten Spieler darauf geeinigt, dass der Spieler, der gerade eine Figur des anderen geschlagen hat, nach dem Spielzug dreimal um den Tisch hüpfen muss, dürfte es für große Belustigung sorgen, wenn der Beobachter später mit jemandem Schach spielt, dem diese Regel nicht geläufig ist.

Grab in Cambridge. Quelle: CC BY-SA 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=30544

Wittgenstein unterteilt die Menschheit in unterschiedliche Lebensformen. Er bezeichnet eine Gruppe von Menschen, die bestimmte Sprachspiele spielen, als eigene Lebensformen. Beispiel: Ein obdachloser Hauptschulabbrecher, ein theoretischer Physiker und ein Onlineredakteur sitzen zusammen und sollen ein Gespräch führen. Das Gespräch wird äußerst schleppend verlaufen, da der allgemeine Sprachgebrauch der drei Gesprächsteilnehmer nur in wenigen Punkten übereinstimmt. Alle drei verwenden die Sprache und führen ihr Leben in einer bestimmten Form. Somit kann man jeden der drei Personen als eigene Lebensform bezeichnen. Es gibt aber keine konkreten Abgrenzungskriterien. Der Begriff ist etwas schwammig und es gibt keine Definition, nach der bestimmte Kriterien erfüllt sein müssen, um verschiedene Lebensformen voneinander abgrenzen zu können.

Wittgensteins meist kurze Dialoge in seinem Spätwerk gelten als stilistisch brillant. Als problematisch für das Verständnis wird angesehen, dass sein Zugang traditionslos ist; besonders der späte Wittgenstein hat in der Philosophiegeschichte keine Vorläufer und stiftet eine neue, beispiellose Art zu denken. Viele meinen daher, diese Art zu denken müsse erlernt werden wie eine fremde Sprache. Seine Arbeitsfähigkeit litt unter einer 1950 festgestellten, weit fortgeschrittenen Krebserkrankung. Da er es ablehnte, ins Krankenhaus zu gehen, verlebte er die letzten Wochen im Hause seines Arztes Edward Bevan, der ihn bei sich aufgenommen hatte. Als dessen Frau Wittgenstein am Tag vor seinem Tod mitteilte, seine englischen Freunde würden ihn am nächsten Tag besuchen, soll er gesagt haben: „Sagen Sie ihnen, dass ich ein wundervolles Leben gehabt habe.“

Er hatte vor Jahren im Tratctatus geschrieben: „Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht.“ Die Beisetzung findet ohne Familienmitglieder statt. Sein Bruder Paul, der nur sehr wenig über seine Familie spricht, schreibt zwei Jahre nach Ludwigs Tod: „Ich will übrigens bei dieser Gelegenheit noch feststellen, dass ich mit meinem Bruder seit dem Jahre 1939 außer Kontakt geblieben bin; ein oder zwei Briefe, die er mir anlässlich meines Besuches in England, und weil ihn Fräulein Deneke eingeladen hatte, geschrieben hat, habe ich nicht beantwortet. Ob ich es auch dann nicht getan hätte, wenn mir bekannt gewesen wäre, dass er todkrank ist, weiß ich nicht.“ Sein rund 20.000 Seiten umfassender philosophischer Nachlass wurde 2017 in die Liste des Weltdokumentenerbes eingetragen.

Krieg der Sternchen

Zwar bleibt uns der Genderstern offiziell erspart – vorerst. Dafür werden das Generische Maskulinum sexualisiert, statische Unterstriche benutzt und Sprachdiskriminierte erfunden. Das führt in die Hölle.

Meine neue Tumult-Kolumne zum Problem fortgesetzter Sprachvergewaltigung.

Er hat, anders als etwa Clausewitz oder Baudissin, kein systematisches Lehrgebäude seiner militärischen Auffassungen hinterlassen. Aufgrund einer Vielzahl unvorhersehbarer Faktoren hielt er einen Feldzug nur bis zum Beginn der ersten Feindberührung für vorausplanbar. So war Strategie für ihn ein „System von Aushilfen“, die der Lage entsprechend durch gesunden Menschenverstand anzuwenden waren. Die daraus resultierende Handlungsfreiheit für die militärischen Unterführer, die er im Rahmen der „Auftragstaktik“ gewährte, setzte allerdings ein einheitliches operatives Denken voraus, zu dem er während seiner langen Dienstzeit im Generalstab seine Offiziere erzogen hatte: Damit habe er „eine der besten Traditionen militärischen Führungsdenkens in deutschen Streitkräften begründet“, befand sein Biograph Heinrich Walle.

Er erkannte sehr früh die Wichtigkeit konsequenter Nutzung technischer Errungenschaften, wirtschaftlicher und industrieller Ressourcen, und forderte sie so vehement wie kaum einer seiner Zeitgenossen ein. Außer dem Einsatz moderner Waffen wie dem Zündnadelgewehr waren vor allem Eisenbahn und Telegraph die entscheidenden Mittel, mit denen die raschen strategischen Bewegungen der von ihm erstmals geführten Massenheere überhaupt möglich geworden waren. Er gilt als erster Feldherr in Europa, der die Möglichkeiten des neuen Verkehrsmittels Eisenbahn in voller Konsequenz in seine Planungen einbezog, indem er zur Kontrolle jeder einzelnen Strecke den Eisenbahnbeamten Generalstabsoffiziere zuordnete: Ein „Wegbereiter des industrialisierten Volkskrieges“, so Walle. Er habe dessen technisch-wirtschaftliche Voraussetzungen in aller Schärfe erkannt und die dafür notwendigen führungstechnischen Grundlagen geschaffen: Generalfeldmarschall Helmuth Karl Bernhard Graf von Moltke, der am 24. April 1891 in Berlin starb.

Der dritte Sohn des späteren dänischen Generalleutnants Friedrich Philipp Victor von Moltke, der zum mecklenburgischen Uradel zählte, kam am 26. Oktober 1800 in Parchim zur Welt. Da der Vater die von seinem bürgerlichen Schwiegervater erworbenen Besitzungen nicht halten konnte, ließ er seine drei ältesten Söhne eine militärische Laufbahn einschlagen. Seine Kindheit soll Helmuth nicht als glücklich empfunden haben. Nach dem Besuch von Kadettenanstalt und Kadettenakademie in Kopenhagen wurde er 1819 Leutnant. Schon drei Jahre später bewogen ihn die geringen Karriereaussichten in der kleinen dänischen Armee, in preußische Dienste zu treten. Im ersten Anlauf bestand er die Aufnahmeprüfung für die Allgemeine Kriegsschule in Berlin, die er von 1823 bis 1826 besuchte. Schon 1833 wurde der vielseitig Interessierte in den Großen Generalstab berufen.

Moltke. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Helmuth_Karl_Bernhard_von_Moltke.jpg#/media/Datei:Helmuth_Karl_Bernhard_von_Moltke.jpg

Nach zwei Jahren erhielt er Urlaub für eine Bildungsreise in den Südosten Europas, wurde von 1836 bis 1839 als Instrukteur der osmanischen Truppen abkommandiert und bereiste in dieser Zeit Konstantinopel, die Schwarzmeerküste, das Taurusgebirge und die Wüste von Mesopotamien. 1837 begleitete er Sultan Mahmud II. auf dessen Reise in die Donaufürstentümer und plante dort eine Verteidigungslinie gegen die Russen. Nach seinen Plänen wurden vier Festungen entlang der Donau erbaut, darunter die Festung Silistra, die nie erobert wurde und noch bis 1956 der örtlichen bulgarischen Militärakademie diente. 1838 nahm er an einem Feldzug gegen die Kurden teil und beteiligte sich am Kampf gegen die ägyptischen Truppen in Syrien. Dabei wohnte er der entscheidenden Niederlage der Osmanen in der Schlacht von Nizip am 24. Juni 1839 bei und veröffentlichte 1841 unter dem Titel „Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei“ eine glänzend geschriebene Reise- und Militärchronik, die ihn als scharfen und sensiblen Beobachter auswies und zum Bestseller wurde.

Krieg als Glied der göttlichen Weltordnung

Nach seiner Rückkehr nach Deutschland wurde Moltke als einer der wenigen preußischen Offiziere mit Kriegserfahrung zum Major befördert und heiratete 1842 Mary Burt, eine Stieftochter seiner Schwester Auguste. Durch die Heirat wurde sein Neffe Henry gleichzeitig sein Schwager – er war zeitweise sein Adjutant und gab nach dessen Tod den Briefwechsel zwischen Moltke und seiner Frau heraus. Helmuth selbst wurde Adjutant des Prinzen Karl Heinrich von Preußen und, nach einem Intermezzo als Chef des Generalstabs des IV. Armee-Korps, 1855 Adjutant von Kronprinz Friedrich Wilhelm. Nach Reisen unter anderen nach Schottland, England, Russland (zur Krönung Alexanders II.), Paris und Breslau wurde er 1857 im Range eines Generalmajors mit der „Wahrnehmung der Geschäfte des Chefs des Generalstabs der Armee“ beauftragt und am 18. September 1858 zum Generalstabschef der preußischen Armee ernannt.

Er erhielt das Recht, dem Feldheer im Namen des Königs direkt und ohne Vermittlung des Kriegsministers Befehle zu erteilen, so dass er militärische Operationen unmittelbar selbst leiten konnte. Dieser gestiegene Einfluss kam in der nach der Deutschen Reichsgründung üblichen Bezeichnung Großer Generalstab zum Ausdruck. Helmuth galt als genialer Stratege und war in leitender Verantwortung maßgeblich an der Ausarbeitung der Pläne für den Deutsch-Dänischen Krieg (1864), den Preußisch-Deutschen Krieg von 1866 gegen die Truppen des Deutschen Bundes und den Deutsch-Französischen Krieg (1870/1871) beteiligt. Die entscheidende Schlacht bei Königgrätz gegen Österreich führte Moltke persönlich – auf einem Gelände von etwa zehn Kilometern Breite und fünf Kilometern Tiefe bekämpften sich hier über 400.000 Soldaten. Durch den Sieg wurde Preußen Führungsmacht in Deutschland, und Kanzler Bismarck setzte damit die kleindeutsche Lösung durch. Zuvor bereits mit dem erblichen Titel eines Grafen belohnt, erreichte Moltke mit der Ernennung zum Generalfeldmarschall am 16.6.1871 den Gipfel seiner militärischen Laufbahn.

Schlachtpanorama. Quelle: Von Christian Sell – http://www.preussen-chronik.de/_/bild_jsp/key=bild_658.html, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=39903118

1867 hatte er in Schlesien das Gut Kreisau als Alterssitz erworben und dort für seine Frau, die ein Jahr später kinderlos gerade 42jährig starb, ein Mausoleum gebaut, das bis heute existiert. Im selben Jahr wurde er Mitglied der Konservativen Partei und saß im Norddeutschen bzw. Deutschen Reichstag. Er galt mit Bismarck und Kriegsminister von Roon als Schmied der Reichseinigung von 1871 – Bismarck aus politischer, Moltke aus militärischer Sicht. Für ihn war Krieg im idealen Sinne ein Glied der göttlichen Weltordnung wie Unwetter, Not oder Krankheit, der ewige Friede in diesem Sinne nur „ein Traum und nicht einmal ein schöner“.

In Weiterentwicklung Clausewitz‘scher Ideen stellte er fest: „Der Krieg hat zum Zweck, die Politik der Regierung mit den Waffen durchzuführen“, und betonte die Eigengesetzlichkeit des Krieges, dem sich während seiner Dauer alles unterzuordnen habe. Dadurch geriet er 1866 und vor allem 1870/71 in Konflikt mit Bismarck, dem sein rein militärisch gefasster Strategiebegriff zu eng erschien. In tiefer Loyalität zu seinem Monarchen, der ihm auf diesem Wege voranging, beugte er sich aber Bismarcks überlegenem politischen Verstand und seinem eisernen Durchsetzungswillen. Die Denkweise Moltkes spielte allerdings eine Rolle beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als sein Neffe Helmut Johannes von Moltke an der Spitze der Militärführung stand.

