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„Ich verpuffe“

Ob ihn erfreut hätte, dass die Deutsche Post eine Briefmarkenserie mit fünf Motiven von ihm auflegte, ist wohl fraglich. Die Sache mit dem Krokodil aber hätte ihm sicher gefallen. Fast sechs Meter lang, lebte es vor etwa 164 Millionen Jahren und war „eine der bösesten Kreaturen, die jemals die Erde bewohnt haben“, sagte die Londoner Museumskuratorin Lorna Steel dpa. Lemmysuchus obtusidens wurde das gigantische Reptil getauft. Auch ein Asteroid und ein ausgestorbener Wurm sind nach ihm benannt worden, nicht aber eins von vier neuen superschweren Elementen des Periodensystems. Eine Petition, die dazu aufrief und über 150.000 Unterstützer fand, begründete das so: „Lemmy war eine Naturgewalt und verkörperte das Wesen des Heavy Metal“.

Er galt als einer der Pioniere der Gegenkultur und seltenen Vertreter der letzten authentischen Rocker-Generation: Der Spiegel sieht in ihm „einen britischen Exzentriker, der seinen Feinsinn und seine Sanftmut hinter mächtigen Verstärkern und martialischen Zeichen verbarg.“ 2014 befragt, ob er sich nun endlich auf der Bühne das Recht erworben habe, Ohrenstöpsel zu tragen, antwortete er: „Wenn man sich entscheidet, diese Art Lärm zu machen, hat man eine gewisse Verantwortung. Nur andere Menschen zuzudröhnen und sich selbst fein rauszuhalten gilt nicht. Ohrenstöpsel sind unfair.“ Und er galt als belesener, ja mindestens freizeitphilosophischer Freigeist, der mit lockeren Sprüchen wie diesem überraschen konnte: „Einen Kater vermeidest du am besten, indem du nie aufhörst zu trinken.“

Lemmy 2015. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Lemmy_Kilmister#/media/Datei:Mot%C3%B6rhead_-_Rock_am_Ring_2015-0343.jpg

Seine Band nannte er Motörhead – für die New York Times die lauteste der Welt, 140 dB wurden auf manchen Konzerten gemessen. Dabei blieb er Realist: „Wir sind an der Spitze der zweiten Liga, und das reicht mir vollkommen.“ Die Musik bezeichnete er einmal als „Unfall, bei dem Motorrad, Auto und Bulldozer aufeinander krachen. Nur der Motorradfahrer überlebt.“ Markus Lanz schockte er im ZDF mit der Beschreibung „Meine Musik hört sich an wie der dritte Weltkrieg in einer Telefonzelle.“ Mit dem ö in Motörhead wollte er niemanden ärgern: „Es sah einfach gemeiner aus. Deutscher.“ Die Kriegs- und Deutschenmetaphorik war seiner Herkunft geschuldet und sollte ihn zeitlebens nicht nur musikalisch prägen: Bandleader Lemmy Kilmister. Am 24. Dezember 1945 kam er in Stoke-on-Trent zur Welt: Als „Christkind des Hardrock“, heißt es später.

„Macht ist Versuchung“

Seine Mutter war Bibliothekarin, sein leiblicher Vater Feldkaplan der Royal Air Force im Zweiten Weltkrieg: „Mein Vater wollte ein Kind zeugen, bevor er in den Krieg zog. Ich bin, so gesehen, eine direkte Konsequenz des Kriegs.“ Er verließ die Familie drei Monate nach Lemmys Geburt: „Er hat den Soldaten fromme Sprüche vorgebetet und Werte gepredigt, die er dann selber nicht gelebt hat“, ärgert er sich noch Jahrzehnte später. Religion hält er zeitlebens für einen Fehler: „Und zwar alle Religionen. Es ist wie mit den Politikern: Die Partei ist völlig egal. Sobald sie an der Macht sind, vermasseln sie es. Macht ist Versuchung. Und Priester und Politiker sind eben auch nur Menschen.“ Und überhaupt: „Gott kommt sowieso nie vorbei. Er zeigt sich höchstens in der Musik, die er Auserwählte schreiben lässt. Etwa Beethoven.“

Seine früheste Erinnerung beschreibt er augenzwinkernd: „Ich steh im Laufstall, klammere mich an den Stäben fest und brülle. Ich muss wohl geprobt haben“. Kilmister besuchte die Grundschule in Madeley, einem Dorf nahe seiner Geburtsstadt. „Ich wurde von meiner Mutter und meiner Oma großgezogen, sie lehrten mich, höflich zu Frauen zu sein und ihnen mit Respekt zu begegnen“. Mit zehn Jahren zog er nach Benllech, einem Seebad auf der zu Wales gehörenden Insel Anglesey, wo seine Mutter den ehemaligen Profifußballer und Fabrikanten George Willis geheiratet hatte. 1957 nahm Kilmister erstmals eine Gitarre in die Hand, es war die Hawaiigitarre seiner Mutter, weil er damit den Mädchen seiner Schule imponieren wollte. Er hatte nie Gitarrenunterricht, sondern brachte sich das Spielen selber bei.

Paläoart-Rekonstruktion von Lemmysuchus obtusidens. Quelle: https://www.augsburger-allgemeine.de/img/wissenschaft/crop42344711/1689678073-cv3_2-w1880/Palaeoart-Rekonstruktion-von-dem-Meereskrokodil-Lemmysuchus-obtusidens.jpg

Nachdem Kilmister mit 15 Jahren ohne Abschluss der Schule verwiesen worden war, jobbte er in einer Fabrik am Fließband und in einer Reitschule: „Ich besaß eine Farm in Wales mit zwei Hengsten, die ich für 34 Pfund gekauft und selbst zugeritten hatte. Dann hörte ich Little Richard, verkaufte die Pferde, und los ging‘s.“ Er erkannte, dass Rock‘n Roll ihm die Chance bot, einem eintönigen Leben in der Provinz zu entkommen und ein Abenteuer mit offenem Ausgang zu beginnen. Mit 16 verließ er sein Elternhaus und zog nach Manchester, wo er bei verschiedenen Bands spielte. Seine erste eigene Truppe, die „Rockin‘ Vickers“, mit der er drei Singles aufnahm, brachte es zu einigem lokalen Erfolg.

1967 traf Kilmister in London ein, wohnte im Haus der Mutter des späteren „Rolling Stones“-Gitarristen Ron Wood, teilte sich eine Wohnung mit Noel Redding, dem Bassisten von „Jimi Hendrix Experience“, und hielt sich zunächst mit Gelegenheitsjobs über Wasser, unter anderem als Roadie bei Hendrix und Keith Emersons „The Nice“. Nach Gastauftritten etwa bei P.P. Arnold wurde er 1968 Sänger bei „Sam Gopal“, mit der er 1969 das Album „Escalator“ aufnahm, für das er einige Songs unter dem Namen „Ian Willis“ beisteuerte, dem Nachnamen seines Stiefvaters. Das Projekt scheiterte wie auch sein nächstes „Opal Butterfly“. 1971 bekam er dann Kontakt zur Spacerockband „Hawkwind“, wollte als Gitarrist einsteigen – und wurde schließlich neuer Bassist.

Dabei verhalf ihm ein Zufall zu seinem ersten Instrument: „Es war ein deutsches Instrument, ein Bass von ‚Hopf‘. Del Dettmar, der Keyboarder von Hawkwind hat ihn am Flughafen Heathrow bei einem Preisausschreiben gewonnen. Seitdem bin ich Bassist – was für ein Zufall.“ Später bevorzugte er Instrumente von Rickenbacker, die er selbst „Rickenbastard“ nannte. In dieser Zeit soll sein Spitzname Lemmy entstanden sein: der oft exzessive Spieler litt an chronischer Münzknappheit und ging seine Kollegen mit den Worten „Can you lem’me five?“ oder „Lemme a fiver“ („Kannste mir ’nen Fünfer leihen?“) um Geld an. In seiner Autobiographie „White Line Fever“ (München 2006) erklärt er allerdings, dass er bereits als zehnjähriger Grundschüler diesen Spitznamen erhalten habe. Er sang die erfolgreichste Single der Band, „Silver Machine“, die bis auf Platz 2 der Charts gelangte – und wurde 1975 vom Management gefeuert, nachdem er wegen Drogenbesitzes durch den kanadischen Zoll festgenommen worden war.

„eine Hiobsbotschaft“

Irgendwann im Sommer desselben Jahres gründete er seine eigene Band, da konnte ihn niemand feuern, und wollte sie „Bastard“ nennen. Auf Anraten seines Managers, der ihm sagte, dass er damit kaum ins Fernsehen käme, benannte er sie in Anlehnung an den Titel des letzten Songs, den er für „Hawkwind“ geschrieben hatte, um. Bis zu seinem Tod war die Band mit ihm als musikalischem Kopf aktiv; die letzten 23 Jahre in konstanter Besetzung. Weil die drei Motörhead-Musiker – Kilmister, Gitarrist Phil Campbell und Schlagzeuger Mikkey Dee – auf den Tourneen so viel Zeit miteinander verbrachten, gingen sie sich ansonsten aus dem Weg, wann immer es ging. Alle drei hatten eigene Garderoben und im Tourbus ihre eigene Ecke.

Motörhead 2015. Quelle: https://www.rollingstone.de/wp-content/uploads/2016/12/07/14/getty-motorhead-463000442.jpg

Vor jedem Auftritt trat der Mann in Schwarz mit den hohen Cowboystiefeln, dem Eisernen Kreuz oder Indianerkunsthandwerk um den Hals, mit den markanten Fibromen, dem unverwechselbaren Westernbackenschnauzer, dem schnurgeraden langen Haar unter einem Cowboyhut und der Pik-Ass-Tätowierung auf dem Arm an den Mikrofonständer und erklärte allen, auch denen, die es schon wussten: „We are Motörhead. We play Rock and Roll.“ Ihrem Klang war die Band über die Jahre und die 22 Alben, die sie veröffentlichte, immer treu. Rau musste es sein und schnell. „Ich kann Heavy Metal eigentlich nicht leiden“, sagte Kilmister. „Die Beatles sind die beste Band.“ Manche Marketing-Gags seiner Truppe wurden legendär, etwa Babystrampler mit Logo und dem Aufdruck „Everything Louder than Everything Else“ oder Kondome „Go to Bed with Motörhead“.

Sein Bass, den er wie eine Rhythmusgitarre spielte, korrespondierte dabei mit seiner Stimme, die genauso klang, wie er lebte, nach Zigaretten und Whiskey. Kilmister hat die Freiheiten, die ihm seine Karriere bot, genossen. Einmal behauptete er von sich, dass er seit seinem 30. Geburtstag jeden Tag eine Flasche Whiskey getrunken habe: „Wenn ich ins Röhrchen puste, würde das Gerät wahrscheinlich zu Staub zerfallen.“ In Interviews war das Glas mit der Jack-Daniels-Cola-Mischung sein ständiger Begleiter. Sex, Drogen, Alkohol, Nikotin – Lemmy nahm alles mit; außer Heroin, das er hasste, weil seine große und einzige Liebe mit 19 daran zugrunde gegangen war.

Lemmys Sammlung. Quelle: https://www.schnittberichte.com/schnittbericht.php?ID=353700

Obwohl kolportiert wird, dass er tausend Frauen gehabt habe, wird er nie heiraten, allerdings mit zwei Frauen zwei Söhne bekommen. Der eine, Paul, arbeitet in den USA als Musiker und Produzent; beide sehen sich gelegentlich. Über den Verbleib seines anderen Sprösslings weiß er nicht viel: „Mein anderer Sohn ist ein Jahr jünger und wohnt, glaube ich, noch in England“, erzählt er dem Spiegel. „Ich bin mir aber nicht sicher. Ich habe ihn nie getroffen, weil er direkt nach der Geburt zur Adoption freigegeben wurde. Die Mutter war damals 15. Das war vielleicht eine Hiobsbotschaft…“

„Wir mögen die bösen Buben“

Kilmister hatte manche Eigenart. Oft stieg er, während die Konzertbesucher schon in die Halle eingelassen wurden, mit einem Beutel Münzen in ein Taxi und ließ sich zu einem Spielcasino fahren. Dort verdaddelte er das Kleingeld an Automaten. Zwei Stunden später, wenn die Vorgruppen ihren Auftritt beendet hatten, kam er zurück und trat auf. Auch positionierte er sein Mikrofon stets etwas zu hoch, sodass er seinen Kopf während der Gesangspassagen anheben musste. Das war ein Markenzeichen seiner Bühnenpräsenz, diente nach seinen Aussagen der Bequemlichkeit und sollte ein Relikt aus den Anfangstagen sein, als die Band nur wenige Zuschauer hatte und er „so das Elend im Publikum nicht mitansehen musste“. Der erfolgreichste Song der Band war „Ace of Spades“ vom gleichnamigen Album aus dem Jahr 1980. 25 Jahre später gab‘s für eine Metallica-Adaption den einzigen Grammy.

Die Inhalte der Songs waren dabei trotz mancher Monotonie und erst recht Lautstärke nie zu vernachlässigen. Lemmy war ein durchaus politischer Mensch, der in den Texten Themen wie Religion („Don‘t Need Religion“, „Bad Religion“), Kindesmissbrauch („Don´t let Daddy kiss me“) und vor allem Krieg („1916“) aufgriff. Diesen unpathetisch-melancholischen Song, in dem ein schwerverletzter Soldat in der Schlacht an der Somme in Dreck, Blut und Eingeweiden nach seiner Mutter schreit, die jedoch nie kommt, singt er nur begleitet von einer Orgel, dem Marschrhythmus eines Schlagzeugs und im Mittelteil von einem klagenden Cello. Das Kriegsthema war nicht nur eine Eigenart: „Der Zweite Weltkrieg“ antwortet er der Süddeutschen Zeitung auf die Frage, welche die tief gehende Katastrophe in seinem Leben war, auf die seine Musik die logische Antwort ist.

Lemmys zweite Leidenschaft. Quelle: https://classicrock.net/wp-content/uploads/2018/12/lemmy-mot%C3%B6rhead-clean-your-clock-press.jpg

Seine Beschäftigung mit diesem Geschichtskapitel kann man fast manisch nennen. Seine Wohnung ist vollgestopft mit Andenken und Trophäen aus Hitlerdeutschland, darunter einem Aschenbecher von Eva Braun und einem Jagdmesser von Hermann Göring: „Kultur ist alles, was das Bewusstsein der Bevölkerung erweitert“. In Deutschland bekam er polizeilichen Ärger: „Auf einem Zeitungsfoto trug ich einen Nazi-Hut. Ich wusste aber nicht, dass der Kram in Deutschland verboten ist. Eigentlich ist das ja logisch. Aber die Bösen haben nun mal einfach die schöneren Uniformen.“

Er fand nichts dabei, auf einer Kostümparty in Hollywood in voller SS-Uniform aufzutreten. Hitler war für ihn „der zwingende Redner des zwanzigsten Jahrhunderts. Nach Hitlers Charisma kam nur noch Ozzy Osbourne, aber – Ozzy kann singen!“ Die Süddeutsche Zeitung fragte Lemmy direkt: „Weshalb lieben die Engländer Hitler so wahnsinnig?“ Seine Antwort: „Wir mögen die bösen Buben. Du möchtest nichts über langweilige Landwirtschaftsreformen hören. Du willst, dass Mackie Messer wieder zuschlägt.“ Sein Lieblingsmoment im Zweiten Weltkrieg war: „Als sie Frankreich überrannten. In nur drei Wochen.“

 „etwas ruhiger angehen“

1990 hatte er sich in Los Angeles niedergelassen, in einem Zweizimmer-Apartment gegenüber seiner geliebten „Rainbow Bar” am Sunset Boulevard 9015, in dem er bis zuletzt wohnte: „Ich kann nicht 30 Zimmer bewohnen, Mann! Stress! In 28 Zimmern herrscht dann Totenstille. Wozu?“ Oft wurde er erkannt und um Selfies gebeten: „Wenn man sich sein ganzes Leben lang wünscht, berühmt zu sein, dann sollte man auch nicht anfangen zu meckern, wenn man es dann ist“, sagte er der Welt.

Trauerfeier. Quelle: https://www.laut.de/bilder/upload/2016/01/11/motorchurch.jpg

Eigenen Angaben zufolge hat Lemmy versucht, dem als unmusikalisch geltenden Sex-Pistols-Mitglied Sid Vicious das Bassspielen beizubringen, und nach drei Tagen aufgegeben: „Sid war ein hoffnungsloser Fall.“ Er hatte einige kleine bis mittlere Filmrollen, so mit vielen anderen Musikerkollegen in der Sozialgroteske „Eat the Rich“, für die er den Titelsong schrieb, sowie in Videoclips diverser Bands, bemerkenswert oft als Fahrer oder Fahrgast. Zudem sprach er in „Brütal Legend“ eine Videospiel-Rolle und ist spielbarer Charakter im Musikspiel „Guitar Hero: Metallica“.

Natürlich hat ein Leben, wie er es führte, seinen Preis, und Kilmister klagte nicht, als es daranging, ihn zu zahlen. 2000 wurde bei ihm, der für sein Leben gern Marzipan nascht, ein Diabetes diagnostiziert. 2013 bekam er einen Herzschrittmacher, der ihn auf der Bühne nicht beeinträchtigte: „Unser Geheimnis ist wohl, dass wir eigentlich immer noch Kinder sind. Mehr muss man da nicht hineindichten. Wir stehen immer noch gern auf der Bühne und toben nun mal gern herum.“ Kilmister beglich dabei immer cash, weil, wie er in der ihm eigenen Nonchalance bemerkte, die Krankenversicherung, die ihn nehmen würde, erst noch erfunden werden müsste.

Befragt nach seiner Angst, tot umzufallen, antwortete er: „Ich fall‘ nicht um. Ich verpuffe“. Wegen seiner anhaltenden gesundheitlichen Probleme mussten 2013 viele Konzerte und die Promotiontour des letzten Albums „Aftershock“ abgesagt, ein Auftritt beim Wacken Open Air abgebrochen werden. Kurz nach seinem 70. Geburtstag wurden bei ihm Tumore im Kopf- und Nackenbereich diagnostiziert. Er verstarb schließlich am 28. Dezember 2015 in seiner Wohnung an einer aggressiven Prostatakrebserkrankung. Sein Begräbnis wurde live im Internet übertragen.

Lemmys Grab. https://www.udiscover-music.de/wp-content/uploads/sites/21/2018/01/2017-06-08-14.51.05-Grab-Lemmy_preview-1024×768.jpeg

Auf der „anderen Seite“ solle er es „etwas ruhiger angehen“, scherzte Motörhead-Schlagzeuger Mikkey Dee dabei. „Unser Mitgefühl gilt dem Gehörnten, der sich von nun an dort unten mit Dir wird messen lassen müssen“, schrieb Jörg Scheller in der Süddeutschen Zeitung. Lemmy wurde auf dem Forest Lawn Memorial Park in Hollywood beigesetzt. Obwohl man sein Vermögen auf mehrere Millionen schätzte, hinterließ er dem Haupterben, seinem Sohn Paul, laut Mirror nur ungefähr 600.000 Euro. „Es ist nicht wirklich schwierig, zu überleben – du darfst nur nicht aufgeben“, sagte er 2002. Daran hat er sich gehalten. Bis zum Ende.

Fürst Karl Lichnowsky gehörte zu seinen größten Gönnern: er bewilligte ihm eine Unterstützung von 600 Gulden jährlich, die solange gezahlt werden sollte, bis er eine feste Anstellung als Musiker erlangt – was aber nie geschah. Lichnowskys Zahlungen endeten infolge eines schweren Zerwürfnisses, als er im Herbst 1806 zu Gast auf Schloss Grätz war und sich auf seine „typische Art“ weigerte, für französische Offiziere zu musizieren, die beim Fürsten zu Besuch waren. Nach zeitgenössischen Quellen hatte er „den Stuhl schon aufgehoben, um ihn auf des Fürsten Kopf in seinem eigenen Hause zu zerbrechen, nachdem der Fürst die Zimmerthür, die B. nicht aufmachen wollte, zertreten hatte, wenn Graf Oppersdorf ihm nicht in die Arme gefallen wäre“.

