dass ich Ihnen binnen eines Jahres zum zweiten Male einen
„Offenen Brief“ schreibe, ja schreiben muss, ist für beide Seiten kein gutes
Zeichen. Für mich, da meine Anliegen im Namen meiner Partei für Sie offenbar
ignorabel sind; für Sie, da Ihr Sender offenbar ohne Ihre Führung schaltet und
waltet, wie ihm gut dünkt.
Der zur Rede stehende Fakt ist rasch berichtet: während ich als Pressesprecher der AfD-Landtagsfraktion Baden-Württemberg letzte Woche meinen Fraktionschef und Spitzenkandidaten Bernd Gögel MdL noch problemlos zur Radio-Liveübertragung von „Leute heute“ (SWR 1) ins Stuttgarter Funkhaus begleiten durfte, wurde mir das zur TV-Aufzeichnung eines Interviews für das ARD-Mittagsmagazin diese Woche bereits verwehrt – neben dem Ausfüllen eines Corona-Kontaktformulars gesellte sich plötzlich die Ansage, ohne Maske das Gebäude nicht mehr zu betreten. Ich bin aus medizinischen Gründen, die außer meinen Arzt niemanden auf dieser Welt zu interessieren haben, maskenbefreit.
Gestern Abend nun verständigte mich die zuständige
SWR-Wahlkampfkoordinatorin, dass ich ohne Maske ab sofort auch bei keiner
SWR-Übertragung mehr dabei sein dürfe. Das beträfe die Kandidatenrunde heute
Abend in der Wagenhalle ebenso wie die Spitzenrunde am Wahlabend im Landtag. Sie
begründete das mit einer internen Regelung, da viele Mitarbeiter „Ängste“
hätten. Ich kündigte ihr an, dass ich dieses faktische Berufsausübungsverbot
nicht unkommentiert lassen werde. Nur illustrativ: bei der ZDF-MoMa-Übertragung
diese Woche war ich selbstverständlich maskenlos dabei.
Sehr geehrter Herr Gniffke,
dieser Vorgang ist eine Bankrotterklärung jedweder
Demokratie.
Zum ersten werde ich von der Presse – namentlich einem
öffentlich-rechtlichen Sender – an der Wahrnehmung meiner beruflichen Aufgaben
als Pressesprecher gehindert. Das wird Ihnen – Stichwort Medienkritik im
Allgemeinen, ÖR-Kritik im Speziellen und SWR-Kritik im Besondern -, bei einer
bestimmten Klientel, um es dezent zu formulieren, keinerlei Sympathiepunkte bringen.
Zum zweiten wäre ein solcher Vorgang zwar auf
privatrechtlicher Ebene juristisch legitim (ob moralisch, sei dahingestellt) –
wer als Einzelhändler trotz medizinischer Bedenken eine Maskenpflicht zur
Zugangsvoraussetzung zu seinem Ladengeschäft macht, kann das tun – keinesfalls
aber auf öffentlicher Ebene: Da ist er schlicht herabsetzend, demütigend, ja
diskriminierend.
Zum dritten aber – und das ist der primäre Punkt – zeigt
diese Diskriminierung, wohin sich unsere Gesellschaft bewegt: Nämlich zu einer
der „Dazugehörenden“ und der anderen. Die einen lassen sich „freitesten“, die
anderen nicht. Verweigern Eltern diese Testpflicht und werden ihre Kinder von
der Schule vom Unterricht ausgeschlossen – hindert dann auch die Schule die
Kinder daran, dass sie ihre Schulpflicht erfüllen wollen?
Die einen lassen sich impfen, die anderen nicht. Hindern
dann diverse Institutionen, Behörden… etc. ihre ungeimpften
Mitarbeiter/Besucher daran, ihre gesetzlich verbrieften (Grund-)rechte
wahrzunehmen? Inwieweit kann für eine kaum erforschte Krankheit ein überstürzt
zugelassener Impfstoff verpflichtend gemacht und aus dieser Verpflichtung eine
Teilhabemöglichkeit oder –unmöglichkeit abgeleitet werden?
Wir haben es hier mit mehrfachen Paradigmenwechseln zu tun,
die jedem Demokraten die Haare zu Berge stehen lassen müssen – einerseits ob
der damit verbundenen Grundrechtsverletzungen, andererseits ob der damit
verbundenen Alltagseinschränkungen. Galt bis 2020 der Grundsatz, dass die
Bevölkerung per se gesund ist, gilt nun der Generalverdacht, dass die Bürger
potentielle Virenüberträger, ja „symptomlos Infizierte“ und also krank sind. Auf
der Ebene Ihres Senders wird im Kleinen reproduziert, was uns der Staat seit
Monaten im Großen zumutet: durch die Krankheitshysterie weniger werden nicht
viele, sondern gleich alle in Geiselhaft genommen. Wer meint, dass ich ihm
gefährlich werden könne, kann in meiner Gegenwart gern ebenso achtsam sein wie
ich auch.
Galt bis 2020 der Grundsatz, dass sich der Mensch Strukturen schafft, um darin (besser) zu leben, gilt nun der Grundsatz, dass sich der Mensch den Strukturen unterzuordnen habe, um deren Funktionalität nicht zu gefährden. Strukturen, die überdies selbstverschuldet kaputtgespart wurden: Allein Kretschmanns zwei Regierungen schlossen 30 Krankenhäuser. Dabei wird von der absurden Gleichsetzung ausgegangen, dass positiv getestet gleich infiziert und infiziert gleich krank und krank gleich potentieller Beatmungspatient bzw. potentieller Toter heißt.
Und galt bis 2020 der Grundsatz, dass die Regierung
Eingriffe in bürgerliche Freiheits- und parlamentarische Standesrechte (wie das
Haushaltsrecht) rechtfertigen muss, gilt nun der Grundsatz, dass dem Bürger Grundrechte
wie Almosen wieder ausgehändigt werden, wenn die Regierung es aufgrund astrologischer
Kennziffern wie etwa „Inzidenzwerten“ oder, siehe oben, sozialer Zwangsmaßnahmen
wieder erlaubt. Grundrechte aber sind nicht verhandelbar, Punkt!
Wir als Rechtsstaatspartei fordern seit Monaten, den
Menschen ihre Selbstverantwortung, erst recht ihre Grundrechte zurückzugeben.
Wenn im Winter die Straßenverhältnisse durch Eis und Schnee beeinträchtigt sind
und Gefahren bergen, erlassen wir doch auch keine Fahrverbote, sondern klären
über die Gefahrenlage auf und bitten die Bürger, ihre Fahrweise an gefährliche
Gegebenheiten wie Straßenglätte anzupassen. Genau das erwarten wir nicht nur
von der Landesregierung, sondern auch von allen öffentlichen Institutionen,
eben auch dem SWR.
Vulnerable Gruppen – hat der SWR eigentlich so viele vorerkrankte/gefährdete
Mitarbeiter? – werden nicht dadurch geschützt, dass andere Gruppen
diskriminiert werden – von der Wirkung oder Nicht-Wirkung diverser Maskentypen
ganz zu schweigen. Wenn ich an/in den Bahnhöfen, Bussen und Bahnen ständig zum
Maskentragen aufgefordert werde, frage ich mich, wie sehr eine Regierung ihren
Maßnahmen misstrauen muss, wenn sie die Bürger damit derart penetriert. Und
wenn sich Stefanie, Jessica oder Sebastian „aus der S-Bahn-Leitstelle“ bei uns
Fahrgästen täglich fürs „Mitmachen“ bedanken, frage ich mich, ob es sich um
eine dringend gebotene medizinische Schutzmaßnahme, ein neues
Gesellschaftsspiel oder einfach nur um einen gigantischen IQ-Test handelt.
Sehr geehrter Herr Gniffke,
anstatt all diesen Sachverhalten in Ihrer Berichterstattung
genügend Raum zu geben und verschiedene Perspektiven wissenschaftlich objektiv
und vorurteilsfrei zuzulassen, folgen Sie nur einer: der Regierungsperspektive.
Und nicht genug damit: Sie schwelgen nicht nur redaktionell in ihr, sondern
folgen ihr auch in Ihrem Anstaltsalltag. Damit behindern Sie nicht nur einen
Repräsentanten der bislang wählerstärksten Opposition, sondern grenzen ihn auch
aus. Laut SWR-Staatsvertrag vom 30. Juni 2015 sollen Sie aber genau das nicht
tun, sondern „den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Bund und Ländern fördern“.
Ich erwarte umgehend, dass Sie Ihre Haltung und die Ihres Senders reflektieren
und revidieren.
Der Königlich-Preußische Hofkoch Louis Ferdinand Jungius widmete ihm in seinem Kochbuch 1839 ein
dreischichtiges Sahneeis: Eine Kombination von Schokoladen- und Erdbeer- oder
Himbeer- mit Vanilleeis, die aufgrund ihres hohen Sahnegehalts nicht
vollständig gefriert – das Halbgefrorene war geboren. 15 Jahre später hat
Heinrich Heine das Vorwort zum zweiten Band seines Werkes Vermischte Schriften – Lutezia betitelt: „Zueignungsbrief an Seine
Durchlaucht den Fürsten“. Und erst seit 19 Jahren trägt der Asteroid 39571 ebenfalls
seinen Namen: Hermann Ludwig Heinrich Graf von, später Fürst von
Pückler-Muskau, der am 4. Februar 1871 starb.
Er war das erste von fünf Kindern des Grafen Ludwig Carl
Hans Erdmann von Pückler; drei Schwestern und ein sehr früh verstorbener Bruder
folgten. Bei seiner Geburt am 30. Oktober 1785 auf Schloss Muskau war seine
Mutter Gräfin Clementine von Callenberg erst 15 Jahre alt. Das hatte Folgen:
einerseits behandelte ihn die ungefestigt-jugendliche Frau wie ein Spielzeug,
„ohne selbst zu wissen, warum sie mich bald schlug, bald liebkoste“, wie er
viel später in einem Brief an den Vater schrieb. Zu dieser lebenslangen Suche
nach der Mutter – seine Frau, die geschiedene Tochter des preußischen
Staatskanzlers Karl August von Hardenberg, sollte dann neun Jahre älter sein –
gesellte sich eine sexuelle Präferenz für minderjährige Partnerinnen.
Einer streng pietistische Erziehung unter anderem bei den Herrnhutern und dem Philanthropinum in Dessau, die seine spätere Abneigung gegen den Protestantismus und seine entschiedene Hinwendung zum Pantheismus begründete, schloss sich ein Studium der Rechte an der Universität Leipzig an. Das brach Pückler jedoch frühzeitig ab und begann eine militärische Laufbahn. Als Oberstleutnant und Generaladjutant des Großherzogs Karl-August von Sachsen-Weimar-Eisenach nahm er an der Völkerschlacht bei Leipzig teil, fungierte in den folgenden Feldzügen gegen Napoleon als Verbindungsoffizier zum russischen Zaren Alexander I. und wurde danach kurzzeitig als Militärgouverneur von Brügge eingesetzt.
Da er nach dem Tode des Vaters die Verwaltung Muskaus seinem
Freund Leopold Schefer übergeben hatte, fand er daneben Zeit für ausgedehnte
Reisen – oft zu Fuß – in die Provence, nach Italien und 1812 zusammen mit
Schefer das erste Mal nach England – und entdeckte seine Berufung als
Landschaftsgestalter. Nach dem Wiener Kongress 1815 fiel Pücklers Teil der
Lausitz von Sachsen an Preußen, womit er nach Schätzungen von Historikern einer
der fünfzehn größten Landbesitzer im Königreich wurde. Ironie der Geschichte: Heute
liegen zwei Drittel des Muskauer Parks in Polen. Und zur Gestaltung dieses
Parks rief er im selben Jahr, unterstützt durch die PR-Aktion eines
Ballonflugs, die Bürger von Muskau auf. Er erwarb weitere Grundstücke zur
Schaffung eines geschlossenen Parkareals, ließ das Dorf Köbeln umsiedeln und
legte los.
Hyazinth-Ara als
Geschenk
So ließ er riesige Mengen Mutterboden aus weiter entfernten
Gegenden auf Ochsenkarren heranschaffen, da der sandige Untergrund für den
geplanten Bewuchs ungeeignet war. Darüber hinaus gelang es ihm erstmals,
ausgewachsene Bäume zu verpflanzen, und konnte sein berühmt gewordenes Konzept
der „Blickachsen“ schon bei der Anlage der Parks zu verwirklichen. Außerdem
beschloss er den freien Zugang für seine Landschaftsgärten und weitete diesen
auf jedermann aus. Neben Muskau und dem Park seines Sterbeorts Branitz sind mit
seinem Namen in Deutschland verbunden: der „Pücklerschlag“ im Park Ettersberg
bei Weimar, die Herzoglich Sachsen-Meiningische Sommerresidenz Altenstein, der
Park Babelsberg in Potsdam sowie der Park von Schloss Wilhelmsthal bei
Eisenach.
1817 heiratete er Lucie von Hardenberg, wurde 1822 in den Fürstenstand erhoben und ließ sich 1826 wieder scheiden, blieb aber dessen ungeachtet lebenslang freundschaftlich mit Lucie verbunden – der Luciesee im Muskauer Park ist nach ihr benannt. Da er inzwischen verschuldet war, wollte er wiederum nach England reisen, um erneut reich zu heiraten. Zwischen 1825 und 1829 fand er zwar keine Braut, dafür mit seinen Reiseberichten literarischen und finanziellen Erfolg in Deutschland, in England und den USA. Der Fürst beschloss deshalb nach Nordamerika zu reisen, doch wegen eines Duells verpasste er die Schiffsabfahrt.
Stattdessen unternahm er eine Reise über Algier nach Ägypten, wo er von Muhammad Ali Pascha als Staatsgast empfangen wurde und für seinen Aufenthalt einen Palast mit Personal erhielt. 1837 kaufte er sich in Kairo auf dem Sklavenmarkt die etwa 12-jährige Machbuba, die ihn auf der weiteren Reise begleitete. Er gelangte über die Nilkatarakte bis in den Sudan, wo er seinen Namen an den Pyramiden von Meroe eingravieren ließ, und trat 1838 entkräftet den Rückweg an. Machbuba lebte nur noch zwei Jahre als seine Mätresse in Muskau und wurde im Schloss begraben. Pückler bereiste außerdem den Nahen Osten, Konstantinopel, wo er erfolglos versuchte, preußischer Botschafter zu werden, und Griechenland. Einmal brachte er einen blauen Hyazinth-Ara mit, den er Prinzessin Augusta von Sachsen-Weimar-Eisenach, der späteren Kaiserin, schenkte und der zur großen Bestürzung der Beschenkten nach wenigen Jahren in den zugigen preußischen Schlössern verstarb – ein Ereignis, welches die Prinzessin in einem tränenreichen Brief dem, wie sie ihn nannte, „Gartenzauberer“ schilderte.
1845 verkaufte er Muskau und zog sich auf sein Erbschloss
Branitz zurück, wo er, stark von Gottfried Semper beeinflusst, sich ebenfalls
mit Hingabe der Parkgestaltung widmete. Sein pantheistischer Liberalismus im
Sinne der preußischen Reformer um den Freiherrn vom Stein und sein
extravaganter Lebensstil machten ihn im reaktionären Preußen der
Biedermeier-Ära suspekt. Andererseits beteiligte sich Pückler im Sinne der
offiziellen deutschnationalen Linie aktiv an der Germanisierung seiner
überwiegend sorbischen Untertanen und vernachlässigte die Volksbildung in
seiner Herrschaft. Dem Militär blieb er weiterhin à la suite verbunden und
wurde 1863 zum Generalleutnant ernannt. Als solcher gehörte er 1866 zum
Hauptquartier des preußischen Königs im Deutsch-Österreichischen Krieg, wo der
zu diesem Zeitpunkt 80-jährige die Schlacht bei Königgrätz verschlief und
trotzdem für seine Teilnahme ausgezeichnet wurde.
staatenübergreifende
Welterbestätte
Im hohen Alter zum Katholizismus konvertiert, widmete er sich bis zu seinem Tod der Schriftstellerei und war der erste deutsche Autor, der Papier für Durchschläge benutzte. Da eine Einäscherung Verstorbener damals aus religiösen Gründen verboten war, griff er zu einer provokanten List und verfügte, dass sein Herz in Schwefelsäure aufzulösen sei und der Körper in Ätznatron, Ätzkali und Ätzkalk gebettet werden solle. So wurde er am 9. Februar 1871 in einer Seepyramide im Parksee des Branitzer Schlossparks beigesetzt. Da er kinderlos war, fielen Schloss und Park nach seinem Tod an seinen Neffen Heinrich von Pückler, Barvermögen und Inventar an seine Nichte und sein literarischer Nachlass an die Schriftstellerin Ludmilla Assing mit der Auflage, die Biographie des Autors zu schreiben und seine ungedruckten Briefwechsel und Tagebücher zu veröffentlichen.