Schloss Kreisau. Quelle: Von Robert Friebe: Mitglied Robert96 – Robert Friebe´s Privatfotos, Copyrighted free use, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=33516875

Ab 1872 war Helmuth auch Mitglied des Preußischen Herrenhauses, 1881 wurde er Alterspräsident des Reichstags. Tonaufnahmen Moltkes – angefertigt im Oktober 1889 – sind die wahrscheinlich einzigen bis heute überlieferten Aufnahmen eines im 18. Jahrhundert geborenen Menschen. Wiederholte Gesuche um Verabschiedung aus dem aktiven Dienst aus Altersgründen lehnte Kaiser Wilhelm I. stets ab. Wilhelm II. entband ihn am 10.8.1888 auf eigenen Wunsch unter gleichzeitiger Ernennung zum Präses der Landesverteidigungskommission von seinen Pflichten als Chef des Großen Generalstabes. Noch in seiner letzten Reichstagsrede, die er als fast 90-Jähriger am 14. Mai 1890 wenige Monate nach Bismarcks Entlassung hielt, warnte er eindringlich vor einem neuen Krieg in Europa mit den Worten: „Meine Herren, es kann ein siebenjähriger, es kann ein dreißigjähriger Krieg werden – und wehe dem, der zuerst die Lunte in das Pulverfaß schleudert!“

„Erst wägen, dann wagen“

Gestorben in seiner Berliner Dienstwohnung, wurde er im Mausoleum auf Gut Kreisau beigesetzt. Seine Gebeine gingen am Ende des Zweiten Weltkriegs allerdings verloren – das Gut, inzwischen bewohnt von Helmuth Urgroßneffen James, der 1945 gehenkt wurde, war Zentrum des „Kreisauer Kreises“, der im Gefolge Stauffenbergs in drei großen Tagungen Grundsatzerklärungen für eine Neuordnung Deutschlands nach Weltkriegsende verfasste. Moltkes bevorzugte Maxime war die Vernichtung des Gegners in einer Umfassungsschlacht bei der Vereinigung der getrennt marschierenden Heeresteile. Um diese Entwicklung nicht in Sichtweite des Gegners vorzunehmen und diesen dadurch zu warnen, dirigierte er getrennt aufmarschierende Streitkräfte zur selben Zeit gegen die Flanken und die Hauptfront des Feindes.  

Dabei zeichnete er sich durch eiserne Gelassenheit aus, gepaart mit persönlicher Bescheidenheit und Wortkargheit, die zu seinem Spitznamen beitrugen. Als junger Hauptmann hatte Hindenburg mit einem Kameraden gewettet, Moltke werde das Hoch an Kaisers Geburtstag in weniger als elf Worten ausbringen, und gewann, denn Moltke erhob sein Glas nur mit den Worten: „Meine Herren, der Kaiser hurra, hurra, hurra!“. Es gibt sogar einen Fernsehkrimi, der mit dem Schweigen des Preußen spielt: Der 214. „Tatort“. Schimanski wurde darin mit einem Fall konfrontiert, in dem aus dem Hauptverdächtigen während der Ermittlungen kein Wort herauszubringen ist. Die Presse, so sah es das Drehbuch vor, verpasste ihm daraufhin den Spitznamen „Moltke“, den er auch während seiner Haftstrafe behielt, da er weiterhin beharrlich schwieg. „Wenn er dann mal etwas von sich gegeben hat, dann meistens etwas in der Art wie ‚Getrennt marschieren, vereint schlagen‘“, erläutert Jörg Kirchhoff, Pressesprecher der Berliner Universität der Künste, in der Rheinischen Post.

Dresdner Moltke-Eiche. Quelle: Von DynaMoToR – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=63771693

Wie Bismarck war Moltke einer von nur vier Trägern beider Klassen des Pour le Mérite. Die Zahl seiner Auszeichnungen, Ehrenbürgerschaften und Namenspatenschaften etwa für Straßen und Plätze ist kaum überschaubar. Bereits zu seinen Lebzeiten wurden an seinem 80. Geburtstag in vielen Orten des Deutschen Reichs Eichen gepflanzt. Einige davon stehen noch heute, darunter die am Leisniger Platz in Dresden. Guinea gab 2012 eine Briefmarke heraus, die Moltke und eine preußische G 12 zeigen. Die Bundeswehr pflegt seine „Auftragstaktik“ als eine Stärke in der Führungsstrategie. Laut Walle gilt er „bis heute als Inkarnation des an sittliche Maßstäbe gebundenen genialen Feldherren und vielseitig gebildeten Soldaten, dessen operative Prinzipien und Führungsgrundsätze zu den besten Traditionen deutschen Soldatentums zählen.“

Er sei „eine barocke, seinen Begabungen in alle Richtungen nachjagende Jahrhundertfigur“, befand Peter Kümmel in der Zeit – von der Queen zum Ritter geschlagener Schauspieler und zweifacher Oscar-Gewinner, Regisseur, Maler und Bühnenbildner, Erzähler und Dramatiker, Universitätsrektor, Komiker und Conférencier, Geräusche- und Stimmenimitator, Wohltäter und Diplomat. „In meinem englischen Pass steht unter Beruf Autor. Für alles ist kein Platz, das versteh‘ ich auch“, sagte er einmal. Und er war Kosmopolit: „Ich bin ethnisch sehr schmutzig und sehr stolz darauf.“

Tausendsassa nannten ihn viele, oder Universalgenie. Mit seinen Talenten hätte er ein ganzes Show-Ensemble ersetzen können: „imstande, ganze Sinfonieorchester zu dirigieren, die allein aus ihm selbst bestanden“, befand Kümmel. Aber er betrat die Bühne nie aufrecht und stolz, sondern eher ein bisschen gebückt und bescheiden. Mehr als einmal erklärte er, schon als Baby übergewichtig, er sei aus Notwehr zum Komiker und Entertainer geworden: „Ich begann, über mich selbst zu lachen, um den Anderen zuvorzukommen.“ Am 16. April vor 100 Jahren wurde er als Peter Alexander Baron von Ustinov geboren: Sir Peter Ustinov.

„Ich wurde in St. Petersburg gezeugt, in London geboren und in Schwäbisch Gmünd evangelisch getauft. Ich finde, das ist das Wichtigste“, sagte er öfters. Er kommt als kleiner Baby-Buddha auf die Welt, mit elf Pfund Gewicht. „Meine Mutter wusste nie, wo bei mir vorn und hinten ist.“ Sein katholischer Großvater lebte als russischer Emigrant in Württemberg, sein Vater, ein Diplomat und Journalist, der während des Ersten Weltkrieges als Flieger in der deutschen Armee diente, seit 1918 in England. Ustinov wuchs in London auf, bleibt sein Leben lang offiziell britischer Staatsbürger und genoss eine mehrsprachige Erziehung – acht Sprachen wird er am Ende sprechen und auf Französisch und Deutsch gar sich selbst synchronisieren. In Kontakt mit dem Theater kam Ustinov über seine französische Mutter, eine Bühnenbildnerin und Kostümzeichnerin, die russische, französische, italienische und äthiopische Vorfahren hatte.

Peter Ustinov. Quelle: Von Allan Warren – Eigenes Werk http://allanwarren.com, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9567625

Nach eigener Aussage war seine erste Rolle die eines Schweins bei einer kleinen Aufführung in seinem Kindergarten. Er selbst betrachtete sich als eher mittelmäßigen Schüler mit Problemen in Mathematik. Seit 1934 besuchte er die Eliteschule Westminster, die er jedoch verabscheute und nach knapp drei Jahren verließ. Zu seinen dortigen Schulkameraden gehörte Rudolf von Ribbentrop, der älteste Sohn des späteren NS-Außenministers. Ustinov absolvierte eine Schauspielausbildung in London und trat mit 17 Jahren in seiner ersten professionellen Rolle als „Der Waldschrat“ auf. Nach mehreren Theaterengagements erhielt Ustinov 1940 seine erste kleine Filmrolle in „Hullo, Fame!“. Im selben Jahr heiratete er die Schauspielerin Isolde Denham und ließ sich 1950 wieder scheiden. Der Ehe entstammt Tochter Tamara, auch Schauspielerin.

Zwischen Oscar und Oper

Seine Leidenschaft und Begeisterung für Schauspielerei und Theater ließen ihn bald eigene Werke schreiben: 1942 wurde sein erstes Theaterstück „House of Regrets“ uraufgeführt. Nach seiner ersten größeren Filmrolle 1942 absolvierte Ustinov seinen Wehrdienst während des Zweiten Weltkriegs in der British Army. Sein Vorgesetzter war der Schauspieler David Niven. Er trat der Schauspieler-Einheit bei und hatte dort kleinere Rollen in Propagandafilmen, zu einer Produktion schrieb er 1943 auch erstmals das Drehbuch. Nach seiner Entlassung aus der Armee begann Ustinov seine künstlerische Vielseitigkeit zu entfalten: als Regisseur, Produzent und Drehbuchautor, aber auch als Erzähler und Kritiker.

Nach den Probeaufnahmen für Mervyn LeRoys Verfilmung des Romans „Quo Vadis“ von Henryk Sienkiewicz zögerte Produzente Sam Zimbalist ein ganzes Jahr lang mit der Entscheidung, ihn als Nero zu besetzen, da er ihn für zu jung hielt. Als Ustinov telegrafierte, dass er für die Rolle bald zu alt sei, da Nero selbst bereits mit 31 Jahren gestorben war, wurde er 1951 engagiert. Mit der Darstellung des selbstherrlichen, geisteskranken und größenwahnsinnigen Kaisers gelang Ustinov der internationale Durchbruch, erhielt einen Golden Globe und die erste von mehreren Oscar-Nominierungen. Drei Jahre später schloss er die Ehe mit der kanadischen Schauspielerin Suzanne Cloutier, aus der drei Kinder hervorgingen, darunter Sohn Igor, ein Bildhauer, der als Kuratoriums-Mitglied der Sir-Peter-Ustinov-Stiftung inzwischen das Vermächtnis seines Vaters wahrt. Auch diese Ehe hielt nicht lange.

Inzwischen entfaltete Ustinov eine schier rastlose Tätigkeit. Er verfasste er Theaterstücke, in denen er auch als Darsteller und Regisseur mitwirkte, darunter „Romanoff und Julia“ am Broadway, das den Ost-West-Konflikt parodierte. Daneben profilierte er sich in Filmen wie „Beau Brummel – Rebell und Verführer“ oder Stanley Kubricks Epos „Spartacus“. Hier trug ihm seine Darstellung des Gladiatorenmeisters Batiatus 1961 einen Oscar als bester Nebendarsteller ein. Im selben Jahr verfilmte Ustinov als Regisseur Herman Melvilles Kurzroman „Billy Budd“. 1962 inszenierte er erstmals mit dem Einakter „Die Spanische Stunde“ in London erstmals eine Oper. Bis Ende der 1990er Jahre sollten weitere Operninszenierungen in ganz Europa folgen, darunter Mozarts „Zauberflöte“ und „Don Giovanni“. Für seine Darstellung in der Gaunerkomödie „Topkapi“ von Jules Dassin an der Seite von Melina Mercouri und Maximilian Schell wurde er 1964 wiederum mit einem Oscar ausgezeichnet.