Diese typische Art hat auch Goethe nach nur wenigen Stunden ihres ersten und einzigen Treffens im Juli 1812 in Teplitz erkannt: „Sein Talent hat mich in Erstaunen gesetzt; allein er ist leider eine ganz ungebändigte Persönlichkeit, die zwar gar nicht unrecht hat, wenn sie die Welt detestabel findet, aber sie freilich dadurch weder für sich noch für andre genußreicher macht. … Ich begreife recht gut, wie er gegen die Welt wunderlich stehen muß.“ Der so Beschriebene teilte seinem Verleger nur mit: „Göthe behagt die Hofluft sehr, mehr als einem Dichter ziemt. Es ist nicht vielmehr über die Lächerlichkeiten der Virtuosen hier zu reden, wenn Dichter, die als die ersten Lehrer der Nation angesehen sein sollten, über diesem Schimmer alles andere vergessen können.“

Beethoven. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_van_Beethoven#/media/Datei:Beethoven.jpg

Legendär wurden aber auch seine Frauengestalten – mindestens zehn mehr oder weniger langjährige Beziehungen haben seine Biographen nachgewiesen, darunter zur minderjährigen Sängerin Elisabeth Röckel, für die er 1810 sein Albumblatt „Für Elise“ komponierte. Die bezaubernde Gräfin Josephine Deym könnte nicht nur die Mutter seines einzigen Kindes sein, einer Tochter, die sie Minona nannte (was rückwärts gelesen „anonym“ hieße), sondern 1812 auch die Adressatin seines Briefs an die „Unsterbliche Geliebte“, der mit der Anrede „Mein Engel, mein alles, mein Ich“ begann. Der Brief hat wegen des Fehlens unzweifelhafter Anhaltspunkte für die Identität der Adressatin zahlreiche und andauernde Spekulationen ausgelöst. Sein Verfasser war Ludwig van Beethoven, der am 17. Dezember 1770 in Bonn getauft wurde.

„Lied an einen Säugling“

Sein Vater Johann war Tenor an der kurkölnischen Hofkapelle sowie Musiklehrer und sollte mit seiner Frau Maria Magdalena sieben Kinder haben, von denen nur drei das Säuglingsalter überlebten. Ludwig war der zweiälteste und hatte das musikalische Talent geerbt, das der Vater früh erkannte – prompt wollte er aus ihm mit teilweise rabiaten Methoden einen zweiten Mozart machen. Die erste echte Förderung erfuhr er durch den Hoforganisten Christian Gottlob Neefe. Schon als Kind lernte er Klavier, Orgel und Bratsche, trat mit sieben erstmals öffentlich als Pianist auf und komponierte ab zwölf bereits Stücke mit lustigen Namen wie etwa das „Lied an einen Säugling“ oder die „Elegie auf den Tod eines Pudels“.

Ludwigs Schulbildung ging über Grundlegendes wie Lesen, Schreiben und Rechnen kaum hinaus. Zusätzlich erhielt er aber zeitweise Privatunterricht in Latein, Französisch und Italienisch. 1782 wurde er Stellvertreter Neefes an der Orgel, zwei Jahre später erhielt er eine feste Anstellung als Organist. Darüber hinaus wirkte er als Cembalist und Bratschist in der Hofkapelle. Ende Dezember 1786 brach Beethoven vergebens zu einer Reise nach Wien auf, um Kompositionsschüler Mozarts zu werden. Wenige Wochen danach starb im Frühjahr 1787 seine Mutter, der Vater wurde zum Trinker und konnte nicht mehr für seine drei Söhne sorgen. 1789 wurde er vom Dienst suspendiert und Ludwig die Verfügungsgewalt über die Hälfte der Pension des Vaters erteilt, wodurch ihm faktisch die Rolle des Familienoberhaupts zufiel.

Der Künstler als Kind, ca. 1783. Quelle: https://www.kinderzeitmaschine.de/fileadmin/user_upload/Neuzeit/Franzoesische_Revolution/Beethoven_als_Kind.jpg

1792 wurde ein zweiter Studienaufenthalt in Wien mit und bei Joseph Haydn vereinbart. Noch im November des Jahres brach Ludwig auf – und blieb für den Rest seines Lebens. Denn im Dezember starb sein Vater, und als 1794 französische Truppen das Rheinland besetzten und der kurfürstliche Hof floh, war ihm nicht nur der Boden für die Rückkehr nach Bonn entzogen, auch die Gehaltszahlungen des Kurfürsten blieben nun aus. Seine beiden Brüder folgten ihm nach. In Wien fand er bald die Unterstützung adliger Musikliebhaber, darunter Fürst Lobkowitz und eben Lichnowsky, der ihn anfangs sogar bei sich wohnen ließ. Das Verhältnis zwischen dem renommierten Lehrer Haydn und ihm war nicht einfach, er war mit Haydn als Lehrer unzufrieden und nahm heimlich Unterricht bei anderen, darunter Antonio Salieri in Gesangskomposition.

„Allegro di Confusione“

In den ersten zehn Jahren in Wien entstanden allein 20 seiner 32 Klaviersonaten. Am 29. März 1795 trat Beethoven mit seinem Klavierkonzert B-Dur op. 19 erstmals als Pianist an die Wiener Öffentlichkeit. Besonderes Aufsehen erregte er auch durch seine herausragende Fähigkeit zum freien Fantasieren. 1796 unternahm der junge Virtuose eine Konzertreise nach Prag, Dresden, Leipzig und Berlin, die ein großer künstlerischer und finanzieller Erfolg wurde. Die von Lichnowsky initiierte Tournee folgte der Route der Reise, die der Fürst 1789 schon mit Mozart unternommen hatte. Die ersten Kompositionen, die Ludwig drucken ließ, waren drei 1794/95 entstandene Klaviertrios, die er mit der Opusnummer 1 versah. Zwischen 1798 und 1800 komponierte er, nach intensivem Studium der Quartette Haydns und Mozarts, eine erste Serie von sechs Quartetten, kurz darauf präsentierte er sich auch als Sinfoniker mit seinen ersten beiden Sinfonien. Schon 1800 rissen sich die Musikverlage um sein Musik: „ich fordere und man zahlt“. Ein genialer Coup war sein erstes selbst veranstaltetes Konzert am 2. April 1800 im Hofburgtheater mit Stücken von Mozart und Haydn neben seinen.

Noten der 1. Sinfonie. Quelle: https://cdn.shortpixel.ai/client/q_glossy,ret_img,w_1200/https://www.michael-schoenstein.com/wp-content/uploads/foto-noten-beethoven-1-c-dur-001-1200×624.png

Seine Musik galt als neuartig, interessant, bewunderungswürdig – aber schwierig. Manche Werke, so hieß es, verstehe man erst nach mehrmaligem Hören. Wertkonservativen Zeitgenossen war sie schon mal etwas über. Ein Kritiker fand „des Grellen und Bizzarren allzu viel“, ein anderer hörte nur noch „wirklich gräßliche Harmonie“. Angeblich verstieß Beethoven gegen das Schönheitsideal der Natürlichkeit. 1828 befand ein Kritiker „Gewiss keine von allen jemals bekannt gemachten Sinfonien ist so kolossal und kraftvoll, so tief und kunstreich wie die Zweite von Beethoven“, ein anderer nannte sie dagegen immer noch „ein krasses Ungeheuer“. Für ihn waren derlei Anwürfe nicht mehr als „Mückenstiche“: lästig, aber vorübergehend. Er beharrte darauf: „Wahre Kunst ist eigensinnig und lässt sich nicht in schmeichelnde Formen zwingen.“

Leider legte sich auf seine Karriere ab 1797 ein Schatten: er wurde taub. Hohe Töne aus der Ferne hörte er 1801 nicht mehr, dazu quälte ihn Tinnitus. „Nur die Kunst“, schrieb er 1802 im „Heiligenstädter Testament“, halte ihn vom Selbstmord ab. 1808 konnte er noch öffentlich konzertieren. 1813 dirigiert er die 7. Symphonie, ohne die leisen Stellen zu hören. Ab 1814 benutzte er Hörrohre, ab 1818 die „Konversationshefte“, in die seine Besucher ihre Äußerungen schreiben, so dass er antworten konnte. Über 100 davon sind erhalten, „einzigartige Zeugnisse der Alltäglichkeiten des Verkehrs eines der größten Genien der Menschheit“, so sein Biograph Walter Riezler. Bei der Uraufführung der 9. Symphonie (1824) hörte er den tosenden Applaus nicht mehr.

Beim Komponieren beeinträchtigte ihn die Schwerhörigkeit aufgrund seines absoluten Gehörs nicht, am meisten litt Ludwig an der sozialen Isolation. Er wurde mürrisch und argwöhnisch, neigte immer mehr zu sinnlosen Zornesausbrüchen und zog sich zunehmend von den Mitmenschen zurück. Er galt als Sonderling mit wirren Haaren, der brummend durch die Gassen stapft und Noten in die Luft malt. Das hatte Auswirkungen bis in den Alltag hinein. Auf dem Flügel häufen sich Notenblätter und Staub, darunter steht ein voller Nachttopf, auf dem Tisch Frühstücksreste nebst halbleeren Weinflaschen, auf dem Boden große Pfützen von der Morgenwäsche: So berichten Besucher, und er selbst gab zu, sein Haushalt sei ein „Allegro di Confusione“. Haushälterin und Köchin mussten her, deren Erziehung allerdings wieder Unordnung in die Wohnung brachte: „Die Nany ist ganz umgewandelt, seit ich ihr das halb dutzend Bücher an den Kopf geworfen. Es ist wahrscheinlich durch Zufall etwas davon in ihr Gehirn geraten. Der Baberl warf ich meinen schweren Sessel auf den Leib. Da hatte ich den ganzen Tag Ruhe.“

„wacker herumtummeln“

Vage Heiratsabsichten sind erstmals Ende 1801 dokumentiert: Ein „liebes zauberisches Mädchen“, hinter dem sich wohl seine gräfliche Klavierschülerin Giulietta Guicciardi verbirgt, könne ihn glücklich machen. Aber die sei nicht „von meinem Stande“, und außerdem müsse er sich noch „wacker herumtummeln“. Sein Freund Franz Gerhard Wegeler schreibt: „In Wien war Beethoven immer in Liebesverhältnissen“. Am Standesunterschied scheiterte auch die lange, komplexe Beziehung zur verwitweten Gräfin Deym. Sehnlichst wünschte sich Beethoven eine Familie. Nun sollte ein Freund ihm die Frau suchen. 1810 fand sich die Kaufmannstocher Therese Malfatti. Beethoven hatte schon die Papiere für die Trauung, als er die Absage erhielt.

Neffe Karl van Beethoven. Quelle: https://en.wikipedia.org/wiki/Karl_van_Beethoven#/media/File:Karl_van_Beethoven.jpg

Als anfänglicher Anhänger der Französischen Revolution widmete er Napoleon seine 3. Sinfonie, die „Eroica“. Nachdem sich Napoleon 1804 allerdings zum Kaiser gekrönt hatte, löschte Beethoven diese Widmung wutentbrannt aus dem Titelblatt der Partitur. Als 1808 König Jerôme von Westfalen ihn für seinen Hof zu gewinnen sucht, setzten ihm drei Freunde und Gönner, darunter Erzherzog Rudolf, ein Jahresgehalt von 4000 Gulden aus, um ihn in Wien zu halten. Im selben Jahr beendet er die 5., die Schicksalssinfonie: „So pocht das Schicksal an die Pforte“, beschreibt er das legendäre Eingangsmotiv. Am 22. Dezember 1808 packte er die Fünfte mit der Sechsten nebst anderen gewichtigen Werken in ein vierstündiges Konzert in einem unbeheizten Theater. Das war dann selbst für aufgeschlossene Besucher „des Starken zu viel“. Die größten Triumphe erntete er in den Festkonzerten zum Wiener Kongress 1815, wo neben Gelegenheitswerken seine 7. und 8. Sinfonie uraufgeführt wurden. Im Jahre zuvor hatte er mit dem umgearbeiteten „Fidelio“ großen Erfolg. Daraus stammt das musikalische Pausenzeichen („Es sucht der Bruder seine Brüder“), das jahrzehntelang im DW-Hörfunkprogramm zu hören war.

Nach dem Tod seines Bruders Caspar 1815 erkämpfte Beethoven vor Gericht das alleinige Sorgerecht für seinen Neffen Karl, den er 1818 zu sich holt, vielleicht ein letzter, verzweifelter Versuch, so etwas wie eine Familie zu haben. An ihm wollte er sein Ideal eines „höheren Menschen“ verwirklichen, ihn zu einem großen Künstler oder Gelehrten machen. Das Erziehungsprojekt scheiterte. Karl, der einfach nur Soldat werden wollte, war hoffnungslos überfordert und litt an der fast schon psychotischen Bevormundung durch den Onkel. 1826 versuchte er, sich zu erschießen. Nicht unzutreffend erklärte er: „Ich bin schlechter geworden, weil mich mein Onkel besser haben wollte.“

Er war Perfektionist, komponierte nicht für seine Zeitgenossen, sondern für die Nachwelt. Immer wieder feilte er, überarbeitete und korrigierte die Partituren bis spät in die Nacht. Bei dieser Sorgfalt verwundert nicht, dass er manche Stücke, gerade Auftragskompositionen, zu spät fertig stellte. Die „Missa Solemnis“, eine grandiose Messe zur Inthronisation des Erbbischofs von Olmütz 1820, wurde erst 1823 fertig. Im Jahr danach folgte dann der Höhepunkt seines Schaffens: am 7. Mai fand im Theater am Kärntnertor die Uraufführung der 9. Sinfonie statt. Geleitet von Kapellmeister Michael Umlauf, stand Ludwig mit ihm zur Unterstützung am Dirigentenpult. Einen Chor hatte es in einer klassischen Sinfonie bis dato nicht gegeben, der Applaus war frenetisch. Umso mehr ärgerte ihn der billige Ring, den Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. für die Widmung des Jahrtausendwerks zu schicken geruhte: Er hat ihn gleich verscherbelt. Die Zahl Neun in Bezug auf Sinfonien schien die Nachwelt zu prägen: Gustav Mahler oder Anton Bruckner etwa kamen über eine neunte Symphonie nicht hinaus.

9. Sinfonie in der Christuskirche Karlsruhe. Quelle: https://provocal.eu/wp-content/uploads/2018/01/2018-01-27_Beethoven_Foto-Bernadette-Fink_web-1024×683.jpg

Nach 1945 nahm das Gewandhausorchester in Leipzig seine Tradition wieder auf, das Silvesterkonzert mit Beethovens Neunter zu beenden. Seit 1972 gelten die einschlägigen 16 Takte („Freude, schöner Götterfunken“) als „Europahymne“. Zehn Jahre zuvor hatten dieselben Takte den englischen Schriftsteller Anthony Burgess und mehr noch 1971 den amerikanischen Filmregisseur Stanley Kubrick zu gänzlich anderen Assoziationen verleitet: In „A Clockwork Orange“ sind sie der dynamisierende Begleitsound zu Vergewaltigung und Totschlag. Die Sinfonie hat 1982 auch die Entwicklung der CD mit einer Speicherkapazität von 80 Minuten beeinflusst: Herbert von Karajan, der von Produktentwicklern dazu befragt wurde, sagte, dass es möglich sein müsse, Beethovens Neunte an einem Stück zu hören. Und im Dezember 1989, kurz nach dem Mauerfall, dirigierte der amerikanische Superstar Leonard Bernstein die 9. Sinfonie im Ostberliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt mit einem Orchester, das Musiker aus Ost und West vereinte. Das Konzert wurde in 20 Länder übertragen. Die Originalpartitur wurde 2001 als erste Komposition Weltkulturerbe. 2003 versteigerte Sothebys die von Beethoven korrigierte Druckvorlage für drei Millionen Euro.

„Schade, schade – zu spät!“

Zur Zeit der Uraufführung war Ludwig bereits erschöpft und von der Leberzirrhose gezeichnet, an der er letztlich sterben wird. Sein letztes Werk, das fünfte einer Serie von Streichquartetten, vollendete er 1826. Pläne wie eine dritte Messe, eine zehnte Sinfonie oder ein Oratorium blieben ungeschrieben – rund 240 Werke sind von ihm überliefert. Die Bauchwassersucht machte ihm die letzten drei Monate zur Qual. Mehr zum Trost als zur Heilung verschrieb ihm der Arzt eine Kiste Rheinwein, deren Ankunft er sehnlich erwartete. Beethoven war nicht zwingend ein klassischer Alkoholiker, und eine Leberzirrhose kann auch andere Ursachen haben. Aber er trank sicher mehr, als ihm gut tat: Ein Fläschchen zum Essen, ein paar Fläschchen unter Freunden… Auch bleihaltigen Billigwein verschmähte er nicht: Weißwein wurde von den Winzern damals mit Bleizucker statt mit teurem Rohrzucker gesüßt. Die Ärzte schufen ihm noch manche Erleichterung, so dass er immer noch Besuche von Freunden empfangen konnte. Zu retten war er nicht mehr. Er wusste um seinen Zustand, machte sein Testament zugunsten des Neffen und lag schon im Sterben, als die Kiste endlich eintraf. Seine letzten Worte sollen gewesen sein: „Schade, schade – zu spät!“

Beethovens Begräbnis. Quelle: https://www.sepulkralmuseum.de/ressources/images/leichenzug_1591800069_SUPERHERO_xl.jpg

Er starb am 26. März 1827 während eines Schneegewitters. Die Obduktion ergab eine stark geschrumpfte Leber, „lederartig fest, grünlichblau gefärbt“; später wird an Knochenstücken seines Schädels auch eine abnorm hohe Bleikonzentration gemessen. Am Tag seiner Beerdigung blieben die Schulen in Wien geschlossen, mindestens 20.000 Menschen gaben ihm das letzte Geleit. Franz Grillparzer hielt die Grabrede. Unter den Musikern, die Fackeln tragend den Sarg umgaben, war der jüngste Franz Schubert – der ihm schon nach einem Jahr in den Tod folgte. „Was in den Herzen der Menschen lebt, ist die Gewalt des menschlichen Ausdrucks in seiner Musik, aus der ein unendlicher Reichtum an Gefühlen auf den Hörer eindringt, und damit verbunden das – freilich sehr verzeichnete – Bild des Menschen, des einsamen ‚tauben Musikers‘, der mit dem Schicksal ringt“, bilanziert Riezler.

Mit seinem Aufbegehren gegen die Form, seiner Konzentration auf die persönliche Aussage in der Musik, seinem dramaturgischen Komponieren und der Wahl kurzer Motive mit hohem Wiedererkennungswert vollendete der Rebell die Klassik und schlug die Brücke zur Romantik. Mit ihm beginne die „Vervollkommnung der Tendenz zu deutscher Einsamkeit“, befand Carl Schmitt: „Seitdem die Instrumente reden, können die Menschen nicht mehr reden; ein stummes, musikalisches Volk.“ Neben Romanen und Gedichten thematisierten zahlreiche Bühnenstücke und Filme das Leben des Komponisten, der unter anderem von Karlheinz Böhm, Donatas Banionis, Gary Oldman, Ian Hart und Ed Harris verkörpert wurde. Anlässlich des runden Jubiläums hatten die Bundesrepublik, das Land Nordrhein-Westfalen, der Rhein-Sieg-Kreis und die Bundesstadt Bonn eine Beethoven Jubiläums gGmbH gegründet, die das ganze Jahr lang Ausstellungen, Konzerte, Performances und Kongresse organisierte – die im Corona-Lockdown versandeten. Im weltweiten Klassikranking führt er immer noch vor Mozart und Bach die Liste der meistgespielten Komponisten an, über 13% aller klassischen Konzerte rings auf der Erde hatten 2019 ein Werk von Beethoven im Programm.

Sein bekanntestes Bauwerk ist das Looshaus am Wiener Michaelerplatz für das Bekleidungsunternehmen Goldman & Salatsch, das 1910 zu einer auch im Ausland viel beachteten öffentlichen Auseinandersetzung über die ornamentlose Fassade führte. Es steht gegenüber der Hofburg und wird aufgrund seiner fehlenden Fenstergesimse auch „Haus ohne Augenbrauen“ genannt. „Das Haus hat allen zu gefallen. Zum Unterschiede zum Kunstwerk, das niemandem zu gefallen hat. … Das Kunstwerk will die Menschen aus ihrer Bequemlichkeit reißen. Das Haus hat der Bequemlichkeit zu dienen. Das Kunstwerk ist revolutionär, das Haus konservativ.“ heißt es dazu etwa in seinem 1910 veröffentlichten Essay „Architektur“. Kaiser Franz Joseph gefiel es schon mal nicht – angeblich weigerte er sich den Rest seines Lebens, von der Hofburg zum Michaelerplatz zu sehen, und ließ alle Fenster seines Palastes in diese Richtung zunageln.