Das Bürgertum
erhielt dadurch, dass er als Adeliger Zugang zu den führenden Häusern Europas
hatte und seine Leser an diesen Erfahrungen teilhaben ließ, Einblick in die vor
ihnen abgeschirmten Milieus des Adels, von dem er sich als Dandy abhob. Von
einem „scharfäugigen Zugriff auf sprechende Situationen“ sprechen
Kritiker. Dazu kommen uneinschüchterbare Scharfzüngigkeit zumal auch seinem
eignen Stand gegenüber, fehlende Prüderie und unangestrengte Ironie. Pückler hatte er einen ausgedehnten Freundes- und
Bekanntenkreis unter Künstlern und Schriftstellern und war darüber hinaus mit
zahlreichen exotischen Ländern vertraut, die er genau, anzüglich und spöttisch
zu schildern wusste.
Von 1930 bis 1945 bestand in Muskau die Fürst-Pückler-Gesellschaft, sie wurde 1979 in Berlin erneut gegründet. Als Fürst-Pückler-Region haben sich Kommunen und öffentlichen Institutionen in den Bundesländern Sachsen und Brandenburg in der Grenzregion zu Polen zusammengeschlossen, um die gemeinsame Öffentlichkeitsarbeit und den Kulturtourismus zu fördern. Seit 2004 ist der Muskauer Park das einzige ostsächsische Welterbe und eine der wenigen staatenübergreifenden Welterbestätten. 2017 würdigte die Stiftung Preussische Schlösser und Gärten den „grünen Fürsten“ mit einer umfassenden Sonderschau in Schloss und Park Babelsberg.
Natürlich gibt es eine Anekdote, wie er seine bekannteste
Trickfilmfigur schuf, und die geht so: 1956 bekam er das Drehbuch zu einer
Geschichte über die Flachsverarbeitung für Kinder, das ihm nicht gefiel.
Zugleich war er stark von Disney-Filmen beeinflusst: „Niemand konnte Gefühle
besser in Gesten und Bilder übersetzen. Und dabei noch lustige Geschichten
erzählen. Von ihm habe ich viel gelernt“, sagte er der Süddeutschen Zeitung SüZ. Also suchte er nach einem Tier, das die
Leitfigur übernehmen könnte – und stolperte beim Silvesterspaziergang über
einen Maulwurfshügel. „Ich wollte eine neue Figur erschaffen, die noch kein
anderer gezeichnet hatte“, erinnert er sich. „Natürlich musste ich der Natur
noch ein wenig nachhelfen, damit aus einem blinden, grauen Maulwurf eine Figur
wird, die Kinder mögen.“ Er habe sie ständig geändert: „Erst hatte er ein
Schwänzchen – das habe ich später weggenommen. Dann habe ich die lange
Schnauze, die ihn sehr alt gemacht hat, einfach verkürzt. Erst dadurch ist er
ein junger, netter Bursche geworden.“
Heraus kam ein charmanter, fröhlicher, schwarzer Geselle mit roter Nase, Kulleraugen, großen Händen und genau drei Haaren namens „Krtek“ oder „Krteček“ (tschech. „Maulwürfchen“), der anfangs noch sprach, später, damit er überall auf der Welt verstanden werden konnte, nur noch seine Emotionen in kurzen Ausrufen ausdrückte. Die lieferten seine beiden Töchter, die die Filme auch zuerst zu sehen bekamen. So konnte ihr Schöpfer prüfen, ob seine Geschichten die Kinder auch begeisterten. „Wenn ich ihnen im Aufnahmestudio sagte: ‚Lacht jetzt!‘, dann haben sie gelacht. Und wie! Das kam immer von Herzen.“ Anders dagegen, als sie weinen mussten: „Da hab ich sie geschimpft.“ Das unnachahmlich-resignierte „Och jo“ vergisst man nie. Die erste, die Flachsgeschichte „Wie der Maulwurf zu seinen Hosen kam“ gewann 1957 auf Anhieb den Silbernen Löwen in Venedig.
Bis 2002 entstanden 63 Maulwurfsfilme, die in über 80
Ländern zu sehen sind. Im Fernsehen der DDR lief er, wie im
tschechoslowakischen Fernsehen, in der Sendung Unser Sandmännchen. In der Bundesrepublik wurde die Serie erstmals
ab dem Januar 1968 durch Das Erste
ausgestrahlt. Später folgten Wiederholungen durch KiKA, WDR, ORF 1 und SRF 1. Der Trickfilmer illustrierte auch 40 Kinderbücher, die sich
mehr als fünf Millionen Mal verkauften. Befragt, wie viel von ihm im Maulwurf
steckt, antwortete er „100 Prozent… Ich brauchte lange, es zu begreifen, aber
wenn ich den Maulwurf zeichne, dann zeichne ich mich selbst.“ Dieser Zeichner
heißt Zdeněk Miler und wurde am 21. Februar vor 100 Jahren im böhmischen Kladno
geboren.
„Meine Filme brachten
gutes Geld“
Zeichnen war von Anbeginn seine Leidenschaft. Seine Großmutter,
die mit im Elternhaus unter dem Dach wohnte, „mit Pendeluhr und Bollerofen“,
habe ihn stark beeinflusst: „Bei ihr kam ich mir vor wie im Märchen. Sie hat
mich immer auf den Schoss genommen und Geschichten erzählt. Eines Tages sagte
sie: Heute schauen wir uns mal die Wolken an. Eine sah aus wie ein Haus. Die
nächste wie ein Tier. Sie hat mir das Fenster zur Phantasie geöffnet“. Ein
Lehrer in der Oberschule riet ihm zur Bewerbung an der staatlichen
Graphikschule in Prag. „Aber ich besaß nicht mal einen Bleistift! Also gab er
mir eine Krone, damit ich mir im Schreibwarengeschäft einen kaufen konnte. Dann
bat ich meine Großmutter, mir Modell zu sitzen. Da saß sie dann drei Stunden
und hat sich nicht gerührt.“
Er wurde 1936 angenommen und studierte anschließend von 1939 bis 1942 Photographie an der Kunstgewerbeschule ebenfalls in Prag. Nach der Besetzung durch Deutschland protestierte er gegen die Schließung der Hochschulen: „Einige Studenten sind hingerichtet oder nach Auschwitz deportiert worden. Ich hatte Glück, dass sie mich nicht verhafteten. Als die Nazis in unser Studentenheim kamen, war ich gerade nicht da.“ Ihm wurde 1942 eine Stelle als Zeichner im Zeichentrickstudio des Baťa-Konzerns im mährischen Zlín angeboten, wo er sein Handwerk von der Pike auf lernte und sich auf Animationsfilme spezialisierte. Das Studio wurde dann von den Deutschen übernommen: „Wir mussten fortan Märchenfilme für Deutschland produzieren, ‚Fritz und Fratz‘ zum Beispiel. Der deutsche Direktor war ein guter Mensch. Er befand, ich wäre unabkömmlich im Studio. Er und ‚Fritz und Fratz‘ haben mir vielleicht das Leben gerettet.“
Nach dem Zweiten Weltkrieg wechselte er zur Prager
Zeichentrickfirma Bratři v triku und arbeitete zunächst als Zeichner
tschechischer Märchen, Regisseur und Autor. Später wurde er Direktor der Firma und
zeichnete ab 1957 die Filme mit dem kleinen Maulwurf, die ihn international
bekannt machten. „Ich bin natürlich in die kommunistische Partei eingetreten.
Damals herrschte noch ein großer Idealismus unter uns jungen Leuten. Aber das
ging nicht lange gut. Irgendwann haben sie mich aus der Partei geworfen, und
ich war froh, dass ich draußen war. Gott sei Dank war ich mittlerweile fast
unantastbar geworden, weil der Maulwurf international immer erfolgreicher
wurde. Meine Filme brachten gutes Geld ins Land“, befand er in der SüZ. Eine große Rolle kam dabei dem WDR zu, der seit 1972 Filme für die „Sendung
mit der Maus“ bestellte; „Pauli“ hieß hier manchmal die Figur. „Aus diesem
Grund durfte ich auch hin und wieder nach Köln reisen. Es fuhr natürlich immer
ein Genosse mit, um mich zu bewachen.“
Um die Hauptfigur wuchs eine ganze Familie von Freunden wie
der Hase, der Igel und die Maus, die in viele gemeinsame Abenteuer schlitterten
und sich gegenseitig halfen. Zoff à la „Tom und Jerry“ hatte in Milers Streifen
keinen Platz. In den Filmen wird dem Leben in der Natur auch die Umwelt in der
Stadt gegenübergestellt sowie dem naiv-kindlichen Leben der Tiere der Alltag
der Menschen. „Ich glaube, Kinder lieben den Maulwurf, weil er eine Frohnatur
ist, die nichts umwerfen kann. Er steht für die Freundschaft und die Liebe zur
Natur. Er steht dem Leben positiv gegenüber, schaut immer nach vorne.
Zuversicht und Vertrauen sind ein guter Leitfaden fürs Leben“, sagte er später.
Die Geschichten stammten mal von Miler selbst, mal von bekannten
Schriftstellern wie dem Kafka-Preisträger Ivan Klima („Liebe und Müll“), der
zwischen 1969 und 1989 nur im Ausland publizieren durfte. Die Musik wurde von
Miloš Vacek, ab 1974 von Vadim Petrov komponiert. Von seinem Verdienst leistete
sich Miler ein kleines Häuschen in einem Prager Villenviertel.
„Es ist genug“
Zuletzt entstand 2002 ein Zeichentrickfilm in Spielfilmlänge, der eine Zusammenstellung aus den ersten zwölf Folgen des kleinen Maulwurfs ist. Dass es keine Gefährtin für Krtek gab, begründete Miler mit dem Alter seines Publikums: „Das hätte die Geschichten nur verkompliziert. Kinder wollen es nicht kompliziert.“ Nach 74 Jahren hauptberuflichen Zeichnens legte er den Stift aus der Hand. „Es ist genug. Meine älteste Tochter macht vielleicht weiter. Sie hat schon ein Maulwurf-Buch veröffentlicht, nach meinen Vorlagen. Letztens waren Japaner hier und haben mir viel Geld geboten, wenn sie eine Geschichte mit meinem Maulwurf machen dürften, womöglich computeranimiert. Ich habe abgelehnt.“ Angesichts millionenschwerer Hochglanzanimationen von „Ice Age“ bis „Findet Nemo“ wirken seine handgemalten zweidimensionalen Figuren zumeist in den kontrastreichen Grundfarben wie liebenswerte Relikte einer guten alten Zeit, die nostalgische Sehnsüchte bedient.
Am 28. Oktober 2006 wurde Miler vom Staatspräsidenten Václav Klaus die tschechische Verdienstmedaille als Ehrung für sein Lebenswerk verliehen. Er wird mit den Worten zitiert, dass ihm die Feinfühligkeit eines kleinen Maulwurfs bei weitem näher sei als die Schroffheit einer Familie Simpson. Einer seiner größten Fans war der amerikanische Astronaut Andrew Feustel, dessen Frau tschechische Vorfahren hat. Er überreichte Miler 2011 eine Plüschfigur des kleinen Maulwurfs, mit der er im Mai an Bord der Raumfähre Endeavour ins Weltall geflogen war. Der sichtlich erfreute Erfinder, übrigens ein großer Verehrer von Rene Magritte, bedankte sich mit einer gerahmten Zeichnung. „Das hätte ich mir nie vorstellen können“, sagte er. Auf der Internationalen Raumstation sei der Maulwurf die meiste Zeit umhergeschwebt, beschrieb Feustel den Flug mit der Plüschfigur. „Auf dem Rücken hatte er aber auch einen Klettverschluss, damit die Astronauten ihn, wenn nötig, an der Wand befestigen konnten“, sagte der Geophysiker, der zweimal im All war – übrigens 46 Jahre nach der Episode „Der Maulwurf und die Rakete“, in der ihn sein Schöpfer bereits einmal ins All geschickt hatte.
„Ich wollte immer Bücher und Filme für Kinder machen, dabei wusste ich erst gar nicht, wie das geht. Man muss ja jede Geschichte auf die denkbar einfachste Art erzählen. Wie der Maulwurf ankam, habe ich anfangs gar nicht wahrgenommen. Erst als ich dann im Kino miterlebt habe, wie die Kinder lachen, wie sie mitgehen, wusste ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin“, sagte er rückblickend. Die letzten Jahre lebte Miler in einem Seniorenwohnheim nahe Dobříš und starb dort am 30. November 2011. „Mit Zdenek Miler verlieren wir nicht nur den Vater des kleinen Maulwurfs, sondern auch einen ganz Großen des Europäischen Trickfilms und einen überaus warmherzigen Menschen“, teilte Monika Piel mit, die damalige WDR-Intendantin. „Seine Geschichten berühren uns heute wie damals gleichermaßen. Viele Erwachsene von heute verbinden mit ihm ein Stück Kindheit.“ Eine Kindheit, die unverlierbar ist.
19 Ja-Stimmen bei 2 Enthaltungen – mit diesem Ergebnis hatte
sich vor zwei Jahren die aus Schülern, Lehrern und Eltern bestehende
Schulkonferenz des Wuppertaler Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasiums dafür ausgesprochen,
seine Statue der griechischen Göttin Pallas Athene nicht mehr vor der Schule behalten
zu wollen. Kein Wunder, ist das Gymnasium doch Bestandteil des Netzwerks
„Schulen ohne Rassismus – Schulen mit Courage“. Allerdings stehen sowohl die
Skulptur von 1957 als auch ihr Sockel seit 1997 unter Denkmalschutz: Nicht nur
darum hatte die nichtöffentlich tagende städtische „Kommission für eine Kultur
des Erinnerns“ einstimmig gegen eine Entfernung des Werkes votiert.
Bei einer Podiumsdiskussion Mitte Dezember 2019 lautete also
die Frage: „Darf eine Skulptur eines von den Nationalsozialisten gefeierten
Künstlers weiter im öffentlichen Raum stehen, zumal vor einer Schule, oder
sollte sie entfernt werden?“ Die parteilose Kultusministerin Isabel
Pfeiffer-Poensgen platzte mit ihrer Empfindung heraus, wie hässlich diese
Skulptur sei. Lehrer und Schüler argumentierten, sie passe schlicht nicht mehr
zum neu gestalteten baulichen Ensemble: „Da wirkt diese kriegerische Figur
einfach fehl am Platz.“ Sie hat nämlich einen Helm auf dem Kopf und einen Speer
in der Hand, der sogar nach unten zielt, also auf diejenigen, die auf sie
zugehen. Laut Schulleiterin Claudia Schweizer-Motte seit es für die Schüler und
Lehrer schwierig, täglich am Werk eines NS-Künstlers vorbeigehen zu müssen.
Felix Krämer, Generaldirektor des Museums Kunstpalast in Düsseldorf, berichtet auf dem Podium, dass es interessanterweise kaum andere Athenen gebe, die in dieser kriegerischen Funktion gezeigt werden. Eine habe er aber doch ausfindig machen können, dabei handle es sich bezeichnenderweise um ein faschistisches Denkmal aus dem Jahr 1932 in Italien. Kein Wunder, ist sie doch unter anderem die Göttin des Kampfes, auch der Kriegstaktik und der Strategie; sie fungierte als Palast- und Schutzgöttin der mykenischen Herrscher sowie des Odysseus und führte Perseus bei der Enthauptung der Medusa. Einige Schüler betonten, sie sähen in der Skulptur kein heroisches, sondern vielmehr ein humanistisches Menschenbild verkörpert, sie fühlten sich eher beschützt als bedroht.
Brigitte Franzen, Vorstand der
Peter-und-Irene-Ludwig-Stiftung, machte nun drei Vorschläge, wie man mit der
Plastik umgehen sollte: sie mittels einer Tafel kommentieren bzw. die bereits
bestehende Tafel aktualisieren, die Skulptur ins Museum bringen und dort
kommentieren, oder, als letzte Möglichkeit, sie um einen künstlerischen
Kommentar ergänzen. Dieser Vorschlag setzte sich schließlich durch. Wer der
neue Künstler sein wird, ist noch offen. Jener der Athene dagegen, den der
Mitbegründer der Wiener Schule des Phantastischen Realismus, Ernst Fuchs, einst
als „wahren Prophet des Schönen“ bezeichnete, ist weltbekannt: Arno Breker. Vor
30 Jahren, am 13. Februar 1991, starb er in Düsseldorf.
„Vorbereitung auf die
monumentale Arbeit“
Seine Berufung war ihm durchaus in die Wege gelegt: Vater
des am 19. Juli 1900 in Elberfeld geborenen ältesten Kindes der Familie war der
Steinmetz und Grabmalkünstler Arnold Breker. Nach vier Jahren
Steinbildhauerlehre und dem Besuch der Kunstgewerbeschule in Elberfeld begann
er 1920 ein fünfjähriges Studium an der Kunstakademie Düsseldorf. Kurz vor Ende
desselben reiste er erstmals nach Paris, wo er nach einer Nordafrikareise 1927,
von der er seine erste Lebensgefährtin, die Griechin Demetra Messala („Mimina“)
mitbringt, seinen Wohnsitz nimmt. Er freundet sich mit vielen Künstlern an,
darunter Picasso, Jean Cocteau und Man Ray, und entwickelt ein Gussverfahren
der „reinen Form“ ohne Oberflächenunebenheiten, das für die idealisierende
Typisierung des Schaffens im Nationalsozialismus stilprägend wird.