Ustinov als Nero. Quelle: https://twitter.com/AngusBlair1/status/892102070656020480/photo/1

Neben Elizabeth Taylor, Richard Burton und Alec Guinness war Ustinov 1967 in „Die Stunde der Komödianten“ nach dem Roman von Graham Greene zu sehen. Für das Originaldrehbuch der Filmkomödie „Das Millionending“, in der er selbst mitspielte, war er 1968 erneut für einen Oscar nominiert. Viele von Ustinovs Theaterstücken bildeten die Grundlage für Fernsehproduktionen. Neben seiner literarischen Betätigung trat er in Fernsehspielen und Shows auf und erhielt dreimal einen Emmy als Hauptdarsteller in einem Film. Im Gegensatz zu anderen Hollywoodstars trat er vielfach im Fernsehen auf und war ein gern gesehener Talkshowgast. In solchen Gesprächsrunden schöpfte Ustinov aus seinem großen Schatz an Erzählungen, Witzen und Anekdoten. Er wirkte ab den 1960er Jahren auch als vielgelobter Unterhaltungskünstler, der neben seiner Filmkarriere weltweit im Fernsehen und auf Veranstaltungen in Erscheinung trat.

„Achtung Vorurteile“

Parallel dazu erwarb er das Schweizer Bürgerrecht und begann sich politisch zu engagieren – die Erfahrungen des Krieges hätten ihn tief geprägt und in seinem pazifistischen und humanistischen Denken beeinflusst, sagt er später. 1968 wurde er zum Sonderbotschafter des UN-Hilfswerkes UNICEF ernannt; im selben Jahr trat er auch – ohne einen anerkannten Schul- oder Studienabschluss – sein erstes akademisches Amt als Rektor der schottischen Universität Dundee an, wo er ein Jahr später außerdem zum Ehrendoktor der Rechte ernannt wurde. Als UNICEF-Botschafter bereiste Ustinov seitdem kontinuierlich den ganzen Erdball, er wollte als „Brückenbauer“ zu einer besseren, demokratischen Welt beitragen. Schon früh den Weltföderalisten beigetreten, fungierte er von 1990 bis zu seinem Tod als deren Vorsitzender. Ziel des World Federalist Movement war zudem eine verstärkte Demokratisierung der Vereinten Nationen und die umfassende Neuordnung internationaler Beziehungen.

1971 heiratete er die Journalistin und Schriftstellerin Hélène du Lau d’Allemans, mit der er bis zuletzt in einem Haus mitten in Weinhängen in Bursins am Genfer See lebte: „Wenn man sein Leben auf der Bühne verbringt, muss man sich privat in die Kulissen zurückziehen können“. Ab Mitte der 1970er Jahre konzentrierte er sich wieder auf seine Arbeit als Filmschauspieler und verkörperte ab 1978 in drei Film- und drei Fernsehproduktionen den belgischen Meisterdetektiv „Hercule Poirot“ nach der Vorlage von Agatha Christie, darunter „Tod auf dem Nil“, der 1979 mit einem Oscar für die besten Kostüme ausgezeichnet wurde, „Das Böse unter der Sonne“ oder „Rendezvous mit einer Leiche“. Die Rolle sei ihm auf den Leib geschrieben, befand Bernhard Baumgartner in der Wiener Zeitung. Sein Gesicht ist „in der perfekten Form eines Eies“, seinen „makellosen Schnurrbart“ schützt er nachts mit einer eigenen Stoff-Konstruktion vor dem Verrücken; dazu seine makellosen Anzüge, seine Detailverliebtheit: Schon ein Staubkorn „fügt ihm mehr emotionalen Schaden zu als eine Kanonenkugel“.

Ustinov als Poirot. Quelle: https://www.pinterest.de/pin/645985140276324042/

Als er 1984 im Rahmen seiner dreiteiligen BBC-Reihe „Ustinov’s People“ die indische Premierministerin Indira Gandhi interviewen wollte, erlebte er live, wie sie auf ihrem Weg zum Gespräch mit ihm erschossen wurde. Der Satz „Die Wächter stehen nicht mehr in den Winkeln, aber die Vögel sind noch in den Bäumen“ wurde legendär. Er spielte Theater, auch in Deutschland, und ließ 1989 den „Mirabeau“ („Die Französische Revolution“) sowie den „Detektiv Fix“ („In 80 Tagen um die Welt“) ikonisch werden. 1990 geadelt, wurde Peter Ustinov zwei Jahre später Kanzler der nordenglischen Universität Durham, war aber weiterhin als Schriftsteller und Schauspieler tätig, darunter in „Alice im Wunderland“, und präsentierte im Fernsehen Dokumentationen und Veranstaltungen, zuletzt 2003 das Schleswig-Holstein Musik Festival.

Neben seinen vielen filmischen Auszeichnungen, darunter auch einem Berliner „Silbernen Bären“, bekam er seit den 1980er Jahren auf der ganzen Welt Auszeichnungen für sein Lebenswerk, so 1998 das Bundesverdienstkreuz. In seinen Büchern wie „Monsieur René“ (1998) und Erzählungen verarbeitete er nicht nur Zeitsatire, sondern griff auch grundsätzliche Themen wie Kommunikationsschwierigkeiten auf. Da nach seiner Meinung letztere aus Vorurteilen resultierten, gründete er 2003 nach seiner internationalen Peter Ustinov Stiftung, die Schulen bspw. in Afghanistan baut, gemeinsam mit der Stadt Wien das Sir-Peter-Ustinov-Institut, das sich mit der Vorurteilsforschung auseinandersetzt. Seine eigenen Erkenntnisse verarbeitete er im Band „Achtung! Vorurteile“, dem ersten Buch, das er selbst auf Deutsch verfasst hatte.

Rarer Allrounder

2003 stand er letztmals vor der Kamera, darunter als Friedrich der Weise in „Luther“. An Diabetes und Ischialgie erkrankt, starb Sir Peter Ustinov am 28. März 2004 in einer Genfer Privatklinik an Herzversagen. Selbst kurz vor seinem Tod hatte er noch eine Pointe parat: „Mein Pass ist noch gültig bis 2008. Für mich ist es eine Frage der Ehre, nicht vorher abzulaufen.“ Er verfasste nach eigenen Angaben über 20 Theaterstücke und neun Filmdrehbücher, führte bei acht Filmen Regie, spielte in über 80 Film- und Fernsehproduktionen und vielen Bühnenstücken mit, legte Foto- und Karikatursammlungen vor und bereiste als begnadeter Komiker mit Soloprogrammen die Welt. Seine One-Man-Shows und pfeilspitzen Pointen blieben legendär, auch als er längst im Rollstuhl saß.

Ustinov als Friedrich der Weise. Quelle: https://www.rbb-online.de/content/dam/rbb/rbb/fernsehen/filmzeit/111_donnerstagsfilm/11_Luther_1.jpg.jpg/size=973×546.jpg

Die Nachrufe auf Ustinov überboten sich in ihren Würdigungen. Die FAZ erkannte einen „der raren Allrounder mit europäischer Basis und Hollywood-Überbau: an Leibes- und Pointen- und Witzumfang stets zunehmend…“ Er konnte mitten im Satz „Sprache und Heimatland zurücklassen und als ein ganz anderer wieder auftauchen: als Dünkelbrite, aufbrausender Russe oder deutscher Sturkopf“, meinte Kümmel und behauptete, dass er bei seinem Schauspiel in anderen Figuren nicht verschwand, sondern sie eher spaßhaft wie ein guter Bär „fraß“ und ihre Eigenheiten annahm, „die Bewegungen des Beutetiers bewahrend, das er verschlungen hatte. Er fraß sich voll mit fremdem Leben.“

Zu seinen wenigen Kritikern gehörte Stephen Pollard, der im Telegraph Ustinows angebliche Neigung belegen wollte, „Tyrannen zu entschuldigen und Tyrannei zu verteidigen“: „Stalin: ok, Unternehmen: kriminell; al-Qaida und die USA: moralisch gleich. Ermordung chinesischer Dissidenten: gut; Beseitigung von Tyrannen: schlecht. Das war die Weltanschauung des Sir Peter Ustinov, ‚Menschenfreund‘.“ Igor Ustinov schimpfte im Kurier: „Sein Erbe ist schwierig. Er hat viele Firmen gegründet, die von Anwälten kontrolliert wurden. Als er starb, sind die verschwunden. Das Problem mit seinem Erbe liegt nicht, wie kolportiert wurde, an uns Kindern untereinander, sondern an den Firmen, die mein Vater auf Anraten von Steuerberatern ins Leben rief“. Eine Klärung steht bis heute aus.

Er gilt als einer der meistverfilmten Autoren des 20. Jahrhunderts: Im Zeitraum 1934 bis 2010 waren 66 Filme nach seinen Romanen, Stücken und Erzählungen entstanden. Die Liste der Hauptdarsteller liest sich wie ein Who is who der Filmgeschichte: Laurence Olivier, Alec Guinness, Anthony Hopkins, Ralph Fiennes oder Michael Caine. Das trifft auch auf die Liste der Regisseure zu: Fritz Lang, John Ford, Ken Annakin, Otto Preminger oder George Cukor. 1950 war er für seine Arbeit an „Kleines Herz in Not“, eine Verfilmung seines eigenen Stoffes, für den Oscar in der Kategorie Bestes adaptiertes Drehbuch nominiert.

Dabei wäre er fast nicht zum Schriftsteller geworden: Als Jugendlicher unternahm er – unter anderem durch Russisches Roulette – mehrere Selbstmordversuche, weil er in einem Loyalitätskonflikt zwischen seinen Mitschülern und seinem Vater stand – der war sein Schulleiter. Prompt wurde er im Alter von 16 Jahren nach London zu einer halbjährigen psychoanalytischen Behandlung geschickt. Als 18jähriger war er für kurze Zeit Mitglied der Kommunistischen Partei und während des Zweiten Weltkriegs gar Geheimdienstmitarbeiter. Doch seine publizistische Prägung – über seine Mutter war er Großneffe von Robert Louis Stevenson („Die Schatzinsel“), ein jüngerer Bruder wurde später Generaldirektor der BBC – tat schließlich ihr Übriges, um den Journalisten seine literarische Berufung finden zu lassen: (Henry) Graham Greene. Am 3. April von 30 Jahren starb er.

Geboren am 2. Oktober 1904 in Berkhamsted, Hertfordshire nördlich von London viertes von sechs Kindern eines wohlhabenden Pädagogen, der seine Cousine geheiratet hatte, studierte er nach seiner depressiven Schulzeit, die für manche Biographen seine Rolle als Außenseiter begründete, Geschichte in Oxford und veröffentlichte 1925 einen unbeachteten Gedichtband. Er arbeitete dann vier Jahre lang als Journalist, zunächst beim Nottingham Journal, dann als sub-editor im Redaktionsstab der Times. Nach einer Korrespondenz mit der gleichaltrigen Katholikin Vivien Dayrell-Browning konvertierte der Agnostiker mit 22 Jahren zur Überraschung seiner anglikanischen Umgebung zum Katholizismus, so dass 1927 eine Trauung möglich wurde. Der Ehe entstammen zwei Töchter.

G. Greene. Quelle: Von Bassano Ltd – National Portrait Gallery: NPG x15393, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=65819874

Nach der positiven Resonanz auf seinen ersten Roman „The Man Within“ (1929) fühlte er sich ermutigt, die journalistische Tätigkeit zu beenden und von nun an als Romanschriftsteller zu leben. Die beiden nächsten Versuche waren Fehlschläge, der Durchbruch kam 1932 mit „Orient Express“, der schon 1934 verfilmt wurde. Greene selbst unterteilte seine Werke lange in novels („ernste“ Romane wie „Schlachtfeld des Lebens“ 1934) und entertainments (Unterhaltungsromane wie „Jagd im Nebel“ 1939), gab diese Unterscheidung aber später auf. Er schrieb daneben Drehbücher, Erzählungen, Kinderbücher, ab 1953 auch Dramen sowie Essays für Zeitungen, zum Beispiel Filmkritiken für The Spectator, in denen er Alfred Hitchcock verriss.