Sein bekanntester Text ist das Manifest „Ornament und Verbrechen“ (1908), in dem er in durchgängiger Kleinschreibung argumentiert, dass Funktionalität ein Zeichen hoher Kulturentwicklung sei und der moderne Mensch wirkliche Kunst allein im Sinne der Bildenden Kunst erschaffen könne. Ornamentale Verzierungen oder andere besondere künstlerische Gestaltungsversuche an einem Gebrauchsgegenstand seien eine ebenso unangemessene wie überflüssige Arbeit: „gewiss, die kultivierten erzeugnisse unserer zeit haben mit kunst keinen zusammenhang. die barbarischen zeiten, in denen kunstwerke mit gebrauchsgegenständen verquickt wurden, sind endgültig vorbei … ornament ist vergeudete arbeitskraft und dadurch vergeudete gesundheit … heute bedeutet es auch vergeudetes material, und beides bedeutet vergeudetes kapital … der moderne mensch, der mensch mit den modernen nerven, braucht das ornament nicht, er verabscheut es.“

Loos ca. 1911. Quelle: https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/images/7/76/Adolfloos.jpg

Aus diesem Grund hasst er auch Tätowierungen: „der moderne mensch, der sich tätowiert, ist ein verbrecher oder ein degenerierter. es gibt gefängnisse, in denen achtzig prozent der häftlinge tätowierungen aufweisen. die tätowierten, die nicht in haft sind, sind latente verbrecher oder degenerierte aristokraten. wenn ein tätowierter in freiheit stirbt, so ist er eben einige jahre, bevor er einen mord verübt hat, gestorben.“ Sein Rationalismus war manchmal schneidend einseitig: „Alles, was einem Zweck dient, ist aus dem Reiche der Kunst auszuschließen!“ Der solche starken Worte nutzte, hatte niemals Spiel-, Trink- oder Wettschulden, wohl aber Schulden beim Schneider: Adolf Loos. Der Architekt, Architekturkritiker und Kulturpublizist wurde am 10. Dezember 1870 in Brünn geboren.

Kritiker der angewandten Kunst

Von seinem Vater, einem Bildhauer, erbte er nicht nur seine künstlerische Begabung, sondern auch seine Schwerhörigkeit. Nach seinem frühen Tod führte die Mutter den Steinmetz-Betrieb in der Friedhofgasse in Brünn weiter. Ab 1880 wechselte Adolf Loos mit schlechten Sittennoten von Gymnasium zu Gymnasium. Am Stiftsgymnasium Melk etwa blieb er nur ein Jahr – aufgrund schlechtester Noten in Zeichnen und Betragen weigerte man sich dort, ihn erneut aufzunehmen. 1889 schloss er die k.k. deutsche Staatsgewerbeschule in Brünn mit der Matura ab und studierte nach einem Intermezzo an der Akademie für angewandte Kunst Wien, vom Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger unterbrochen, bis 1893 an der Hochbauabteilung der Technischen Hochschule in Dresden. Während seines Studiums wurde er 1891 Mitglied der Burschenschaft Cheruscia Dresden, aus der er 1892 jedoch wieder austrat.

Nur mit einem Schiffsbillet und 50 Dollar in der Tasche reiste Loos 1893 in die USA, wo ein Bruder seines Vaters lebte. Bis 1896 schlug er sich mit verschiedenen, vorwiegend handwerklichen Berufen durch, als Hilfsarbeiter, Tellerwäscher, Musikkritiker und erst im letzten Jahr als Möbelzeichner und Architekt. Die „organische Architektur“ von Frank Lloyd Wright inspirierte ihn. Nach seiner Rückkehr ließ er sich endgültig in Wien nieder und begann als Journalist und Architekt zu arbeiten. Seit 1898 publizierte der laut Le Corbusier „wohl größte Literat unter den modernen Architekten“ seine Auffassungen in diversen Zeitungen und Verlagen und gibt später sein eigenes Periodikum „Das Andere“ heraus, dessen Untertitel lautet: „Ein Blatt zur Einführung abendländischer Kultur in Österreich“.

Cafe Museum vor 2010 nach Originalplänen von Loos saniert. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Caf%C3%A9_Museum#/media/Datei:Cafe_Museum_innen.jpg

Parallel dazu machte er sich als Innenarchitekt einen Namen, etwa beim Café Museum am Karlsplatz (1899), das dann wegen der Kargheit der Einrichtung von Zeitgenossen „Café Nihilismus“ genannt wurde, oder bei der auch überregional bekannten „American Bar“ in einer Seitengasse der Kärntner Straße, die auch als Loos-Bar bezeichnet wird und bis heute existiert. 1902 heiratete er die Schriftstellerin und Schauspielerin Lina Obertimpfler, von der er sich 1905 schon wieder trennte. Um sich leichter von ihr scheiden zu lassen, bemühte er sich vergeblich, die ungarische Staatsbürgerschaft zu erhalten. Nach seiner Scheidung verband ihn eine langjährige Beziehung mit der englischen Tänzerin Bessie Bruce. Noch zwei Ehen werden folgen.

Loos galt von Anbeginn als energischer Gegner des Jugendstils und scharfer Kritiker der angewandten Kunst und aller zeitgenössischen Ideen, die Kunst in Gestalt des Kunstgewerbes mit dem Alltag zu versöhnen, also Gebrauchsgegenstände in besonderer Weise künstlerisch zu gestalten. Er grenzte sich damit insbesondere von den Künstlern der Wiener Werkstätte ab, die seit 1903 eine Verbindung von Alltag und Kunst umzusetzen versuchten. 1904 besuchte er erstmals die Insel Skyros und wurde mit der kubischen Architektur der griechischen Inselwelt konfrontiert. Als Architekt privater Villen, erstmals bei der Villa Karma in Clarens bei Montreux, entwickelt er prompt das Konzept des „Raumplans“, der Größe und Anordnung von der Funktion der Räume abhängig machte, sie dazu mehrgeschossig mit unterschiedlichen Zimmerhöhen teilweise ineinander schachtelt und äußerlich zunehmend der Kubusform annähert.

„Los von Loos“

Ab 1909 entwirft er auch Geschäftslokale wie den Herrenmodesalon Kniže & Comp. Am Graben in Wien, der seit den 1920er Jahren als erste Herrenmodemarke der Welt galt und auch die erste Herrenduftserie „Knize Ten“ kreierte. 1910 kamen dann Wohnbauten hinzu, darunter die Wiener Siedlungen Hirschstetten und Friedensstadt, aber auch zwei Einfamilien-Doppelhäuser für die Werkbundsiedlung. Nach dem Zerfall Österreich-Ungarns 1918 wurde er tschechoslowakischer Staatsbürger, 1921 Chefarchitekt des Wiener Siedlungsamtes. 1922 entstand sein bekannter Wettbewerbsentwurf für das Redaktionsgebäude der Chicago Tribune: Eine „überdimensionierte dorische Säule, die in ihrer selbstreferentiellen Überhöhung die gesamte Postmoderne vorwegzunehmen scheint“, schrieb Robert Kaltenbrunner auf telepolis. 1924 trat er von seiner Stelle im Siedlungsamt zurück, lässt sich für vier Jahre in Paris nieder und pflegte dort zahlreiche Kontakte zur Künstleravantgarde. Er baute unter anderem ein Haus für Tristan Tzara, dem Mitbegründer des Dadaismus, und entwarf auch eine Villa für die Tänzerin Josephine Baker mit einer ganz in horizontalen schwarzen und weißen Streifen gehaltenen Fassade. Der Wegzug nach Frankreich hatte auch das Ende seiner privaten Bauschule mit ca. acht Schülern bedeutet, darunter Paul Engelmann, der für den Cousin Stefan Zweigs, Max, in Israel ein Haus baute.

Das „Haus ohne Augenbrauen“. Quelle: https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Datei:Looshaus.jpg

Von 1918 bis 1926 war er mit der Tänzerin Elsie Altmann, von 1929 bis 1931 mit der Fotografin Claire Beck verheiratet. Der Charismatiker war, was man heute „Salonlöwe“ nennen sollte, gehörte zur Wiener Boheme, war eng mit Künstlern wie Arnold Schönberg und Oskar Kokoschka befreundet, aber auch mit Karl Kraus und Peter Altenberg, für die er sogar als Taufpate fungierte. Daneben spielte er begeistert Schach. Ende der 20er Jahre begann er sich mit dem Werkstoff Glas auseinanderzusetzen. Ein 12-teiliges Barset mit Karaffe für die Wiener Firma J. & L. Lobmeyr wurde 2010 noch hergestellt und verkauft. Ein Becherservice für die American Bar in Wien, ebenfalls von J. & L. Lobmeyr geschaffen, wurde sogar noch 2017 produziert und vertrieben. Auch diverse Beleuchtungskörper, Kleiderständer sowie eine Kaminuhr werden von der Wiener Firma WOKA heute noch in Handarbeit hergestellt und verkauft.

Im Spätsommer 1928 zeichnete er an fünf Tagen privat drei acht- bis zehnjährige Mädchen nackt. Aufgrund der Anzeige einer bis heute anonym gebliebenen Frau wurden Ermittlungen gegen ihn eingeleitet und in seiner Wohnung eine Sammlung von über 300 pornografischen Fotografien gefunden, deren Besitz damals allerdings nicht strafbar war. Verurteilt wurde er schon im Dezember „des Verbrechens der Verführung zur Unzucht“, begangen dadurch, dass er „die ihm zur Aufsicht anvertrauten Mädchen zur Begehung und Duldung unzüchtiger Handlungen verleitete, indem er sie veranlasste, als Modelle unzüchtige Stellungen einzunehmen und sich in diesen zeichnen zu lassen“. Die Strafe belief sich auf vier Monate Arrest, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. Die Strafakte dazu wurde später gestohlen und tauchte erst Jahrzehnte später in Privatbesitz wieder auf. Das Wiener Stadt- und Landesarchiv hat sie 2015 zurückerhalten und im Wiener Archivinformationssystem komplett veröffentlicht.

Prag-Smichov, Villa Winternitz. Quelle: https://image.kurier.at/images/cfs_932w/4282094/46-163529103.jpg

Der Skandal hielt sich in Grenzen, zumal Loos inzwischen vollständig ertaubt war und kurz danach die Vorbereitungen zu seinem 60. Geburtstag begannen – der vor allem in Prag gefeiert werden sollte. Hier kam es zu einer einmaligen Allianz zwischen James Joyce, Karl Kraus, Valéry Larbaud, Heinrich Mann und Arnold Schönberg, die einen Aufruf zur Gründung einer „Adolf-Loos-Schule“ in Wien veröffentlichten: „Adolf Loos, den einmal kommende Geschlechter den großen Wohltäter der Menschheit seiner Zeit nennen werden, da er diese von der Sklaverei überflüssiger Arbeit befreite, wird im Dezember 60 Jahre alt. Die Ornamentiker, deren Überflüssigkeit und Schädlichkeit Loos sein ganzes Leben hindurch nachgewiesen hat, wollten sich dieses unbequemen Mannes durch Totschweigen entledigen … Ihm, dem geborenen Lehrer, wurde kein Lehramt zuteil … Wir wissen, dass wir ihm die größte Freude bereiten würden, wieder seine Lehre verkünden zu können.“ Angefragt waren auch Albert Einstein und Thomas Mann, die winkten ab.

Ornamentlosigkeit als „Schandtat“

Aus dem Unternehmen wurde nichts mehr. Der extrovertierte Gesellschaftsmensch vereinsamte, als ihn ein Nervenleiden in den Rollstuhl zwang. Loos starb am 23. August 1933 umnachtet im Sanatorium Kalksburg bei Wien. Er ruht auf dem Wiener Zentralfriedhof in einem Grab, dessen schlichten Grabstein er selbst entworfen hat; er steht noch heute da. Friedensreich Hundertwasser veröffentlichte 1968 eine polemische Generalabrechnung unter dem Titel „Los von Loos“, in der er ihm vorwirft, die Ornamentlosigkeit als „Schandtat in die Welt gesetzt“ zu haben. „Sicher hat er es gut gemeint. Auch Hitler hat es gut gemeint. Aber Adolf Loos war unfähig, fünfzig Jahre vorauszudenken. Der Teufel, den er rief, den wird die Welt nun nicht mehr los.“

Villa Duschnitz, 1915-1916, Blick aus dem Musikzimmer ins Speisezimmer mit Wintergarten. Quelle: https://image.architonic.com/imgTre/10_09/adolf_loos_duschnitz.jpg

„Man darf nur dann etwas Neues machen, wenn man etwas besser machen kann“, lautete ein Lebensmotto des Meisters. Die Wirkung vieler seiner Bauten ergäbe sich aus „dem Spannungsfeld zwischen der oft provozierenden Kargheit der Fassade und dem taktil-sensualistischen Reichtum des Interieurs“, befand Kaltenbrunner. Neben Straßen wurde auch ein Asteroid nach ihm benannt. Seit 1992 wird von einer Jury der von der Raiffeisenlandesbank Niederösterreich-Wien gestiftete Adolf-Loos-Architekturpreis vergeben. In Tschechien gibt es mehr als 30 Gebäude und Wohnungen, an deren Gestaltung er beteiligt war. Zu seinen bekanntesten Werken gehört eine Prager Villa, die er 1930 für den Bauunternehmer František Müller bauen ließ und in der aus Anlass seines Jubiläums im Januar 2020 ein tschechisches Adolf-Loos-Jahr eröffnet wurde, an dem sich auch Museen in Pilsen und Brünn beteiligten.

Mit der „Thingbewegung“ startete das noch junge Dritte Reich ein kulturelles Großvorhaben. Der Name knüpfte an die historische Bezeichnung nordisch-germanischer Versammlungsplätze an, hatte damit allerdings wenig zu tun. Vielmehr ging es um ein umfassendes Theatererlebnis in freier Natur, das unter Bezug auf ein imaginäres Germanentum den Geist einer deutschen Volks- und Schicksalsgemeinschaft beschwor. Aufführungsorte waren eigens dafür angelegte Theater; Bergketten, Täler und der deutsche Wald gaben das natürliche Bühnenbild ab. Die Thing-Euphorie entfachte eine gigantische Masseninitiative: Errichtet aus Natursteinen, entstanden in ausgewählter Lage sogenannte Thingstätten – weltweit die größte Anzahl neu geschaffener Freilichtbühnen seit der Antike.

400 waren vom Propagandaministerium geplant, mit exakten Vorgaben: Ausgerichtet nach Norden und eingebettet in die Landschaft sollten die Zuschauerränge im Halbkreis ansteigen, durchzogen von breiten Treppen sowie Quergängen für Auf- und Abmärsche. Häufig gab es noch einen vorgelagerten Aufmarschplatz sowie ein Ehrenmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Neben dem offiziellen Bauprogramm sprühten NS-Funktionäre auf Gemeindeebene vor Eigeninitiative. Ca. 60 existieren so oder so heute noch – die Bad Segeberger Karl-May-Bühne ist sicher die bedeutendste, die Berliner „Waldbühne“ wohl die bekannteste.

Die Geschichte der Thingbewegung beschreibt der Historiker Gerwin Strobl als Coup von vier Theaterenthusiasten, die mit den Nationalsozialisten ursprünglich nichts am Hut hatten, sondern lediglich die Gunst der Stunde nutzten, um gemeinsam einer Idee zum Durchbruch zu verhelfen, die schon aus Weimarer Tagen stammte: Alle vier wollten das Freilichtspiel als „Volkstheater“ wiederbeleben. Neben dem Regisseur Hanns Niedecken-Gebhard und dem Schriftsteller Hans Brandenburg muss Wilhelm Karl Gerst als zeitgeschichtlich sicher namhaftester unter den vieren gelten. Der Architekt, Theatermacher und Begründer des Katholischen Bühnenvolksbundes war nach Kriegsende Mitbegründer der „Frankfurter Rundschau“.

Niessen 1955. Quelle: https://www.koelner.de/wp-content/uploads/2016/07/nl-niessen_portrait_foto-stuckmann_300dpi_0071.jpg

Und da war noch Carl Niessen – der Theaterwissenschaftler ist Schöpfer des Ausdrucks „Thingspiel“, das Festspiel und Kundgebung in einem sein sollte: Thingspiele sollten hauptsächlich ein emotionales und ethisches Aufgehen des Einzelnen in Heimat und Volksgemeinschaft erleben lassen. Die Bezeichnung „Thing“ wurde von der Jugendbewegung übernommen; einige Jugendbünde (Pfadfinder, Quickborn und andere) hatten Versammlungen so bezeichnet. Der Begriff wurde, obwohl nur von 1933 bis 1936 mit Leben erfüllt, später als der bedeutendste Beitrag bezeichnet, den das 3. Reich zur Kunstform des Theaters und der Literatur leistete und der im Vergleich der Konfigurationen zum Arbeitermassenspiel zu einer Körpergeschichte sozialer Bewegungen einerseits, ja einem „propagandistischen Architekturtheater“ andererseits führte. Am 7. Dezember vor 130 Jahren kam Niessen in Köln als Sohn eines Hotelbesitzers zur Welt.

Mitbegründer der „Rheinischen Landesbühne“

Über seine Kindheit und Jugend ist wenig bekannt außer dass er, wie viele begüterte Einzelkinder jener Zeit, eher ästhetisch denn körperlich aktiv aufwuchs und in Köln das Realgymnasium besuchte. Er studierte dann Kunst- und Kulturgeschichte in Heidelberg, Bonn, München, Berlin und schließlich Rostock, wo er 1913 promovierte. Im Mai 1914 gründete er eine Bühne in Oberhausen und bespielt mit seinem Ensemble außerdem eine von ihm ins Leben gerufene Freilichtbühne. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 endet dieses erste Engagement, er leistet als Freiwilliger Kriegsdienst, zuletzt als Leutnant der Reserve.

1919 erfolgte seine Habilitation für deutsche Literatur und Theatergeschichte an der Universität Köln, wo er bis 1929 als Privatdozent, bis 1938 als apl. Professor lehrte. An theaterwissenschaftlichen und -praktischen Aufgaben gleichermaßen interessiert, wirkte er in verschiedenen kulturpolitischen Gremien und zeitweise in der Theaterpraxis selbst. Während des Studiums und in den ersten Jahren seiner Privatdozententätigkeit war er an Bühnen in Köln, Wuppertal, Beuthen, Koblenz, Siegburg und Antwerpen als Schauspieler und Regisseur engagiert. Regen Anteil nahm er nach dem 1. Weltkrieg an der Schaffung von staatlich geförderten Volksbildungseinrichtungen wie Wanderbühnen: Die Gründung der „Rheinischen Landesbühne“ 1920 mit Sitz in Düren ist wesentlich auf seine Initiative zurückzuführen.

Niessen vor rheinischen Puppen in den 1920er Jahren. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Niessen#/media/Datei:NL_Niessen_300dpi_003.jpg

Mit Nachdruck setzte sich Niessen für die Erhaltung bzw. Wiederbelebung des rheinischen Puppenspiels ein, insbesondere für die Rettung des Kölner „Hänneschen-Theaters“. Auf zahlreichen Auslandsreisen erwarb er wesentliche Teile seiner Bibliothek und einer Sammlung von Bilddokumenten, Modellen, Masken, Porzellanen u. a. zur Geschichte des Theaters, die rasch als eine der größten Privatsammlungen dieser Art galt und internationalen Ruf erlangte. Vereinigt mit universitätseigenen Beständen, wurde die Sammlung schon 1927 auf der „Deutschen Theaterausstellung“ in Magdeburg gezeigt, 1932 fand eine erste Ausstellung mit Zeugnissen zur Weltgeschichte des Theaters in eigenen Museumsräumen in Köln statt.

Seine Bekanntschaft mit Gerst, der 1931 den „Reichsausschuss für deutsche Volksschauspiele“ organisierte und viele Theaterautoren wie Ödön von Horvath oder Carl Zuckmayer zur Mitarbeit gewann, führte ihn dann kurzzeitig ins Zentrum der Macht. Gerst hatte nach der Wirtschaftskrise, die auch viele Theaterleute in Existenznöte brachte, ein neues Medienformat gesucht, bei dem sie gemeinsam mit Laien dramatisches Geschehen öffentlich gestalten sollten. Nach dem Vorbild von Schillers „Schaubühne als moralische Anstalt“ sollte das gemeinsam gestaltete und erlebte dramatische Geschehen alle Teilnehmer (auf der Bühne, dahinter und davor) emotional, moralisch und politisch einen, ihre Gesinnung festigen, ja sogar umstimmen.