Die Verbindung nach Deutschland riss jedoch nicht ab, etwa durch Aufträge für eine Großplastik für die Matthäikirche in Düsseldorf und für das Denkmal Röntgens in Remscheid; zudem hatte er Ausstellungen. 1932 erhielt er den Rom-Preis der Preußischen Akademie der Künste nebst einem Stipendium bis Mai 1933 in der „Villa Massimo“. Seine Zeit in Rom sah Breker selbst als „Vorbereitung auf die monumentale Arbeit großen Ausmaßes, die mich erwartete“. Es folgten weitere italienische Studienaufenthalte in Florenz und Neapel, die seine sogenannte „klassische Periode“ zur Zeit des Nationalsozialismus beeinflussen sollten.
1934 übersiedelte er nach Berlin, nimmt 1935 an der
Ausstellung der „Berliner Secession“ teil und 1936 an der Olympischen
Kunstausstellung, wo er beim Plastik-Wettbewerb die Silbermedaille des
Internationalen Olympischen Komitees für die Statuen „Zehnkämpfer“ und „Die
Siegerin“ erhält. Zuvor als „dekadenter Franzose“ kritisiert, der vor allem
Porträtaufträge von Industriellen, Militärs oder auch Künstlerkollegen ausführte,
erlangt er so höchste offizielle Aufmerksamkeit und darf für die Weltausstellung
in Paris Skulpturen für den Deutschen Pavillon fertigen. Mit der Staatsdoktrin
der stilistischen Orientierung an der Antike, an die sich Breker anlehnt,
schienen den Nationalsozialisten in Brekers Figuren die ästhetischen Ideale des
„gesunden, arischen Menschentyps“ verwirklicht, ja als „gestaltete Gesinnung,
formgewordene Weltanschauung“, als richtungweisend für den „neuen deutschen
Stil“ proklamiert.
Rückblickend bezeichnete Breker selbst das Jahr 1936 als
„Wendepunkt“ seiner Existenz. In der Folgezeit wurde er von der NS-Propaganda
vereinnahmt, zum „bedeutendsten deutschen Bildhauer der Gegenwart“, gar zum
Vorkämpfer der nationalsozialistischen Revolution stilisiert, schienen seine
monumentalen Figuren doch hervorragend geeignet, den Kampf des „Neuen Reiches“
gegen die „Verfallserscheinungen“ in Kunst und Gesellschaft insgesamt visuell
fassbar zu machen. 1937 trat er der NSDAP bei, heiratete Demetra, wird
Professor einer Bildhauerklasse an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin
und erhält bis 1944 in Zusammenarbeit mit Albert Speer zahlreiche
Staatsaufträge. Auf ausdrücklichen Wunsch Hitlers, mit dem er auch in
persönlichem Kontakt steht, wird er für den Ausbau Berlins als geplante
Welthauptstadt „Germania“ tätig. Hierfür wird ihm ein eigenes Großraumatelier
in Berlin-Dahlem errichtet, das heute das „Kunsthaus Dahlem“ beherbergt.
Die Hoheitszeichen am Berliner Finanzministerium,
Steinreliefs am Gebäude der Nordstern-Lebensversicherung in Berlin-Schöneberg, der
figürliche Schmuck am Hauptportal der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt
Berlin-Adlershof und die Plastik „Der Flieger“ für das Hauptgebäude der
Dresdner Luftkriegsschule entstanden, später die Monumentalfiguren „Partei“ und
„Wehrmacht“ für den Ehrenhof der Neuen Reichskanzlei sowie viele Figuren und
Reliefs für „Germania“. 1939 schlägt er ein Arbeitsangebot Stalins aus. 1940
erhielt Breker als erster bildender Künstler den Mussolini-Preis der Biennale
in Venedig, ein Jahr später wurde er Vizepräsident der Reichskulturkammer der
Bildenden Künste. Zu seinem 40. Geburtstag schenkte ihm Hitler das ehemalige
Rittergut Jäckelsbruch in Eichwerder bei Wriezen in „dankbarer Anerkennung
seiner schöpferischen Arbeit im Dienste der deutschen Kunst“.
„Harte Zeit, starke
Kunst“
Hier wurden Mitte 1941 die „Steinbildhauerwerkstätten Arno Breker GmbH“ mit Gleisanschluss und Kanalhafen gegründet – eine Einrichtung des Generalbauinspektors, die es Speer ermöglichte, Aufträge jedweder Größenordnung ohne Genehmigungsverfahren direkt an Breker zu vergeben. In den Werkstätten entstanden Bildhauerarbeiten für die Neugestaltung Berlins und für das Parteitagsgelände in Nürnberg. Gegen Ende des Krieges wurden bis zu 50 Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter für Arbeiten an den Figuren eingesetzt, etwa bei der Vervielfältigung der „Hitler-Büste“ von 1941. Daneben hatte er viele Ausstellungen, darunter auch im Vichy-Paris, und wurde 1944 an der Preußische Akademie der Künste Vorsteher eines Meisterateliers, Mitglied des Akademiesenats und von Hitler selbst in die Sonderliste der Gottbegnadeten-Liste mit den „unersetzlichen Künstlern“ aufgenommen, was für ihn die Freistellung vom Kriegsdienst bedeutete. Zugleich drehte die Riefenstahl-Film GmbH den Dokumentarfilm „Arno Breker – Harte Zeit, starke Kunst“.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs, dem rund 90 Prozent seines
Werks zum Opfer fielen, zieht Breker ins bayrische Wemding. 1948 wird er trotz
seiner privilegierten Stellung bei der „Entnazifizierung“ als „Mitläufer“
eingestuft, da er sich mehrmals und nachweislich für Verfolgte des Regimes wie
Pablo Picasso eingesetzt hat, den er vor dem KZ bewahrte. Peter Suhrkamp
verdankt ihm gar sein Leben, da er unter dem dringenden Verdacht des
Widerstandes gegen Adolf Hitler inhaftiert worden war. Breker hatte Suhrkamp im
Gefängnis besucht und sich bei Albert Speer und Hitler erfolgreich für die
Entlassung des Verlegers eingesetzt.
1950 kehrt er nach Düsseldorf zurück, beteiligt sich als
Architekt am Wiederaufbau und bezieht das frühere Atelier des Tierbildhauers
Josef Pallenberg. 1956 starb seine Frau, zwei Jahre später heiratete er die 26
Jahre jüngere Charlotte Kluge, mit der er dann zwei Kinder hatte. Er erhielt
zwar kaum noch öffentliche, jedoch zahlreiche private Aufträge, für die er angeblich
Gagen von bis zu 150.000 Mark bezog. Er porträtierte Rudolf-August Oetker und
Gustav Schickedanz, Konrad Adenauer und Ludwig Erhard, Salvador Dalí und Ernst
Jünger und viele andere. Dali sagte über seinen Freund: „Gott ist die Schönheit
und er sein Prophet.“ Über die Freundschaft beider mit Ernst Fuchs, genannt
„Goldenes Dreieck“, sagte Dalí: „Breker-Dalí-Fuchs. Man kann uns wenden wie man
will, wir sind immer oben.“ Daneben arbeitete Breker als Architekt, darunter bei
der Gestaltung der Gerling-Konzernzentrale in Köln, die wegen ihres monumentalen
Charakters von der Bevölkerung schon bald „Kleine Reichskanzlei“ genannt wurde,
und errichtet 1960 erneut ein Atelier in Paris.
Breker behielt seine Vorliebe für Porträtbüsten und athletische, meist männliche Körper, wobei der das Element der vollendeten Form wieder aufnahm. Bis in die 1980er Jahre arbeitete er, der nach eigenen Angaben „von Muskeln nie genug kriegen“ konnte, nach Sportlermodellen wie der Hochspringerin Ulrike Nasse-Meyfarth und dem Zehnkämpfer Jürgen Hingsen, der als „griechischer Apoll“ verewigt wurde. 1981 beteiligt sich Breker mit einem Entwurf an der Ausstellung „Paris 1937-47“, den er aufgrund massiver Proteste zurückziehen muss, woraufhin er sich deutlich vom Nationalsozialismus distanziert. Dennoch blieb ihm der Vorwurf fehlender Reue anhaften. 1985 eröffnete die Familie von Brekers Kunsthändler Joe F. Bodenstein in Schloss Nörvenich bei Köln das „Museum Arno Breker – Sammlung Europäische Kunst“. Bereits 12 Jahre vor seinem Tod gründete sich in Deutschland die Arno Breker Gesellschaft, acht Jahre vor seinem Tod zog die USA mit der Arno Breker Society International nach.
Auch nach seinem Tod wurde er als „Lieblingsbildhauer Hitlers“ gleichermaßen verehrt wie gescholten; sein Kölner Grab war im Oktober 2018 geschändet worden. Breker fühlte er sich als ein Bewahrer der christlich-abendländischen Kultur hellenistischer Prägung. Dieser Mission widmete er sein gesamtes meisterliches Schaffen. Er verstand sich selbst als „Bildhauer des Dreiklangs der Schönheit von Körper, Geist und Seele“ (1932), pathetisch könnte man auch die Verherrlichung des Menschen in der bildenden Kunst nach dem – vollkommenen – Ideal der Schöpfung unterstellen. Obwohl er zeitlebens hochumstritten war, konnte ihm niemand seine künstlerisch-ästhetische Begabung absprechen: Für Aristide Maillol ist er der „Michelangelo des 20. Jahrhunderts“.
Seine Kultshow „Zwischen Frühstück und Gänsebraten“ geht auf
seine Frau zurück, berichtete Tochter Petra im MDR. „Das war am ersten Weihnachtsfeiertag 1956. Meine Mutter
kochte perfekt, alles duftete herrlich und mein Daddy war zuhause und wuselte
in der Küche herum. Er musste ja hier und da mal was naschen. Irgendwann ist
ihr dann der Kragen geplatzt und sie sagte: Mensch, mach Du doch eine Sendung,
so zwischen Frühstück und Gänsebraten. Dann hast Du zu tun und ich habe meine
Küche für mich. Das war es“. Die 1957 erstmals ausgestrahlte Matinee, stets
angekündigt als „bunter Weihnachtsteller mit viel Musik und Humor“, war aber
eigentlich eine heimelige TV-Show wie jede andere.
Die Moderatorin, Schauspielerin und Sängerin Margot Ebert
war zur Premiere Anfang Dreißig, er selbst Mitte Dreißig. Beide begrüßten ihre
Zuschauer noch, als sie im Rentenalter waren. In den ersten Jahren kam die
Sendung live aus dem Friedrichstadt-Palast, später wurde die Weihnachtsstimmung
vorab hergestellt, etwa im Dresdner Kulturpalast. Doch die harmonische
Eintracht vor der Kamera war gespielt. Die Spekulation über das Verhältnis
zwischen den Gastgebern war fast so beliebt wie ihre Sendung. Tatsächlich
fühlte sich Margot Ebert, die nicht nur moderierte, tanzte und sang, sondern in
der Show auch ihre eigenen Gedichte vortragen wollte, von ihrem dominanten
Partner immer stärker unterdrückt.
Doch der Gegendruck von außen war groß: Als er in der 20. Ausgabe bekannt gab, dies sei seine letzte, klingelte noch während der Sendung das Telefon in der Fernsehzentrale Adlershof: Die SED-Parteispitze, die selbst gern eherne Traditionen zelebrierte, wünschte sich dringend eine Fortsetzung. Natürlich auch die Zuschauer. 1984 dann spielte Margot Ebert nicht mehr mit und ließ ihn vorm Tannenbaum allein. Auch diesmal beschworen viele Zuschauer die Moderatorin, so dass sie im folgenden Jahr zurückkehrte und beide noch bis 1991 das traditionelle Kommando 20 Minuten vor Show-Ende, so kurz nach halb eins, gaben: „Kartoffeln aufsetzen!“ Klöße waren auch gemeint. Und Hunderttausende Familienmütter taten wie geheißen.
Der Redakteur, Regisseur, Conférencier, kurz Entertainer hat
daneben zwölf Revuen im Friedrichstadtpalast Berlin, 15
Pressefest-Tourneeprogramme, insgesamt rund 2.500 Sendungen in Rundfunk und
Fernsehen der DDR sowie rund 7.500 Veranstaltungen gestaltet. „Schlaf brauchte
mein Vater nur wenig. Drei bis vier Stunden reichten ihm. Dafür konnte er
überall, wo er gerade war, ein Nickerchen halten, notfalls auch kurz vor der
Probe schräg hinter der Bühne“, erinnert sich Petra. Ihren Vater beschreibt sie
als „wahres Arbeitstier“. Der große Strippenzieher der DDR-Unterhaltungskunst
landete nach der Wende als erster Ossi im Wachsfigurenkabinett des Berliner
Panoptikums am Kurfürstendamm: Heinz Quermann.
Am 10. Februar 1921 kam er in Hannover als Bäckersohn zur Welt.
mit Gartengeräten
jonglieren
Nach dem Besuch der Volksschule begann er 1936 eine
Bäckerlehre und erhielt daneben Violin- und Schauspielunterricht. 1939 legte er
zusammen mit einem gewissen Theo Lingen die Schauspielprüfung ab und hatte
Engagements an Theatern in Bernburg, Magdeburg und Köthen. Anfang Juli 1945 machte
ihn der sowjetische Stadtkommandant zum Intendant des Theaters in Köthen. Ab
1947 war er Leiter der Abteilung Unterhaltung beim Mitteldeutschen Rundfunk
Leipzig, außerdem Redakteur und Sprecher; und ab 1953 Mitarbeiter des Staatlichen
Rundfunkkomitees in Berlin, Hauptabteilung Unterhaltung. Er entwickelt sich in
mehreren Sendeformaten zu einem beliebten Conférencier. So war er ab 1953
Moderator der Schlagerlotterie, ab
1955 von Da lacht der Bär, die später
zur ersten DDR-Fernsehshow wurde, ab 1957 des Amiga-Cocktail und ab 1958 der Schlagerrevue,
der laut Guinnessbuch mit 36 ¼ Jahren und 1731 Ausgaben langlebigsten
Rundfunk-Hitparade der Welt. Ab 1962 war er Arbeitsgruppenleiter beim DDR-Fernsehen.
Als sein größtes Verdienst gilt die Sendung „Herzklopfen kostenlos“, die von 1958 bis 1973 lief. Im Westfernsehen gab es allerdings bereits seit 1953 eine ähnliche Sendung: Peter Frankenfelds „Wer will, der kann. Die große Talentprobe für jedermann“, von der sich Quermann durchaus inspirieren ließ. Eigentlich hatte er mit seiner neuen Sendung nur ein paar neue Gesichter für das Fernsehpublikum entdecken wollen, doch die Parade der jungen Talente wurde schnell populärer als alle anderen Unterhaltungssendungen des DDR-Fernsehens und bekam alsbald einen der begehrten Sendeplätze am Samstagabend. Quermann, der sich in seiner Rolle als leutseliger „Talentevater des Ostens“ sehr gefiel, gab in seiner neuen Show Laienkünstlern aller Art eine Bühne – Schlagersängern, Kabarettisten, Rezitatoren, Instrumentalisten und Schauspielern. Hauptsache, sie hatten etwas Unterhaltsames zu bieten.
Und das Publikum fieberte mit, wenn zwei Schlosser
waghalsige artistische Nummern boten, ein Siebenjähriger Brahms spielte, eine
Kellnerin sich als Kabarettistin versuchte, Soldaten im Chor sangen und Landwirtschaftslehrlinge
mit Gartengeräten jonglierten. Quermann stieg gewissermaßen zum obersten
Talentförderer in Sachen Unterhaltung auf. In allen Bezirken und Kreisen der
DDR suchten hauptamtliche Kulturarbeiter nach geeigneten Kandidaten für seine
Sendung. In den mehr als 1.000 Kulturhäusern der Republik trafen sie gemeinsam
mit Vertretern von Jugendorganisationen und der Einheitsgewerkschaft eine
Vorauswahl. Quermann selbst tourte mit seinem Stab rastlos durchs Land und
sichtete – nur die Besten sollten schließlich eine Chance bekommen.