„kritischer Katholik“

Beim Magazin Night and Day war er Mitherausgeber. Äußerungen über den US-Kinderstar Shirley Temple in seiner Besprechung des Films Wee Willie Winkie (1937) führten zu einem Verleumdungsprozess, der die Zeitschrift in den Ruin trieb. Greene war unterdessen nach Mexiko gereist und wartete dort das Prozessende ab. In dieser Zeit begann seine Leidenschaft für das Reisen, die sich dann auch in umfangreicher Reiseliteratur spiegeln sollte. Greene war als Schriftsteller außerordentlich produktiv, außerdem war er ein gefürchteter Verfasser von Leserbriefen.

In Mexiko reiften in ihm Ideen für jenen Roman, der oft als sein Meisterwerk bezeichnet wird: „Die Kraft und die Herrlichkeit“ (The Power and the Glory, 1940). Darin beschreibt er als „kritischer Katholik“, der zeitlebens Kritiker der Amtskirche war, den blutigen Kampf eines jungen revolutionären Offiziers in Lateinamerika, vermutlich Mexiko, gegen einen der letzten Arme-Leute-Priester der katholischen Kirche auf dem Land. Weder der eine noch der andere dieser beiden diametralen Figuren wird denunziert: Beide sind in die Ideale ihrer gegensätzlichen Bewegungen und zugleich in ihre Verbiegungen verstrickt, das Recht und nicht weniger das Unrecht sind auf beiden Seiten zu finden. 1953 belegte Giuseppe Kardinal Pizzardo, Sekretär der Kongregation für die Glaubenslehre, den Roman mit einem Bannspruch, der bis heute nicht aufgehoben ist.

Szenenbild „Der stille Amerikaner“ mit Michael Caine. Quelle: https://www.pinterest.ch/pin/289285976044628618/

Während des Zweiten Weltkrieges arbeitete Greene von 1942 bis 1943 in einer Sondermission des britischen Auslandsgeheimdienstes für das Außenministerium in Westafrika. Aus dieser Zeit stammen seine präzise Kenntnisse der verborgenen Seiten des Diplomatischen Korps, die er in seinen Romanen genussvoll ironisierend darstellte, etwa in „Unser Mann in Havanna“ (1958). Greene wurde von dem ewigen Gefühl der Langeweile getrieben, dem er entkommen wollte, wie er in seiner Autobiographie „Ways of Escape“ erzählt. Das führte ihn zum Alkohol, der in vielen seiner Romane eine Rolle spielt, so beim „Schnaps-Priester“ in „Die Kraft und die Herrlichkeit“. Greene reiste in die Krisengebiete seiner Zeit, er stürzte sich in viele Affären und war auch ein häufiger Gast in Bordellen. Das Ehepaar Greene trennte sich 1947 wegen der zahlreichen Affären, blieb aber bis zu seinem Tod verheiratet.

Besonders in seinen frühen Romanen bis „Ein ausgebrannter Fall“ (1960) herrscht eine schäbige, triste Atmosphäre, in der die Menschen Erlösung suchen und für die sich im englischen Sprachgebrauch der Begriff „Greeneland“ etablierte. In seinen reifen Jahren wurde Greene zu einem scharfen Kritiker des Kolonialismus und seiner Auswüchse, aber auch der US-Außenpolitik, und unterstützte die Politik von Fidel Castro. In „Der stille Amerikaner“ (1955) kritisierte er implizit die US-Außenpolitik in Indochina. Olaf Ihlau und Jürgen Kremb erkennen im Spiegel eine „Parabel auf die Verstrickung von fehlgeleitetem Idealismus mit Terrorismus, auf die Konfrontation zwischen amerikanischem Sendungsbewusstsein und europäischer Melancholie“. Der Roman galt in den USA weithin als antiamerikanisch. Der Guardian hat 2002 aus US-Regierungsdokumenten erschlossen, dass das Buch, zusammen mit anderen kritischen Äußerungen Greenes, Anlass dafür war, dass er bis zu seinem Tod vom US-Geheimdienst überwacht wurde. Als er in dem Roman „Die Stunde der Komödianten“ (1966) das Terrorregime in Haiti darstellte, wurde er von Staatschef François Duvalier mit Verleumdungen verfolgt.

„nicht moralisch genug“

Zwar war Greene in der Öffentlichkeit über vierzig Jahre lang präsent, sein Privatleben hielt er jedoch möglichst abgeschirmt. Bis heute wird kolportiert, dass er seine Arbeit für den Geheimdienst nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wirklich beendet habe – zumal er dem Doppelagenten Kim Philby unterstellt war. Im „Orientexpress“ heißt es: „Ein Romanschriftsteller ist so etwas wie ein Spion.“ Greens großer Freundeskreis umfasste Autorenkollegen wie Evelyn Waugh, Politiker wie Panamas Präsidenten Omar Torrijos oder Filmemacher wie François Truffaut, in dessen „Die amerikanische Nacht“ (1973) Greene eine stumme Rolle spielte. Seinen letzten Lebensabschnitt verbrachte er in Vevey am Genfersee, wo er sich mit Charlie Chaplin anfreundete und bis zu dessen Tod 1977 regelmäßigen Umgang pflegte. Greene selbst starb an Leukämie, seine geschiedene Frau überlebte ihn um 12 Jahre. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof von Corseaux im Kanton Waadt.

Greenes Grab. Quelle: Von Philoum – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6511130

Geheimnisse und zwielichtige Figuren bevölkern Graham Greenes zum Teil außerordentlich erfolgreiche Romane. Die nuanciert wiedergegebene Psychologie der Figuren, die straffe Handlungsführung, die politischen Hintergründe und die kritischen Untertöne zu diesen heben seine Bücher von der Trivialliteratur ab. Ihm ging es immer um das gewöhnliche Böse in den Menschen, das er dennoch, einem Entertainer gleich, mit teilweise schwarzem Humor und ausgeprägtem Hang zu Täuschungsscherzen, zur Verstellung, zum „Als ob“ ergründete: „Der Mensch ist ein Geschöpf, dem es bestimmt ist, in Katastrophen zu leben.“ Er thematisiert immer wieder Schuld, (Un-)Glaube und Verrat im äußeren Gewand von Abenteuergeschichte, „spy story“ und Krimi: „Die Unschuld ist eine Form des Wahnsinns.“

Der langjährige Feuilleton-Chef der Zeit, Rudolf Walter Leonhardt, der Greene persönlich kannte, sah in dem britischen Autor vor allem einen Individualisten, der für die Literaturwissenschaft und erst recht für die Jury des Literaturnobelpreises zu schwer einzuordnen war: „Er hat zwar Millionen von Lesern und Bewunderern in aller Welt, aber er hat keine Lobby einflussreicher Freunde“. So mutmaßte er, dass er vielleicht „nicht moralisch genug (zuviel Whisky und zuviel Sex)“ gewesen sein könnte; oder „den Kommunisten zu liberal, den Liberalen zu sehr ‚Sympathisant‘, den Katholiken zu ketzerisch, den Atheisten zu katholisch, den intellektuellen Kritikern zu unterhaltend, den Farbigen zu sehr weißer Mann, den Weißen zu sehr Chamäleon.“ Wie auch immer: Greene gilt als der Autor mit den meisten Nominierungen für den Literaturnobelpreis. Bekommen hat er ihn nie.

Sein Leben war mit schwierigen Toden verwoben. 1910 starb seine jüngste Schwester Carla ebenso durch Suizid wie 1927 seine Schwester Julia, 1944 seine zweite Frau Nelly, die unter schweren Alkoholproblemen gelitten hatte, und 1949 sein Neffe Klaus („Mephisto“). Seine erste, geschiedene  Frau, die Schauspielerin Maria Kanová, war wegen ihrer jüdischen Abstammung drei Jahre im KZ Theresienstadt interniert und erlag kurz nach Kriegsende den Folgen der Haft.  

Sein Leben war auch von der Rivalität mit seinem jüngeren Bruder Thomas gezeichnet. Der fühlte sich bspw. von „dieser Fratzenwelt der krassen Effekte“ im Roman „Die Jagd nach Liebe“ (1903) abgestoßen und mutmaßte, „die Begierde nach Wirkung“ habe seinen Bruder „korrumpiert“. Der noch ästhetisch-literarisch begrenzte Konflikt der Brüder erreichte 1909 mit dem Roman „Die kleine Stadt“ ein neues Niveau und wurde nach dem Erscheinen von Thomas Manns „Gedanken im Kriege“ (1914), in denen dieser sich deutschnational äußerte, politisch. Nach des Älteren Essay „Zola“ (1915) herrschte zwischen den Brüdern bis 1922 komplette Funkstille. Nach Thomas‘ Nobelpreis 1929 war die Rivalität mindestens literarisch zu Gunsten des jüngeren entschieden – aufgrund seiner politischen Dimension erreicht der Ältere nicht „das ewig Gültige“.

Und sein Leben war mit politischen Wirren verbunden. Sein Roman „Professor Unrat“ (1905) wurde in seiner Heimatstadt Lübeck totgeschwiegen. Als er, inzwischen Präsident der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, gemeinsam mit Käthe Kollwitz und Albert Einstein 1932 und 1933 gleich zweimal den „Dringenden Appell zur Aktionseinheit der Kommunistischen Partei Deutschlands und der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gegen die Nationalsozialisten“ unterzeichnet hatte, drohte der spätere Kultusminister Bernhard Rust, die Akademie aufzulösen, wenn er nicht abträte. Er tat’s, verließ Deutschland und sah sein Vaterland nie wieder.

Mann 1906. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-R98911 / o.Ang. / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11723625

Seine Schriften waren die ersten, die bei der berühmt-berüchtigten Bücherverbrennung in Berlin am 10. Mai 1933 in die Flammen flogen. Während seiner Emigration wurde er Vorsitzender des Vorbereitenden Ausschusses der deutschen Volksfront (Lutetia-Kreis) und Ehrenpräsident der SPD. 1949 wurde er schließlich zum Präsidenten der Deutschen Akademie der Künste in Ost-Berlin gewählt, starb jedoch im Exilland USA, bevor er das Amt antreten konnte: Heinrich Mann. Am 27. März 1871 wurde er in Lübeck als Sohn eines Kaufmanns und dessen brasilianisch-deutscher Ehefrau geboren.

Wortführer des „Aktivismus“

Er wuchs in wohlhabenden Verhältnissen in Lübeck auf, wo sein Vater von 1877 bis zu seinem Tod 1891 Senator für Wirtschaft und Finanzen war. Heinrich brach sowohl das Gymnasium als auch eine Buchhandelslehre in Dresden ab und volontierte von 1890 bis 1892 beim S. Fischer Verlag in Berlin, um sich auf eine journalistische Laufbahn vorzubereiten. Nach einer Lungenblutung 1892 unternahm er mehrere Kurreisen u.a. mit seinem Bruder nach Italien; die Familie zieht derweil nach München. Er veröffentlicht erste Erzählungen und poetische Texte und ist als Herausgeber der nationalkonservativen und antisemitischen Monatsschrift „Das Zwanzigste Jahrhundert. Blätter für deutsche Art und Wohlfahrt“ tätig.

Zur Zeit des wilhelminischen Kaiserreiches entstanden politische und kulturkritische – zum Teil aber auch antisemitische – Essays, so 1900 „Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten“ und 1903 „Die Göttinnen oder Die drei Romane der Herzogin von Assy“, in denen Heinrich Eindrücke verarbeitet, die er durch seinen gemeinsam mit seinem Bruder Thomas verbrachten längeren Aufenthalt in Italien, vor allem in Riva am Gardasee, gewonnen hatte. Gottfried Benn, René Schickele und Otto Flake waren begeistert. „Es sind die Abentheuer einer großen Dame aus Dalmatien. Im ersten Theile glüht sie vor Freiheitssehnen, im zweiten vor Kunstempfinden, im dritten vor Brunst“, schreibt Mann an seinen Verleger Albert Langen. 1910 bis 1913 wurden in Berlin alljährlich Schauspiele Heinrich Manns uraufgeführt.