Am 22. Dezember 1932 gründeten die vier Enthusiasten den „Reichsbund zur Förderung der Freilichtspiele“, der als Verein sieben Tage vor der Machtergreifung ins Vereinsregister eingetragen wurde. Nach der Machtergreifung sorgte der Schauspieler und NS-Funktionär Otto Laubinger, späterer Präsident der Reichstheaterkammer, dafür, dass der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda die junge Vereinigung anerkannte. Damit war der Reichsbund einerseits unter den Schutz von Goebbels gestellt, andererseits aber dessen Einfluss ausgesetzt.

sozialistische Vorwärtsbewegung

Niessens Schrift Thingplätze als Spielplätze der Nation (1934) bildete die Grundlage des „Thingspiels“, dessen Idee sich aus vielerlei Quellen speiste. In den zwanziger Jahren inszenierte die sozialistische Bewegung Arbeitermassenspiele von neuartiger Qualität. Hunderte oder Tausende von Akteuren traten mit Zehntausenden von Zuschauern über Sprechchöre und Bewegungschöre in Interaktion. Sie wurden als „Massenspiele“, „Festspiele“ oder auch – mit quasi-religiösen Untertönen – als „Weihespiele“ bezeichnet, waren häufig mit der Freidenkerbewegung verbunden und thematisierten im Schnittfeld zwischen Massengymnastik, Agitpropgruppen und „proletarischer Feierkultur“ die Richtung der sozialistischen „Vorwärtsbewegung“ über den Sturz der kapitalistischen Verhältnisse hin zum Sieg allgemeiner Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Waldbühne – Aufführung von „Das Frankenburger Würfelspiel“ von Eberhard Wolfgang Möller am 29. Juli 1936 vor der NS-Kulturgemeinde. Quelle: https://www.akg-images.co.uk/Docs/AKG/Media/TR3_WATERMARKED/1/2/d/0/AKG61156.jpg

Anregungen kamen vom jugendbewegten Laienspiel, teils von den Massenspielen des sowjetischen Proletkults und vom expressionistischen Revolutionstheater. Thematisch inszenierten sie etwa den Spartakus-Aufstand im alten Rom, den deutschen Bauernkrieg und die Französische Revolution, später mehr symbolisch-abstrakte Kämpfe um Krieg und Frieden. Im Massenspiel „Flammende Zeit“, das 1929 in Magdeburg mit tausend Statisten auf einer Naturbühne vor Zehntausenden von Zuschauern stattfand, hieß es etwa

„Wer den wuchtigen Hammer schwingt 
Wer im Felde mäht die Ähren
Wer ins Mark der Erde dringt
Weib und Kinder zu ernähren (…)
Jedem Ehre – jedem Preis
Ehre jeder Hand voll Schwielen
Ehre jedem Tropfen Schweiß
Der in Hütten fiel und Mühlen (…)

Der französische Publizist Stefan Priarcel kennzeichnete in Les Nouvelles Littéraires die gewissermaßen „energetische“ Ausstrahlung solcher Spiele: „Glaube … Rhythmus … Disziplin … all dies löst einen Kraftstrom aus, dem gegenüber niemand unempfindlich bleiben kann“. Die Stimmung des Massenspiels war eine Energie oder Ausstrahlung, die allein über räumliche und zeitliche Kategorien nicht erfasst werden kann, meint der dänische Soziologe Henning Eichberg, weswegen sie analytisch schwerer greifbar sei und unterschiedlich erlebt und interpretiert werden könne. „Oft wurde sie als rauschhaft und als Begeisterung beschrieben. Die Atmosphäre des Festspiels kam im Gemeinschaftsgesang zum Ausdruck, in Musik, Sprechchor und Sprechbewegungschor. Durch das Massenspiel geschah Gefühlsbildung. Diese Gefühle waren typisch von ‚religiöser‘ Ernsthaftigkeit. Das Massenspiel war kein Ort des Lachens.“

Unter dem Begriff „Thingspiel“ fasste Niessen nun alle Initiativen zusammen, die Festspiele in Stadien und den neu eingerichteten Freilichtbühnen arrangierten, um die „nationale Revolution“ zu feiern. Federführend war innerhalb der nazistischen Kulturpolitik die eher dem Expressionismus zuneigende Gruppe um Joseph Goebbels, während die mehr völkische Gruppe um Alfred Rosenberg sich kritisch bis abweisend verhielt. Sie bemühte sich um die Etablierung konkurrierender, mehr archaisierender „Thingstätten“. Ein dritter Akteur in dieser Konkurrenz wurde die Organisation „Kraft durch Freude“ unter dem DAF-Führer Robert Ley, die sogenannte „Werkspiele“ veranstaltete und für jedwedes Ereignis Zuschauer und Beteiligte in Bataillonsstärke garantieren konnte.

Thingstätte Heidelberg. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Thingst%C3%A4tte_(Heidelberg)#/media/Datei:Thingst%C3%A4tte_Draufsicht.jpg

Neben und zwischen diesen Fraktionen gab es ferner die Laienspiele und „Spielscharen“, die sich um HJ, SA und im „Reichsbund Volkstum und Heimat“ unter dem Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß sammelten; dieser Reichsbund wurde später als „Amt Volkstum und Heimat“ der KdF untergeordnet. Die Dimension der Spiele lag zum Teil bei 3000 Akteuren und 60.000 Zuschauern. Sogar einige Verfasser sozialistischer Festspiele begaben sich auf dieses neue Feld und steuerten Texte mit Untertönen sozialer Erweckung bei. Als Thema kristallisierte sich nun die jüngere deutsche Geschichte heraus, besonders die „Schmachgeschichte“ seit 1918.

chorische Massentheaterstücke

Gezeigt wurde, wie „das Volk“ (vorgestellt wie der Chor im altgriechischen Theater) politisch „handelte“. Nur wenige Spieler hatten Einzelrollen, darunter die Chorführer – man kann, im Gegensatz zu dem von den Nationalsozialisten verfemten linksliberalen Elitentheater, von chorisch-patriotischen Massentheaterstücken sprechen: Mythos, Heroismus und ein völkisches Gemeinschaftserlebnis unter freiem Himmel. „Thingspiele waren eine Mischung aus Tanz, Gesang, Dichtung und Laienspiel, stilistisch zwischen expressionistischer Bühnenkunst, mittelalterlichem Mysterienspiel und Nürnberger Parteitag“, erkannte Solveig Grothe im Spiegel. Selbst die Anreise war durchdacht, Straßen und neue Bahnhöfe wurden entsprechend geplant, weiß sie: „Der gemeinsame Weg hinauf zur Thingstätte als Teil der Inszenierung sollte das Gefühl der gemeinsamen Herkunft und Zusammengehörigkeit vermitteln.“

Bei der örtlichen Bevölkerung und auch innerhalb der NSADP konnte sich der beabsichtigte Thing-Kult jedoch nicht durchsetzen. Zum einen stockten viele Bauvorhaben, zum anderen kamen die gezeigten Stücke nicht an. Hinzu kam, dass mit der Niederschlagung des Röhm-Putschs die politische Entwicklung der NSDAP und damit des Reichs in eine neue Phase eingetreten war: Die sozialistische Komponente wurde schwächer, die nationalistische nahm zu.

Standorte der ersten 66 vom Reichspropagandaministerium geplanten Thingplätze. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/cea876b4-05ee-44ab-a079-92839a0d704b_w1528_r1.5227272727272727_fpx29.56_fpy49.jpg

Propagandaminister Goebbels sah in Film und Radio wesentlich bessere Möglichkeiten der Massenbeeinflussung als in den ideologisch plakativ überladenen Thingspielen und setzte von nun an wieder auf die herkömmlichen Muster der faschistischen Parade und der Reichsparteitage einerseits – und auf den „unpolitischen“ Unterhaltungsfilm andererseits: „Diese Formen erforderten nicht mehr Spontaneität und Mitwirkung von unten, sondern entweder quasimilitärische Organisation von oben oder Konsumverhalten“, meint Eichberg.

Goebbels erkannte auch, dass Veranstaltungen der „Bewegung“ eher schadeten, wenn sie als Kult durchschaut wurden. Die in Heidelberg als Thingstätte geplante Anlage wurde nach Fertigstellung nur noch als Feierstätte bezeichnet, was auf ein Verbot des Begriffes Thing durch Goebbels 1935 zurückzuführen ist. Von da an hießen sie auch Weihestätte oder Freilichtbühne. Ohne die Förderung durch die Partei führten Thingspiele von da an nur noch ein Schattendasein bei der Hitlerjugend und in eher sektiererischen Splittergruppen innerhalb der NSDAP wie den Artamanen. Das bekannteste und meistgespielte Thingspiel war das Frankenburger Würfelspiel von Eberhard Wolfgang Möller, es wurde auch bei den Olympischen Sommerspielen 1936 in Berlin aufgeführt.

Seit 1933 Truppführer der SA, wurde Niessen mit der Abspaltung des Fachs in eine selbständige, von der Literaturwissenschaft unabhängige Disziplin 1938 zum nichtbeamteten, außerordentlichen Professor für Theaterwissenschaft an der Universität zu Köln berufen – als erster in Deutschland. Er trat nachdrücklich für eine praxisorientierte wissenschaftliche Ausbildung ein und zählt hierzulande neben Max Herrmann und Artur Kutscher zu den Begründern der Disziplin. Warum er seine volkstheatralischen Ideen nicht weiterverfolgte, ist bis dato offen.

Die Freilichtbühne „Stedingsehre“ in Bookholzberg, heute Gemeinde Ganderkesee im Oldenburger Land, wurde am 27. Mai 1934 eröffnet. Den Namen erhielt die bis zu 20.000 Menschen fassende Thingstätte in Anlehnung an das Theaterstück „De Stedinge“, zu dessen Aufführung sie eigens gebaut worden war. Der Oldenburger Autor August Hinrichs hatte das „Volksschauspiel“ zum 700. Jahrestag der Schlacht von Altenesch verfasst. Quelle: https://www.spiegel.de/geschichte/nazi-freilichttheater-und-thingbewegung-das-thing-ging-schief-a-34e879ae-ad60-4a1d-97cd-2002d50a79ed#fotostrecke-9c30bb5d-c353-4529-b6b0-5ff51bdf360c

Wenngleich nicht Mitglied der NSDAP und deshalb gelegentlich der „politischen Unzuverlässigkeit“ geziehen, war er von der Reichstheaterkammer als „Dekan auf Lebenszeit“ einer Theaterakademie vorgesehen, die allerdings nie verwirklicht wurde. Er war neben seiner Tätigkeit als Institutsleiter Autor zahlreicher theaterwissenschaftlicher Fachbücher, darunter Die Schaubühne (1928) und An der Wiege des Hänneschen (1937) und schrieb für die Zeitschrift Musik im Kriege. Deutlich nationalistische Töne klingen in Publikationen wie Der Film, eine unabhängige deutsche Erfindung (1934) oder Theater im Kriege (1940) an.

Von der Euphorie zum Vergessen

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte er seine wissenschaftliche Tätigkeit nahtlos fort. Im Laufe der Zeit verbreiterte er die methodische Basis seiner Forschung durch die Integration von vergleichender Völkerkunde, Religions- und Kulturwissenschaft mit dem Ziel, eine allgemeine „Theorie des Mimus“ zu erstellen, wie er sie in seinem unvollendeten Hauptwerk, dem Handbuch der Theaterwissenschaft (3 Bde., 1949 – 1958) zu skizzieren versuchte.

Bis zu seiner Emeritierung 1959 veranstaltete er auch weitere Theaterausstellungen. 1955 erwarb die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen die „Sammlung Niessen“, die heute einen Bestandteil des Theatermuseums der Universität in Porz-Wahn bildet. Den Erlös verwandte Niessen für eine Studienstiftung, die die Publikation wissenschaftlicher Arbeiten zu Theater, Film, Funk und Fernsehen unterstützt. Erst 1962 feierte er mit einer 24 Jahre jüngeren Schauspielerin Hochzeit und starb am 6. März 1969 in Troisdorf.

Das Ensemble des alten Kölner Hänneschen-Theaters im Jahr 1925: Niessen vorne links. Quelle: https://www.ksta.de/image/22845934/2×1/940/470/d9cb78c145645c6f8e8dd11dde2e8175/qN/71-88275591–das-ensemble-d–24-08-2015-14-06-18-500-.jpg

Niessen ist, ebenso wie die meisten Thingspiele und Thingstätten, heute vergessen, die Gründe sind trotz der einst regelrechten Thingeuphorie unklar. Akten, die Aufschluss darüber geben könnten, existieren nicht mehr. Im erwähnten Geheimerlass Goebbels‘ vom 23. Oktober 1935 wurde der Begriff „Thing“ mit einem Tabu belegt. Die Presse erhielt Anweisung, das Wort notfalls auch aus den Reden angesehener Persönlichkeiten zu tilgen. 1936 wurde den Thingspielen dann die „Reichswichtigkeit“ aberkannt. Öffentlich thematisiert wurde diese Kehrtwende in der Kulturpolitik aber nie.

Auch in der Sowjetunion trat an die Stelle der frühen Massenspiele inzwischen die stalinistische Parade. Die späteren sowjetischen Rituale zum 1. Mai, zu Weltjugendfestspielen und Spartakiaden hatten als von oben her inszenierte Massengeometrie und Aufmärsche einen anderen Charakter als die Erweckungsspiele des frühen Proletkults. In der Frühzeit der DDR gab es zunächst einzelne Versuche, das Fest- und Massenspiel wiederzubeleben, aber sie bestätigten eher, dass dessen Zeit abgelaufen war. 1959 wurde die dramatische Ballade Klaus Störtebeker von Kurt Barthel im Rahmen der Rügenfestspiele in Ralswiek aufgeführt, laut Eichberg der „bisher gelungenste Versuch einer Massenspielinszenierung“. Es gibt sie bis heute.

Die germanistischen Darstellungen zu diesem Kapitel der deutschen Literaturgeschichte seien „ziemlich knapp“, befand der Bochumer Emeritus Uwe-K. Ketelsen schon 2004 in der Kritischen Ausgabe: „Solche Selbstbeschränkung dürfte vor allem der Ratlosigkeit gegenüber diesen Texten und den zu ihnen gehörenden theatralen Praktiken entspringen. So bleibt es meist bei konsensfähigen Geschmacksurteilen und politisch korrekten, manipulationstheoretisch fundierten Einschätzungen.“ Er verwies darauf, dass sich die einschlägigen Texte als belletristische Aufarbeitungen von Hitler-, Goebbels-, Rosenberg-, etc.-Zitaten lesen und damit in den Horizont des III .Reichs einschränken ließen.

Störtebecker-Festspiele in Ralswiek. https://www.auf-nach-mv.de/images/njyvtjsvdim-/naturbuehne-ralswiek-in-action.jpeg

„Aber ließe sich die Blickrichtung nicht auch umkehren und konstatieren, dass Hitler, Goebbels, Rosenberg etc. mit den Verfassern dieser Texte an einem gemeinsamen Pool von Vorstellungen, Bildern und Argumenten partizipieren, der aus älteren historischen Beständen stammt?“, fragt er ketzerisch. Eine solche Umkehrung verletze ein Tabu, „indem sie den Panzer sprengt, der beruhigend um das III. Reich gelegt worden ist; sie macht es zu einem integralen Bestandteil unserer Geschichte“.

Zuletzt versuchte die Bielefelder Kunstprofessorin Katharina Bosse aus eher linker Perspektive, diesen Panzer interdisziplinär zu sprengen, und veröffentlichte neben dem Bildband „Thingstätten“ (Bielefeld:Kerber 2020) auch eine zugehörige Internetseite www.thingstaetten.info, die ein umfangreiches Archiv werden, Regionalforschungen vernetzen und Dokumentationen zusammenführen soll. Interessierte können das Portal mit Material und Erkenntnissen ergänzen.

Sobald Hitler einen Narren an einem Film, Schauspieler oder Regisseur gefressen hatte, war der erste Antisemit im Staate ideologisch erstaunlich flexibel: Obwohl Halbjude, trug er dem Meisterregisseur 1933 via Goebbels die Leitung des deutschen Filmwesens an, ließ sich von „Metropolis“ zu Begeisterungsstürmen hinreißen und soll nach Angaben seines Leibfotografs Heinrich Hoffmann den „Siegfried“-Film mindestens 20-mal gesehen haben. Das laut Branchenportal Filmdienst „monumentale Rührstück von unerfüllter Liebe und grenzenloser Rache, von schwülstiger Poesie und destruktiver Megalomanie, von selbstverleugnender Aufopferung und schließlich der berühmten Nibelungentreue, die aus Kriemhild ein gewissenloses Monster macht, das die Burgunder und die Hunnen mit sich in den Abgrund reißt“, sei exakt nach seinem Geschmack gewesen. Der Macher dieses „Rührstücks“, Friedrich Christian Anton „Fritz“ Lang, wurde am 5. Dezember 1890 in Wien geboren.

Der Sohn des Architekten und Stadtbaumeisters Anton Lang und dessen jüdischer Frau Pauline begann nach dem Abschluss der Realschule 1907 auf Wunsch seines Vaters ein Architekturstudium an der Technischen Hochschule in Wien, wechselte jedoch ein Jahr später an die Wiener Akademie der bildenden Künste, um dort Malerei zu studieren. Außerdem war er an der Staatlichen Gewerbeschule in München eingeschrieben und trat während des Studiums nebenbei als Kabarettist auf. Von 1910 an unternahm er wie ein unsteter Bohème Reisen in die Mittelmeerländer und nach Afrika, ging 1911 erneut nach München, um diesmal an der Kunstgewerbeschule zu studieren, und begann wieder zu reisen. 1913/14 setzte er seine Ausbildung in Paris beim Maler Maurice Denis fort und entdeckte dort für sich den Film.

Fritz Lang. Collage von Agata Marszałek. Quelle: https://d2ycltig8jwwee.cloudfront.net/features/222/fullwidth.3b62e943.jpg

Er meldete sich 1914 als Kriegsfreiwilliger und wohnte 1915 während der Einjährig-Freiwilligen-Schule in der Steiermark im Hause des intellektuellen Anwalts Karl Grossmann, der selbst künstlerisch arbeitete. Angeregt durch örtliche, traditionelle Töpfereien, stellte er zwei (Selbstporträt?-)Büsten und zwei Gartenvasen aus Terrakotta her, die von Grossmanns Familie bewahrt werden – wahrscheinlich Langs einzige erhaltene Werke der bildenden Kunst. Nach zwei Verwundungen für kriegsuntauglich erklärt, war der Artillerie-Offizier im Rahmen der Truppenbetreuung bei einer Theatergruppe des „feldgrauen Spiels“ zum ersten Mal als Regisseur tätig und knüpfte Kontakte zu Filmleuten wie Joe May (Julius Otto Mandl), für den er ab 1917 als Drehbuchschreiber zu arbeiten begann, so für „Die Hochzeit in Exzentricclub“ und „Hilde Warren und der Tod“. Dabei lernte er die Autorin Thea von Harbou kennen und bald auch lieben, mit der er später gemeinsam die Drehbücher für Mays „Die Herrin der Welt“ und „Das indische Grabmal“ schreiben wird.

„Dem deutschen Volke zu eigen“

1919 realisierte er für die Decla seine ersten eigenen Streifen, darunter die fernöstlichen Romanze „Harakiri“ mit der jungen Lil Dagover und „Halbblut“, für die er auch das Drehbuch schrieb. Er lebt inzwischen in Berlin und heiratet die Schauspielerin Elisabeth Rosenthal. Schon im folgenden Jahr, am 25. September 1920 fand sie den Tod durch einen Schuss aus Langs Browning-Pistole. Es wird heute davon ausgegangen, dass sie sich spontan das Leben nahm, nachdem sie Zeugin der Affäre ihres Mannes mit Thea von Harbou geworden war. Die genauen Umstände bleiben jedoch zeitlebens im Dunkeln, als Todesursache wurde „Unglücksfall“ statt „Selbsttötung“ angegeben. Lang hielt diese erste Ehe sein weiteres Leben lang geheim, doch hat deren Ende mutmaßlich seine künftigen Filmthemen von Schuld, Verstrickung, Tod und Suizid stark beeinflusst.

Die fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Lang und von Harbou – beide heirateten im August 1922 und galten als Glamourpaar –, nahm mit dem Melodram „Das wandernde Bild“ (1920) ihren Anfang und sollte bis 1933 währen. Sie brachte eine ganze Reihe von Filmen hervor, die heute als Klassiker des deutschen Stummfilms gelten. In „Der müde Tod“ (1921) wird eine dreifach variierte Geschichte über Liebe und Tod erzählt. Der Zweiteiler „Dr. Mabuse, der Spieler“ (1922) nach einem Kolportage-Roman führte die Hauptfigur als vom „Caligarismus“ geprägtes Verbrechergenie vor, das seine Opfer durch Hypnose beherrscht und am Ende dem Wahnsinn verfällt.