Und tatsächlich entging Quermann in diesen Jahren kaum ein
junges Talent. Fast alle, die in den 1970er- und 1980er-Jahren zur Prominenz der
DDR-Unterhaltung gehören sollten, waren von ihm entdeckt worden: Frank Schöbel,
Regina Thoss, Monika Herz, Wolfgang Ziegler oder Dagmar Frederic. Auch Veronika
Fischer hatte ihren ersten Fernsehauftritt in „Herzklopfen kostenlos“. Und
selbst Punklady Nina Hagen pries im Jahr 2000 den Talentvater Heinz Quermann
als ihren „Entdecker“. 1973 wurde die Sendung modernisiert und hieß fortan „Heitere
Premiere“. Quermann moderierte nicht mehr, hielt im Hintergrund aber bis zur
letzten Sendung 1990 alle Fäden in der Hand – er schrieb die Drehbücher und
bestimmte, wer auf die Bühne durfte. Karel Gott soll er mal im Scherz
prognostiziert haben: „Junge, du kannst ja richtig singen. Aus dir wird nie ein
Schlagersänger!“
„Tschüss und Winke
Winke“
Einmal im Jahr zeichnete er auf dem Gelände des DDR-Staatszirkus in Hoppegarten die „Nacht der Prominenten“ auf – das Pendant zur westdeutschen Show „Stars in der Manege“, wo sich Promis in anderen Unterhaltungsgenres mal besser, mal schlechter beweisen sollten. Zu Quermanns großen Coups zählte, die Darsteller der im Osten sehr populären dänischen Klamaukreihe „Olsenbande“ dafür zu engagieren, allen voran Egon Olsen alias Ove Sprogoe. „Mit Geld war das natürlich nicht zu bezahlen“, blickt Petra Quermann zurück. Die Mimen wünschten sich russischen Kaviar, der auch in Dänemark unerschwinglich teuer und damals schwer zu bekommen war. Also ließ Quermann seine Kontakte zur DDR-„Delikat“-Kette spielen und lieferte die wertvolle Fracht, 40 Döschen Malossol-Kaviar, beim dänischen Künstleragenten im Ostberliner Palast-Hotel ab.
Seine Lieblingsrolle war aber eher unscheinbar: Die
Darstellung der „Märchenomi“ in der Sendung „Mit Lutz und Liebe“ mit Lutz
Jahoda. Die umgestrickten Märchen enthielten so manche Kritik am Ost-Alltag.
Doch Quermann, in der DDR nie in der Einheitspartei SED, sondern sehr früh
Mitglied der liberaldemokratischen LDPD, beherrschte den schwierigen Spagat
zwischen Unterhaltungskunst und Partei-Lenkung. Andere konnten das nicht so gut
und wurden knallhart fallengelassen, etwa der Conferencier O.F. Weidling. Nach
dem Kunstpreis der DDR 1959 erhielt er 1977 den Nationalpreis und 1986 gar den
Vaterländischen Verdienstorden.
Privat legte der Kreative Wert auf Ruhe, gefiel sich vor und nach dem Dienst dagegen als Schnellfahrer. Noch mit knapp 80 musste er seinen Führerschein abgeben, weil er auf einer 80er Strecke mit 122 km/h geblitzt wurde. Seine Ehe mit der Rundfunksprecherin Ruth Peter, mit der er Tochter Petra bekam und die bereits 1994 starb, verlief unspektakulär. Er war Ehrenmitglied der 1. Köthener Karnevalsgesellschaft. 1996 veranstalteten mehr als 40 seiner „Zöglinge“ aus der Schlager-Szene eine vierstündige Gala in der Schwarzenberger Waldbühne und sangen ein Abschiedsständchen unter dem Titel „Das gibt’s nur einmal“. Die Liste der Darsteller war ein „Who’s who“ des DDR-Schlagers.
2000 erhielt er die „Goldene Henne“ für sein Lebenswerk. Zuletzt hatte Quermann Herzprobleme und litt an Demenz. Der unbestrittene Schlagerpapst, der sich immer mit einem fröhlich-väterlichen „Tschüss und Winke Winke – Ihr Heinz der Quermann“ von seinem Publikum verabschiedete, sagte am 14. Oktober 2003 in Berlin endgültig Tschüss. Vier Jahre später erklärte Dieter Hallervorden, er habe mit Heinz Quermann häufiger Sketche und Witze ausgetauscht. Den Sketch „Flasche Pommes Frites“, auch bekannt als „Palim-Palim“, will er ihm für ungefähr 500 Westmark abgekauft haben.
Es waren nicht nur Sätze von
bemerkenswerter Klarheit, die Kanzlerin Angela Merkel (CDU) Ende Januar in der
Bundespressekonferenz formulierte. Die promovierte Physikerin gab mit diesem
Statement offenkundig bedenkenlos zu, dass für sie Wissenschaft nicht (mehr?)
wertfrei und objektiv, sondern ideologisch subjektiv aufgeladen ist: „Es gibt
in dem ganzen auch politische Grundentscheidungen, die haben mit Wissenschaft
nichts zu tun. Mit der Einladung von bestimmten Wissenschaftlern wollen wir auf
bestimmte Fragen, die uns interessieren und die nicht politischer Natur sind,
Antworten bekommen.“
Genau dies war und ist der
Vorwurf von Kritikern, dass eben nur „bestimmte“ Wissenschaftler mit Antworten
auf „bestimmte“ Fragen gehört werden und deshalb „bestimmte“ Antworten und
„bestimmte“ Entscheidungen herauskommen. Prompt warf der Bundesverband
mittelständische Wirtschaft der Bundesregierung vor, sich in der Corona-Krise
einseitig beraten zu lassen. Es fehle ökonomischer Sachverstand, sagte
Bundesgeschäftsführer Markus Jerger dpa.
Bei einem Expertengespräch vor Beratungen von Bund und Ländern sei keiner der
fünf „Wirtschaftsweisen“ dabei gewesen, sondern vor allem Virologen. Der nichteingeladene
Virologe Henrik Streeck wiederum verkündete in der FAZ stracks: „Die Entscheidungen sind politisch, nicht
wissenschaftlich“ – und bestätigte damit Merkel von der entgegen gesetzten
Seite der Argumentation.
Die räumte mit ihren Äußerungen faktisch ein, dass ihr Kurs nicht alternativlos ist – dass sie sich aber gegen die Alternative entschieden habe und nur mehr mithilfe von Zirkelschlüssen regiert: Man hat eine politische Linie, lädt nur solche Berater ins Kanzleramt, die diese Linie stützen, und erklärt dem Bürger, die politische Linie werde ja durch die Berater gestützt. Es ist nicht völlig klar, ob man damit vor allem das Volk täuschen will oder sich selbst oder beides – das war ein vollständiger intellektueller Offenbarungseid. Das befand selbst FDP-Urgestein Wolfgang Kubicki auf Facebook: „Dass sich die Bundeskanzlerin … lieber von selbst ausgewählten Beratern bestätigen lässt, zeigt, dass sie nicht mehr nach dem besseren Weg sucht, sondern den einmal eingeschlagenen Weg durchbringen will. Koste es, was es wolle.“
Der wie üblich medial kaum
beachtete Vorgang kann gar nicht laut, oft und drastisch genug kommentiert
werden, zeigt er doch, dass seit spätestens 2015 nicht nur das Recht, sondern
auch die Wissenschaft massiven Verwerfungen ausgesetzt ist. Corona wirkte
insofern wie ein Brennglas, das entzündete, was schon seit längerem in der
„scientific community“ schwelt: die ideologische Zurichtung von Erkenntnis,
verbunden mit der politisch-medialen Abwertung nicht genehmer Forscher bzw.
Forschungsergebnisse sowie akademischer Grade, geklammert von der
Geringschätzung der Geisteswissenschaften bei gleichzeitiger Ökonomisierung der
Naturwissenschaften.
Absurde Einseitigkeit
So zeugt vor allem der Umgang
mit Corona von einer absurden Einseitigkeit, die gepaart ist mit dem beinahe
vollständigen Schweigen anderer Wissenschaftler, die es einfach hinnehmen, dass
Wissenschaft zur Spielfigur auf dem politischen Schachbrett degradiert wird,
oder andernfalls medial totgeschwiegen werden. Allen voran ereifert sich die Hallenser
Wissenschaftsvereinigung Leopoldina mit ihren knapp 2000 Mitgliedern, darunter
dem Kanzlergatten, und lässt sich willig als Inhaberin der absoluten Wahrheit
feiern, indem sie dem Bürger suggeriert, sie sei im Besitze des Wissens, das
aus der Pandemiekrise führen werde. Leopoldinas Weisheit letzter Schluss ist
der harte Lockdown, wie es in einer Stellungnahme von Anfang Dezember 2020
heißt und der dann auch so umgesetzt wurde. Dass diese Stellungnahme die
Prinzipien wissenschaftlicher und ethischer Redlichkeit verletzt, ist so
evident, dass mit dem Tübinger Professor Thomas Eigner inzwischen ein
Leopoldina-Mitglied ausgetreten ist, weil er es mit seinem Gewissen nicht
vereinbaren könne, ein Teil dieser Art von Wissenschaft zu sein.
So ist der
Begriff „Inzidenz“ ein rein politischer und hat nichts mit dem viel umfangreicheren
epidemiologischen Inzidenzbegriff zu tun. Der politische Begriff ist eigentlich
nur eine Melderate, doch auf dieser baut die absurde Logik auf, dass zum einen
Infiziert gleich krank und krank gleich potentieller Beatmungspatient bzw.
potentieller Toter heißt. Sie verkennt zum anderen, dass jeder Symptomlose
trotzdem infiziert und damit potentieller Ansteckungsherd sein kann. Hier
werden sämtliche medizinischen Maßstäbe ins Groteske gekippt und neben dem
wirtschaftlichen Totalschaden des Landes auch sein sozialer Tod in Kauf
genommen. Das ist keine Politik, das ist Selbstmord aus Angst vor dem Tod; und
manche lauten Wissenschaftler gerieren sich dabei als Totengräber.
In diesem
Zusammenhang muss zu denken geben, dass just mit der Amtsübernahme von Joe
Biden und seinem am ersten Amtstag verfügten Wiedereintritt in die
Weltgesundheitsorganisation WHO eben diese ihre Richtlinien für die
Interpretation von PCR-Tests änderte. Darin heißt es nun, man solle den
Schwellenwert, ab dem ein Testergebnis als positiv gilt, unter Umständen
manuell anpassen. Ergebnisse, die „gerade so“ noch positiv seien, müssten sehr
vorsichtig interpretiert werden. Ein PCR-Test kann also positiv sein – und man
weiß dennoch nicht, ob der positiv Getestete nun viele Viren in sich trägt (und
vielleicht ansteckend ist) oder ob es nur ganz wenige Virenanteile sind, die
lediglich aufgrund einer hohen Zyklenzahl so stark vervielfältigt wurden, dass
schließlich ein positives Testergebnis herauskam.
Wenn das
Testergebnis nun nicht mit dem gesundheitlichen Zustand des Getesteten
übereinstimmt (wenn er positiv ist, aber putzmunter wirkt, also keine Symptome
hat), dann muss ein erneuter Test durchgeführt werden, so die WHO. Auf gut
Deutsch: Die PCR-Tests sind also überhaupt nicht geeignet, um eine
Corona-Infektion zuverlässig festzustellen, vor allem, wenn es sich um Menschen
ohne klinische Symptome handelt. Es sind also viel zu viele Menschen aufgrund
eines vermutlich falschen Testergebnisses in Quarantäne geschickt worden. Wurden
früher Pandemien anhand von Todeszahlen als solche bestimmt, genügen heute die
Zahlen von Infizierten. Wie sehr muss eine Regierung ihren
„wissenschaftlich begründeten“ Maßnahmen misstrauen, wenn die Bürger in Bussen,
Bahnen und an Bahnhöfen ständig mit der Erinnerung an die Maskenpflicht
penetriert werden?
„Denn der unaufgeregte Diskurs über Daten und Fakten wurde schnell einer global entfachten Panikstimmung geopfert, die den seriösen Blick der Wissenschaft beiseiteschob, um sich als Propagandawelle in die Gemüter der Menschen zu ergießen“, befindet Fabian Nicolai auf achgut. „Der Bezug auf medizinwissenschaftliche Basisdaten konnte entfallen und das Rudiment als Tatsache verkauft werden“. Mit Prof. Dr. Michael Esfeld stellte ein Leopoldina-Mitglied in einem Protestschreiben fest: „Es gibt in Bezug auf den Umgang mit der Ausbreitung des Coronavirus keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, die bestimmte politische Handlungsempfehlungen wie die eines Lockdowns rechtfertigen.“ Er hat sogar gefordert, die Akademie solle das Papier zurückziehen, weil es den Anschein erweckte, die Forscher seien sich einig. So ist es aber nicht. „Es gab keine ‚epidemische Lage von nationaler Tragweite‘, wenngleich dies der Bundestag mit Wirkung ab dem 28.03.2020 festgestellt hat“, urteilte jetzt, endlich, ein Weimarer Amtsrichter.
Esfeld habe mit seiner Aussage
völlig Recht, dass höchst umstritten ist, ob der Nutzen scharfer politischer
Maßnahmen wie ein Lockdown die dadurch verursachten Schäden aufwiegt, so der
wissenschaftspolitische Sprecher der Stuttgarter AfD-Fraktion Dr. Bernd Grimmer
MdL. „Auch seiner Aussage, dass es ethisch in der auf Immanuel Kant
zurückgehenden Tradition Gründe gibt, grundlegende Freiheitsrechte und die
Würde des Menschen auch in der gegenwärtigen Situation für unantastbar zu
halten, stimme ich uneingeschränkt zu. So gehört zur Würde des Menschen die
Freiheit, selbst entscheiden zu dürfen, welche Risiken sie einzugehen bereit
ist.“ Das betrifft vor allem die Frage des Impfens: „Die Pandemie wird nicht
verschwinden, wenn der Impfstoff zur Verfügung steht. Sie wird dann zu Ende
gehen, wenn das Virus alle Menschen gefunden hat“, so der Epidemiologe Klaus
Stöhr, Ex-Chef des weltweiten Influenza-Programms der WHO, der leider nur auf Tichys Einblick zitiert wird. Ein Virus
ist von Natur aus unbesiegbar, auch wenn das dem Narzissmus der schon länger
hier Regierenden ein Dorn im Auge ist.
„verwirrend und irritierend“
Eine andere Facette dieser
Einseitigkeit ist das nachgerade totalitäre Wissenschaftsverständnis, wie es
jüngst die Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG, die
Heidelbergerin Katja Becker, an den Tag legte. Wer will, dass Virologen „öfter
mit einer Stimme sprechen“, und für wünschenswert hält, dass die
Wissenschaftler „zunächst untereinander diskutieren und sich dann auf eine
gemeinsame Linie verständigen“, offenbart die Sehnsucht nach einer
Stromlinienförmigkeit von Erkenntnis, die diese zum Glück nie haben wird. Ihre
Würdigung der „Vielstimmigkeit einer wissenschaftlichen Community“
konterkariert sie sofort selbst, wenn sie beklagt, dass diese Stimmen hinterher
„oft mühsam wieder in Einklang gebracht werden“ müssen, „wenn es beispielsweise
darum geht, politische Entscheidungen zu treffen“. Das sei „bisweilen
verwirrend und irritierend, außerdem kostet es zu viel Zeit“.
Da liegt der Hase im Pfeffer. Becker
will offenbar ebenso wie Merkel „durchregieren“ und sich der einstimmigen
wissenschaftlichen Unterstützung sicher sein: „Das ist ebenso feige wie
diktatorisch und nicht nur einer Demokratie unwürdig, sondern befördert ihre
Abschaffung von oben“, erboste sich Grimmer und forderte Beckers Rücktritt.
Zugleich erinnerte er daran, dass auch der vor Monaten noch führbare Streit
zwischen Christian Drosten und Alexander Kekulé gezeigt habe, dass es „die
eine“ wissenschaftliche Erkenntnis und Lösung nicht gibt. Nur das immer
wiederkehrende Wechselspiel von These und Antithese garantiert fortschreitende
Erkenntnis. Noch 1931 versuchten 100 Autoren gegen Einstein, eine
„Mehrheitsmeinung“ durchzusetzen, was diesen sinngemäß zu der Aussage
veranlasst haben soll: „Gleich 100? Wenn sie Recht hätten, würde doch einer
genügen“. Wie dieser Streit ausging, ist bekannt.
Doch die kritische Überprüfung
von Forschungsergebnissen wird nicht mehr als notwendiger Bestandteil wissenschaftlichen
Arbeitens gesehen, sondern als Störfaktor auf dem Weg zur absoluten Wahrheit,
die zu einer idealen linken Gesellschaft führt. „Der Marxismus ist allmächtig,
weil er wahr ist“, hieß es bis 1990. Wir sind entsetzlicherweise auf dem Weg in
ein Gemeinwesen, das genau solche Verdikte über die wissenschaftliche
Erkenntnis stellt. Becker hatte sich schon Anfang August 2020 disqualifiziert,
als unter ihrer Verantwortung ein selbst in Auftrag gegebenes Videostatement
des Kabarettisten Dieter Nuhr zum 100. DFG-Gründungsjubiläum nach einem
Shitstorm auf den Seiten der DFG feige gelöscht wurde. Dieses Phänomen der „Cancel
Culture“ begann spätestens 2017 mit der Absage eines zuwanderungskritischen
Vortrags über den „Polizeialltag in der Einwanderungsgesellschaft“ an der
Frankfurter Goethe-Universität durch die Ethnologin Susanne Schröter. Reden
sollte der Bundesvorsitzenden der Polizeigewerkschaft Rainer Wendt, doch 60 von
Schröters Kolleginnen und Kollegen hatte in einem offenen Brief die Wiederausladung
des Gewerkschaftsmannes gefordert und sich durchgesetzt.