Die Brüder 1902. Quelle: Atelier Elvira, München – first upload to de.wikipedia by Benutzer:Nocturne on 6 Oct 2004, but no source given, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=442464

An dem Roman „Der Untertan“ arbeitete er ab 1912. Der Vorabdruck in der „Zeit im Bild“ fiel der Zensur zum Opfer und wurde mit Beginn des Ersten Weltkrieges unterbunden. Das Werk erschien 1915 zuerst auf Russisch und ab 1916 als Privatausgabe in deutscher Sprache. Erst nach Kriegsende 1918 wurde der Roman in nennenswerter Auflage in Deutschland veröffentlicht. Darin kritisiert er, wie auch schon im „Unrat“, in pointierten, zuweilen belustigenden Formulierungen die politischen und sittlichen Verhältnisse im wilhelminischen Deutschland, die Servilität des deutschen Bürgertums und die sozialen Ungerechtigkeit dieser Zeit.

„Alle seine schreiberischen Fähigkeiten – Witz und Pointenreichtum sowie ein unbestechlicher Blick für Phrasen, Floskeln, Denkschablonen, die er hinreißend aufzuspießen vermag – explodieren förmlich in diesem literarischen Al-fresco-Gemälde“, lobt Tilman Krause in der Welt. Zugleich das zugänglichste von Heinrich Manns vielen Büchern, schuf der Autor mit seinem Helden Diederich Heßling, der so gern wie „unser herrlicher junger Kaiser“ Wilhelm II. sein will, dem er in schneidigem Auftreten, vor allem aber in operettenhafter Inszenierung von Macht und Stärke nacheifert, einen Typus, der nicht auf den Wilhelminismus beschränkt ist: den gewissenlosen Karrieristen und Opportunisten. 1951 verfilmte den Stoff Wolfgang Staudte für die DEFA mit Werner Peters in der Hauptrolle.

Die moralische Entrüstung über die, wie er empfand, „heuchlerische Wohlanständigkeit“ seiner Zeit- und Standesgenossen, ihren „dumpfen Nationalismus“ und ihre „rücksichtslose Ausbeutung“ der arbeitenden Bevölkerung war auch Thema vieler Erzählungen. Seit dem Erscheinen dieser Romane und der zuvor publizierten politisch-kulturpolitischen Essays „Voltaire – Goethe“ und „Geist und Tat“ galt er der jungen expressionistisch-literarischen Generation als Wortführer des „Aktivismus“. Mann gehörte bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs zu den wenigen europäischen Intellektuellen, die sich gegen die chauvinistische Kriegsbegeisterung wandten. 1914 heiratete er Maria Kanová, zieht mit ihr nach München, wo zwei Jahre später Tochter Leonie zur Welt kommt, sein einziges Kind.

„das beste Deutschland“

In den ersten Jahren der Weimarer Republik versuchte er, den Erfolg des „Untertan“ fortzusetzen. Dem negativen Bildungsroman des imperialistischen Bourgeois fügte er die Darstellungen des Proletariats („Die Armen“, 1917) sowie der Großindustrie, der leitenden Bürokratie und der Diplomatie („Der Kopf“, 1925) an; er begriff diese drei Werke als „die Romane der deutschen Gesellschaft im Zeitalter Wilhelms II.“ und fasste sie unter dem Titel „Das Kaiserreich“ zusammen. Geschult an den Franzosen, besonders an Zola, sah er sich selbst als einen linksengagierten Schriftsteller und wurde auch von den Zeitgenossen so eingeordnet. Die literarische Wirkung der Fortsetzungen blieb allerdings gering.

Erstausgabe des Alterswerks. Quelle: © Foto H.-P.Haack (H.-P.Haack) – Antiquariat Dr. Haack Leipzig → Privatsammlung Frankfurt am Main, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3994900

Bedeutsamer als sein belletristisches war sein publizistisches und essayistisches Werk der 20er Jahre. In ihm setzte er sich für die deutsch-französische Verständigung sowie für eine paneuropäische Bewegung ein. Nach der Trennung von Maria, auf die 1930 die Scheidung folgen sollte, zog Mann 1928 wieder nach Berlin, wo er ein Jahr später seine zweite Ehefrau Nelly Kröger kennenlernte und danach den Welterfolg der UFA-Verfilmung von „Professor Unrat“ als „Der blaue Engel“ mit Marlene Dietrich und Emil Jannings miterlebt. 1932 brachte ihn der Publizist Kurt Hiller als möglichen Reichspräsidenten ins Spiel.

Nach der Machtergreifung der Nazis – er stand auf der ersten Ausbürgerungsliste, als einem der ersten Prominenten wurde ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt – floh er im Februar 1933 nach Nizza, wo er bis 1940 lebte und durch sein umfängliches publizistisches Engagement zu einem intellektuellen Wortführer der antinazistischen Emigration wurde. Bereits 1933/34 veröffentlichte er in Paris die beiden politischen Streitschriften „Der Haß“ und „Der Sinn dieser Emigration“. „Die Emigration … ist die Stimme ihres stumm gewordenen Volkes, sie sollte es sein vor aller Welt. […] Die Emigration wird darauf bestehen, dass mit ihr die größten Deutschen waren und sind, und das heißt zugleich: das beste Deutschland“, heiß es darin. Zudem schrieb er zahllose Beiträge für Exil-Zeitschriften wie Die Neue Weltbühne.

In der Emigration schrieb Mann aber auch die großangelegten Romane „Die Jugend des Königs Henri Quatre“ (1935) und „Die Vollendung des Königs Henri Quatre“ (1938). Er stellte mit diesem Volkskönig des Toleranzedikts von Nantes einen vorbildlichen humanistischen Politiker dar, der die von ihm selbst propagierte Synthese von „Macht“ und „Geist“ praktizierte. Dieser historische Roman sollte gemäß seinem pragmatischen Geschichtsdenken ein „wahres Gleichnis“ für die Gegenwart sein und wurde als solches von Kollegen und Kritikern wie Arnold Zweig, Lion Feuchtwanger oder Bertolt Brecht erkannt und gerühmt. 1936 wurde ihm die tschechische Staatsbürgerschaft gewährt, 1939 feiert er Hochzeit mit Nelly.

Szenenbilder aus dem „Blauen Engel“ und dem „Untertan“. Quelle eigene Darstellung

1940, nach der Niederlage Frankreichs, musste der fast Siebzigjährige noch unter abenteuerlichen Umständen über die Pyrenäen und Lissabon nach Amerika fliehen, gemeinsam mit seiner Frau Nelly, seinem Neffen Golo sowie Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel – von einer „Actionszene der Weltliteratur“ schreibt Krause. Dort lebte er in Hollywood, dann in einem anderen Stadtteil von Los Angeles und zuletzt in Santa Monica in äußerst eingeschränkten Verhältnissen – er kam in den USA nie wirklich an geschweige wurde dort heimisch. Hier entstand – in Dialogformen und Struktur teilweise angeregt durch seinen Broterwerb als Scriptwriter für die Filmgesellschaft Warner Brothers – das bisher weitgehend unbeachtet und unverstanden gebliebene Alterswerk, darunter die Antinazi-Satire „Lidice“ (1943), mit der er auf die „Ausmerzung“ des böhmischen Dorfes durch die SS am 9.6.1942 reagierte.

„Gespür für Atmosphäre“

Sein letztes Opus, „Ein Zeitalter wird besichtigt“, beschwöre wie kein anderes Memoirenwerk der deutschen Literatur das herauf, was Heinrich „Lebensgefühl“ nennt, so Krause: „Das Lebensgefühl der Deutschen unter der späten Monarchie und der ersten Republik hat jedenfalls niemand so anschaulich wie er gespiegelt, vielleicht weil auch niemand sonst ein solches Gespür für Atmosphäre besaß.“ Nach dem Freitod Nellys zieht er sich mehr und mehr in die Einsamkeit zurück. Auch die Versuche der Kulturpolitiker der späteren DDR, ihn als „intellektuelle Galionsfigur“ zur Umsiedelung zu bewegen, trugen keine Früchte. 1947 wurde Heinrich Mann die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität verliehen, 1949 der Nationalpreis 1. Klasse für Kunst und Literatur der DDR. Er wurde instrumentalisiert und ließ sich instrumentalisieren.

Warum er, trotz seiner erklärten Sympathie für Stalin und seiner Annahme der Wahl zum Präsidenten der DDR-Akademie der Künste doch mit der Abreise zauderte, sich vor den Karren der DDR-Propaganda spannen zu lassen, war lange Forschungsgegenstand. Heute erscheint plausibel, dass es neben Alter, Hinfälligkeit und der Angst vor Veränderung auch ein gravierendes politisches Problem für Heinrich gab: die Abneigung gegen Walter Ulbricht, den er kannte und dem er nicht traute. Nach seinem Tod am 11. März 1950 infolge einer Gehirnblutung wurde Manns Urne 1961 nach Deutschland überführt und auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin beigesetzt, die Grabstätte gehört heute zu den Ehrengräbern des Landes Berlin. Darüber hinaus wurde nach ihm der Heinrich-Mann-Preisbenannt, der seit 1953 jährlich verliehen wird. Anfangs mit 10.000 DDR-Mark für Prosa datiert, wird er seit der Wiedervereinigung als Preis für Essayistik vergeben, das Preisgeld beträgt 20.000 Euro.

25.3.1961 Beisetzung der Urne Heinrich Manns u.a. mit Arnold Zweig und Ludwig Renn. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-81659-0008 / CC-BY-SA, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5358771

Die Hinneigung zum „Regime von Pankow“, um es mit Adenauer zu sagen, der dabei das „w“ so verächtlich mitsprach, hat ihm in der BRD gewaltig geschadet. Dass man in der Bundesrepublik seine Bücher über Jahrzehnte hinweg nur als DDR-Lizenzausgaben bekommen konnte, marginalisierte ihn. Auch als die gesamte Familie Mann in den Nullerjahren zur deutschen Vorzeigesippe aufgewertet wurde, profitierten davon alle – Thomas und Katja, Klaus und Erika, Golo und Elisabeth – nur Heinrich nicht. Er blieb der schrullige Onkel, selbst noch in dem populären und –zigfach preisgekrönten Fernsehmehrteiler von Heinrich Breloer „Die Manns“ (2001).

Heinrich Manns politische Position ist nicht einfach zu verstehen, lässt sich aber mit dem Begriff der „Freiheit“ auf einen Nenner bringen. Er kämpfte für ein freiheitliches und republikanisches Deutschland, teilweise mit sozialistischer Grundierung. Für diese Ideale trat er bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein, am engagiertesten in seinem Zola-Essay. In der Weimarer Republik kämpfte er für ihren Erhalt und nahm sie gegen überzogene Erwartungen in Schutz, zögerte aber auch nicht, bestehende Missstände anzuprangern. Als Hindenburg 1932 erneut als Reichspräsident kandidierte, wählte er ihn in der Hoffnung, dass die Republik so überleben würde. Seine „Republik-Romane“ lesen sich wie ein moralischer Appell, die Würde der Demokratie zu verteidigen.