Lang und Harbou. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Fritz_Lang_und_Thea_von_Harbou,_1923_od._1924.jpg

Bei den Dreharbeiten verlor er sein linkes Auge und kaschierte das durch ein Monokel. Die Streifen bescherten ihm schließlich auch auf internationaler Ebene den künstlerischen und kommerziellen Durchbruch. Zwei Jahre später feierte er mit dem Nibelungen-Epos einen weiteren großen Publikumserfolg. Die Widmung „Dem deutschen Volke zu eigen“ sollte einige nationalistische Spekulationen auslösen. Das Ornamentale, etwa in Bildaufbau und Massenregie – Siegfried Kracauer sah die „Massenornamente“ der Nürnberger Reichsparteitage vorgebildet – wurde in diesem Film für Lang zum Kompositionsprinzip.

Ein Prinzip, das er in seinem nächsten Film, dem monumentalen „Metropolis“ (1926), noch perfektionieren sollte. Die visuell eindrucksvolle, ideologisch jedoch oft als fragwürdig kritisierte Technikutopie, die er im Anschluss an eine Kreativpause drehte, die ihn zwischen Oktober und Dezember 1924 nach New York, wo ihn die Wolkenkratzer gewiss inspirierten, und Hollywood geführt hatte, sprengte vom Aufwand her jedes Maß, fiel aber bei Kritikern durch und hatte auch beim Publikum keinen Erfolg. Im  August 1927 lief eine auf knapp zwei Stunden verkürzte Version in Deutschland neu an; etwa ein Viertel des Originals wurde vernichtet. Seit 1961 wurden mehrfach Versuche unternommen, die Originalfassung wiederherzustellen. In der Rekonstruktion von 2001 wurde der Film als erster überhaupt ins Weltdokumentenerbe der UNESCO aufgenommen. Die restaurierte Fassung der Murnau-Stiftung, die mit einer 2008 in Buenos Aires gefundenen Kopie hergestellt wurde, feierte 2010 Premiere bei der Berlinale.

Maschinenmensch aus „Metropolis“. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/94da4ddd-0001-0004-0000-000001091924_w1528_r1.42781875658588_fpx46.92_fpy54.98.jpg

Sie führte aber zum Bruch zwischen der Direktion der finanziell angeschlagenen Ufa und Lang, der sich mit der Fritz Lang-Film GmbH selbständig machte ließ seine Filme von der Ufa künftig nur noch verleihen ließ. Nach einer Rückkehr ins Milieu der Superverbrecher mit „Spione“ (1927) nahm er die Technikaffinität seiner Zeit zum Anlass, um mit „Frau im Mond“ (1929) einen filmischen Flug zum Mond zu inszenieren. Kolportiert wird, dass der eine wahre Raketenbegeisterung in Deutschland auslöste, zu der auch Langs technische Berater, die Raketenpioniere Hermann Oberth und Willy Ley, beitrugen. „Frau im Mond“ markierte zugleich das Ende von Langs Stummfilmzeit und seine Hinwendung zum Tonfilm.

Zwischen Tonfilm und Exil

„M“ (1931), Langs erster Tonfilm, nutzte geschickt die Möglichkeiten der neuen Technik: Geräusche und ein von Lang persönlich gepfiffenes Grieg-Motiv („In der Halle des Bergkönigs“) untermalen die Geschichte eines psychopathischen Kindermörders (Peter Lorre), der eine Stadt in Angst und Schrecken versetzt, woraufhin sich die Unterwelt seiner annimmt. Der Film, der damalige Zuschauer an die reale Hysterie um den Massenmörder Peter Kürten erinnerte, wurde von der linksliberalen Presse als Plädoyer für die Todesstrafe missverstanden, während Lang in Wirklichkeit die verminderte Schuldfähigkeit eines Zwanghaften hervorzuheben versuchte.

Mit dem Kriminalfilm „Das Testament des Dr. Mabuse“ (1933) kehrte er zu seiner Figur des manipulierenden Machtmenschen zurück und schuf eine kunstvolle Parabel auf Machtmissbrauch und Herrschaftswahn: Die Titelfigur schreibt, während sie in einer Zelle in der Psychiatrie einsitzt, ein Handbuch für Verbrecher. Kracauer sah darin eine deutliche Anspielung auf Hitlers „Mein Kampf“, was Lang später bestritt. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten verhinderte die Uraufführung: Der Film wurde am 29. März 1933 von der Filmprüfstelle verboten. Beide Streifen gelten nicht zuletzt wegen ihrer kunstvollen Montage als handwerkliche Höhepunkte in Langs filmischem Schaffen.

Mabuse-Szenenbild. Quelle: http://www.filmstarts.de/kritiken/2890/bilder/?cmediafile=18447452

Lang, der den Nazis lange Zeit indifferent gegenüberstand und noch am 27. März 1933 zusammen mit Carl Boese, Victor Janson und Luis Trenker die Regie-Gruppe der Nationalsozialistischen Betriebsorganisation (NSBO) gegründet hatte, entschied sich nach einem Treffen mit Goebbels Anfang April dafür, Deutschland zu verlassen, und ging über Österreich und Belgien nach Paris ins Exil. Parallel dazu war am 20. April 1933 seine Ehe mit Thea von Harbou geschieden worden – das Paar lebte da allerdings nach einer Affäre Langs mit der Schauspielerin Gerda Maurus schon eine Weile nicht mehr zusammen. Nach der sowohl in einer französisch- als auch deutschsprachigen Version gedrehten Sozialschmonzette „Liliom“  kam Lang in London mit dem US-Filmproduzenten David O. Selznik zusammen und unterzeichnete einen Vertrag über einen Film für MGM. Er reiste in die USA, wobei ihn seine neue Lebensgefährtin Lily Latté an Bord der Île de France begleitete, wurde 1939 US-amerikanischer Staatsbürger und sollte erst 22 Jahre später wieder einen Fuß auf deutschen Boden setzen.

In der Zwischenzeit drehte er nach anfänglichen Startschwierigkeiten in Hollywood zahlreiche Filme. Sein Debüt war „Fury“ (1936), eine Variante von „M“ mit Spencer Tracy in der Hauptrolle. Es folgten unter anderem „You and Me“ (1938), zu dem Kurt Weill einige Songs verfasste, die Farbwestern „The Return of Frank James“ (1940) mit Henry Fonda und „Western Union“ (1940) mit Robert Young und Randolph Scott sowie die reißerische Agentengeschichte „Man Hunt“ (1941), in der auch die gegenwärtige Lage in Nazi-Deutschland thematisiert wurde.

Während der Arbeiten an „Hangmen Also Die“ über den Anschlag auf Heydrich zerstritt sich Lang 1942 mit Co-Drehbuchautor Bertolt Brecht. Doch die Bekanntschaft mit diesem und Hanns Eisler sowie der auf einem Graham-Greene-Roman basierende Anti-Nazi-Film „The Ministry of Fear“ (1944) brachte ihn später ins Visier des Komitees gegen unamerikanische Aktivitäten. Für seine mit Partnern gegründete Firma „Diana Productions“ dreht er dann  düstere Thriller wie „Secret Beyond the Door“ (1947) sowie films noirs wie „The Big Heat“ (1953), die heute als späte Höhepunkte der „klassischen Ära“ gelten. Dazwischen inszenierte er den Western „Rancho Notorious“ (1952) mit Marlene Dietrich.

„definitiv die Idee aufgegeben“

1956 kehrte Lang nach Deutschland zurück, dem er vier Jahre später enttäuscht und entnervt endgültig den Rücken kehrte. Zunächst musste er erleben, wie einige seiner Projekte, etwa über die Ereignisse des 20. Juli oder den Seeräuber Störtebeker, nicht zur Herstellungsreife gelangten: „Die Leute, mit denen man da arbeiten muss, sind wirklich unerträglich. Nicht nur, dass sie keine Versprechen halten, schriftlich oder nicht, es ist auch noch so, dass die Filmindustrie, wenn es überhaupt noch möglich ist, den kümmerlichen Rest dessen, was das Land einmal in seiner Filmproduktion weltberühmt gemacht hat, so zu nennen, heute geleitet wird von ehemaligen Rechtsanwälten, SS-Männern oder Exporteuren von Gott weiß was. Ihre Hauptarbeit besteht darin, Koproduktionen unter solchen Bedingungen zustande zu bringen, dass ihre Kassenbücher bereits Überschüsse aufweisen, bevor man den Film überhaupt angefangen hat.“

„Indian-Edition“. Quelle: https://blob.cede.ch/catalog/16221000/16221820_1_92.jpg?v=1

Für den Produzenten Artur Brauner dreht er dann doch zwei Filme, seine letzten. Dem Zweiteiler „Der Tiger von Eschnapur / Das indische Grabmal“ (1959), der auf einem stark abgewandelten Lang-Drehbuch von 1921 basierte, folgte mit „Die 1000 Augen des Dr. Mabuse“ (1960) ein weiterer Mabuse-Film. Darin zeichnete Lang ein Sittenbild der frühen Bundesrepublik: Große, scheinbar tote, vergessene Verbrecher, die im Hintergrund weiter wirken; ein Hotel als Beobachtungsapparat und Metapher für Totalitarismus; willige Handlanger und Vollstrecker; ein scheinbarer Frieden, der nur mühsam schwelende Konflikte verdeckt; eine Atmosphäre der Künstlichkeit und großspurig gespielten Lockerheit. Alle drei erwiesen sich vor allem als kommerzielle, jedoch nicht als künstlerische Erfolge. „Ich habe diese Filme nicht gemacht, weil ich sie für wichtig hielt, sondern weil ich hoffte, dass ich, wenn ich jemandem einen großen finanziellen Erfolg machen würde, wieder die Chance haben würde, so wie bei ‚M‘, ohne irgendwelche Einschränkungen zu arbeiten. Ein Fehler. Nach 14monatiger Arbeit dort habe ich schließlich definitiv die Idee aufgegeben, noch einmal einen Film in Deutschland zu machen.“

Seine Gesundheit verschlechtert sich, zuletzt ist er fast blind. 1963 trat er in Jean-Luc Godards „Le Mépris“ als alternder Filmregisseur, der sich wegen einer Verfilmung von Homers „Odyssee“ mit seinem Produzenten überwirft, noch einmal selbst vor die Kamera. Daneben reiste er, gab Interviews und besuchte Filmfestivals. 1971 heiratete er in Amerika seine langjährige Lebensgefährtin Lily Latté, starb am 2. August 1976 in Beverly Hills und wurde auf dem Forest-Lawn-Friedhof in Hollywood beigesetzt. Im September 2010 gehörte Lang zu den ersten vierzig Großen des deutschen Bewegtbilds, die in Berlin mit einem Stern auf dem unweit des Potsdamer Platzes neu installierten „Boulevard der Stars“ geehrt wurden, einem wachsenden Denkmal nach dem Vorbild des „Walk of Fame“ in Los Angeles.

Langs Stern auf dem Berliner Boulevard der Stars. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Lang#/media/Datei:Fritz_Lang_-_Boulevard_der_Stars.jpg

Er hat in 40 Jahren 40 Filme gedreht, von denen viele als Meilensteine der Filmgeschichte gelten, ja die zu „Sensationsfilmen“ wurden, wenn sie den Aufstand des Individuums gegen die Macht der Organisationen, den Terror des Staats, die blinde Wut der Masse darstellten. In den 20er Jahren war Regie führen „Erfinden, Ausprobieren, Zaubern; der Regisseur ein Ingenieur des Sehens, Maler, Erzähler und Architekt zugleich“, meinte Michael Althen in der Zeit. Dem selbstverständlichen Bilderfluss, oberstes Gebot in Hollywood, setzte Lang die statische Kamera und den spürbaren Schnitt entgegen: Geometrisch konturierte Szenen, in denen die Helden nur „Sklaven des Bildrahmens“ sind, wie Claude Chabrol einst kritisierte. „Träume von der Welt, die sich durch minimale Erweiterung des Blicks zu Alpträumen wandeln: Darin liegt Langs eigentliche Kunst“, befindet Althen und trifft damit ins Schwarze.

„Die neuzeitliche Gepflogenheit, dass wir Deutsche immer einen größten Dichter haben müssen – gewissermaßen einen Langen Kerl der Literatur – ist eine üble Gedankenlosigkeit, die nicht wenig Schuld daran trägt, dass seine Bedeutung nicht erkannt worden ist. Weiß Gott, woher sie stammt! Sie kann ebenso gut vom Goethekult kommen wie vom Exerzieren“, schimpft durchaus unfein Robert Musil am 16. Januar 1927 im Renaissance-Theater Berlin, wo die „Gruppe der 25“, übrigens gegen den erklärten Willen Bertolt Brechts, eine Gedenkfeier ihm zu Ehren veranstaltete: Rainer Maria Rilke. Als René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke wurde er am 4. Dezember 1875 in Prag geboren.

Vater Josef gelang die angestrebte militärische Karriere nicht, er war Eisenbahninspektor geworden. Seine Mutter „Phia“ (Sophie), die einer wohlhabenden Prager Fabrikantenfamilie entstammte und ihre Hoffnungen auf ein vornehmes Leben in der Ehe nicht erfüllt sah, galt als ambitionierte und dominierende Frau, deren Ehrgeiz auf den Wohlstand der Familie gerichtet war – den sie nun nicht erreichen konnte, was zu einer angespannten Familiensituation führte. Zudem hatte sie bei seiner Geburt den Tod ihrer älteren Tochter noch nicht verkraftet, die 1874 im Alter von einer Woche gestorben war. Rilkes Mutter übertrug nicht nur ihre unerfüllten Ambitionen auf den einzigen Sohn, sondern drängte ihn auch in die Rolle der verstorbenen Schwester. Bis zu seinem sechsten Lebensjahr wurde er als Mädchen erzogen, frühe Fotografien zeigen René – französisch für „der Wiedergeborene“ – mit langem Haar im Kleidchen. Er wuchs ohne nennenswerte Kontakte zu Gleichaltrigen auf.

Das Verhältnis zwischen dem Überbehüteten und der Mutter, die ihren Sohn noch um fünf Jahre überleben sollte, überschattete sein Leben. Mit sechs Jahren besuchte Rilke eine katholische Volksschule im vornehmsten Viertel von Prag und brachte trotz kränklicher Konstitution gute Leistungen. 1884 zerbrach die Ehe der Eltern, die fortan ohne Scheidung getrennt lebten. Eine kurze Zeit wurde René von seiner Mutter allein erzogen, bevor seine Eltern ihn in die Kadettenanstalt St. Pölten zur Vorbereitung auf eine Offizierslaufbahn gaben. Die Zumutungen militärischen Drills und die Erfahrungen einer reinen Männergesellschaft traumatisierten den zarten Knaben zusätzlich, nach sechs Jahren brach er die Ausbildung, die er dichtend und zeichnend zu bewältigen versuchte, krankheitshalber ab.

Rilke. Quelle: https://img.br.de/8e31ebce-c060-4147-bf9a-8790d53dfe30.jpeg?width=525&q=85

1891 besuchte er die Handelsakademie von Linz, wo allerdings eine Affäre mit einem Kindermädchen, das mehrere Jahre älter war, einen weiteren Akademiebesuch verhinderte. Der militärischen als auch der kaufmännischen Karriere gleichermaßen beraubt, bereitete er sich mittels Privatunterricht auf das Abitur vor und bestand es 1895. Kurz darauf schrieb er sich in Prag zum Studium für Kunstgeschichte, Literatur und Philosophie ein, wechselte 1896 an die juristische Fakultät in Prag und bereits im September desselben Jahres an die Universität von München. Nach halbherzigen Studienambitionen entschloss er sich, nachdem bereits 1894 sein erster Gedichtband „Leben und Lieder“ erschienen war, kurzerhand dazu, sein Studium abzubrechen und fortan als freier Dichter zu arbeiten.

„sachliches Sagen“

Mit dieser Entscheidung begann für ihn ein unkonventionelles, unstetes Reiseleben: Nirgends hielt es ihn länger, ständig zog es ihn weiter. Er wohnte in dubiosen Mietswohnungen ebenso wie bei Freunden und Gönnern auf Schlössern. Sein lyrisches Frühwerk („Larenopfer“, 1895; „Advent“, 1898) wird der Neuromantik zugerechnet und ist durch Formtreue und subjektive Einfühlsamkeit gekennzeichnet. Ornamentale und sentimentale Züge sowie das dialoghafte Ansprechen eines geliebten Gegenübers finden sich dort ebenso wie das Einssein des Dichters mit der Natur. Im März 1897 führten ihn seine Wege erstmals nach Venedig und zwei Monate darauf, wie der zurück in München, zu Lou Andreas-Salomé. Die um einiges ältere Schriftstellerin und spätere Psychoanalytikerin wurde nicht nur für drei Jahre zu seiner erotischen Freundin, sondern auch zeitlebens zur emanzipierten und geistigen Lebenspartnerin.

Kurze Zeit nach der Begegnung änderte er seinen ursprünglichen Namen René in Rainer: Lou empfand den Namen als männlicher und passender für einen Dichter. Sigmund Freud berichtet 1937, „dass sie dem großen, im Leben ziemlich hilflosen Dichter Rainer Maria Rilke zugleich Muse und sorgsame Mutter gewesen war“. Im Herbst 1897 zog Rilke um nach Berlin in direkte Nachbarschaft von Lou. 1899 und 1900 war er mit ihr zweimal in Russland unterwegs, betrieb Studien für eine geplante, aber nie geschriebene Monografie über russische Maler, traf Tolstoi und Pasternak, der daraus die autobiografische Geschichte „Der Schutzbrief“ machte. Als Rilke von Lous Trennungsabsichten erfuhr, hielt er sich gerade in der Künstlerkolonie Worpswede bei Heinrich Vogeler auf, der ihn zu einem längeren Aufenthalt eingeladen hatte. Im Haus von Vogeler verkehrte unter anderen auch die Bildhauerin Clara Westhoff, die im Frühjahr 1901 Rilkes Frau wurde.

Rilke mit Clara. Quelle: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:Rainer_Maria_Rilke_und_Clara_Rilke-Westhoff_1901.jpg

Im Dezember desselben Jahres kam seine Tochter Ruth zur Welt. Doch Rilke entzog sich allen seiner zahlreichen Liebesbeziehungen, bevor sie zu seinem Schicksal werden konnten. Sobald Zuneigung und Liebe für ihn zur Verpflichtung zu werden drohten, verließ er seine Beziehungen. Trotzdem versuchte er bei Westhoff zu einem familiären Leben zu gelangen – vergebens. Schon 1902 trennte er sich von ihr – Mittellosigkeit zwingt ihn zur Auflösung des Hausstandes und zur Übernahme monographischer Auftragsarbeiten – und ging nach Paris, blieb jedoch über alle weiteren Lebensjahre mit ihr verbunden.

Der „Panther“, das erste der „Neuen Gedichte“, entsteht; und seine Monografie über den Bildhauer Auguste Rodin. Dessen Bekanntschaft sowie weitere Reisen nach Paris, Rom und Skandinavien verändern Rilkes poetische Produktionsweise zugunsten eines „sachlichen Sagens“, man spricht später von „Dinglyrik“. 1905 erscheint das „Stunden-Buch“; Rilke nimmt sein Philosophiestudium in Berlin bei Georg Simmel wieder auf. Im Jahr darauf ist er für kurze Zeit Privatsekretär bei Rodin, mit dem er sich überwirft, und veröffentlicht die zur Zeit der Jahrhundertwende entstandene und durch den Jugendstil beeinflusste „Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“. In einer Nacht herunter geschrieben, wurde sie später Nummer 1 der Insel-Bücherei und sofort – wie auch viele andere Werke dieser Reihe – zum Bestseller: Allein zu Lebzeiten Rilkes wurden 200.000 Stück verkauft. Für den Leipziger Insel Verlag, dessen Leitung Anton Kippenberg 1905 übernommen hatte, wurde Rilke zum wichtigsten zeitgenössischen Autor: Kippenberg erwarb für den Verlag bis 1913 die Rechte an allen bis dahin verfassten Werken Rilkes.

Die lyrisch-impressionistische Prosa vermittelt Gefühle von Jugend und Lebenshunger, Liebe und Tod. Besonderer Popularität erfreute sich das romantisierte Soldatentum  aus dem 17. Jahrhundert in der Zeit der beiden Weltkriege. Das letztlich zeitlos-universelle Schicksal des jungen Soldaten schwankt zwischen Glorifizierung des Heldentodes und der Sinnlosigkeit (jungen) Sterbens, Gefühlen von überzogener Ehre, Verlust und Traurigkeit. Dem Langemarck-Mythos zufolge hatten die „jungen“ Regimenter das Deutschlandlied auf den Lippen und „Rilkes Cornet im Tornister“. 1908 schreibt er zur Erinnerung an die verstorbene Paula Modersohn-Becker das „Requiem für eine Freundin“, vollendet „Der neuen Gedichte anderer Teil“ (1908) sowie die beiden „Requiem“-Gedichte (1909) und veröffentlicht 1910 seinen Tagebuchroman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“, an dem er seit 1904 gearbeitet hat.