Eine bereits 2018 durchgeführte Befragung von 932 Studenten der eher linken Sozialwissenschaften in Frankfurt brachte jüngst den alarmierenden Befund, ein Drittel bis die Hälfte der Befragten dagegen sind, Redner mit abweichenden Meinungen zu den am meisten umstrittenen Themen Islam, Geschlecht und Zuwanderung an der Hochschule zu dulden. Noch höher ist der Anteil derer, die solchen Personen keine Lehrbefugnis geben würden, wiederum ein Drittel will ihre Bücher aus den Bibliotheken verbannen. Eine derartige Haltung ist nicht mehr weit von der Bücherverbrennung aus unseligen Zeiten entfernt. Die Toleranz für andere Ansichten war unter den sich als links bezeichnenden Studenten außerdem deutlich geringer als im konservativen Spektrum. Die Studienautoren Revers und Traunmüller erkennen in den restriktiven Sprachcodes, gewalttätigen Protesten gegen kontroverse Vortragende und im Wunsch nach Demission unliebsamer Professoren einen „klaren Indikator für die entsetzliche Zukunft der Meinungsfreiheit“ insgesamt – und der Wissenschaftsfreiheit, muss man hinzusetzen.
Prompt hat sich heute ein
Netzwerk gegründet, das Wissenschaftler bei umstrittenen Forschungsthemen
unterstützen soll, falls sie sich nicht mehr Positionen einzunehmen getrauen,
die zum Mainstream divergieren. „Versuchen Sie mal in einem biologischen
Seminar über Genetik und Vererbung zu sprechen sowie über die Frage, wie weit
Weiblichkeit etwas Angeborenes oder etwas kulturell Anerzogenes ist … Die
Lockerheit und Entspanntheit im freien gemeinsamen gedanklichen Experimentieren
ist bei den wirklich wichtigen politischen Themen verloren gegangen“, so die
Philosophin Maria-Sibylla Lotter im Cicero.
„Es ist empörend, dass die
Furcht vor medialen Empörungswellen so immens ist, dass die Wissenschaftler
lieber schweigen“, befindet Grimmer und spricht von einer „Trendwende im Kampf
um die Meinungsfreiheit“. Dass Wissenschaft zum Schweigen gebracht wird, sei zwar
kein neues Phänomen, doch würde es jeder Demokrat einem diktatorischen Regime
zuschreiben. „Doch diese demokratieunwürdigen Verhältnisse sind nun auch bei
uns angekommen. Die Freiheit der Lehre und Wissenschaft aber ist ein Grundrecht,
das nicht verwehrt werden kann. Dass sie sich zusammenschließen, um für etwas
zu kämpfen, was eigentlich selbstverständlich sein müsste, ist ein untragbarer
Zustand“, so Grimmer.
„Droh- und Schmähanrufe“
Im Gegenzug allerdings werden
andere, politisch erwünschte Forschungsgebiete geradezu „gehypt“. Laut dem im
Dezember verabschiedeten Bundeshaushalt für das Jahr 2021 soll der Etat für
Bildung und Forschung zwar von 18,2 auf 20,8 Milliarden Euro steigen.
Bundesbildungsministerin Anja Karliczek sah jedoch in ihrer Rede im Bundestag im
Fokus von Bildung und Wissenschaft: die Bewältigung der Corona-Pandemie, die
digitale Bildung, die Mitgestaltung von Schlüsseltechnologien, darunter die
Künstliche Intelligenz und Quantentechnologie, und – die Klimaforschung.
Klimaschützer hätten sich mit
ihrem Engagement für eine nachhaltigere, lebenswertere Welt hinter der
Wissenschaft verschanzt, befindet Welt-Chef
Ulf Poschardt. „Sie haben eine tolle Meinung und sagen nur zwei Sachen: Pariser
Abkommen einhalten und ‚listen to the science‘. Die Wissenschaft – oder,
genauer, der besonders alarmistische Teil – wird als der Weisheit letzter
Schluss präsentiert, sie dürfe auch demokratische Kompromissformeln und gesellschaftliche
Prozesse infrage stellen. Es ist kein Zufall, dass die aktuellen
Lockdown-Fetischisten im Zweifel die Bekämpfung der Corona-Krise mit der
Bekämpfung der Klima-Krise vergleichen.“
Der renommierte Klimaforscher Hans von Storch bezweifelt im Spiegel, „dass junge unausgebildete Leute in Nordeuropa beurteilen können, was Regierungschefs … tun oder nicht tun – geschweige denn welche schwierigen Abwägungsprozesse in den einzelnen Ländern ablaufen. Was die jungen Klimaaktivisten anbieten, ist ein wilder Mix aus Fakten und Spekulationen. … Früher war ein Sturm einfach ein Sturm, heute gilt er manchen als ein Vorbote des Weltuntergangs.“ Allein die Helmholtz-Gemeinschaft verzeichnete allein 2013 für die Klimaforschung 450 Mio. Euro Fördermittel, davon 325 Mio. Programm- und 125 Mio. Drittmittel.
Als Ex-US-Vize Al Gore quasi
über Nacht zum „Papst in Sachen Global Warming“ wurde, „war die
Klimawissenschaft mit dem Virus der Politik infiziert. Der ist tödlich, denn in
der Wissenschaft geht es um Wahrheit, in der Politik aber um Mehrheit. Als
Folge davon ist heute eine sachliche Untersuchung der Physik der Erdatmosphäre
nicht mehr möglich“, so der Kernphysiker Hans Hofmann-Reinecke auf achgut. Er erkennt weltweit entstandene
Institutionen, „welche die Unterstützung der Mächtigen genießen und dafür
pseudo-wissenschaftliche Rechtfertigungen derer Politik liefern. Solche Arbeit
ist nicht von Selbstkritik geprägt, sondern von der Hexenjagd auf externe
Kritiker, die ihren Schwindel aufdecken könnten. Aber Selbstkritik wäre hier
dringend notwendig, denn die zu messenden Effekte sind so schwach, dass man
sich leicht selbst zum Narren halten kann“.
Ein anderes politisch
erwünschtes Forschungsgebiet sind die „Gender Studies“, von denen sich Deutschland
knapp 300 Lehrstühle und Zentren leistet. Wurden von 1995 bis 2005 hierzulande 663
Professorenstellen in den Sprach- und Kulturwissenschaften trotz steigender
Studentenzahlen eingespart, hat sich das größte Bundesland Nordrhein-Westfalen
für die Gender-Studies höchst großzügig gezeigt und allein zwischen 1986 bis
1999 an 21 Hochschulen 40 Professuren für das „Netzwerk Frauenforschung NRW“
neu geschaffen, darunter auch eine für „feministische Ökonomie“ in Münster. Wie
streng die Sanktionen gegen Andersdenkende sind, erfuhr 2004 ein Professor an
einer deutschen Universität, der in einem Essay Gender-Mainstreaming als
totalitäre Steigerung der Frauenpolitik bezeichnet hatte. Der
Wissenschaftsminister untersagte ihm unter Androhung disziplinarischer und
strafrechtlicher Konsequenzen, Derartiges weiter zu publizieren. „Diskutieren
wollte niemand, dagegen bekam ich anonyme Droh- und Schmähanrufe sowie soziale
Distanzierungen und Ridikülisierungen“, sagt der Wissenschaftler anonym dem Handelsblatt.
„Stünde es um die akademische Freiheit, um die Freiheit des Denkens und Forschens, nicht besser, wenn es diese Katheder mit ihrer behaupteten Allzuständigkeit nicht gäbe“, fragt Alexander Kissler im Focus. „Dort werden Waffen geschmiedet im Kampf gegen das Männliche als Prinzip, Form und Person, mal auf grammatikalischen, mal auf diskurspolitischen Wegen.“ Der Linguist Peter Eisenberg erkennt, dass der Streit über Sinn und Unsinn von Bemühungen um einen Umbau des Deutschen zur geschlechter- oder gendergerechten Sprache auch die Mitte der Sprachwissenschaft erreicht habe, und empört sich über die Abschaffung des generischen Maskulinums der Duden-Redaktion. „Der Duden vertritt nicht die Sprache, wie sie ist, sondern er will die Sprache umbauen. In dieser Offenheit, in dieser Dreistigkeit hat es das bisher nicht gegeben“, sagte er dem NDR.
Der Duden bildet sich offenbar
ein, er könne auf diese Weise den allgemeinen Sprachgebrauch manipulieren, um
dann festzustellen, der Gebrauch habe sich verändert und er folge ihm: „Man
kann das nur als skandalösen Fälschungsversuch bezeichnen“, so Eisenberg. Damit
würde der Gegenstand der Sprachwissenschaft desavouiert, seine Bedeutung für
die Disziplin als empirische Wissenschaft negiert, ja ihr buchstäblich der
Boden unter den Füßen weggezogen. „Hier versucht ein winziges Häuflein
pseudofeministischer Sprachmoralisten, den allgemeinen Sprachgebrauch zu
beeinflussen, eine wissenschaftlich einseitige Sichtweise zu propagieren und
damit in eine ideologisch genehme Richtung zu lenken“, empört sich auch die
Stuttgarter gleichstellungspolitische AfD-Fraktionssprecherin Carola Wolle MdL.
„De facto aber besitzt nicht der Duden die Deutungs- oder gar Definitionshoheit
über die deutsche Sprache, sondern allein die Sprachgemeinschaft der rund 100
Millionen deutschen Muttersprachler weltweit.“
„Mitglieder mit Rückgrat“
Abwertungsindizien finden sich vor
allem im Umgang mit akademischen Graden. Während Freiherr zu Guttenberg und
Annette Schavan (Union) noch gehen mussten und überdies deren Doktortitel aberkannt
wurden, darf Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) weiter Karriere
machen und ihren zunächst behalten. Die Ankündigung der erneuten Prüfung ihrer Doktorarbeit
durch den Präsidenten der Freien Universität FU Berlin, Günter M. Ziegler, kann
man nur „akademische Schande“ nennen: er sagte allen Ernstes, es werde „ergebnisoffen“
geprüft. „Wieso muss diese Selbstverständlichkeit betont werden“, wundert sich
Grimmer und fragt sich, was als nächstes folgt: „Ergebnisoffene Forschung?
Promotionsverfahren, bei denen politische Kontakte keine Rolle spielen? Auch
der Satz, dass die Mitglieder der neuen Prüfungskommission alle ‚Mitglieder mit
Rückgrat sein‘ werden, lässt tief blicken: hatten die alten keins? Oder steht
wegen der politischen Prominenz der Kandidatin zu befürchten, dass nicht
genehme Ergebnisse karrierehindernd wirken könnten? Diese Wortwahl ist ebenso
entlarvend wie empörend und eines deutschen Universitätspräsidenten unwürdig.“
Daneben verweist Grimmer darauf,
dass die Giffey-Debatte schon viel zu lange und vor allem grundsätzlich falsch
geführt wird. „Die erste Reaktion der FU auf Giffeys Plagiat, nämlich nur eine
Rüge auszusprechen, also faktisch gar nichts zu tun, war bereits unrechtmäßig,
weil es für die Rüge schlicht an einer Rechtsgrundlage fehlt und es die im
Promotionsverfahren gar nicht gibt. Schon hier wäre nur die Aberkennung in
Frage gekommen“. Es sei verlogen, auf den Doktortitel zu verzichten und ihn
künftig nicht mehr zu führen mit der Begründung „Wer ich bin und was ich kann,
ist nicht abhängig von diesem Titel.“
Denn bislang stand dieser Titel
für wissenschaftliche Gründlichkeit, akademische Reife, die Fähigkeit
selbstständigen und akribischen Forschens und dafür, der allgemeinen
Nivellierung unserer Gesellschaft etwas entgegenzusetzen. Prompt schlug der
Berliner Wirtschaftswissenschaftler Steffen Huck in der Zeit vor, den Doktortitel zugunsten eines
Peer-Review-Publikationsprozesses abzuschaffen, weil er „bloß die Macht von
Betreuern, Bürokraten und Erbsenzählern“ sichere. Die auf Giffey & Co.
gemünzte Begründung, dass der Welt „Skandale wie dieser Tage endlich erspart“
blieben, ist dabei ebenso kurzsichtig wie nivellierend. Wir haben schon das
Geschlecht abgeschafft, jetzt auch den Doktortitel – wozu eine Goldmedaille,
wenn dabei sein alles ist? „Diese Begründung wäre eher eine Kapitulation vor
den Scharlatanen“, meint Grimmer.
Das Problem ist nicht der Doktortitel, sondern wie leicht bzw. mit wie wenig Aufwand er teilweise erworben werden kann – angesichts von „Promotionsagenturen“, Ghostwritern usw. muss man sich für seine Redlichkeit scheinbar schon rechtfertigen. Einer Recherche des ARD-ZDF-Content-Netzwerks Funk zufolge schreiben inzwischen ukrainische Ghostwriter gar schon Bachelorarbeiten für deutsche Studenten. Zwischen 900 und 2.700 Euro kostet eine 30-seitige Arbeit; der Autor sieht davon kaum 20 %. Wenn man also wissenschaftlich Unbrauchbares abschaffen will, müsste man zuerst den Bachelorgrad diskutieren, ist sich Grimmer sicher. „Denn er führt üblicherweise nicht zu Publikationen und lähmt das System mit massenhaften Modulprüfungen – oft genug für Studenten, die sich weder für Forschung interessieren noch irgendein Talent dafür haben.“
Hinzu kommt, dass die
Peer-Review-Praxis in den letzten Jahren zunehmender Kritik ausgesetzt ist.
Einerseits gibt es auch bei den Peer-Reviewed Journals Zitier- und
Gefälligkeitskartelle, ja den Editor und Forscher in Personalunion. Der niederländische
Wissenschaftsverlag Elsevier hat 2019 in seinen Journalen in 433 Fällen
wissenschaftliches Fehlverhalten von hunderten Peer-Reviewern gefunden.
Andererseits haben jüngst Autoren zwei große Studien zu COVID-19 zurückgezogen,
obwohl sie nach Peer Reviews in hochrangigen Journals veröffentlicht worden
waren.
Zudem geht dank Preprint-Servern
wie bioRxiv und medRxiv die Veröffentlichung eventuell bahnbrechender
Studienergebnisse viel schneller. Mehr als 3300 Studien zu Corona sind bisher
auf bioRxiv veröffentlicht worden; die meisten politischen Entscheidungen in
Zusammenhang mit dem Umgang mit SARS-CoV-2 stützen sich in erster Linie darauf.
Publikationsdruck wie gerade der einer Promotion führt da nur zu Fehlanreizen
und könnte damit tatsächlich die Abhängigkeit junger Wissenschaftler von ihren
Betreuern vergrößern statt im Gegenteil zur wissenschaftlichen Emanzipation der
Promovenden beizutragen. Eine Dissertation ist mehr als nur eine Anhäufung von
ein paar Aufsätzen, weil die geistige Architektur, die man dafür errichten
muss, viel komplexer und größer ist.
„Brotgelehrter als Symbol von Enge“
Wer promoviert, weist auch nach,
sich unbekannte Inhalte strukturiert anzueignen, zu kontextualisieren, damit
sich und sein Denken auf ein höheres Niveau zu heben. Auf diesem Potential
beruhte gerade in den Naturwissenschaften die Stärke unseres Landes. Man geht
doch auch nicht aufs Gymnasium, um dann kein Abitur zu machen. Eine solche
Selbstbeschneidung kann nicht im Sinne unseres nationalen Wohlergehens sein.
Doch „Selbstbeschränkung und Meinungskonformismus“ konstatiert selbst der
Hamburger Historiker Christoph Ploß, der für die CDU im Bundestag sitzt. In
Teilen der Wissenschaft werde immer stärker infrage gestellt, andere Meinungen
anzuhören und diese als Gedankenanstoß zu empfinden, weil „Kraft und Mut“
fehlten: „Dabei wären gerade in Zeiten schnelllebiger Meinungskonjunkturen und
einer Flut von Fake News grundlegende Erkenntnisse der Wissenschaft wichtiger
denn je“, schreibt er im Cicero.
Vor allem der Drittmittelzirkus
würde zu einem selbstreferentiellen bürokratischen System führen, das das
„Interesse, aus den eigenen akademischen Echokammern herauszutreten und mit
einer breiteren Öffentlichkeit zu diskutieren“, sinken ließe. Das beklagte in
der Tagesstimme auch
Ex-Lehrerverbandschef Josef Kraus: „Die Fragen der Universitätspolitik lauten
nämlich heute: Wie gestalten wir Forschung und Wissenschaft so, dass wir einen
praktischen Nutzen davon haben? Wie kommen wir an Drittmittel? Wie schaffen wir
es, in den Rang der Exzellenz-Universität zu kommen? Wie kann Hochschule zu
einem betriebswirtschaftlich-kundenorientierten Dienstleister werden?“ Für Ferdinand
Knauss hat sich auf Tichys Einblick die
Politisierung des Lehr- und Forschungsbetriebs im Dienste bestimmter
ideologischer Botschaften aus den Sozial- und Kulturwissenschaften auch schon
in die Naturwissenschaften ausgebreitet.