Im Exil bekämpfte er den Nationalsozialismus und überzog ihn mit Orgien des Hasses und der Verachtung. Er glaubte an den Erfolg einer deutschen Volksfrontbewegung gegen den Faschismus und sah nicht, dass die Kommunisten kein republikanisches freiheitliches Deutschland anstrebten. Als er von Paul Merker gebeten wurde, ein Vorwort zur DDR-Verfassung zu schreiben, lehnte er darin jedwede Form der Parteiendiktatur ab. Er schrieb: „Wer die ganze Wahrheit wünscht, rechnet mit der Verschiedenheit der Meinungen.“

Der Unvollendete

Manche Porträts sind so ikonographisch geworden, dass sie das Bild des porträtierten Künstlers bis in die Moderne hinein prägen. Sein kurz vor seinem frühen Tod am 28. März vor 140 Jahren von Ilja Repin gemaltes gehört dazu: Ein aufgedunsenes Gesicht mit wirren Haaren, zerzaustem Bart, unstetem Blick und roter Säufernase über einem viel zu massigen Körper, den ein schwerer grauer Mantel mit rotem Kragen umweht, der einen Blick auf das handbestickte Unterhemd gewährt. 20 Jahre zuvor war der Kadett noch ein umworbener Mädchenschwarm. Er ging ein in die Musikgeschichte als der Erneuerer der russischen Romantik: Modest Mussorgsky.

Der Gutsherrensohn wurde am 21. März 1839 in Karewo im Gouvernement Pskow etwa 290 km südwestlich von Sankt Petersburg nahe der Grenze zu Estland geboren und verbrachte eine sorgenfreie Jugend. Er lernte von seiner Mutter und einer deutschen Erzieherin sowie später weiteren Lehrern das Klavierspiel, beherrschte mit sieben Jahren bereits kurze Stücke von Franz Liszt und spielte mit neun Jahren vor einem zahlreichen Publikum in seinem Elternhaus sein erstes Konzert. 1852 trat er in die Kadettenschule in St. Petersburg ein, wo er sich besonders mit Geschichte und Philosophie beschäftigte, im Schulchor sang und sich mit russischer Kirchenmusik des frühen 19. Jahrhunderts beschäftigte. Seine erste, seinen Mitschülern gewidmete Komposition „Porte-enseigne Polka“, wurde auf Kosten seines Vaters gedruckt. In den Kasinos rühmte man ihn als glänzenden Tänzer und Pianisten, dandyhaft im Auftreten.

Höchst folgenreich für Mussorgsky war im Winter 1856/57 die Begegnung mit Milij Balakirev, der dank privater Unterstützung als Musiker leben konnte. Mussorgsky begann, bei dem drei Jahre älteren Freund Kompositionsunterricht zu nehmen, und wurde von ihm stark beeinflusst. Bald gehörte er zu dem sich um Balakirev formierenden, zunächst geheimen Kreis gleich gesinnter Komponisten, die das Ziel hatten, die russische Kunstmusik unter Einbeziehung der Volksmusik, der besonderen Charakteristik der Sprache, realistischer Sujets und nationaler Themen zu reformieren: Alexander Borodin, Cesar Cui und Nikolaji Rimsky-Korsakow, die sich fortan „Die Fünf“ oder auch „Das mächtige Häuflein“ nennen. Es waren allesamt Musikliebhaber, bewusste Dilettanten, die gegen den akademischen Professionalismus kämpften und aus dem Volkstum Russlands etwas Neues schaffen wollten. Die Bewegung zerbrach letztlich daran, dass das Bürgertum zunächst keinerlei Verständnis für sie aufbrachte.

Repins Gemälde von 1881. Quelle: Tretyakov Gallery, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=77230100

1856 dem Preobraschenski-Garderegiment beigetreten, verließ es Mussorgsky nach einer Krise im Juli 1858 wieder, um sich der Musik zu widmen. Mit der Aufhebung der Leibeigenschaft im Februar 1861 änderten sich Mussorgskys Lebensverhältnisse von Grund auf, seine Einkünfte aus dem Gutsbesitz fielen weg. Nunmehr mittellos zog er 1863 in St. Petersburg in die WG der „Fünf“ und nahm im Dezember desselben Jahres eine untergeordnete Beamtenstellung an, parallel dazu arbeitete er als Konzertpianist. Mit kleineren Veränderungen verblieb Mussorgsky 17 Jahre lang im Staatsdienst und musste seine Zeit mit dem stupiden Abschreiben von Akten verbringen, so zuletzt in der Forstwirtschaftsabteilung des Ministeriums für Staatsbesitz.

„vom Dämonischen bis zu himmlischer Verklärung“

Es ist naheliegend, dass der Widerspruch zwischen seinem Schaffensdrang und der stumpfsinnigen Tätigkeit, zu der er sich gezwungen sah, seinen Hang zum Alkoholismus fatal verstärkte. Die Alkoholkrankheit zeigte sich schon im Herbst 1865 äußerst bedenklich, als Mussorgsky einen akuten Anfall von Delirium tremens erlitt, ausgelöst durch den Tod seiner Mutter. Sein Bruder Filaret holte ihn unter Zwang aus der musikalischen Kommune heraus und ließ ihn bei sich auf dem Land wohnen, wo sich Mussorgsky insbesondere mit Orchesterwerken beschäftigte. 1867 gelang ihm mit der sinfonischen Dichtung „Die Nacht auf dem kahlen Berge“ das erste völlig eigenständige Orchesterstück.

Mussorgski beschreibt darin den Tanz der Hexen in der Johannisnacht auf dem Lyssaja gora („kahlen Berg“), einem Ort der slawischen Mythologie, der ähnlich dem Blocksberg als Versammlungsort der Hexen gilt. Allerdings stieß das Werk auf massive Ablehnung durch die Komponisten-Kollegen: Balakirew vermerkte in der Partitur mehrfach „unsinnig“. Mussorgski verteidigte sein Werk in einem Brief an Rimski-Korsakow vom Juli 1867. Dennoch wagte er es in der Folgezeit nicht mehr, sich um eine Aufführung zu bemühen, und komponierte auch keine weiteren Orchesterwerke mehr.

Für Wilhelm Zentner ist Mussorgskij „eine ebenso elementare musikalische wie dramatische Begabung“. Seine persönliche Handschrift zeigt sich in Elementen, die im traditionellen Komponieren keinen Platz haben, darunter ungewöhnliche Akkordverbindungen, eine schroffe, gelegentlich modal-altertümlich, ja asiatisch anmutende Harmonik oder eine eigenwillige Instrumentation. Wegen solcher scheinbarer Fehler oder Ungeschicklichkeiten wurde Mussorgsky im Freundeskreis und darüber hinaus als Stümper oder Dilettant belächelt. Dabei sind es gerade diese besonderen Charakteristika, die seiner Musik ihre spezifische Eindringlichkeit und Kraft verleihen und mit denen er auf spätere Komponisten wie Debussy und Ravel gewirkt hat. Die Oper „Die Heirat“ (1868) blieb wie viele andere Stücke Fragment. Mit „Die Kinderstube“ (1868–72) begann er zugleich einen von mehreren Zyklen mit Klavierliedern.

Godunov-Szene am Bolschoi-Theater. Quelle: http://www.gcprive.com/boris-godunov/

Mussorgskys Hauptwerk ist die Oper „Boris Godunov“, die in erster Fassung in den Jahren 1868/69 entstand und 1872 noch einmal wesentlich erweitert und bearbeitet wurde. Von der Uraufführung 1874 an wurde sie mehrere Jahre lang regelmäßig am Marinskij Theater gespielt, dann aber aus dem Spielplan gedrängt, auch weil die Oper als politisch bedenklich eingestuft wurde. Vom Komponisten „musikalisches Volksdrama“ genannt, variiert sie Motive des gleichnamigen Dramas von Alexander Puschkin. Die historische Person Boris Godunow war russischer Zar von 1598 bis 1605 und gilt in der monarchistischen Geschichtsperspektive als Usurpator, der allerdings von der damaligen Volksvertretung gewählt worden war. Sie kam erst nach mehrmaliger Ablehnung durch die Leitung des Mariinsky Theaters und dann in veränderter Form dort auf die Bühne – nötigte aber doch auch den Gegnern Hochachtung ab. Peter Tschaikowsky freilich beschied der Oper: „Sie ist eine gemeine, niederträchtige Parodie auf die Musik.“

Mussorgsky kombinierte in seiner Oper Realistisches mit Rituellem, Humoristisches mit Psychologischem und hat wie Richard Wagners „Tristan und Isolde“ „zukunftweisend und anregend auf die Entwicklung der Oper gewirkt“, befindet Zentner. Seine Tonsprache und ihre faszinierende Wirkung entzögen sich rein verstandesmäßiger Deutung: „Staunenswert ist die Spannweite dieser Musik, die von der naiven Kinderweise bis zu wildester Leidenschaft, vom derbsten Humor bis zu keuschester Verinnerlichung, vom Dämonischen bis zu himmlischer Verklärung reicht und für alles den natürlichsten, treffendsten Ausdruck findet.“ Durch die Verwendung von Kirchentonarten, den vermehrten Einsatz von Chromatik sowie die realistische Darstellung des Volkes und seiner Reaktionen fällt der Chor aus dem zeitgenössischen Rahmen damals in Russland beliebter ausländischer Opern (z. B. Giuseppe Verdis), aber auch der Romantik eines Tschaikowski.

„kein Platz für Gesetze“

1873 stirbt der Maler und Architekt Viktor Hartmann, ein guter Freund Mussorgskys. Zu seinem Andenken wird in St. Petersburg eine Ausstellung mit Hartmanns Werken organisiert: Da hängen die „Hütte der Hexe Baba-Yaga“, die finsteren „Katakomben von Paris“ oder auch das prächtige „große Tor von Kiew“. Er sieht die Bilder an, und in seinem Inneren verwandeln sie sich in Musik – in Tongemälde. Er geht nach Hause, setzt sich ans Klavier und komponiert eine musikalische Galerie, wo sie alle wieder hängen: Die „Bilder einer Ausstellung“. Daneben vollendet er mit „Ohne Sonne“ (1874) und „Lieder und Tänze des Todes“ (1874–77) nach Gedichten von Alexej Tolstoi zwei weitere Liederzyklen.

Adaptionen in der elektronischen Musik. Quelle: eigene Darstellung

1878/79 raffte er sich trotz schwerster Alkoholprobleme zu einer dreimonatigen Konzertreise zusammen mit der Altistin Daria Leonowa in die Ukraine, die Krim und zu Städten an Don und Wolga auf. Am 13. Januar 1880 musste Mussorgsky den Staatsdienst wegen seiner Trunksucht verlassen, erhielt jedoch unter der Bedingung, dass er seine halbfertige Oper „Chowanschtschina“ zu Ende bringe, eine Pension von 100 Rubel zugebilligt. Doch sowohl die als auch die komische Oper „Der Jahrmarkt von Sorotschinzy“ (1876–78) nach einer Erzählung von Nikolai Gogol bleiben unvollendet.

In seinem letzten Lebensjahr lebte er teilweise bei Daria Leonowa auf ihrem Landgut, arbeitete als Begleiter und Theorielehrer in der von ihr gegründeten Musikschule in St. Petersburg. Ende Februar 1881 wurde er in das Nikolajewski-Krankenhaus eingeliefert und starb nach einer scheinbaren Erholung Mitte März, während der Repin sein berühmtes Bildnis malte, am 28. desselben Monats nach einem Schlaganfall. Ihm zu Ehren tragen seit 1961 die Mussorgsky Peaks seinen Namen, zwei Berge auf der Alexander-I.-Insel in der Antarktis. Auch eine russische Münze zeigt sein Porträt. Seine Kompositionen haben ihren Siegeszug durch die Konzertsäle und Opernhäuser der Welt in der Regel nicht in der Gestalt angetreten, die Mussorgsky ihnen gegeben hat, sondern in Bearbeitungen, die tief in ihre Substanz eingreifen. Viele wurden durch seinen Freund Rimski-Korsakow bearbeitet und „korrigiert“, so „Chowanschtschina“.