„die Welt synthetisch generieren“

Dieser gehört fraglos zum Kanon der klassischen Moderne, befindet Rilkes Biograph Ralph M. Köhnen. Ausgehend von tagebuchähnlichen Aufzeichnungen mit Großstadtimpressionen, entwickle er in avantgardistischer Weise den Versuch, „durch Vielfalt des Erzählens, Polyperspektive, Montagetechnik und Aufbau synthetischer Raum- und Zeitbegriffe der Erfahrung des heterogenen modernen Lebens und des akzelerierten Großstadttempos eine Langerzählung an die Seite zu stellen“. Fragment geblieben, zeigt der Roman auch formal die Krisis der Moderne, die er trotz Reizüberflutung, Gewalt, Krankheit, Armut, Angst und Tod bei aller Fremdheit aber nicht ablehnt. Rilkes Modernität erweise sich vielmehr darin, dass er den Weltzweifel als dichterische Chance wertet: „Wenn die innere und die äußere Welt mit Sprache nicht adäquat dargestellt werden können, so kann man aus sprachlichen Entwürfen diese Welten schöpfen bzw. aus sprachlichen Einzelteilen die Welt synthetisch generieren“, so Köhnen.

Schloß Duino. Quelle: http://www.fondation-rilke.ch/wp-content/uploads/2015/01/Duino.jpg

Seine anschließende Schaffenskrise sucht er wiederum mit Reisen zu kompensieren. 1910/11 reiste er nach Nordafrika, was sich ebenso auf sein Spätwerk auswirkte wie der Aufenthalt auf Schloß Duino bei Triest bis Mai 1912, zu dem ihn seine bedeutendste Förderin, Fürstin Marie von Thurn und Taxis, eingeladen hatte und wo er die „Duineser Elegien“ begann. Anschließend reiste er nach Spanien, hielt sich erneut in Paris auf, um 1914 nach München überzusiedeln. Es sollten fünf Jahre werden: Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges überraschte ihn. Nach Paris konnte er nicht mehr zurückkehren; sein dort zurückgelassener Besitz wurde beschlagnahmt und versteigert. Zu Beginn schreibt er fünf „Kriegsgesänge“, doch seine anfängliche Kriegsbegeisterung weicht der Erschütterung.

So beginnt er Übersetzungen zu verfertigen, und überträgt Werke von Michelangelo, Petrarca, Paul Valery, Paul Verlaine, Stephane Mallarme und André Gide ins Deutsche. Auf der Suche nach neuer Inspiration setzte er sich erstmals auch intensiver mit dem Werk Goethes und Shakespeares auseinander. Von 1914 bis 1916 hatte er eine stürmische Affäre mit der Malerin Lou Albert-Lasard. Anfang 1916 wurde Rilke eingezogen und musste in Wien eine militärische Grundausbildung absolvieren, wo er in der Breitenseer Kaserne im Westen der Stadt stationiert war. Auf Fürsprache einflussreicher Freunde wurde er zur Arbeit ins Kriegsarchiv und ins k.u.k. Kriegspressequartier überstellt und am 9. Juni 1916 aus dem Militärdienst entlassen. Das traumatische Erlebnis des Militärdienstes, empfunden auch als eine Wiederholung in der Militärschulzeit erfahrener Schrecken, sowie weitere für ihn enttäuschende Liebschaften ließen Rilke als Dichter danach nahezu völlig verstummen. Allerdings erkannte er diese scheinbar verlorenen Jahre später selbst als Inkubationszeit und Bedingung für weiteres Reifen.

Rilke vor der Kulisse des Kreml. Ölgemälde Leonid Pasternaks. Quelle: https://cdn1.stuttgarter-zeitung.de/media.media.2f330667-c252-4fa0-b2fc-4244faebf38e.original1024.jpg

Er macht die Bekanntschaft von Hanns Eisler und Ernst Toller und verlässt München 1919, um an wechselnden Orten in der Schweiz zu wohnen, zuletzt im Chateau de Muzot im Kanton Wallis, das ihm sein Schweizer Mäzen Werner Reinhart mietfrei zur Verfügung stellte. Hier vollendete er auf dem Höhepunkt seines Schaffens 1922/23 die „Duineser Elegien“ und die „Sonette an Orpheus“. Er versuche, seine Existenzverzweiflung dichterisch aufzulösen, indem er in der Kunstsprache Innen- und Außenwelt zum „Weltinnenraum“ verwebt, in dem die festen Zeitstufen und Raumkategorien aufgelöst sind, meint Köhnen. Diese „neue Mythologie“ spiegele sich in den Gedichtfiguren: Engelsfiguren treten auf, Liebende, Verzweifelnde und Hoffende, jung Verstorbene, die im dichterischen Eingedenken lebendig werden, schließlich Orpheus, der mythische Liebende und Sänger, der zugleich Selbstbild des Dichters wird.

„Differenz zur Alltagssprache“

1924 erkrankte Rilke an einer seltenen Form der Leukämie, was häufige Sanatoriumsaufenthalte zur Folge hatte. Der lange Paris-Aufenthalt von Januar bis August 1925 war ein Versuch, der Krankheit durch Ortswechsel und Änderung der Lebensumstände zu entkommen. Indes entstanden in den letzten Jahren zwischen 1923 und 1926 noch zahlreiche wichtige Einzelgedichte (etwa „Gong“ und „Mausoleum“) sowie ein umfangreiches lyrisches Werk in französischer Sprache, das an die Lyrik des französischen Spätsymbolisten Paul Valéry anknüpfte.

Im Januar und Februar 1926 schrieb Rilke der Mussolini-Gegnerin Aurelia Gallarati Scotti drei Briefe nach Mailand, in denen er die Herrschaft Mussolinis lobte, den Faschismus als „Heilmittel“ pries und staatliche „Gewalt“ billigte: Er war bereit, eine gewisse, vorübergehende Gewaltanwendung und Freiheitsberaubung zu akzeptieren, um über Ungerechtigkeiten hinweg zur Aktion zu schreiten. Italien sah er als das einzige Land, dem es gut gehe und das im Aufstieg begriffen sei. Mussolini sei zum Architekten des italienischen Willens geworden, zum Schmied eines neuen Bewusstseins, dessen Flamme sich an einem alten Feuer entzünde. „Glückliches Italien!“ rief Rilke aus, während er den Ideen der Freiheit, der Humanität und der Internationale eine scharfe Absage erteilte. Sie seien nichts als Abstraktionen, an denen Europa beinahe zusammengebrochen wäre.

Er starb am 29. Dezember 1926 im Sanatorium Valmont sur Territet bei Montreux und wurde am 2. Januar 1927 – seinem Wunsch entsprechend – in der Nähe seines letzten Wohnorts auf dem Bergfriedhof von Raron beigesetzt. Auf seinem Grabstein steht der von Rilke selbst verfasste Spruch:

Grab mit Grabspruch. Quelle: http://www.fondation-rilke.ch/wp-content/uploads/2015/01/Tombe-Rilke.jpg

Postum erschienen sein Buch „Dichtungen des Michelangelo“ und sein umfangreiches Briefwerk. Rilke verstand sich nicht als Schulengründer und ist so auch kaum rezipiert worden, sieht man von der Naturlyrik der 1920er bis 1950er Jahre und von einzelnen Autoren wie Peter Handke ab. Populär wurde insbesondere sein von neuromantischer Schwärmerei und Dichteremphase getragenes Frühwerk. Die Rubrizierung seines Œuvres unter eine Epoche oder eine bestimmte Richtung ist kaum möglich; akzeptiert ist allenfalls die Zurechnung zum Symbolismus. Eine Perspektive, die sich bis heute durchgesetzt hat, zielt über die Motive hinaus „auf jene Besonderheiten der Dichtungssprache bei Rilke, deren Differenz zur Alltagssprache nach wie vor Entdeckungen zulässt“, so Köhnen. Seine kühne Metaphorik rings um Abstrakta wie Gott, Stille, Existenz, Trauer oder Zeit gilt bis heute als unerreicht.

Seine Werke sind häufig vertont oder musikalisch bearbeitet worden: In der langen und illustren Reihe seiner Adepten finden sich etwa Alban Berg, Arnold Schönberg, Leonard Bernstein, Dmitri Schostakowitsch und selbst Udo Lindenberg. Populär geworden ist vor allem die musikalische Annäherung an Rilkes lyrisches Werk durch das „Rilke Projekt“, das im Jahr 2001 begonnen wurde. In bisher vier CD-Veröffentlichungen interpretieren bekannte zeitgenössische Schauspieler und Musiker Texte von Rilke. Die ersten drei CDs erreichten Goldstatus. Zu den bekanntesten Mitwirkenden gehören Ben Becker, Mario Adorf, Iris Berben, Nina Hagen und Xavier Naidoo. „Generationen deutscher Leser galt und gilt er als Verkörperung des Dichterischen, sein klangvoll-rhythmischer Name wurde zum Inbegriff des Poetischen“, befand 2007 Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki. Damit hat er 13 Jahre später immer noch Recht.

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Seine Existenz zeichnete eine mehr als nur gewisse Zerrissenheit aus. Privat changierte sein Leben zwischen Bürgertum und Provokation: Er heiratete und wurde Vater zweier Kinder, nachts durchstreifte er hingegen die einschlägigen Homosexuellen-Bars in Tokio. Künstlerisch machte der weltweit anerkannte, dreimal für den Literaturnobelpreis vorgeschlagene Schriftsteller Seitensprünge, indem er auch Rollen in billig produzierten Trashfilmen spielte – teilweise nach eigenen Drehbüchern. Auch sein Verhältnis zum Westen, insbesondere zu den USA, blieb zeitlebens ein gespaltenes. Am deutlichsten drückte sein Haus diese Ambivalenz aus: Es bestand aus einem westlich und einem traditionell japanisch möblierten Trakt.

Darin gefiel er sich in vielen mondänen Posen; so als Gastgeber von – damals in Japan unüblicher – europäischer Eleganz, als wolle er das lateinische persona („Maske“) in Leben und Werk raffiniert variieren, ja Maske sein. Zu diesem Vexierspiel gehörte nicht nur die mondäne Attitüde, mit der er die Chefredakteure von Time oder New York Times wie ein Kulturminister empfing, sondern auch eine Art literarischer Spagat – er sah sich als Bewahrer und Erneuerer japanischer Tradition und band doch unendliche Einflüsse des europäischen Geisteslebens in seine Texte, die er mit eiserner Disziplin täglich fünf Stunden am Schreibtisch im westlichen Trakt erfand. Und darin trug er auch nachts Sonnenbrillen oder ließ sich in Marlon-Brando-Pose fotografieren.

Yukio Mishima. Quelle: https://m.media-amazon.com/images/M/MV5BNWVmZDE2NmQtZWU5OC00MzUzLTg2MTUtZTQ4NzUwNDljYTFjL2ltYWdlL2ltYWdlXkEyXkFqcGdeQXVyMTc4MzI2NQ@@.V1_UY1200_CR148,0,630,1200_AL.jpg

Er sei nicht sicher, ob „Faschist“ die richtige Kategorie für seine „ekstatische Rückgewandtheit“ wäre, meinte Fritz J. Raddatz vor 20 Jahren in der Zeit und führte aus: „Faschismus, gar Nationalsozialismus hatten ja praktische Gegenangebote; beide lebten wesentlich von dem Ideologiegebräu aus Krieg und Rassismus. Beider Rhythmus war der Marschtritt der Masse – keineswegs das Todesfanal des heroischen Einzelnen. Sie hatten konkrete politische Führer und präzise sozioökonomische Gesellschaftsmodelle. Nichts davon bei Yukio Mishima – er ist ein todessüchtiger Träumer jenseits der Wirklichkeit; für eine bessere hat er keine Entwürfe, weil Wirklichkeit ihn überhaupt nicht interessiert.“ Und diese Todessucht ließ Mishima am 25. November 1970 traditionellen Seppuku begehen: publikumswirksam assistierten Suizid.

„Das werde ich“

Der am 14. Januar 1925 als Kimitake Hiraoka in Tokio geborene Sohn eines Ministerialbeamten litt unter der dominanten Großmutter, bei der er seine Kindheit und Schulzeit an einer Eliteschule verbrachte: Sie verbat dem schmächtigen, blassen und zurückhaltenden Jungen den Umgang mit gleichaltrigen Geschlechtsgenossen; er durfte nur mit Mädchen spielen. Männerkörper – vor allem Samuraikrieger und europäische Ritter, die er aus Bilderbüchern kannte – übten daher bereits im Kindesalter einen besonderen Reiz auf ihn aus. Als er mit 12 Jahren zurück in seine Familie kam, drillte ihn mit militärischer Disziplin nun sein Vater und verspottete seine Hingabe für Literatur als „weibisch“. Unter anderem soll er sein Zimmer regelmäßig auf Manuskripte kontrolliert haben, die der kränkliche Knabe zu schreiben begann – auch französischer, deutscher und englischer Sprache, die er sich autodidaktisch beigebracht hatte.

Europäische Literatur, insbesondere Raymond Radiguet, dessen Roman „Der Teufel im Leib“  (1923) vielfach verfilmt wurde, Oscar Wilde und Rainer Maria Rilke, prägte ihn besonders. Später wird er Thomas Mann als den Schriftsteller benennen, den er am meisten schätzt. Mit dreizehn Jahren schreib er seine erste Kurzgeschichte „Der Wald in voller Blüte“, in der ein Junge das Gefühl hat, dass seine Vorfahren in seinem Körper weiterleben, und dies für seine inneren Unruhen verantwortlich macht. Die renommierte Literaturzeitschrift Bungei-Bunka druckte sie. Erst spät sollte der Vater mit dem Satz „Wenn du schon Romancier werden willst, dann bitte der allererste Japans“ aufgeben; die Antwort des Sohnes „Das werde ich“, ist überliefert.

Um Mobbing durch seine Schulkameraden zu vermeiden, wurde die Geschichte unter dem Pseudonym Yukio Mishima publiziert, das er fortan für alle seine literarischen Werke verwendete. Er selbst wählte Mishima nach den „drei Inseln“, von denen man den schneebedeckten Fudschijama sehen kann, sein Japanischlehrer rät zu dem Vornamen Yukio, abgeleitete von Yuki = Schnee. In der Pubertät entwickelte er sadomasochistische Fantasien, in denen Schönheit, Begehren und Tod zu einem ästhetischen Ideal verschmolzen. Da er bei der Musterung eine Tuberkulose vortäuschte, musste er im Zweiten Weltkrieg keinen Militärdienst leisten. Der Tuberkulosetod seiner siebzehnjährigen jüngeren Schwester nahm ihn sehr mit.

Mishima in seinem Arbeitszimmer. Quelle: https://im-wald-des-tapio.blogspot.com/2010/11/hagakure-nyumon-zu-einer-ethik-der-tat.html

Er ekelte sich vor körperlicher Schwäche und dem mit dem Alter unausweichlich verbundenen Verfall und begann, um dem Eindruck der Verletzlichkeit entgegenzuwirken, seinen von Natur aus eher zierlichen Körper als Material zu betrachten, aus dem es mithilfe von Bodybuilding und Schwertkampfübungen eine erotische Skulptur herauszumeißeln galt. Dank einer gnadenlosen Selbstdisziplin hatte er bald den muskelgestählten Körper, den er sich wünschte. So wurde er sein eigenes Ideal – der Held, den er als Kind so bewundert hatte. Er verließ die Universität Tokio 1947 mit einem Abschluss in Jura und arbeitete zunächst im Finanzministerium, kündigte aber innerhalb eines Jahres, um mehr Zeit zum Schreiben zu haben.

„Sehnsucht und Sucht zugleich“

1949 gelingt ihm mit „Geständnis einer Maske“ sein erster Erfolg. Das streckenweise autobiographische Werk ist das Porträt eines sensiblen, von Selbstzweifeln bedrängten Jungen an der Schwelle zum Erwachsensein: „Mein Selbstbetrug war der einzige zuverlässige Halt in meinem Leben“, erklärt der Ich-Erzähler, der die „Leser zu Zeugen einer Selbstzerfleischung“ macht, befindet Jonas Lages im Tagesspiegel. Bereits hier treten zahlreiche Themen auf, die sich wie rote Fäden durch Mishimas Werk ziehen: die Todessehnsucht, die erotische Zuneigung zu Knaben, die auffallende Betonung von Brust- und vor allem Achselhaar an männlichen Körpern – eine „Tonfolge Schönheit-Liebe-Tod“ erkennt Raddatz: „Das Buch ist eine schwarze Messe, Zeremonie von Lust aus Qual und Quälen, ein Gesang in der Tradition Walt Whitmans von der Schönheit zum Tode hin, Sehnsucht und Sucht zugleich. Was dann Basso continuo seines gesamten Werks werden sollte; seines Lebens, dessen schwarze Räusche und blutrünstige Fantasien er gleichsam aufschrieb in Romanen, Gedichten, No-Spielen: Das ist, einem Notenschlüssel gleich, alles bereits in dem furiosen Erstling angelegt.“  

Ein hier eingeführtes, wiederkehrendes Motiv ist die Figur des Heiligen Sebastian, des römischen Soldaten, der zum christlichen Märtyrer wurde. 1966 ließ sich Mishima für eine Übersetzung von Gabriele d’Annunzios Bühnenwerk „Märtyrertum des heiligen Sebastian“ in der Pose fotografieren, die Guido Reni für sein Sebastian-Gemälde ausgewählt hatte: mit nacktem, von mehreren Pfeilen durchbohrtem Oberkörper – wobei ein Pfeil markant aus seiner linken, schwarz behaarten Achselhöhle herausragt. Rasch avancierte er zu einem auch international erfolgreichen und gefeierten Schriftsteller, der auf dem quantitativen Höhepunkt seines Schaffens bis zu drei Romane und ein Dutzend Kurzgeschichten im Jahr schrieb.

Werkauswahl. Quelle: eigene Collage

Aus der breiten Masse der in den 50er Jahren entstandenen Werke stechen „Die Brandung“ (1954), eine zeitgenössische japanische Interpretation der antiken Liebesgeschichte um Daphnis und Chloe, und „Der goldene Pavillon“ (1956) hervor. Hierin erzählt Mishima von dem authentischen Fall des Priesteranwärters Mizoguchi, der im Nachkriegsjapan einen der schönsten buddhistischen Tempel, der den Bombenhagel im Zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden hat, anzündet: „Die außergewöhnliche Klarheit des Frühlingshimmels erschien mir manchmal wie der Glanz der kühlen Klinge einer Axt, groß genug für die ganze Erde. Ich wartete nur, dass sie herniedersausen würde“, heißt es in dem Ideenroman.

Wenngleich er sich nicht im Psychogramm eines Brandstifters erschöpft, den der Schriftsteller eigens im Gefängnis besuchte, sind die menschlichen Schwächen des Helden nicht ohne Bedeutung: Mizoguchi stottert und findet sich hässlich. Er erfährt Ablehnung bei seinen Kameraden. Er ist in ein Mädchen verliebt, Uiko, die ihn verschmäht und vor seinen Augen von ihrem Liebhaber erschossen wird. Schließlich findet Mizoguchi zwei Freunde: den freundlichen, wohlwollenden Tsurukawa und den zynischen Kashiwagi, einen ebenfalls gehandicapten Mitschüler, von dem er mit düsteren Obsessionen manipuliert wird.

Es sind dies, wenn man so will, die Zutaten eines klassischen Bildungsromans, allerdings vor einem radikal-pessimistischen Hintergrund. Frauen beispielsweise treten hier vornehmlich in Gestalt von Prostituierten auf. Der Abt des Tempels, Roshi, vergnügt sich gern mit ihnen, was ihm die Verachtung des Erzählers einträgt. „In den Irrungen des Zöglings kondensieren Verblendung, politischer Wahn, Suche nach dem Absoluten, Selbstüberschätzung und Minderwertigkeitsgefühle“, erkennt Dirk Fuhrig im DLF Kultur. Das Buch zeige, wie sich ein junger Mensch in eine fixe Idee verrennt und aus seiner einsamen Welt nicht mehr herauskommt.