Solche Konzentration auf Quantitäten und Verwertbarkeit ist falsch; eine Reduktion von Bildung und Wissenschaft auf bloße Qualifikationen und Kompetenzen hinterlassen ein Vakuum. Nur der umfassende Gebildete aber ist frei und mündig, weil er sich gelegentlich zurücknehmen und reflektieren kann: „Wissenschaft schafft Wissen, nicht Maschinen oder Reichtum“, weiß Hofmann-Reinecke. Vor diesem Hintergrund – Gender-Studies einer- und Klimaforschung andererseits zum Trotz – muten das Selbst- und Fremdverständnis um unsere Geisteswissenschaften befremdlich an: Von den insgesamt 48.547 Professoren des Jahres 2019 stellten die Geisteswissenschaften nur 4.693. Zum Vergleich: 14.527 waren es in den Rechts-/ Wirtschafts-/ Sozialwissenschaften, 12.535 in den Ingenieurswissenschaften, 6.456 in Mathematik und Naturwissenschaften, 4.442 in der Medizin…
Gewiss garantieren die Natur-
und Ingenieurswissenschaften Wertschöpfung, ohne die ein differenziertes
Bildungswesen nicht finanzierbar ist. Aber es sind die Geisteswissenschaften,
vor allem die Philosophie, die Theologie, die Geschichtswissenschaften, die
Literatur- und Sprachwissenschaften, die Orientierungsverluste der
nihilistischen Moderne mit ihrem „anything goes“ und „alternative“, in
Kommunikationsblasen verbreitete Fakten ausgleichen beziehungsweise widerlegen
helfen, ist sich Kraus sicher. Diese Ideologien bedeuten nämlich Beliebigkeit.
Fehlende traditionelle Sinnbezüge mögen als „unmodern“ gelten, aber sie
hinterlassen Orientierungslosigkeit. Geisteswissenschaften erbringen ihre
besondere Leistung als historisch-erinnernde, als Werte- und
Geltungswissenschaften. Sie tragen dazu bei, das eigene Menschsein zu
verstehen, zu entfalten und zu gestalten.
Der Mensch ist eben nicht nur
ein möglichst gut funktionierender „homo oeconomicus“, sondern ein
historisches, sittliches, sprachlich-ästhetisches, sinnsuchend-religiöses Wesen
und ein „zoon politikon“. Er bedarf des übernützlichen Sinns. Das heißt für
Kraus: Eine Reduktion von Bildung und Wissenschaft auf bloße Qualifikationen
und Kompetenzen hinterlassen ein Vakuum. Nur der umfassende Gebildete aber ist
frei und mündig, weil er sich gelegentlich zurücknehmen und reflektieren kann.
Friedrich Schiller hatte in seiner Jenaer Antrittsvorlesung vom 26. Mai 1789
mit dem Titel „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“
die faustische Kernaussage getätigt: Der Brotgelehrte ist Symbol von Enge, der
philosophische Kopf erforscht, was die Welt im Innersten zusammenhält. „Wo der
Brotgelehrte trennt, vereinigt der philosophische Geist.“ Diese Einheit ist
nicht mehr gewollt, Diversifizierung und Dekonstruktion sind die aktuellen Rezepte
zur Medikamentation eines karzinogen verstandenen Wissenschaftsbetriebs, der
überdies seit Monaten auf Präsenz verzichtet und Studenten allein lässt.
Das Fazit ist mehr als bitter. „In
den letzten Jahren sind wir Zeugen eines vollendeten Schulterschlusses aus
Politik, Wissenschaft und Medien geworden, der die zur gegenseitigen Kontrolle
notwendige kritische Distanz zum Staat und seiner Regierung restlos nivellierte“,
bilanziert Nicolai. Dazu habe sich ein widerstandslos anbiederndes
Großunternehmertum gesellt, das „im Appeasement-Modus nicht ungeübt mit den
Gretas und Luisas dieser Welt“ sei, was „zur Gleichschaltung der Antagonisten
geführt“ habe.
Für den 2018 an der TU Berlin in den (Un-)Ruhestand verabschiedeten Medienphilosophen Norbert Bolz lassen sich immer mehr Wissenschaftler dazu überreden, ihre Prognosen als Gewissheiten anzubieten. In seinem Bändchen „Avantgarde der Angst“ fällt auch der Begriff der „Gefälligkeitsforschung“ sowie der Satz „Als Prophet wird der Wissenschaftler zum Demagogen und Journalisten.“ Solche „Propheten des Elends“ würden aber nicht als „beamtete Scharlatane“ psychoanalytisch behandelt, sondern politisch und medial geadelt. Wer weiß, wie dieser neuen Ständegesellschaft zu entkommen ist, dürfte gute Chancen auf die nächste Kanzlerschaft haben.
Die Bundesregierung fördert den „Kampf gegen Rechts“ mit sage und schreibe einer Milliarde Euro. Mit ideologischen Worthülsen sollen alle Kritiker und Andersdenkenden mundtot gemacht werden.
Meine neue Tumult-Kolumne, die gern verbreitet werden kann.
Als er einmal in Deutschland eine
Rede hielt und aufgefordert wurde, Hochdeutsch zu sprechen, entgegnete er: „Ich
kann nicht höher!“ Ganz selbstverständlich flossen in seine Texte Helvetismen
ein. Legendär ist der Dialog zwischen Kaiser Romulus und Kammerdiener Pyramus
im Theaterstück Romulus der Große,
den er einfügte, nachdem sich ein Schauspieler über den Ausdruck „Morgenessen“
statt „Frühstück“ mokiert hatte. Als 1985 sein Roman Justiz im Stern
vorabgedruckt wurde und man die Helvetismen aus dem Text strich, kam es sogar
zum Prozess. Spätestens damit erhielten sie die höheren literarischen Weihen –
und fanden wie „Kondukteur“ oder „Pneu“ auch den Weg in den Duden, wo sie als
„schweizerische Variante“ gekennzeichnet sind: der Wortschöpfer als
Sprachlehrer.
Er bewegte sich ungern, sah sich
selbst als Stubenhocker. Die allermeiste Zeit saß er nur in seinem
Arbeitszimmer und schrieb oder zeichnete. Ein Solitär und Solodenker, der sich
immer über die Frauengeschichten seines Kollegen und Freundes Max Frisch pikiert
zeigte – aber auch selbst welche hatte. Der Suizidversuch seiner ersten Frau
Lotti nach einem dieser Seitensprünge nahm in mehr mit als er sich eingestehen
wollte. Als sie, die ihm drei Kinder
gebar, 1983 starb, stürzt ihn der Tod in tiefe Verwirrung, er hält ihn auf
kindliche Weise für einen bösen „Streich“, den ihm Lotti gespielt hat, für eine
Art böswilliges Verlassen des gemeinsamen Ehestandes. Aus Ratlosigkeit,
Verdüsterung und aus der Verfinsterung seiner Lebensumstände rettet er sich
1984 durch die Ehe mit der Journalistin und Schauspielerin Charlotte Kerr. Die
zweite Ehe wird zu einer Wiedergeburt des Autors. Ein neuer Alltag, neue
Beziehungen und neue Einsichten lösen einen Kreativschub aus.
Überhaupt – Kreativität. Ein Dörfler, geprägt von der Kindheit im Emmental, der sich schon dort als dicklicher Außenseiter empfindet und von den Mitschülern geprügelt wird. Seiner geordneten, kleinkarierten Wirklichkeit setzt er früh, wild um sich malend und dichtend, die Eigenwelt seiner überbordend monströsen, apokalyptischen Phantasie entgegen. Er fühlte sich als Kind oft eingesperrt in ein undurchschaubares Labyrinth, wie der Minotaurus, der nicht weiß, was auf ihn zukommt – eines der wichtigen Motive des bildenden Künstlers: „Zeichnen war für mich eine Abwehr, ein Umfunktionieren, ich konnte dann das irgendwie bildlich darstellen. Was hab ich gezeichnet? Ich habe immer Katastrophen gezeichnet, ich habe immer Kriege gezeichnet, ich hab immer Sintfluten gezeichnet.“ In guter Laune verewigt er sich als Erwachsener zeichnerisch sogar auf Weinflaschen – im Selbstporträt als „Minoromulus“, als Mischwesen aus „Romulus dem Großen“ und dem „Minotaurus“, das kräftig den Darm entleert.
Wenig Verständnis findet seine Welt
beim Vater, einem Pfarrer und Gelehrten. Beide Eltern, erinnert sich seine
jüngere Schwester Verena, seien ausgeprägte Persönlichkeiten gewesen, die ihre
Welt gelebt haben, „wir waren ja eigentlich draußen und hatten unsere eigene zu
entdecken“. Die Rebellion gegen den Vater führt zeitweise zu einem „nebulösen
Parteinehmen für Hitler“, befindet sein Biograph Peter Rüedi, dessen Aufstieg
anfangs noch als Gegenkraft zum Kommunismus von beiden Dürrenmatts gemeinsam
mit Sympathie verfolgt wird. Das ändert sich beim Vater, der den Führer des
Dritten Reiches zunehmend als Antichristen wahrnimmt, während der Sohn ihn als
„Schutz gegen die väterliche Welt des Glaubens“ verwendet. Außerdem gefällt er
sich von Anbeginn in der Rolle des Außenseiters und des provokanten
Bürgerschrecks – laut Rüedi war er germanophil, aber kein Nazi, und am Ende
seines Lebens gar linksliberal: Friedrich Reinhold Dürrenmatt, der vor 100
Jahren, am 5. Januar 1921 im kleinen Städtchen Konolfingen zur Welt kam.
Weltveränderer sind Narren
1935 zieht die Familie nach Bern,
wo der Vater Pfarrer am Salemspital wird und Friedrich das Gymnasium besucht.
Der Vater wollte, dass sein Sohn nach dem Abitur 1941 Theologie studiert, doch
Friedrich hatte beschlossen, Maler zu werden. Doch zu einem Kunststudium kam es
nie – seine magisch-surrealen Bilder stießen auf Ablehnung: „Das war eine Zeit,
da ganz Bern impressionistisch malte; der Expressionismus existierte nicht“. So
belegte er Theologie, Philosophie und Literatur; Homer und Aristophanes,
Kierkegaard und Kafka werden ihm wichtig. Zwischendurch setzt er das Studium in
Zürich fort, kehrt aber im Mai 1943 nach Bern zurück, wo er auch noch
Psychologie, Nationalökonomie und Philosophie studiert. Parallel leistet er in
jener Zeit den militärischen Hilfsdienst ab und vor allem – er malt und schreibt:
Prosa, Lyrik, Dramatik, allesamt später veröffentlicht. Der Gedanke an einen
künstlerischen Beruf beherrscht ihn. In Bern wohnte er bei seinen Eltern in
einer Mansarde, die er mit großen Wandbildern ausstattete, die später
übertüncht und erst Anfang der neunziger Jahre entdeckt, freigelegt, restauriert
und zugänglich gemacht wurden.
Am 5. Januar 1945, als Hilfssoldat in einem Schweizer Grenzbataillon, fällt er die Entscheidung, als Autor zu arbeiten, und bricht nach 10 Semestern das Studium ab, ohne seine geplante Dissertation zu Søren Kierkegaard auch nur anzufangen. 1946 heiratet er Lotti und betritt 1947mit Getöse die Bühne des Schauspielhauses Zürich. Die Premiere seines turbulenten Wiedertäufer-Spektakels Es steht geschrieben führt zu einem solchen Skandal, dass man sich in Zürich für etliche Jahre an kein neues Werk des Szenen-Berserkers wagt. „Die Welt rast dem Nichts entgegen, und Friedrich Dürrenmatt schreibt als Zeremonienmeister das Protokoll dazu“, fasst Roman Bucheli in der NZZ die literarische Existenz Dürrenmatts zusammen. Zeitlebens hat Dürrenmatt weiter gezeichnet, oft bedauerte er auch, nicht Maler geworden zu sein. Er hatte auch außerhalb der Schweiz viele Ausstellungen.
Zuerst findet er im Theater seine
Bestimmung. Hier konnte er Bilder auf die Bühne bringen und zugleich philosophische
Denkmodelle mit handelnden Personen entwerfen. Mit 35 Jahren erlebte Dürrenmatt
den Durchbruch. Die tragische Komödie Der
Besuch der alten Dame wurde 1956 ein Welterfolg. Überall verfolgten die
Zuschauer seine düstere Spielanordnung: Was würde geschehen, wenn ein Mensch –
wie die alte Dame Claire Zachanassian – eine Milliarde für einen Mord böte? Und
was, wenn die Formel zur Vernichtung der Welt in falsche Hände geriete, wie in Die Physiker? Auch dieses Stück, das
1962 uraufgeführt wurde, nannte Dürrenmatt eine Komödie, denn seiner
Überzeugung nach konnten nur noch Komödien den grotesk-horrenden Zustand der
Welt im Zeitalter der Atombombe abbilden: „Das Komödiantische ist meine
dramaturgische, ich möchte fast sagen, wissenschaftliche Methode, mit der ich
mit den Menschen experimentiere, um Resultate zu erhalte, die mich allerdings
oft selber verblüffen.“
Kafka steht bei Dürrenmatt ebenso
Pate wie Wedekind und Nestroy. In seinen politischen Themen wurde er auch von
Bertolt Brecht inspiriert, aber anders als Brecht trieb Dürrenmatt seine Stoffe
stets in die Groteske. Dürrenmatt lässt die Zuschauer lachen – und dann in
den Abgrund blicken, der für ihn die Welt bedeutete. Seine Themen sind wahrlich
nicht gemütlich: Prediger, Idealisten und zynische Mörder ringen in seinen
Theaterstücken um Wahrheit und Macht. Seine Kriminalromane und Hörspiele
handeln von meist ungesühnten Verbrechen, davon, wie man jemanden in einen Mord
hineintreiben kann – oder in eine Schuld, wie in dem frühen Hörspiel Der Doppelgänger. Für Dürrenmatt sind
Weltveränderer Narren, denn sie sind nicht nur ohne Erfolg, sondern auch der
kleinste Zufall kann die menschlichen Bestimmungen zunichtemachen. Mit seiner
literarischen Darstellungsweise als ein Gegenbild zur Realität verfolgte er moralische
Zwecke, um die Menschen in ihrem Bewusstsein der Freiheit zu sensibilisieren. Einige
seiner Theaterstücke wurden fest eingeplant in die Schullektüre. Im Porträt eines Planeten (1967) wird die
Weltgeschichte zum Schlachthaus.
„Buhrufe statt Applaus“
„Wie besteht der Künstler in einer Welt der Bildung“, fragt er listig, als er sich nach besserem Verdienst umtut. „Vielleicht am besten, indem er Kriminalromane schreibt, Kunst da tut, wo sie niemand vermutet.“ 1950 erscheint Der Richter und sein Henker als Fortsetzungsroman in Der Schweizerische Beobachter und erreicht bis heute eine weltweite Auflage von rund 7 Millionen Exemplaren. Dürrenmatts Themen auch der folgenden Kriminalromane sind die des ketzerischen Protestanten; es geht stets um Schuld und Verrat, die unmögliche Gnade und die unmögliche Gerechtigkeit auf Erden. Die Welt erscheint Dürrenmatt als Paradoxon, als Absurdum, als faszinierende Sinnlosigkeit.
In den nächsten Jahren publiziert
er weitere Kriminalromane, die seinen Weltruhm mit begründen, etwa Der Verdacht (1953). Herausragend ist
dabei Das Versprechen (1958). Für
Rüedi ist das Buch, in dem ein pensionierter Kommissar einen von seiner Ehefrau
traumatisierten Mädchenmörder sucht, der seine Opfer mit Schokolade anlockt, ein „Meisterwerk über den Zufall.“ Der Stoff
wird noch im Erscheinungsjahr unter dem Titel Es geschah am helllichten Tag mit Heinz Rühmann in der Rolle des
Kommissars Matthäi und Gert Fröbe als Triebtäter Schrott verfilmt; Sean Penn
dreht 2001 mit Jack Nicholson als Kommissar ein vielbeachtetes Remake.
Dürrenmatt schrieb unermüdlich
weiter: Frank der Fünfte (1959), Der Meteor (1966), unternahm Reisen nach
London, Mailand, Paris und Stockholm und erhielt zahlreiche Preise. So den
„Hörspielpreis der Kriegsblinden“ für Die
Panne (1957), den „Prix Italia“ für das Hörspiel Abendstunde im Spätherbst (1958) und den Preis der Schillerstiftung
. 1968 hält Dürrenmatt den „Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht” in
Mainz, im selben Jahr bekommt er den Grillparzer-Preis. 1973 scheiterte
Friedrich Dürrenmatt spektakulär. Für sein Stück „Der Mitmacher“ gab es am
Zürcher Schauspielhaus Buhrufe statt Applaus. Mit dieser Niederlage begann für
Dürrenmatt eine langsame Abkehr vom Theater und eine komplette Hinwendung zur
Prosa.
Er beginnt mit der Arbeit an den Stoffen und versucht eine umfassende
Darstellung der Geschichte seiner Schriftstellerei zu schaffen – ein Werk, das
sich keiner gängigen Literaturgattung zuordnen lässt: Teils Autobiografie,
teils Erzählung, teils philosophische Reflexion. Es entstehen die Stoffe I –
III (Labyrinth) und IV – IX (Turmbau). An dem Projekt arbeitet Dürrenmatt bis
zu seinem Tod. Weitere erwähnenswerte Werke sind unter anderem Ein Engel kommt nach Babylon (1954), Herkules und der Stall des Augias
(1954), Die Panne (1956), Frank der Fünfte. Oper einer Privatbank
(1960), Der Mitmacher (1976), Durcheinandertal (1989) oder Midas oder die Schwarze Leinwand (1991).