Die „Bilder einer Ausstellung“ sind von mehreren anderen Komponisten orchestriert worden; die bekannteste Version stammt von Maurice Ravel. Aber auch in der elektronischen (Isao Tomita) und Rockmusik (Emerson, Lake & Palmer, Stern Meißen) sowie in mehreren Filmen wurden der Zyklus sowie Themen anderer Kompositionen gern adaptiert, so in Disneys Zeichentrickfilm „Fantasia“ oder Monty Pythons „Jabberwocky“. Zu allem Überfluss wurde Mussorgskys Schaffen in den Debatten um den Sozialistischen Realismus, zu dessen direktem Wegbereiter der Komponist erklärt wurde, hemmungslos instrumentalisiert. Er selbst formulierte das Credo seines Schaffens so: „Wo es sich um Menschen, um Leben handelt, da ist kein Platz für vorgefasste Paragrafen und Gesetze.“

Meine letzte Rezension liegt schon ein Weilchen zurück, aber ich fand zwischendurch auch kein Buch, das mich zu einem längeren Text herausgefordert hätte. Das änderte sich nach der Krankenbettlektüre eines 399-Seiten-Romans, der in den Feuilletons 2019 nachgerade enthusiastisch besprochen wurde: Sally Rooneys „Gespräche mit Freunden“ (orig. „Conversations with Friends“ 2017) – das Manuskript der damals vollkommen unbekannten irischen Autorin, Jahrgang 1991, war lukrativ versteigert worden. „Die wichtigste Stimme der Millennialliteratur“ hat der Independent sie genannt. Für ihr Erstlingswerk wurde Rooney 2017 von der Sunday Times als „Young Writer of the Year“ ausgezeichnet. Man kann noch erwähnen, dass sie mit 22 Jahren Europameisterin im Debattierwettbewerb der europäischen Universitäten, dem EUDC, wurde.

„Gnadenlos intelligent“ jubelt die FAS, die Generation der Millenials würde darin „hellsichtig seziert“ (FAZ), die Sprache sei „schnörkellos“ und „mondän“ (FAZ), ja „warmherzig“ (DLF), die Dialoge gar „atemberaubend“ (FAZ), kurz der ganze Hype „in diesem Fall glücklicherweise komplett berechtigt“ (Süddeutsche). Von gelegentlicher Einzelkritik abgesehen, fand ich nicht einen Verriss. Soso. Nach meiner Lektüre allerdings war ich ordentlich durchgeärgert. Weniger wegen der vertanen Lebenszeit (hätte ich halt ein anderes Buch gelesen), sondern eher der geradezu unheimlichen Kongruenz von schlechter Literatur mit bester Kritik: wieso werden selbst abartige literarische Fehler derart unisono positiviert und ins Gewollte, ja Gekonnte uminterpretiert, wie das etwa der Spiegel mit dem Terminus „geniale Vagheit“ praktiziert?

Was ich las, war, knappstmöglich bilanziert, langweiliges, blutleeres, pubertäres Geschwätz. Dabei, und die Plattitüde muss jetzt sein, entsprach die Autorin perfekt meiner Imagination der Protagonistin: Ein langweilig-schnippisches „Wasch-mich-aber-mach-nicht-nass“-Püppchen mit Emaille-Wangen, ausdruckslosen Augen, zu großer Nase, dafür sehr sinnlichem Mund und kleinen Brüsten, gekleidet in eine unscheinbare Bluse und einen Faltenrock, der einen Blick auf ihre etwas zu strammen Waden freigab. Die NZZ nannte sie „ein bisschen linkisch“, obwohl sie genau diesen Eindruck ihrer Hauptfigur machte: Den einer Literaturstudentin mit dem Drang zu geradezu zwanghafter Selbstbeobachtung und –beschreibung, zwischen Selbstzweifel und Selbststilisierung, die mehr Geist als Körper ist und zu ihren eigenen Gefühlen keinen Zugang findet. „Ich war nicht, wer ich vorgab zu sein“, bringt die Ich-Erzählerin das selbsterkannte Dilemma auf den Punkt.

Sie heißt Frances und war mit ihrer besten Freundin Bobbi während der Schulzeit ein Paar – das Switchen zwischen verschiedenen sexuellen Identitäten wird nicht weiter thematisiert, sondern ungeachtet aller psychischen Folgen als selbstverständlich genommen. Mittlerweile studieren beide am prestigeträchtigen Trinity College in Dublin und treten als Duo bei Spoken-Word-Events auf – Poetry Slam, sagt man hierzulande. Frances schreibt alle Texte, Bobbi ist die bessere Performerin.

Cover. Quelle: https://www.fr.de/bilder/2019/08/21/12932551/516675114-feu_cover_rooney_200819_4c-3N6b.jpg

Als die beiden eines Abends die 37-jährige Kulturjournalistin Melissa und später ihren jüngeren, erfolgloseren Mann Nick, einen mittelmäßigen Aktor kennenlernen, überträgt sich diese Aufgabenteilung auch auf ihr Liebesleben. Während Bobbi direkt mit Melissa zu flirten beginnt, ist Frances‘ erster Schritt bei Nick, ihm eine Mail zu schreiben. Die restliche Handlung verliert sich in minimalistischer, unterkühlter Sprache an unterschiedlichen Schauplätzen und mittels diverser Medien wie Dialogen, Mails, Chats im komplizierten Beziehungsgeflecht aus Zuneigung, Abneigung, heimlichen und später offenen Affären zwischen diesen vier Figuren.

„Marxismus als Stilrepertoire“

Das Buch kreist dabei um zwei Dinge. Zum einen um Geld, Macht und den Kapitalismus. Auf dem Weg zu Melissas Haus erklärt Bobbi ihrer neuen Bekannten: „Ich bin lesbisch, und Frances ist Kommunistin“. Während der ersten richtigen, postkoitalen Unterhaltung zwischen Frances und Nick heißt es: „Beim Abendessen tauschten wir ein paar Details aus unserem Leben aus. Ich erklärte ihm, dass ich den Kapitalismus zerstören wolle und dass ich Männlichkeit persönlich als unterdrückend empfand. Nick sagte, er sei ,grundsätzlich‘ ein Marxist, und er wolle nicht, dass ich ihn verurteile, weil er ein Haus besaß.“ An einer anderen Stelle sagt Frances „Ferienhäuser egal wo zu haben sollte gesetzlich verboten sein.“

„Bobbi hatte eine Art an sich, mit der sie überall dazugehörte“, beschreibt Frances. „Obwohl sie sagte, sie hasse die Reichen, war ihre Familie reich, und andere wohlhabende Menschen erkannten sie als eine der ihren an. Ihre radikale politische Einstellung betrachteten sie als so etwas wie bourgeoise Selbstkritik, nichts allzu Ernsthaftes, und sprachen mit ihr über Restaurants oder wo man in Rom wohnte. Ich fühlte mich in diesen Situationen fehl am Platz, unwissend und bitter, hatte aber auch Angst davor, als halbwegs armer Mensch und Kommunistin identifiziert zu werden.“

Scheinbar alles, was Frances (und auch Bobbi) tun, tun sie in einer ständigen Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Umständen und in gewisser Weise auch mit sich selbst, filtern es durch Klassen- und Geschlechterverhältnisse, geprägt von Zukunftsängsten und echter materieller Not: Eine Zeit lang lebt Frances von Toastbrot. Denn Frances‘ alkoholkranker Vater kann seiner Tochter monatelang keinen Unterhalt überweisen, auf den die Studentin dringend angewiesen ist. Trotzdem strebt Frances keine Karriere an.

Die Autorin, inszeniert von Klaus Holsting. Quelle: https://img.nzz.ch/2019/7/30/9c1113bb-41a8-4f56-9af1-70afed8f0548.jpeg?width=1360&height=2029&fit=crop&quality=75&auto=webp

Der Anfang Zwanzigjährigen erscheint eine Festanstellung, ja Lohnarbeit überhaupt weder aussichtsreich noch erstrebenswert. Lustlos absolviert sie zwar ein unbezahltes Praktikum in einer Dubliner Literaturagentur. Ihren prekären Lebensstil hat sie jedoch längst zum Programm erhoben. „Ich hatte verschiedene Niedriglohnjobs in den vergangenen Sommerferien und ich ging davon aus, dass es nach meinem Abschluss so weitergehen würde. Auch wenn ich wusste, dass ich irgendwann eine Vollzeitstelle antreten musste, phantasierte ich garantiert nie von einer strahlenden Zukunft, in der ich dafür bezahlt wurde, eine wirtschaftlich relevante Rolle einzunehmen.“

Einmal erklärt sie wie fürs Protokoll, „dass mein Desinteresse an Reichtum ideologisch gesund war. Ich hatte nachgesehen, wie hoch das durchschnittliche Jahreseinkommen wäre, wenn das Weltbruttosozialprodukt gerecht auf alle verteilt würde, und laut Wikipedia läge es bei 16 100 Dollar. Ich sah keinen Grund, weder politisch noch finanziell, warum ich je mehr als diese Summe verdienen sollte.“ Das hält sie jedoch nicht davon ab, sich ins französische Sommerhaus von Melissa und Nick einladen zu lassen und Wein und Lamm zu genießen.

Klassenunterschiede mobilisieren keine Wut, münden noch nicht einmal in Konsumkritik oder werden sonstwie hinterfragt, sondern einfach nur vage als „schlecht“ beschrieben. Selbstgenügsamkeit, provozierte Bescheidenheit oder passive Duldungsstarre vor einem als monströs empfundenen sozialen Moloch: Nichts genaues weiß man nicht. „Marxismus erscheint so als ein Stilrepertoire, ein Slang unter vielen, dessen sich Rooneys polyglotte Figuren je nach Bedarf bedienen“, erkennt Anna Pilarczyk im Spiegel.

„das Recht, niemanden zu lieben“

Zum anderen geht es um Krankheit, Liebe, Freundschaft, die vielen Abstufungen dazwischen, und um Gefühle, die so stark sind, dass die Ich-Erzählerin sie nur ertragen kann, indem sie sich selbst physische Schmerzen zufügt und ritzt, womit sich der Kreis zur Krankheit schließt: sie leidet, wie später festgestellt wird, unter Endometriose, was fatal heilkundliche Befunde unterstützt, wonach Gefühle, wenn sie nicht externalisiert werden, sich nach innen richten.

Denn Frances tut alles dafür, um von ihrer Umgebung für cool, souverän und unabhängig gehalten zu werden: Gefühle unterdrücken, lügen, Chatnachrichten erst schreiben und dann doch wieder löschen… als sei sie in eine ständige Selbstbefragung verstrickt. Wie wirke ich auf andere, wie komme ich an, bin ich gut genug? Wichtig ist eine gewisse Coolness, die nur aufrechtzuerhalten ist, wenn man Distanz wahrt, zu anderen, aber auch zu sich selbst. So lebt sie ihr Leben nicht, sondern kuratiert es. Aber wo wird es ausgestellt, wer soll es sehen?

Denn gleichzeitig dreht sich bei ihr alles um das eigene Ego, die eigene Befindlichkeit. Ein gefährlicher Spagat, der verletzbar macht. Sich dem zu entziehen, gelingt halbherzig, indem sie möglichst wenige Gefühle zeigt, auch wenn sie sie in den Sozialen Medien oft inflationär zur Schau stellt, aber in der Realität vorsichtig, ja misstrauisch ist: „Als Feministin habe ich das Recht, niemanden zu lieben.“ Sie ist trotz der fast symbiotischen Beziehung zu Bobby einsam – als sie Sexbilder eines US-Studenten erhält, ist sie völlig überfordert und findet außer der Löschtaste keine Bewältigung: „Ich erzählte niemandem davon, es gab niemanden, dem ich davon hätte erzählen können.“ So verhält es sich auch in der Liebesbeziehung, die Frances mit Nick eingeht, zunächst im Geheimen, dann mehr oder weniger geduldet von Melissa.