„der Himmel voll mit schönen, jungen Menschen“

Durch seine steigende Popularität war Mishima häufig auf Reisen und lernte fremde Kulturen kennen, die er in seine Arbeit einfließen ließ. So wohnte er 1952 einige Zeit in Griechenland und 1957 in den USA. Verbittert und unvermittelt brach er seinen Aufenthalt am Silvestertag ab: Ihn hätten Selbstsucht und die Fixierung auf Materielles angeödet, wie sein englischer Übersetzer Donald Keene mit Blick auf das nicht ins Deutsche übersetzte  „Reisebilderbuch“ Mishimas feststellt. Nach kurzer Verlobung mit der Anglistin Michiko Shōda, die danach Kaiser Akihito heiraten sollte, nahm Mishima 1958 Yoko Sugiyama zur Frau, mit der er zwei Kinder hatte. Die Unklarheit über Mishimas sexuelle Orientierung war ein laufender Konflikt zwischen ihm und seiner Ehefrau, die bis nach seinem Tod verneinte, dass Mishima jemals Interesse am eigenen Geschlecht gehabt habe. Im Jahre 1998 veröffentlichte der japanische Autor Jiro Fukushima einen Brief, in dem er eine sexuelle Affäre mit Mishima beschreibt. Dessen Kinder verklagten Fukushima daraufhin erfolgreich auf Unterlassung.

Mishima bei der Linken-Debatte. Quelle: https://philipbrasordotcom.files.wordpress.com/2020/03/184260_1.jpg?w=640

Literarisch näherte sich Mishima erstmals 1960 politischen Themen an. Der Roman „Nach dem Bankett“ erzählt von den Verstrickungen eines Diplomaten in politische Machtstrukturen, zweifelhafte Geldgeschäfte und private Liebschaften. Die Geschichte beruht auf einem authentischen Fall – die Romanfigur ist an einen ehemaligen liberalen Außenminister Japans angelehnt. In der im selben Jahr erschienenen, wiederum auf realen Ereignissen basierenden Kurzgeschichte „Patriotismus“ erkannte Daniel Napiorkowski vor zehn Jahren in der Sezession „eine deutliche Verbeugung vor dem Ethos des japanischen Soldatentums“. Beschrieben wird der letzte Abend eines jungen, frisch verheirateten Leutnants, der gemeinsam mit seiner Frau den Freitod wählt, um nicht gegen seine Kameraden – aufständische Offiziere – vorgehen zu müssen. In der fünf Jahre später unter seiner Regie entstandenen Verfilmung spielte Mishima die Rolle des jungen Offiziers selbst. Inwieweit er hier sein Schicksal vorwegnahm, ist umstritten.

In einem Artikel von 1962 schrieb er: „In der Bronzezeit betrug die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen achtzehn Jahre; zur Römerzeit waren es zweiundzwanzig. Damals muss der Himmel voll gewesen sein mit schönen, jungen Menschen. In letzter Zeit muss es dort oben erbärmlich aussehen.“ 1968, als nicht er, sondern Yasunari Kawabata den Literaturnobelpreis erhielt, gründete er eine paramilitärische Vereinigung, die sogenannte „Schildgesellschaft“ (Tatenokai), die sich ausschließlich aus jungen Studenten rekrutierte und die für die Rückkehr der klassischen Kaiserherrschaft eintrat. Es war sein Versuch, eine an ästhetischen Idealen und traditionellen japanischen Vorstellungen orientierte Elite aufzubauen. Mishima machte die jungen Männer mit den Tugenden des bushido vertraut, dem Verhaltenskodex der Samurai, unterrichtete sie in Karate sowie in Schwertkampf, ließ eigene Uniformen schneidern, ein Wappen entwerfen und kreierte sogar eine eigene Hymne.

Aufgrund der strengen Aufnahmevoraussetzungen hatte die Schildgesellschaft niemals mehr als hundert Mitglieder, was Mishima nur recht war; er sprach von der „kleinsten Armee der Welt und der größten an Geist“. Die japanischen Medien beachteten Mishimas private Miliz kaum, und wenn, dann nahmen sie sie als den Spleen eines exzentrischen Schriftstellers wahr, der eine „Spielzeugarmee“ unterhielt. 1969 nahm Mishima die Einladung radikaler linker Studenten zu einer Podiumsdiskussion an der Universität von Tokio an, deren verschollener Mitschnitt im April 2020 wieder auftauchte. Es entwickelte sich ein teilweise recht aggressives Streitgespräch, während dem Mishima seine politischen Standpunkte, insbesondere seine Verehrung des Kaisers bekräftigte, aber auch Berührungspunkte zu den linken Studenten betonte. Er schloss seine Rede mit dem Versprechen: „Eines Tages werde ich aufstehen gegen das System, so wie ihr Studenten aufgestanden seid – aber anders.“

„Lang lebe der Kaiser!“

Was er darunter verstand, wurde dann am 25. November 1970 sichtbar. Gemeinsam mit vier Mitgliedern seiner Privatarmee verschaffte er sich Zugang zum Hauptquartier der Streitkräfte Ost in Tokio, nahm den kommandierenden Offizier, General Kanetoshi Mashita fest und machte zur Bedingungen seiner Freilassung, auf dem Balkon vor dessen Büro eine Rede zu halten. Es sei ihre Aufgabe, appellierte er an Hunderte im Hof der Kaserne versammelte Soldaten und Zivilangestellte, das durch die Herrschaft des Tenno repräsentierte traditionelle Japan vor dem Zugriff des Westens zu schützen, und rief die Armee zur Besetzung des Parlaments und zur Wiedereinsetzung des Kaisers auf. Zu verstehen war von seinen Worten am Ende kaum etwas: Zu laut waren die herbeigeeilten Helikopter. „Steht auf und sterbt!“ war allerdings deutlich vernehmbar. Mit der dreimal ausgestoßenen Formel „Lang lebe der Kaiser!“ beendete der Schriftsteller seinen Aufruf.

Mishima bei seiner Ansprache. Quelle: https://im-wald-des-tapio.blogspot.com/2010/11/hagakure-nyumon-zu-einer-ethik-der-tat.html

Was wie ein heroischer Akt des Patriotismus wirken sollte, endete als Farce. „Sie haben mir nicht einmal zugehört“, sagte er anschließend seinen im Büro des gefesselten Mashita wartenden Gefolgsleuten. Beirren ließen sich die Verschwörer davon nicht, im Gegenteil. Nun begann der finale und ausgesprochen blutige Teil des von langer Hand geplanten Spektakels: die rituelle Selbsttötung Mishimas, auch Seppuku genannt. Er schlitzte sich mit einem Dolch den Bauch auf und ließ sich von seinem Gefährten Masakatsu Morita mit dem Schwert den Kopf abschlagen. Unmittelbar nach der blutigen Tat folgte Morita dem geliebten Meister auf dieselbe, ausgesprochen schmerzhafte Weise in den Tod. „Zeitlebens hat er in der Niederlage Japans und im erzwungenen Verzicht auf eine offensiv ausgerichtete Streitmacht eine tiefe Demütigung gesehen. Auch sein 1970 vollzogener ritueller und grausamer Suizid lässt sich als symbolischer Protest gegen die Unterwerfung seines Volkes lesen“, bringt Martin Krumbholz im WDR das verbreitetste Deutungsmuster auf den Punkt.

1968 hatte Mishima in einem Interview geäußert, dass, anders als das westliche Bild des Selbstmords, der meist als Niederlage betrachtet werde, „Harakiri einen manchmal siegen lässt“. In seinem Abschiedsbrief an Keene schrieb er: „Es war schon seit langem mein Wunsch, nicht als Literat, sondern als Soldat zu sterben“. Laut der Biografie von Henry Scott Stokes hatte Mishima seinen Suizid bereits seit einigen Jahren geplant und seinen Todestag ein Jahr im Voraus festgelegt. Sein Glaube an eine Erfolgsaussicht bezüglich der Restauration des Kaiserreiches erscheint daher fraglich. Literarisch war er auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Mit „Die Todesmale des Engels“ – das Manuskript hierzu korrigierte er noch am Vorabend seines Todes und adressierte es an seinen Verleger – beendete er sein monumentales, vierbändiges Epos „Das Meer der Fruchtbarkeit“, an dem er die letzten sechs Jahre gearbeitet hatte – Namensgeber ist eine Geröllwüste auf dem Mond. Insgesamt schuf er mehr als 50 Stücke und 30 Romane.

Er entfremdete sich zunehmend von einer Gesellschaft, die für Begriffe wie Ehre und Tradition immer weniger empfänglich war, meint Napiorkowski: „Alles Kommende hätte dem Gesamtkunstwerk Yukio Mishima an Glorie genommen. Das Todesfanal aber vollendete es auf eine morbide Weise.“ Das Bild mit Mishimas abgetrenntem Kopf ging um die Welt. Sein Verhältnis zu anderen politisch rechtsstehenden Organisationen blieb von Desinteresse geprägt. Erst posthum entdeckten einige Gruppierungen aus dem Umfeld der japanischen „Neuen Rechten“ die politische Strahlkraft Mishimas, allen voran die nationalistische Issuikai, die seit 1972 ein Heldengedenken mit anschließendem Besuch an Mishimas Grab veranstaltet. Sein Leben sowie seine Hauptwerke wurden nicht nur verfilmt, sondern auch musikalisiert, so in „Das verratene Meer“ durch Hans Werner Henze.

Mishimas Grab. Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/2/26/Grave_of_Yukio_Mishima.jpg/800px-Grave_of_Yukio_Mishima.jpg?1603812308193

Wie es um seine Rezeption – und den Zeitgeist – steht, machten 2019/20 Leserdiskussionen deutlich, die sich unter Rezensionen deutscher Neuübersetzungen seiner Hauptwerke „Geständnis einer Maske“ und „Der goldene Pavillon“ entsponnen. Die Neuauflage spräche für einen Zeitgeist, „in dem rechtsnationales Gedankengut wieder popularisiert wird“, hieß es etwa im Tagesspiegel. „Es bleibt zu hoffen, dass uns eine Wiederauflage der Blut-und-Boden-Schundliteratur mit ihren lächerlichen Heroisierungen des ‚männlichen Kriegers‘ und des sogenannten Heldentods fürs Vaterland erspart bleibt“, kommentiert ein weiterer. Und ein dritter befindet: „Obwohl Faschist, ist er sicherlich keine Identifikationsfigur für simpel gestrickte hiesige rechtsradikale Dumpfbacken, dazu dürfte seine Welt denen zu fern sein. Ich staune nur, mit welcher Unbedarftheit das hiesige unverdächtige literarische Establishment (Kritik, Verlagswesen) diesem Autor gegenübertritt.“ Das lässt tief blicken und ist ein Armutszeugnis sowohl für das Niveau kulturellen Welt- und Selbstverständnisses hierzulande als auch für den Zustand linkspolitischer Arroganz, die sich in alleinigem Wahrheitsbesitz wähnt.

In die politische Geschichte des Landes ging er ein als wirkmächtigster Literat. Während es der vor wenigen Monaten verstorbene Rolf Hochhuth zu Lebzeiten mit Hans Filbinger „nur“ zum Sturz eines Ministerpräsidenten gebracht hatte, fällte er posthum einen Bundestagspräsidenten: Am 10. November 1988 trägt Ida Ehre, die große alte Dame des deutschen Theaters, zum Gedenken an die Pogromnacht 1938 seine Todesfuge im Bonner Bundestag vor. „…Der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau / er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau…“ Sie hat die Worte ins Parlament „hineingebrüllt“, erinnerte sich der damalige Hausherr Philipp Jenninger. „Alle, die dort saßen, ich inbegriffen, waren erschüttert von diesem Schrei.“ Jenninger, rhetorisch nicht ansatzweise zum Kontern begabt, drückt sich auch noch erinnerungspolitisch missverständlich aus, so dass viele Abgeordnete, nicht nur der Grünen, schließlich den Saal verlassen. Am Tag darauf tritt Jenninger zurück.

Diese Todesfuge, 1944/45 als erstes veröffentlichtes Gedicht des Autors entstanden, wurde zum Inbegriff von Holocaust-Lyrik und relativierte auch wegen ihres musikalisierten Duktus‘ Adornos Diktum, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“. Der erschütternde Text, befindet John Felstiner, erweist sich im Sinne ästhetischer Vergangenheitsbewältigung als das „‚Guernica‘ der Nachkriegsliteratur“ – und musste sich trotzdem vorwerfen lassen, dass die „Schönheit“ der lyrischen Umsetzung der Thematik der Judenvernichtung nicht gerecht werde. Wolfgang Emmerich spricht von einem „Jahrhundertgedicht“, Winfried Freund vom „berühmtesten Gedicht der klassischen Moderne“, Harald Hartung gar vom „wichtigsten und folgenreichsten Gedicht der Epoche“. Laut Claus-Michael Ort wurde kein anderes deutschsprachiges Gedicht aus der Nachkriegszeit in vergleichbarem Umfang „Teil einer öffentlichen Kanonisierung, die es als Ganzes sowie einzelne Bildformeln zum sprachlichen Ausdruck des Holocausts erhob“: Die Metapher „Da habt ihr ein Grab in den Wolken, da liegt man nicht eng“ verstört bis heute.

Paul Celan. Quelle: https://ais.badische-zeitung.de/piece/0a/df/ca/a1/182438561-h-720.jpg

Dabei hat sich sein Autor gar drei Mal mit Martin Heidegger in Freiburg und auf der Philosophenhütte in Todtnauberg getroffen. 1954 nannte er ihn in einem nie abgeschickten, fast devoten Brief seinen „Denk-Herrn“: Ihn habe fasziniert, „dass Heidegger der Dichtung eine Mission und ein Wesen zugesprochen hat, das sie ganz in der Nähe des ‚Seins‘ platzierte“, so Emmerich. Nach den Griechen, die diesem „Sein“ näher waren, sehe Heidegger nur noch die Verfallsgeschichte der Menschheit, manifestiert in ihrer technologischen Entwicklung. Innerhalb dieser Verfallsgeschichte gebe es nur ein Medium, das dieses „Sein“ berühren kann – das ist die Sprache und ganz speziell die dichterische Sprache. Ob Heidegger wirklich auf „eine vertrackte Weise gerührt war über sich und diesen jüdischen Dichter“, der von ihm „ein klärendes Wort verlangte über sein philosophisches Edel-Nazitum“, wie Hans-Peter Kunisch vermutet, ist unklar. Angeblich, schreibt Kunisch, habe der Lyriker, nachdem der deutsche Philosoph auf die Zusendung seines Gedichts Todtnauberg („mit einer Hoffnung auf ein kommendes Wort im Herzen“) nur phrasenhaft reagiert habe, von diesem „gar nichts mehr erwartet“. Dieser Lyriker wurde am 23. November vor 100 Jahren als Paul Antschel geboren: Paul Celan.

ohne Lebensvertrauen

Seine Heimatstadt Czernowitz, die Hauptstadt der Bukowina, war bis 1918 habsburgisch, dann rumänisch, später sowjetisch, heute ukrainisch, und galt mit ihren Künstlern, Philosophen, Musikern und Schriftstellern als vielsprachiges Zentrum deutsch-jüdischer Kreativität. Diese Pluralität prägte auch Paul, der als Einzelkind in einer deutsch sprechenden, orthodox-jüdischen Familie aufwächst. Sein strenger Vater Leo ist Vertreter einer Holzfirma. Mit der Mutter Fritzi teilt der Junge die frühe Begeisterung für deutsche Dichtung. Zunächst besucht Paul die deutsche, dann die hebräische Volksschule, von 1930 an ein rumänisches, später ein ukrainisches Staatsgymnasium. Mit vierzehn Jahren feiert er die Bar-Mizwa, vergleichbar mit der protestantischen Konfirmation im christlichen Kulturraum. Danach wird er nie wieder einen jüdischen Gottesdienst besuchen.

Nach dem Abitur beginnt er im französischen Tours das Studium der Medizin. Als sein Schnellzug auf dem Weg nach Frankreich Berlin erreicht, hatte die Stadt gerade die Reichspogromnacht hinter sich. Wegen des beginnenden Krieges kehrt er nach Czernowitz zurück und studiert dort Romanistik. 1940 besetzen gemäß der Annexionsbestimmungen des Hitler-Stalin- Pakts sowjetische Truppen die Stadt. Ein Jahr später trifft die SS-Einsatztruppe D in Czernowitz ein. Das Judenviertel wird zum Ghetto erklärt, ab Oktober 1941 werden 55.000 Juden in die Vernichtungslager Transnistriens deportiert. Nur 5.000 Menschen überleben.

Gedenktafel an seinem Geburtshaus. Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/5/53/Celan-Tafel_%28Czernowitz%29.jpg/1280px-Celan-Tafel_%28Czernowitz%29.jpg

Der 21jährige wird vierhundert Kilometer südlich von Czernowitz als Straßenbauer eingesetzt – in einem von den Rumänen eingerichteten Arbeitslager. Dadurch entgeht er der Deportation. Als er im Juni 1942 seine Eltern in Czernowitz besuchen will, findet er die Wohnung leer vor –  sie waren nach Transnistrien geschafft worden. Sein Vater stirbt dort kurz darauf an Cholera, seine Mutter wird im folgenden Winter mit einem Genickschuss umgebracht. Die Deportation seiner Eltern und ihr Tod hinterließen tiefe Spuren in Paul. Er litt für den Rest seines Lebens unter dem Gefühl, seine Eltern im Stich gelassen zu haben. In seinen Gedichten sind zahlreiche Verweise auf dieses Trauma der „Überlebensschuld“ zu finden: „Sprachvertrauen ist nichts ohne Lebensvertrauen und das war ihm zerstört worden“, meint der Theologe Karl-Josef Kuschel im DLF.

„Der liest ja wie Goebbels“

Nach der Einnahme durch die Rote Armee kehrte Paul im Dezember 1944 nach Czernowitz zurück und nahm sein Studium wieder auf. 1945 übersiedelte er nach Bukarest und studierte dort weiter, war später als Übersetzer und Lektor tätig und nennt sich nun Celan – ein Anagramm des rumänisierten Ancel. 1947 floh er über Ungarn nach Wien und siedelte 1948 nach Paris über, wo er bis zum seinem Tod als Lyriker, Übersetzer, Sprachlehrer und Dozent der Ecole Normale Superieure arbeitete – das Sprachgenie übersetzt Texte von über vierzig Autoren in sieben Sprachen, darunter der Creme de la Creme der Weltliteratur: Apollinaire, Baudelaire, Éluard, Jewtuschenko, Mallarmé, Pessoa oder Shakespeare. Noch im selben Jahr erschien in Wien mit Der Sand aus den Urnen sein erster Gedichtband mit der Todesfuge, dessen gesamte Auflage er jedoch wegen zahlreicher Satzfehler einstampfen ließ.

Hier begegnet er Ingeborg Bachmann, die zur Liebe seines Lebens wurde – der Briefwechsel Herzzeit (Frankfurt 2008) kündet davon. Inhalt und Form seiner Gedichte ändern sich radikal. Der Tod, das Schicksal des jüdischen Volkes und der ferne Gott durchziehen seine Texte – selbst die Liebesgedichte. Der Reim verschwindet immer mehr aus seinem Werk. „Diese Dialektik von Muttersprache und Mördersprache ist einer der Schlüssel, um zu verstehen, wie er seine Gedichte schreibt“, befindet Kuschel.

Paul und Gisèle. Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/media/thumbs/4/40d6f45ef557efb5791afef63bf1582cv1_max_635x357_b3535db83dc50e27c1bb1392364c95a2.jpg?key=c8dc22

Vier Jahre später veröffentlicht Celan seinen Gedichtband Mohn und Gedächtnis und heiratete die 25-jährige Tochter des Marquis de Lestrange, Gisèle, mit der er im großbürgerlichen 16. Pariser Arrondissement in der Rue de Longchamps logiert. Im selben Jahr las er zum ersten und letzten Mal vor der Gruppe 47 – ein Desaster, erinnerte sich Walter Jens: „…er las sehr pathetisch. Wir haben darüber gelacht. ‚Der liest ja wie Goebbels‘, sagte einer. Das war eine völlig andere Welt, da kamen die Neorealisten nicht mit. … Hans Werner Richter war der Ansicht gewesen, Celan habe ‚in einem Singsang vorgelesen wie in einer Synagoge‘“.