Den inzwischen erworbenen Wohlstand weiß er zu genießen. Seine seit jeher bestehende Leidenschaft für Wein pflegt er nunmehr im großen Stil des Kenners. Es entsteht im Laufe der Jahre ein legendärer Weinkeller, nachdem er für diesen Luxus durch den Bau seines zweiten Hauses (1965) im großen Luftschutzkeller Platz geschaffen hat. Schon früh hat er sich mit Vorliebe an roten Bordeaux gehalten. Auch nach einer durchzechten Nacht war er spätestens morgens um neun wieder an der Arbeit. Er hat auch die Auffassung vertreten, dass sein Diabetes, an dem er seit Jahrzehnten litt, und der Anfälle von Müdigkeit und von Verstimmungen zu Folge hatte, für seine Arbeit förderlich sei. Er betrachtete die Krankheit als Widerstand, den er überwinden musste.
Seine Texte sind nicht Ausdruck seiner Persönlichkeit, wie bei den meisten Schriftstellern. Er ist ein Beobachter der Welt aus sicherer Distanz und hält dem Leser von dieser Welt das verzerrte Spiegelbild vor. Er war Ehrendoktor in den USA, Frankreich und Israel und ging mit seinen Kritikern nicht gerade sanft um. Selbst in seine Werke baute er Entgegnungen ein, etwa in der Dichterdämmerung (1980), in der er unter anderem Hellmuth Karasek, Joachim Kaiser oder Marcel Reich-Ranicki abfertigte. Am 14. Dezember 1990 stirbt Friedrich Dürrenmatt an den Folgen eines Herzinfarkts in Neuenburg. 1998 hat der Diogenes Verlag eine auf 37 Bände erweiterte Werkausgabe veröffentlicht.
Selbst wenn er es nicht wollte: Er musste immer der erste sein. Der erste, den das Time Magazin zweimal zum Mann des Jahres kürte: 1943 und 1947. Der erste militärische Führer, der in den USA das Außenministerium leitete. Der erste General, der als vielfach prämierter Weltkriegsveteran von Senator Joseph McCarthy – der in der nach ihm benannten McCarthy-Ära vielerorts Kommunisten am Werk wähnte – als Verräter und „Helfer der Kommunisten auf ihrem Weg zur Weltherrschaft“ verdächtigt und beschimpft wurde. Und er war auch der erste Soldat, der den Friedensnobelpreis erhielt: George C. (Catlett) Marshall. Am 31. Dezember 1880 kam er in Uniontown, Pennsylvania, als Sohn eines wohlhabenden Kohlenhändlers zur Welt.
Die Familie konnte auf eine lange patriotische Linie zurückblicken, die einen Obersten Bundesrichter der USA einschloss. Obwohl er kein besonders guter Schüler war, erregten das Fach Geschichte seine Aufmerksamkeit – und illegale Hahnenkämpfe. Sein Vater hat seinen älteren Bruder Stuart und seine jüngere Schwester Margaret, eine bei weitem bessere Schülerin, stets bevorzugt. Nach einer unspektakulären Mittelschichtsjugend schlug er eine militärische Laufbahn ein und wurde von 1897 bis 1901 am Virginia Military Institute VMI ausgebildet. Er war ein „großer, schlanker, gutaussehender 20-Jähriger mit stechenden blauen Augen und einer gewissen Zurückhaltung“, wusste der Bostoner Historiker Lance Morrow. Stuart, der 1894 am VMI seinen Abschluss gemacht hatte, war gegen diese Wahl. Die beiden Brüder kamen nicht miteinander aus. Marshall erinnerte sich: „Ich hörte, wie Stuart mit meiner Mutter sprach und sie überreden wollte, mich nicht gehen zu lassen, weil er meinte, ich würde dem Familiennamen Schande bereiten. Das hat mich mehr beeindruckt als alle Lehrer, elterlicher Druck oder anderes. Ich beschloss an Ort und Stelle, ihn auszustechen.“
1902 trat er in die US Army ein und heiratete seine Jugendliebe Elizabeth Carter Coles. Die Ehe bleibt aufgrund einer Herzkrankheit „Lilys“ kinderlos. 1907 wurde er Captain First Lieutenant und bekleidete bis zum Ersten Weltkrieg verschiedene Positionen in den USA – er kartographierte den Südwesten von Texas – und auf den Philippinen: Hier sollte er vergeblich die gewaltsame Kolonialisierung durch Japan verhindern. Ab 1914 plante er sowohl Ausbildungs- als auch militärische Operationen, wurde 1916 zum Captain und 1917 zum Major befördert, kam im selben Jahr nach Frankreich und arbeitete ab 1918 im Hauptquartier der US-amerikanischen Expeditionsstreitkräfte. In Fort Douglas (Utah) machte der Kommandeur, Oberstleutnant Johnson Hagood, Marshall 1916 ein bemerkenswertes Kompliment in seiner Beurteilung: „Dieser Offizier ist sehr gut qualifiziert, in Kriegszeiten im Rang eines Generalmajors eine Division zu befehligen, und ich würde sehr gerne unter ihm dienen.“ Als Generalstabschef der 1. Armee war er maßgeblich an der Planung und Organisation der Meuse-Argonne-Offensive im Herbst 1918 in der Nähe von Verdun beteiligt, die Deutschland zu einem Friedensangebot zwang. Zu seinen Erfolgen zählten unter anderem die Verschiebung von 400.000 US-Soldaten, 3000 Kanonen, 40.000 Tonnen Munition und 90.000 Pferden über eine Entfernung von 100 Meilen.
„meine zitternden Hände zu halten“
1919 wurde
er Adjutant von Sechs-Sterne-General John Pershing, organisierte die Besetzung
des Rheinlands durch US-Truppen und konzentrierte sich, inzwischen Lieutenant
Colonel, bis 1924 auf Ausbildung und Lehre in moderner mechanisierter
Kriegführung. Bis 1927 war er als Befehlshaber des 15. Infanterie Regiments in
Tientsin in China stationiert. Der Tod seiner Frau durch Herzinfarkt im letzten
Jahr des Fernost-Aufenthalts traf ihn sehr. Bis 1932 war er an der US-Infanterie-Schule
in Fort Benning als stellvertretender Kommandeur zuständig für die Ausbildung. Hier
erwarb Marshall auch den Ruf, Offiziere skrupellos zu beurteilen und sogar die
erfahrensten Männer zugunsten junger Offiziere zu entlassen, die seines Erachtens
ein modernes Heer führen konnten. Dieser Ruf wurde später zu einer bisweilen
traurigen Heereslegende.
In dieser Zeit heiratete er 1930 Katherine Boyce Tupper, die aus ihrer ersten Ehe drei Kinder mitbrachte und ihm damit seinen Wunsch nach einer Familie erfüllte. Seine Enkelin Kitty Winn gewann 1971 in Jerry Schatzbergs „The Panic in Needle Park“ die Goldene Palme als beste Darstellerin. 1933 wurde Marshall Colonel, 1936 Brigadier General und 1938 Leiter der Abteilung für Kriegsplanung im US-Kriegsministerium. Als sich Brigadegeneral Marshall im Kriegsministerium in Washington zum Dienst meldete, begrüßte ihn Stabschef Craig, ein alter Freund aus dem Ersten Weltkrieg, mit den Worten: „Gott sei Dank, George, dass Sie gekommen sind, meine zitternden Hände zu halten.“
Am 1.
September 1939 ernannte ihn Roosevelt zum Generalstabschef des Heeres – eine Position, die er bis zum Kriegsende
innehatte. Er leitet den Aufbau der amerikanischen Streitkräfte, begann mit
einem absurd schlecht ausgerüsteten Heer von 174.000 Mann, das an 17. Stelle
weltweit hinter Nationen wie Bulgarien und Portugal stand, und machte es zu
einer globalen Streitmacht von mehr als acht Millionen Soldaten – einer Armee,
ohne die die Alliierten Nazi-Deutschland und Japan nicht hätten besiegen
können. „Keine kriegerische Extravaganz, sondern Logistik rettete die Welt in
den Jahren von 1939-45, obwohl die Welt vielleicht immer noch nicht reif genug
ist, um das zu verstehen“, weiß Morrow.
„Mann des Jahres“
Als
Stabschef und wichtigster amerikanischer Kriegsplaner setzt sich Marshall
nachdrücklich für eine Initiative der Alliierten gegen die NS-Streitkräfte über
den Ärmelkanal ein, und plante die Operation Roundup, die die Vorstufe zur späteren
Operation Overlord war, der Invasion in der Normandie am 6. Juni 1944. „Letztlich
war es Marshalls meisterhafter Umgang mit den neuen Gegebenheiten – die
Notwendigkeit, schnell zu denken und zu improvisieren, im Feld einen sicheren
Schnellschussinstinkt zu haben und von hervorragend organisierter Logistik und
Kriegsstärke unterstützt zu werden – der ihn zum letzten beherrschenden Genie
des Zweiten Weltkriegs machte“, lobt Morrow. Churchill nannte ihn den
„Organisator des alliierten Sieges“, im Time
Magazine wurde er erstmals „Mann des Jahres“. 1944 wurde er zum
Fünf-Sterne-General des Heeres befördert. Da er selbst nach Ansicht Roosevelts
in Washington unentbehrlich ist, setzt er sich dafür ein, dass sein Protegé
Dwight D. Eisenhower die alliierten Streitkräfte in Europa anführt: „Ich habe
das Gefühl, dass ich nachts nicht schlafen kann, wenn Sie nicht im Land sind“,
soll Roosevelt gesagt haben.
1945 nimmt er an den Konferenzen von Jalta und Potsdam teil, tritt als Stabschef zurück und wird von Präsident Truman aufgrund seiner Fernost-Erfahrungen beauftragt, als Sonderbotschafter in China im dortigen Bürgerkrieg zu vermitteln. Diese Mission blieb ohne Erfolg, er erkannte er bald, dass Mao Tse-tungs Sieg nicht aufzuhalten war. So wurde er 1947 zurückgerufen und unter Präsident Truman als erster militärischer Führer in den USA Außenminister. Das Time Magazine erkor ihn zum zweiten Mal zum „Mann des Jahres“.
Marshall weist
seine Mitarbeiter an, ein Programm für den wirtschaftlichen Wiederaufbau
Europas, das European Recovery Programm (ERP), zu konzipieren, das er am 5.
Juni in einer historischen Rede vor den Absolventen der Havard-Universität
vorstellt – anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde. Die Ehre, erzählte Universitätspräsident
James B. Conant den 8.000 Anwesenden im Hof der Universität, ging an „einen
Amerikaner, dem die Freiheit andauernde Dankbarkeit schuldet, einen Soldaten
und Staatsmann, dessen Fähigkeit und Charakter nur mit einem Mann in der
Geschichte dieser Nation vergleichbar ist.“ Mit dem Vergleich war George
Washington gemeint.
Marshall misstraute
Eloquenz. Er sagte, er könne schlecht mit Worten umgehen und dachte, ein
Offizier solle sich durch seine Taten ausdrücken. Er blickte auf den Hof von
Harvard, rückte seine Lesebrille zurecht und begann: „Ich muss Ihnen nicht
sagen, dass die Lage der Welt sehr ernst ist…“ Damit legte Marshall das
europäische Gesundungsprogramm dar, oder – wie alle es bald nannten – den
Marshallplan. Als der Kalte Krieg begann, leitete er ein Programm in die Wege,
das Westeuropa vor dem wirtschaftlichen und politischen Chaos und dem
Totalitarismus retten würde, der China und die Ostblockländer erfasste.
„der letzte große Amerikaner“
Aus dem Außenministerium zog er sich 1949 zurück und wurde nun Präsident des Amerikanischen Roten Kreuzes. 1950 wurde das George-C.-Marshall-Haus auf dem Gelände der Messe Berlin im Rahmen der ersten Deutschen Industrieausstellung eröffnet. Das von Bruno Grimmek entworfene Gebäude beherbergt einen Kino- sowie einen Ausstellungssaal. Im selben Jahr wurde er zum Verteidigungsminister ernannt, zog sich jedoch am 12. September 1951 nach den Vorwürfen McCarthys für immer aus der Politik zurück. 1953 erhielt er für den Marshallplan den Friedensnobelpreis, 1959 den Karlspreis. Zu dieser Zeit war Marshalls Gesundheit schon rapide verfallen, er wurde taub und litt an Gedächtnisschwund. Während er im Walter-Reed- Militärkrankenhaus in Washington lag, erlitt er mehrere Schlaganfälle. Stellvertretend für ihn nahm seine Frau Catherine die Auszeichnung am 4. Mai 1959 entgegen. Im selben Jahr starb der langjährige Freimaurer und wurde auf dem Nationalfriedhof Arlington beigesetzt.
Morrow
nannte ihn den „letzten großen Amerikaner“. Er hat in seiner 50-jährigen
Laufbahn acht Präsidenten gedient. In der Historischen Rangordnung der höchsten
Offiziere der Vereinigten Staaten wird er auf dem hohen 15. Rang geführt. 1994
wird das George C. Marshall Europäisches Zentrum für Sicherheitsstudien als „Marshall
Center“ in Garmisch-Partenkirchen eingeweiht. Die historische Leistung des
„Friedensgenerals“ war der Plan, den Präsident Truman am 3. April 1948 in Höhe
von 12,4 Milliarden Dollar unterzeichnete. In den Vereinten Nationen und
anderen internationalen Organisationen hatte sich Marshall für Verträge mit den
besiegten Mächten eingesetzt, durch die sie wieder einen Platz als geachtete
und gleichberechtigte Mitglieder in der Staatengemeinschaft erhalten sollen. Marshall
befürwortet die Wiederbewaffnung Westeuropas, um die Region vor einer möglichen
sowjetischen Aggression zu schützen.
Er hatte
nicht nur eine Anhörung vor dem Kongress – er reiste durch das Land und
erklärte geduldig. Es sei kein kostenloses Programm, sagte er den
Geschäftsleuten. Die Länder, die finanzielle Unterstützung wünschten, hatten
praktische Vorschläge für die wirtschaftliche Gesundung vorgelegt. Die Hilfe
hatte eine zeitliche Begrenzung und eine festgesetzte Obergrenze für die
Kosten. Sie würde von einem amerikanischen Geschäftsmann – keinem Bürokraten –
verwaltet, und die Rechenschaftspflicht war gesichert. Zweimal in 50 Jahren,
erinnerte er die Isolationisten, war Amerika in den Krieg gezogen, um Europa
vor der „Beherrschung durch eine einzige Macht“ zu bewahren – ein klarer Beweis
dafür, wieviel Europa Amerika bedeutete.
In Deutschland erhielt allein die Kohleindustrie rund 40 Prozent der Marshall-Mittel. Das Konzept war einfach: Firmen, die diese Mittel zur Verfügung gestellt bekamen, sollten diese Darlehen an den Staat zurückzahlen, um hieraus Förderungen für andere Unternehmen zu ermöglichen. Der Marshall-Plan beinhaltete zusätzlich ein technisches Unterstützungsprogramm: Ingenieure und Unternehmer wurden in die Vereinigten Staaten geholt, umgekehrt wurden auch amerikanische Ingenieure nach Europa entsandt. Nach vier Jahren hatte der Plan alle Erwartungen übertroffen. Jedes Mitgliedsland erwirtschaftete ein größeres Bruttoinlandsprodukt als in der Vorkriegszeit. Hunger und Not, unter denen so viele entwurzelte Menschen gelitten hatten, verschwanden fast über Nacht.
Nur wenige Jahre danach vereinten sich mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957 Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande und die Bundesrepublik Deutschland zur „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“. Mit der wachsenden Entwicklung innerhalb Europas, neu hinzu gekommenen Mitgliedern und dem Vertrag von Maastricht am 1. November 1993 wurde die Europäische Union geschaffen. Ob der Moloch, zu dem die Institution inzwischen mutierte, in Marshalls Sinne gewesen wäre, darf getrost bezweifelt werden.
Wie es lange Zeit um sein Ansehen stand, illustriert treffend der Streit
über die „Goldmaske des Agamemnon“, die er 1876 bei Ausgrabungen in Mykene
fand. Ernst Curtius, der das historische Olympia ausgegraben hatte, meinte, das
Gold der Maske sei viel zu dünn, um einen so mächtigen Herrscher damit
auszustatten, und folgerte, dass das Grab aus der byzantinischen Ära stammen
müsste. Der Privatgelehrte Ernst Bötticher behauptete sogar, dass er den
Schmuck selbst habe herstellen lassen, um ihn heimlich zu vergraben. Aufgrund
seines Geizes habe er nicht mehr Gold verwenden wollen. Beide hatten Unrecht –
auch wenn sich später herausstellte, dass er nicht das Grab Agamemnons, sondern
das eines mykenischen Fürsten einer vorhergehenden Dynastie gefunden hatte.