Die Autorin als europäische Debattenkönigin. Quelle: http://www.universitytimes.ie/wp-content/uploads/2013/09/883839_10151857318394199_431750601_o.jpg

Also seziert sie neben den anderen und der Welt vor allem sich selbst, auch im Spiegel, auch auf Fotos. Das geht soweit, dass sie oft genug ihren Gesichtsausdruck ahnt und beschreibt, ohne ihn zu sehen. Was sie erlebt, ist oft genug begleitet von einem Bewusstsein dafür, wie man es später beschreiben könnte, und wenn etwas Unangenehmes passiert, denkt Frances „sogar darüber nach, wie lustig ich in einer E-Mail darüberschreiben könnte“.

Dieser Zwang, verbunden mit ihrer ärmlichen Herkunft, macht sie oft blind für die Nöte und Empfindlichkeiten der anderen – mit manchmal verheerenden Folgen. Ihre Liebe zu Nick trägt das Korsett eines prononcierten Machtanspruchs: Glück heißt für sie, „die volle Kontrolle“ in der Beziehung zu haben. „Ich könnte gehen, dachte ich, und darüber nachzudenken fühlte sich gut an, als hätte ich wieder die Kontrolle über mein Leben.“

Dabei wird permanent die Ambivalenz zwischen ihrem eigenen Innenleben und ihrer Außenwirkung thematisiert: „Ich war aufgeregt, bereit für die Herausforderung, in die Wohnung einer Fremden zu gehen, und legte mir schon ein paar Mienen und Komplimente zurecht, um charmant zu wirken.“ Zu wirken, wohlbemerkt, nicht zu sein. Reflektieren statt leben. Diese Kombination aus Unsicherheit, Verletzlichkeit und Narzissmus ist nicht nur die härteste Waffe, die Frances im Umgang mit ihrem Umfeld hat, sondern eben auch ihre offene Flanke.

Ihre Verfasstheit gipfelt in religiösem Sendungsbewusstsein: „Jesus wollte immer der bessere Mensch sein, ich auch.“ „Die größte Grausamkeit für Rooneys Generation, zu der ich auch gehöre, ist aber, dass wir von der Welt geliebt werden wollen, von der wir vorgeben, sie zu hassen“, hat die junge Kritikerin Madeleine Schwarz Rooneys Paradox in der New York Review of Books zusammengefasst.

„ihr Inneres zu verschleiern“

Dabei geizt Rooney geradezu mit Details, jede Information, die ein zu klares Bild von einer Figur geben könnte, spart sie aus. Nick wird schnöde mit den Worten „Er hatte ein großes, schönes Gesicht“ skizziert. Konterkariert wird diese figürliche Detailarmut von funktionalem Detailreichtum, wenn es etwa vor einem Lyrikevent heißt: „Wir hatten eine Flasche Weißwein reingeschmuggelt, die wir uns auf dem Klo teilten.“ Dass Plastebecher beim Vertilgen der Konterbande zum Einsatz kamen, versteht sich von selbst.

Selbst popkulturelle Verweise hält Rooney abstrakt. So heißt es an einer Stelle, dass sich Nick und Frances „einen iranischen Film über Vampire“ ansehen. Als Ausweis dafür, dass die beiden einen anspruchsvollen Filmgeschmack haben, reicht das völlig. Wer es weiß, denkt sich hinzu, dass es sich um „A Girl Walks Home Alone At Night“ von Ana Lily Amirpour handeln muss. Wer es nicht weiß, hat an Bedeutung aber auch nichts verpasst. Diese Ambiguität aus einerseits pseudointellektuellem Gebaren, das andererseits gar nichts bedeutet, macht den Roman in Gänze so belanglos: Nicht umsonst fragt sich Frances, „warum ich mich nicht für mein eigenes Leben interessierte“.

Die Autorin 2017. Quelle: https://i2.wp.com/literaturreich.de/wp-content/uploads/2019/08/24872619808_b01b153932_b.jpg?w=1024&ssl=1 Foto von Chris Boland www.chrisboland.com

Rooneys lakonische Dialoge drehen sich permanent um das Offensichtliche und zugleich mitschwingende Verborgene, die Figuren sind nicht dümmer als die Autorin. Tilman Spreckelsen mutmaßt in der FAZ, dass das „nicht nur an den Lügen und Heimlichkeiten“ liege, an dem vielen, das angedeutet und falsch oder gar nicht verstanden wird, an dem, was auf der Zunge liegt und dann doch nicht gesagt wird oder den intensiv empfundenen, aber höchst wandelbaren Emotionen. „Es liegt auch nicht nur an den Techniken, die gerade die älteren Protagonisten ausgebildet haben, ihr Inneres zu verschleiern, was wiederum auf den Argwohn der anderen trifft.“ Wer eine moderne Ausprägung des Spengler’schen „Ibsen-Weibs“ sucht – hier wird er fündig.

Der Titel lässt zu Recht durchblicken, dass es sich um ein schier endloses Palaver handelt, das sich noch dazu in Textnachrichten und Mails fortsetzt, die als Frances’ Gedächtnis erscheinen: Hier geht sie mit der praktischen Suchfunktion vergangenen „Gesprächen“ nach, die Melancholie beim Lesen alter Briefe findet ihre zeitgemäße Fortsetzung. Denn wenn unsere Gegenwart immer komplexer und jede Information darin digital jederzeit verfügbar wird, lässt sich die Welt – auch erzählerisch – nur durch radikale Selektion bewältigen.

Bei dieser Selektion kann man als Autorin subjektiv vorgehen oder die Datenmenge per Suchalgorithmus eingrenzen, so wie Frances es anhand ihrer Chats mit Bobbi beschreibt: „Diesmal lud ich mir unsere Unterhaltungen als riesige Textdatei mit Zeitstempeln herunter. Ich sagte mir, sie sei zu groß, um sie von Anfang bis Ende zu lesen, und sie hatte auch keine durchgehende erzählerische Form, also beschloss ich, sie zu lesen, indem ich nach bestimmten Wörtern oder Phrasen suchte und um sie herum las.“ Miriam Zeh orakelt im DLF: „Die Autorin hätte vermutlich nichts dagegen, wenn ihre Romane auf dieselbe Weise gelesen würden.“

Auch psychologisch verblüfft der Roman durchs Ungefähre. Immer wieder werfen die Figuren mit ihrem Verhalten Rätsel auf, irritieren durch plötzliche Tränen oder zynische Ausbrüche. Ihre Figuren entstammen einem bestimmten Milieu, einer weißen und überdurchschnittlich gebildeten, urbanen Mittelschicht. Hier – und nur hier – diskutiert man über den kapitalistischen Nutzen von Monogamie, über das kommunistische Manifest und über Gilles Deleuze. „Nervig-pseudointellektuelles Gelaber“ stöhnt selbst Nina Apin in der taz, aber meint zugleich: „Die Sexszenen sind ziemlich gut. Und das ist wirklich selten.“ Entweder hat sie einen anderen Text gelesen, oder ich will mir nicht ausmalen, wie ihr Sexleben aussieht.

„Ich habe keine Agenda“

„Über weite Strecken scheint Sally Rooney selbst nicht zu wissen, wohin sie sich als nächstes schreibt. Ein heimliches Treffen von Nick und Frances reiht sich ans nächste“, erkennt Zeh. Erzählstränge versanden mit offenen Enden, Konsequenzen werden nicht ausgesprochen und Fragen nicht gestellt. Als „Geschichte ohne Fazit“, die zu peinlich sei, um erzählt zu werden, bezeichnet Frances einmal einen ihrer Tage und fasst damit Rooneys gesamten Roman zusammen: „eine Absage an die vollständige Erzählbarkeit einer zwischenmenschlichen Beziehung und eine Absage an den Autor als Allmacht.“ Dazwischengetupft immer mal ein Bild, das ihre durchaus vorhandenen Ansätze erkennen lasst wie „Im Bett falteten wir uns wie Origami ineinander“ oder „Die Luft schien hilflos auf den Straßen gefangen“. Aber auch hier Begrenztheit und Passivität.

Der Übersetzung von Zoë Beck gelinge es, dabei immer dieselbe Texttemperatur zu halten, meint Meredith Haaf in der Süddeutschen. Es stecke ein „austrainierter“ und doch „warmer, lebendiger Intellekt“ hinter dem Text. Aha. „Easy reads“ nennt man im Englischen süffige, voraussetzungsarme Lektüren, bei denen man rasch von einer Seite zur nächsten blättert – das trifft es besser. Einen „Entwicklungsroman“, den Anne Kohlick im DLF gelesen haben will, konnte ich gleich gar nicht entdecken. Denn der Text – der Mann bleibt bei seiner Frau, die Liebhaberin vielleicht ratlos-verletzt, dennoch solo – steuert auf ein offenes Ende hin: „Ist es möglich, dass wir ein Alternativmodell entwickeln, wie wir einander lieben?“

Da wird eine Beziehung zer- und die Emotionalität einer naiven Kind-Frau nachhaltig verstört, aber all das plätscherte so dahin, hätte auch anders verlaufen können und wird in seinen Folgen eher niedlich ausfallen – oder gewaltig. Weder die Erzählerin noch die Autorin kümmerts: „Ich habe keine Agenda. In meinem Roman bin ich nicht daran interessiert, über die Dinge zu urteilen – auch nicht über Dinge, die mir sehr am Herzen liegen … Ich bin nur daran interessiert, es zu beobachten, und wenn ich es sehe, werde ich darüberschreiben“, sagte sie der FAZ. Angela Schade befand in der NZZ: „Das kalte Feuer, das durch diesen Roman irrlichtert, hat die Figuren zwar nicht verzehrt; aber es lässt sie als gebrannte Kinder zurück.“ 

Die Autorin bei einer ihrer vielen Preisverleihungen. https://www.irishtimes.com/polopoly_fs/1.3719652!/image/image.jpg_gen/derivatives/landscape_620/image.jpg

Mich frappierte daneben die Menge an Meta-Text, die Rooney und ihr Roman produzierten: neben Essays, Autorenporträts und Rezensionen auch Instagram-Posts von Prominenten wie Sarah Jessica Parker. Prompt musste auch Haaf die Frage aufwerfen, „ob das nicht einfach Wohlfühlliteratur für ein arriviertes Publikum ist. Und ob man da nicht einfach nur einer sehr gut gemachten intellektuell-literarischen Hochstapelei aufgesessen ist.“ Sie traute sich offenbar nicht, Ja zu antworten. Ich schon. Was sich vielleicht aufmachte, die Formen und Bedingungen ihres eigenen Begehrens und das der anderen zu reflektieren und den Versuch zu machen, sich diesen Prägungen zu entziehen, endet im literarischen Nirvana.

Es gab mal Zeiten, da galten irische Autoren als Maß aller Dinge. Zu den irischen Trägern des Literaturnobelpreises zählen William Butler Yeats (1923), George Bernard Shaw (1925), Samuel Beckett (1969) und Seamus Heaney (1995). Diese Zeiten, muss man angesichts von Rooney konstatieren, sind dahin. Unwiederbringlich. Das für mich positivste an der Causa folgt zum Schluss: Mit ihrem zweiten Roman „Normal People“ stach Rooney 2019 in Großbritannien Michelle Obamas Autobiografie als „Buch des Jahres“ aus. Was wiederum viel über die Qualität des Obama-Textes aussagt. Oder die der Übersetzung. Vielleicht stammte die ja von einem unsensiblen, alten, weißen Mann, der sie gar nicht hätte verfertigen dürfen…

Einen „Sprachkampf“ ums Deutsche erkennt der Linguist Hennig Lobin. Doch Sprachpolitik ist nur ein Aspekt von „Identitätspolitik“, die jetzt auch Linke, ja die ganze Gesellschaft neu zu spalten droht.

Meine neue Tumult-Kolumne, die hier nachgelesen werden kann und natürlich gern geteilt werden darf.

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