Glaubt man dem SAT 1- Zweiteiler „Der geheimnisvolle Schatz von Troja“ (2007), ist seine Lebensgeschichte genau das Märchen, das viele auch heute noch mit seiner Person verbinden: Ein Dorfjunge in Mecklenburg verträumt die Tage über Homers Epen. Aus dem versponnenen Buben wird ein kühl rechnender Großkaufmann, der sechzehn Sprachen beherrscht, als deutscher Generalkonsul in Sankt Petersburg amtiert und ein riesiges Vermögen anhäuft. Auf der Höhe des Erfolgs besinnt er sich der Kindheitsträume, entdeckt 1870 Troja, gräbt später, von deutschen und europäischen Gelehrten fortwährend verspottet, Agamemnons Mykene aus und Tyrins, den legendären Fürstensitz des Nestor. In zweiter Ehe heiratet er eine schöne junge Griechin, die ihm bei seiner Arbeit zur Seite steht. Die Krönung ihrer Mühen sind Goldschätze, die sie in Troja und Mykene finden. Er schenkt Trojas Gold dem Deutschen Reich und wird endlich anerkannt.
Doch seine Biographie liest sich nicht nur wie ein Märchen, sondern ist
es teilweise auch, erfunden und niedergeschrieben von ihm selbst. „Diese
ruhmsüchtige Fabulierlust war gekoppelt an die verbissene Buchstabengläubigkeit
des Mannes, der – oft wider besseres Wissen – jede Zeile der Ilias beim Wort
nahm und so die Wirklichkeit zwang, ihm zu Willen zu sein“, erklärt Dieter
Bartetzko in der FAZ. Was nicht in
sein Bild der homerischen Epoche und nicht in sein Selbstbild passte, habe er
ausgeblendet. In seinem romantischen Fanatismus sei er „ein für jene Ära
typischer Deutscher“ gewesen, „ein faszinierendes Gemisch aus Empfindsamkeit
und Härte“: Heinrich Schliemann, der am 26. Dezember 1890 starb.
Vom
Kaufmann zum Studenten
Der Pastorensohn kam am 6. Januar 1822 fünftes von neun Kindern in
Neubukow im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin zur Welt und wuchs in
Ankershagen auf. Es sei nicht die Ilias gewesen, sondern „Die Weltgeschichte
für Kinder“ von Georg Ludwig Jerrer, die er zu Weihnachten 1828 geschenkt
bekam, aus der nach eigenen Angaben sein Entschluss zur Suche nach der antiken
Stadt Troja erwuchs. Als die Mutter 1831 nach der Geburt des neunten Kindes
starb, kam Heinrich in die Familie seines Onkels, der ebenfalls Pastor war. Als
Schliemanns Vater das Schulgeld für das Gymnasium Carolinum in Neustrelitz
nicht bezahlen konnte, musste er nach nur drei Monaten den Weg zum Abitur
abbrechen und auf die Realschule wechseln. Ostern 1836 begann er eine
Kaufmannslehre als Handelsgehilfe in Fürstenberg/Havel und wollte nach Beendigung
seiner Lehrzeit zu Ostern 1841 gemeinsam mit einem Schulfreund nach Nordamerika
auswandern.
In Rostock erlernt er zunächst Englisch und Buchführung und beschließt, krank und verarmt nach vergeblicher Arbeitssuche in Hamburg, nach Venezuela auszuwandern. Doch vor der holländischen Küste erleidet er Schiffbruch und sucht nun in den Niederlanden sein Glück. Zum Jahreswechsel 1841/42 findet er eine Anstellung als Kontorbote bei der Firma F.C. Quien in Amsterdam und beginnt, sich autodidaktisch Fremdsprachen anzueignen. Auf Englisch, Französisch, Niederländisch, Spanisch, Italienisch und Russisch folgen später u.a. Portugiesisch, Schwedisch, Polnisch und Neugriechisch. Bis zum Beginn seiner Grabungsleidenschaft 1870 erlernt er 16 moderne Fremdsprachen in Wort und Schrift, verwendet sie für Korrespondenzen und Tagebücher und übt sie immer wieder systematisch auf Reisen. Daneben eignet er sich Altgriechisch, Lateinisch, Hebräisch und Sanskrit an. Man vermutet eine Inselbegabung.
1844 wird er beim Amsterdamer Handelshaus B.H. Schröder & Co. zunächst
Korrespondent und Buchhalter, dann als Handelsagent nach St. Petersburg
geschickt. Bereits ein Jahr später eröffnete er dort ein eigenes Handelshaus
auf dem Newski-Prospekt und erwarb 1847 die russische Staatsbürgerschaft.
Besonders erfolgreich wurde Heinrich im Kolonialwarenhandel, vor allem mit Indigo,
Genussmitteln und Industrierohstoffen. Der Briefwechsel mit seinem Bruder
Ludwig, der in Kalifornien Goldsucher war, zog ihn 1850 bis 1852 nach Amerika.
Er gründete eine Bank für Goldhandel in Sacramento und begann, erfolgreich in
amerikanische, später auch kubanische Eisenbahnprojekte zu investieren.
Zurück in Europa heiratete er am 12. Oktober 1852 in der Isaakskathedrale
eine russische Kaufmannstochter. Die nach russisch-orthodoxem Ritus geschlossene
Ehe führt zu drei Kindern und festigte seine gesellschaftliche Stellung. Sein
geschäftlicher Glücksfall sollte der Krimkrieg 1853 – 1856 werden: Unter
geschickter Umgehung der Seeblockade lieferte er große Mengen von
Munitionsrohstoffen wie Blei, Schwefel und Salpeter über den Landweg an die
zaristische Armee und wurde reich. 1855 notierte er an der Petersburger Börse
als Kaufmann mit dem höchsten Handelsumsatz und einem Geschäftsvolumen von einer
Million Talern. Nach Kriegsende erwägt Schliemann, aus dem Handel auszusteigen,
zu reisen, Land zu erwerben und erwähnt erstmals, „das Vaterland meines
Lieblings Homer“ besuchen zu wollen.
Bereits 1858/59 unternimmt er Reisen nach Europa und den Nahen Osten. 1861
wird er für drei Jahre zum Richter beim St. Petersburger Handelsgericht gewählt
und danach, gemeinsam mit seiner Frau, erblicher Ehrenbürger Russlands. 1864
gab er seinen russischen Wohnsitz auf und ging auf ausgedehnte Studienreisen
nach Asien sowie Nord- und Mittelamerika. Im Jahr darauf verfasste er sein
erstes Buch und begann mit 42 Jahren 1866 Sprachen, Literatur und
Altertumskunde an der Sorbonne in Paris zu studieren. Er nimmt seinen Wohnsitz
in der französischen Hauptstadt und erwirbt Mietshäuser im Wert von 1,7
Millionen Francs.
Erfolgreicher
Schatzsucher
Im April 1868 begann Schliemann seine erste Forschungsreise nach Griechenland. Zunächst suchte er auf Korfu nach Spuren der Phäaken, bei denen Odysseus laut Homer strandete, und erreichte Ende Juli 1868 Ithaka. Erstmals versuchte er sich als Ausgräber, heuerte örtliche Hilfskräfte an und suchte neun Tage lang vergeblich nach dem in der Ilias beschriebenen Palast des Odysseus. Anfang August reiste er dann in die Troas, wo er den dort ansässigen amerikanischen Konsul Frank Calvert kennen lernt. Nach intensiven Ortsbegehungen zur vermutlichen Lage der legendären Stadt des Priamos teilte er die Meinung Calverts, dass sich die Burg unter dem Hisarlık verbergen müsse, und beantragte eine Grabungserlaubnis.
Im September 1868 reiste Schliemann zurück nach Paris und schrieb dort
sein Buch „Ithaka, der Peloponnes und Troja“, für die ihm die Universität
Rostock 1869 den Doktortitel zuerkennt. Im selben Jahr reiste er in die USA, um
die amerikanische Staatsbürgerschaft zu erlangen, mit der er seine damals in
Europa unauflösbare russisch-orthodoxe Ehe scheiden lassen konnte. Gleichzeitig
ließ er sich von einem befreundeten Athener Erzbischof Fotografien griechischer
Heiratskandidatinnen zusenden. Nach seiner Rückkehr nach Griechenland heiratete
er die 17-jährige Sophia Engastroménos am 24. September 1869 nach
griechisch-orthodoxem Ritus in der Meletios-Kirche in Kolonos, dem Geburtsort
des Sophokles. Nach der Hochzeitsreise kehrte das Ehepaar Anfang 1870 nach
Athen zurück und bezog zunächst eine Stadtvilla.
Im selben Jahr wählte ihn die griechische philologische Gesellschaft in
Konstantinopel zum korrespondierenden Mitglied. Da die Grabungserlaubnis auf
sich warten ließ, begann Heinrich illegal mit Hilfsarbeitern im April einen 20
Meter langen und bis zu 3 Meter tiefen Graben auszuheben, der bereits zur
Entdeckung mehrerer Siedlungsschichten führte. 1871 begann er nach den Plänen
des Architekten Ernst Ziller ein Stadthaus in Athen zu erbauen, das er „Iliou
Melathron“ („Palast von Ilios“) nennen, ganz nach der griechischen Mythologie
einrichten und zu einem Zentrum der Athener Gesellschaft machen wird. Aus der
Ehe mit Sophia gehen zwei
Kinder hervor, die er nach Protagonisten der Homerischen Dichtung Andromache
und Agamemnon nennt.
Mit der inzwischen erteilten Grabungserlaubnis führt er 1871, 72 und 73 drei Grabungskampagnen in Troja durch. Während der letzten entdeckt er am 31. Mai einen Goldschatz aus Waffen, Vasen, Kelchen und Schmuck, den er „Schatz des Priamos“ nennt und illegal außer Landes schafft. In diesem Schatz sieht er das Beweismittel für die Wahrhaftigkeit Homers und die Existenz des legendären Troja. Tatsächlich ist dieser Grabungsbereich, Troja II, weitaus älter; die „Burg des Priamos“ aus der mykenischen Zeit wird bei späteren Grabungen unter der Leitung seines ehemaligen Assistenten Wilhelm Dörpfeld in einer anderen Schicht verortet. Unstrittig ist aber von nun an, dass sich das legendäre Troja auf dem Berg Hisarlık befindet.
Mit dem Schatz verfuhr er genauso hemdsärmelig wie mit all seinen
Unternehmungen: Obwohl durch die Grabungserlaubnis zur Abgabe verpflichtet,
brachte er ihn heimlich über die Grenze nach Athen und schickte an die
wichtigen wissenschaftlichen Gesellschaften Europas Depeschen, in denen er
seine Entdeckung bekanntgab. Die Türkei verklagte ihn vor einem griechischen
Gericht auf die Herausgabe der Hälfte der Funde. Der ein Jahr dauernde Prozess
endete mit dem Urteil auf Zahlung von 10.000 Goldfranken. Kulanzhalber zahlte
er jedoch 50.000 Goldfranken an das Kaiserliche Museum in Konstantinopel und
trat einige weniger bedeutsame Fundstücke ab.
Nachdem sowohl der Louvre als auch die Eremitage einen Ankauf ablehnten, stellte
Heinrich den Schatz 1877 bis 1880 in London aus und schenkte ihn auf Initiative
seines Freundes Rudolf Virchow, der an vierten Troja-Kampagne 1879 persönlich
teilnahm, schließlich 1881 „dem Deutschen Volke zu ewigem Besitze und
ungetrennter Aufbewahrung in der Reichshauptstadt“. Gleichzeitig wurde er
Ehrenmitglied der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und
Urgeschichte und erhielt die Ehrenbürgerschaft der Stadt Berlin. Kaiser Wilhelm
I. bedankte sich in einem persönlichen Brief an Schliemann und entschied, dass
der Schatz im gerade im Bau befindlichen Museum für Völkerkunde Berlin ständig
ausgestellt werden solle.
„Vater
der mykenischen Archäologie“
Zwischendurch hatte Heinrich auch in Mykene, wo er die Goldmaske fand, sowie in Alba Longa und Motye in Italien gegraben und war auf eine Vortrags- und Museumsreise durch Europa gegangen. In London erscheint „Mykenae“ mit einem Vorwort des ehemaligen und künftigen britischen Premierministers William Ewart Gladstone. Die englische, deutsche und amerikanische Ausgabe erscheinen gleichzeitig, die französische folgt ein Jahr später. In den USA wird „Mykenae“ 1878 zum Buch des Jahres. 1880 veröffentlicht er „Ilios. Stadt und Land der Trojaner“ mit einem Vorwort von Rudolf Virchow in Leipzig, London und New York und beginnt den Text mit einer „Selbstbiografie“, in der er zahlreiche Legenden um seine Person rankt.
1882 beginnt er seine sechste Grabungskampagne in Troja 1882 mit Hilfe
des Architekten Wilhelm Dörpfeld und wird Ehrenmitglied der Bayerischen
Akademie der Wissenschaften, im Jahr darauf auch Ehrendoktor der Universität
Oxford. „Troja. Ergebnisse meiner neuesten Ausgrabungen“ erscheint in Leipzig
und London. 1884 wendet er sich gemeinsam mit Dörpfeld der Ausgrabung des
Palasts auf der Burg von Tiryns zu, das Buch dazu veröffentlicht er im Jahr
darauf in Leipzig, Paris, London und New York. Königin Victoria verleiht ihm in
London die „Große Goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft“. 1888 nimmt Heinrich
nach einer Nilreise gemeinsam mit Virchow auch Grabungen im ägyptischen Alexandria
in Angriff, um vergebens das Grab Alexanders des Großen zu suchen.
1889 und 90 organisiert er zwei Trojakonferenzen in Hisarlık unter Beteiligung hochrangiger Gutachter sowie seines Kritikers Bötticher. Die Konferenzprotokolle verschaffen ihm volle Genugtuung, er beginnt eine erneute Grabungskampagne in Troja mit Dörpfeld und Virchow. Im April 1890 reist er mit Virchow durch die Troas zum Berg Ida, zu den Quellen des Skamander, und zieht sich eine Erkältung zu, in deren Folge er fast taub wird. Am 13. November unterzieht er sich einer Ohrenoperation in Halle/Saale und verlässt gegen den dringenden Rat des Arztes die Klinik vier Wochen später. Auf der Rückreise nach Athen stirbt er in Neapel an den Operationsfolgen. Sein Leichnam wird überführt und im Januar zunächst beigesetzt, bevor er 1892 im prächtigen, wiederum von Ziller entworfenen neoklassizistischen Mausoleum im Stile eines Heroentempels auf dem Ersten Friedhof von Athen seine endgültige Ruhe findet.
Sein unbekümmertes Vorgehen bei den ersten Grabungen in Hisarlık – er konnte sich auf keinerlei Vorbilder stützen – hat Heinrich anfangs viel Kritik eingebracht. Dass er seine Methoden grundlegend geändert hat, machte ihn neben Dörpfeld zu einem der Wegbereiter der Archäologie als Feldarbeit und der wissenschaftlich-methodischen Grabungstechnik, die bis dahin lediglich in der schatzsucherhaften Aushebung wertvoller Einzelobjekte bestand, nicht aber in der nun systematischen Freilegung eines Grabungsareals. Zu den von ihm eingeführten neuen Forschungsmethoden gehören unter anderem die Voruntersuchung des Geländes durch Sondagen (Suchgräben), die Beachtung der Stratigraphie (Schichtenfolge) sowie die Suche nach der Leitkeramik („Leitfossil“) für die einzelnen Schichten. Auch die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaften wie Paläographie, Topographie und Chemie geht auf ihn zurück. Zudem rückten seine Berichte über die Zusammenhänge zwischen Tiryns, Mykene und Kreta diese Stätten erst in das Bewusstsein der Geschichtswissenschaft, weshalb er heute als „Vater der mykenischen Archäologie“ anerkannt ist.
Heute tragen Schulen ebenso seinen Namen wie das Institut für Altertumswissenschaften der Universität Rostock, ein Asteroid und ein Mondkrater. Sein Elternhaus in Ankershagen beherbergt seit 1980 das Heinrich-Schliemann-Museum. 1990 gaben sowohl die DDR als auch die Deutsche Bundespost gemeinsam mit der griechischen Post ELTA eine Sondermarke aus Anlass von Schliemanns 100. Todestag aus. Schlecht erging es unterdessen seinem Schatz, um dessen Rückkehr nach Troja sich inzwischen die Türkei bemüht: 1945 als Beutekunst in die Sowjetunion gebracht, wurde sein Aufenthalt geheim gehalten, erst 1993 bestätigt und seit 1996 in der ständigen Sammlung des Puschkin-Museums gezeigt. Im Schliemann-Saal des Museums für Vor- und Frühgeschichte Berlin sind seit 2009 wichtige Teile als Kopie sowie die wenigen, von der Sowjetunion an die DDR sowie von Russland 1992 an Deutschland zurückgegebenen Teile im Original ausgestellt. „Talent bedeutet Energie und Ausdauer. Weiter nichts“, schrieb Schliemann einst. Daran hielt er sich. Bis zuletzt.