Celan entwickelte zwar Freundschaften mit deutschen Schriftstellerkollegen, doch die endeten regelmäßig in Zerwürfnissen. Das betraf vor allem das deutsch-französische Schriftstellerpaar Yvan und Claire Goll. Nach dem Tode ihres Mannes erhebt Claire Goll 1960 öffentlich Plagiatsvorwürfe, auch gegen die Todesfuge. Der Dichter wird zwar später von den Anklägern vollständig rehabilitiert, aber seine Psyche erleidet durch die „Plagiatsaffäre“ dauerhaften Schaden: „Celan war unheilbar verletzt. Die in deutschen Blättern ausgebreiteten Zweifel an seiner künstlerischen Integrität erlebte er wie neuerliche ‚Hitlerei‘“, so Iris Radisch in der Zeit.

Beeinflusst vom französischen Symbolismus und Surrealismus, gilt er dennoch als der bedeutendste Lyriker der deutschen Nachkriegsliteratur – als der bis heute einzige, dessen Gedichte dem Unaussprechlichen der Shoah angemessen sind, die er in die geistigen Traditionen des Judentums der letzten dreitausend Jahre einzubetten versuchte, sie mit religiösen Motiven verband, vor allem aus dem Alten Testament. Seine Zweifel, sein Glauben-Wollen, aber nicht können, werden ihn bis zu seinem Tod begleiten.

Deutsche Gesamtausgabe. Quelle: https://images-eu.ssl-images-amazon.com/images/I/41gf3S7tqWL.AC_UL600_SR372,600.jpg

Sein erster Sohn stirbt bald nach der Geburt. 1955 wird Claude Francois geboren, zugleich erhielt Celan die Staatsbürgerschaft der Republik Frankreich. In den 1960er Jahren erscheinen Gedichtbände, die ihn, inzwischen Büchner-Preisträger, weltberühmt machen, etwa Die Niemandsrose, Atemwende oder Fadensonnen. Seine ungeheure Sprachverdichtung gilt als Indiz für seine zunehmende psychische Implosion, die zu mehreren Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken führt. So wollte er in einem Wahnzustand einmal sich selbst umbringen, in einem anderen seine Ehefrau mit einem Messer töten. Seit November 1967 lebten sie getrennt voneinander, blieben aber in Verbindung.

„Man hat mich zerheilt“

Im Oktober 1969 unternahm Celan seine einzige Reise nach Jerusalem – ein weiteres Desaster. Er sieht sich nicht in der Lage, sich mit einem Leben dort zu identifizieren, fühlt sich aber auch in seiner Pariser Exilheimat zunehmend einsam. An seine Jugendliebe Ilana Schmueli schreibt er: „Ich muss täglich in meine Abgründe hinab. Jeder Tag ist eine Last. Das, was Du ‚meine Gesundheit‘ nennst, kann es wohl nie geben. Die Zerstörungen reichen bis an den Kern meiner Existenz. Man hat mich zerheilt.“

Im Februar 1970 tauchte plötzlich ein angeblich aus dem Jahr 1944 stammendes Gedicht seines Czernowitzer Schulfreundes Immanuel Weißglas auf, das ausgerechnet die eindringlichen Sprachbilder der kurz darauf entstandenen Todesfuge noch ganz ungelenk und wie im Rohentwurf vorwegzunehmen schien. Eine weitere Plagiatsdiskussion wollte Celan womöglich nicht mehr erleben; sie blieb übrigens aus. Am 1. Mai 1970 findet ein Fischer seinen Leichnam in der Seine – zehn Kilometer abwärts von Paris. Wahrscheinlich hat er sich in der Nacht vom 19. auf den 20. April am Pont Mirabeau in der Nähe seiner Wohnung in den Fluss gestürzt. Einen Abschiedsbrief gibt es nicht. „Er hat sich“, schreibt Gisèle an Ingeborg Bachmann, „den einsamsten und anonymsten Tod ausgesucht.“

Celans Grab. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b3/Grave-Paul-Celan.jpg

Aus seinen späten Gedichten ist die rauschhafte Musikalität seiner Anfänge verschwunden: „Sie sind von grandioser Trostlosigkeit, Verse wie Karstlandschaften, wie Steinwüsten, nah am Verstummen und stolz in der Würde des Scheiterns. Man muss sie noch immer lesen“, befindet Radisch. Seine „weltliterarisch fast einzigartige Wirkung“ bestehe darin, dass er in einer „durch die Gräuel des Massenmordes hindurch gegangenen Sprache schreibe“, ohne „je der Illusion anzuhängen, ,über‘ Auschwitz und die Millionen von Opfern mit den Mitteln des Abbildrealismus schreiben zu können“, fasst Emmerich sein Wirken zusammen. Zu Ehren des nachdichtenden Übersetzers stiftete der Deutsche Literaturfonds 1988 den Paul-Celan-Preis für ebenfalls herausragende Übersetzerleistungen. Sein Nachlass liegt im Marbacher Literaturarchiv, auch die Handschrift der Todesfuge.

„Ich habe nie eine Zeile gedichtet, die nichts mit meiner Existenz zu tun gehabt hätte. Ich bin, Du siehst es, Realist auf meine Weise“, schreibt der Dichter anfangs der 60er Jahre an einen Freund. Spätestens seit dieser Zeit hat er die Todesfuge nicht mehr gelesen, er hielt sie für „lesebuchreif gedroschen“. Hans Mayer, selbst Jude, gebrauchte die Formulierung, Celan habe sie „zurückgenommen“. Celan entgegnete: „Ich nehme niemals ein Gedicht zurück, lieber Hans Mayer.“ Den Vers „der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ hat übrigens Heiner Müller noch zu Zeiten der DDR adaptiert zu „Deutschland dein Meister ist der Tod“. Darüber kann man nun lange nachdenken.

Als 1938 eine amerikanische Filmzeitschrift zur Wahl des Königs von Hollywood aufruft, stimmt eine überwältigende Mehrheit für ihn. Sein freches Grinsen, sein spöttischer Blick unter hochgezogenen Augenbrauen und sein raubeiniger Charme lassen viele Frauen in den Kinosesseln dahinschmelzen. Auch manche Männer mögen ihn: Ein richtiger Mann, der zupacken und draufhauen kann. Er verkörpert den amerikanischen Traum: Der Aufsteiger, der es aus eigener Kraft nach oben geschafft hat und der bei aller lässigen Eleganz nie seine Herkunft aus den Hinterhöfen verleugnet: Clark Gable. Am 16. November 1960 erlag er Los Angeles einem Herzinfarkt, den Marilyn Monroe mitverschuldet haben soll.

Geboren wurde Gable am 1. Februar 1901 in Cadiz in Ohio, wobei William Clark in der Geburtsurkunde als weiblich erfasst wurde, was sich später sogar noch in Schulzeugnissen bemerkbar machte, bevor der Fehler dann ebenso korrigiert wurde wie später der Nachname: Das deutsche „Goebel“ passte nicht im Ersten Weltkrieg. Als seine Mutter früh starb, zeigte sich der Vater, ein deutschstämmiger Ölarbeiter, mit der Alleinerziehung völlig überfordert und gab das Kind zunächst in die Hände von Pflegeeltern. So verbrachte der Junge eine kurze Zeit auf der Farm seines Onkels Charles in Pennsylvania. Nach zwei Jahren fühlte sich sein Vater der Aufgabe gewachsen, heiratete eine neue Frau und holte seinen Sohn wieder zu sich. Das Leben wurde dadurch nicht einfacher. Bald geriet der Vater in finanzielle Schwierigkeiten und musste mehrfach den Job wechseln, darunter arbeitete er als Krawattenverkäufer. Mit sechzehn Jahren wurde Gable von der High School verwiesen und schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch.

Clark Gable. Quelle: https://prod-images.tcm.com/Master-Profile-Images/ClarkGable.jpg

Große Anziehungskraft übte das Theater auf ihn aus. Er spielte zunächst kleinere Rollen und wurde Mitglied verschiedener Wandertheater. Fast zehn Jahre tingelte er als Statist auf Tourneebühnen, bis er am Broadway landete und dank seiner virilen, teilweise ungehobelten Ausstrahlung gute Kritiken bekam. In der Zeit der Großen Depression 1929, die auf den Börsencrash folgte, wurde Hollywood auf ihn aufmerksam, nachdem er bereits kleine Statistenrollen wie in „Die lustige Witwe“ von Erich von Stroheim übernommen hatte. Zunächst wegen seiner Segelohren als „Taxi mit offen stehenden Türen“ verspottet, erwies er sich als der rechte Mann zur rechten Zeit: Das von der Wirtschaftskrise gebeutelte Publikum war ganz wild nach dem Draufgänger mit dem schiefen Grinsen. Hinzu kommt die Bekanntschaft mit der Theatermanagerin Josephine Dillon, die ihm auch Schauspielunterricht gab – 17 Jahre älter, aber mit den richtigen Verbindungen. Die 1930 schon wieder beendete Ehe mit ihr öffnete ihm die Türen ins Filmgeschäft.

„moderner Rudolfo Valentino“

Er ergatterte zunächst eine Nebenrolle im Western „The Painted Desert“ und begann mit seiner Rolle eines gewalttätigen Gangsters und Verführers im Drama „Der Mut zum Glück“ einen kometenhaften Aufstieg. Schon 1931 spielte der Newcomer in neun Filmen und zählte zu den zehn kassenträchtigsten Stars. Aber was für Unsympathen spielt Gable, was für Widerlinge, Scheusale, Draufgänger und Gangster: In „Night Nurse“ schlägt er Barbara Stanwyck ins Gesicht, in „Helgas Fall und Aufstieg“ warf er eine Prostituierte die Treppe hinab, und Norma Shearer wird in „Der Mut zum Glück“ als wohlerzogene Tochter der besseren Gesellschaft von Gable schlecht behandelt. Und doch liegt ihm die Frauenwelt zu Füßen. Nach den Schlägen gegen Shearer wird Metro-Goldwyn-Mayer mit Briefen bombardiert: Keine Proteste – die Fans wollen sich freiwillig von Gable schlagen lassen.

1932 trat er als charmanter Flegel bereits das zweite Mal neben Jean Harlow auf, beide erweisen sich als profitables Gespann. Gable wird außerdem acht Mal neben Joan Crawford, sieben Mal an der Seite von Myrna Loy und dreimal an der Seite von Norma Shearer zu sehen sein. Obwohl ihn sein Image als Schurke und Gigolo bald anödete, musste er von seinem Filmstudio Metro-Goldwyn-Meyer quasi dazu gezwungen werden, 1934 als Reporter in Frank Capras Screwball-Spaß „Es geschah in einer Nacht“ aufzutreten. Für die gewagte, von der Zensur kritisch beäugte Liebeskomödie bekam Gable, der sich stets nur für einen Selbstdarsteller hielt, zu seiner Überraschung 1935 den Oscar. Der Film, der ihn mit nackter Brust unter dem offenen Hemd zeigte, machte ihn zum Sexsymbol – und stürzte angeblich Unterhemdfabrikanten in den Ruin, bis Marlon Brando und sein weißes T-Shirt in „Endstation Sehnsucht“ 1951 den Trend wieder umkehrten. Legendär sind seine vielen Affären, unter anderem mit Jean Harlow, Joan Crawford, Grace Kelly – und Loretta Young, die schwanger wurde. Sie musste nach Europa reisen, um die Schwangerschaft geheim zu halten, und brachte dort eine Tochter zur Welt. Gable gab die Vaterschaft niemals zu.

Gable und Charles Laughton in „Die Meuterei auf der Bounty“. Quelle: https://cdn.britannica.com/79/77079-050-A3B10897/Crew-members-Bligh-HMS-Bounty-Charles-Laughton-1935.jpg

Auf dem Gipfel seines Ruhmes war Gable, den Kritiker auch als „modernen Rudolfo Valentino“ bezeichneten, der einzige MGM-Darsteller mit einem lebenslangen Vertrag und kassierte ein jährliches Gehalt von 300 000 Dollar. Neben diesen Glanzrollen aber drehte er meist anspruchslose Starvehikel wie „Meuterei auf der Bounty“ – hier war er für seine Verkörperung des Seeoffiziers Fletcher Christian erneut für den Oscar als bester Hauptdarsteller nominiert, – „Der Draufgänger“ und „Zu heiß zum Anfassen“, deren Titel verraten, um was es ging. Nach dem Scheitern seiner zweiten Ehe mit der wiederum 17 Jahre älteren texanischen Millionenerbin Maria Langham heiratet er 1939 in dritter Ehe seine große Liebe, die Schauspielerin Carole Lombard. Davor hatte er den Film abgedreht, dessen später legendäre Hauptrolle als Rhett Butler er nur zögerlich angenommen hatte und der ihm doch auf ewig einen Platz in der Filmgeschichte sichert: „Vom Winde verweht“.

„große Leistung der Amerikaner“

Das Südstaatenepos um die Liebe in Zeiten des Bürgerkriegs nach dem gleichnamigen Roman von Margaret Mitchell war mit fast vier Stunden Laufzeit seinerzeit der Film mit der längsten Spieldauer, außerdem mit Herstellungskosten von rund vier Millionen US-Dollar der teuerste Film überhaupt. Vom American Film Institute wurde er auf Platz 4 der 100 größten US-Filme aller Zeiten gewählt. Mit einem inflationsbereinigten Einspielergebnis von rund 7,2 Milliarden US-Dollar (2019) gilt der für 13 Oscars nominierte Streifen bis heute als kommerziell erfolgreichster der Filmgeschichte. In Umfragen rangiert er noch vor „Star Wars“; in Großbritannien war er noch 2004 der meiste gesehene Film überhaupt.

Die Premiere im Grand Theater in Atlanta war das Ereignis des Jahres. Dafür hatte der Gouverneur von Georgia den 15. Dezember 1939 zum Feiertag ausgerufen – vermutlich zum ersten Mal in der Geschichte aus Anlass einer Kino-Premiere. Viele Schaulustige waren als Hommage an den Film in Kostümen aus der Bürgerkriegszeit erschienen. Gable, der ihn übrigens als „Film für Frauen“ geringschätzte, wird im DLF mit Sätzen wie diesem zitiert: „Als ich meine erste Liebesszene spielen musste, war ich zu Tode erschrocken. Der Regisseur meinte, ich sollte einen verlangenden Gesichtsausdruck mimen. Daraufhin dachte ich an ein riesiges, halb durchgebratenes Steak. Es klappte so gut, dass ich diesen Trick seither immer wieder verwende“.

Gable und Carole Lombard. Quelle: https://www.classichollywoodcentral.com/wp-content/uploads/2015/09/Clark-Gable-and-Carole-Lombard.jpg

Er habe in der Szene nicht weinen wollen, in der er von der Fehlgeburt seiner Frau erfährt, erklärte Kollegin Olivia de Havilland 2004 im Spiegel. „Er dachte, es sei unmännlich. So waren Männer damals konditioniert. Es war so schade, dass sie diese Gefühle unterdrücken mussten“. Regisseur Fleming habe damals alles versucht und Gable sogar bei seiner Berufsehre gepackt. „Am Ende gab es einen letzten Versuch“, so de Havilland. „Ich sagte ‚Ich weiß, dass du es kannst und du wirst wunderbar sein‘. Tja, und bevor die Kamera zu laufen begann, konnte man bereits die Tränen in seinen Augen sehen.“ Bis heute schmachten Frauen unter seinem spöttischen Blick. Und das, obwohl sein letzter Satz gegenüber der ihr Herz ausschüttenden Scarlett ist: „Frankly, my dear, I don‘t give a damn“ („Ehrlich gesagt ist mir das gleichgültig“). Der Satz wurde vom American Film Institute zum bedeutendsten US-Filmzitat überhaupt gewählt.

Dass der Film erst mit 14-jähriger Verspätung in die deutschen Kinos kam, war zunächst der NS-Filmpolitik geschuldet, die mit ihrem Anspruch auf den ersten Platz in der Filmwelt Roman wie Film verbot. „Clark Gable ist nicht nur ein kluger, sondern auch ein schöner Mann“, sagt Eva Braun in Philippe Moras nachsynchronisiertem Kompilationsfilm „Swastika“ (1973), weshalb Hitler auf Gable, den er tatsächlich geschätzt haben soll, eifersüchtig geworden sei. Joseph Goebbels schrieb am 30. Juli 1940 in sein Tagebuch: „Großartig in der Farbe und ergreifend in der Wirkung. Man wird ganz sentimental dabei. Die Leigh und Clark Gable spielen wunderbar. Die Massenszenen sind hinreißend gekonnt. Eine große Leistung der Amerikaner. Das muss man öfter sehen. Wir wollen uns daran ein Beispiel nehmen. Und arbeiten.“

„an den Rand eines Herzinfarkts gebracht“

Mit Carole Lombard lässt sich Gable auf einer Ranch in Encino nieder, auf der er bis zu seinem Tod leben wird. Gemeinsam gingen sie fischen, jagen, wurden sesshaft und gesellig. 1940 erlitt Carol eine Fehlgeburt. Ausgerechnet eine Kriegsanleihenverkaufstour kostete sie dann 1942 bei einem Flugzeugabsturz nahe Las Vegas das Leben. Das Unglück war ein schwerer Schlag für Gable, der sogar zur Unglücksstelle flog, seitdem nicht mehr als derselbe galt und dem Alkohol mehr zuzusprechen begann als ihm zuträglich war. Um der Leere zu entkommen, meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst, den er bis 1945 als Bomberpilot absolvierte. Die gesamte Ausbildung in der US Army zum Kanonier wurde gefilmt, eine vierköpfige Filmcrew begleiteten Gable während der ganzen Zeit. Fünfmal flog Bordschütze Gable Angriffe in einer B-17 mit.

Gable in „Vom Winde verweht“. Quelle: https://www1.wdr.de/stichtag/stichtagdezembervierzehn118~_v-gseapremiumxl.jpg

Nach dem Krieg – die Entlassungsurkunde von Major Gable hatte ein Offizier namens Ronald Reagan unterschrieben – erlebte er nur ein verhaltenes Comeback: Bei seinen Erfolgen wäre er heute ein Top-Star, in Hollywood dagegen war er eins unter vielen Gesichtern. Er spielte den „Mann ohne Herz“ (1945), den „Mann am Scheideweg“ (1947), blieb der charmante Herzensbrecher in der Komödie „Der Windhund und die Lady“(1947), glänzte als draufgängerischer Abenteurer in William A. Wellmans großem Western „Colorado“ (1951), in John Fords Afrika-Drama „Mogambo“ (1953) mit Ava Gardner und Grace Kelly sowie in drei großen Filmen von Raoul Walsh. Sehenswert sind auch die Abenteuerkomödie „Es begann in Moskau“ (1953), das Kriegsdrama „U23 – Tödliche Tiefen“ (1958), die Doris-Day-Komödie „Reporter der Liebe“ (1958) und die turbulent-romantische Komödie „Es begann in Neapel“ (1960) mit Sophia Loren.

Ehefrau Nummer vier war 1949 das Model Sylvia Ashley geworden, 1952 ging auch diese Beziehung in die Brüche. 1954 hatte er nach einem Direktorenwechsel MGM verlassen und arbeitete seitdem freiberuflich. Mit der bereits dreimal geschiedenen Schauspielerin Kathleen „Kay“ Spreckels fand Gable ein neues, wenn auch kurzes spätes Glück, am 11. Juli 1955 fand die Hochzeit statt. 1960 kam dann mit „Misfits – Nicht gesellschaftsfähig“, in dem Gable mit der Monroe spielte, der für beide letzte und nach Auffassung vieler auch jeweils beste Film. Es ist ein Psychodrama nach einer Vorlage von Monroes Ehemann Arthur Miller – und ein Psychodrama war auch der Dreh.

Monroe war unzuverlässig, ihre ständige Verspätung reizte Gable bis aufs Blut. Alle waren auf den Erfolg oder auf Monroe eifersüchtig, zudem stand die Crew unter Erfolgsdruck. Freunde hatten ihn vor der nervenaufreibenden Arbeit mit Monroe gewarnt, doch die Gage von 750 000 Dollar – im Schnitt verdiente ein Amerikaner damals gute 5.000 Dollar im Jahr – lockte ihn. Es sei gut, dass die Dreharbeiten sich dem Ende näherten, sagte der 59-Jährige im Herbst, die Monroe habe ihn „an den Rand eines Herzinfarkts gebracht“. Kurz darauf starb er – an einem Herzinfarkt. Die Premiere von „Misfits“ erlebte er nicht mehr mit, ebenso die Geburt seines einzigen Sohnes John Clark Gable im März 1961.

Gable und die Monroe in „Misfits“. Quelle: https://i2.wp.com/www.horsetalk.co.nz/wp-content/uploads/2011/03/clark-gable-marilyn-monroe.jpg?resize=800%2C614

Die Monroe war‘s, sagen seine (weiblichen) Fans. Skeptiker sehen es etwas nüchterner: Jahrelang drei Schachteln Zigaretten am Tag und dazu noch Zigarren zum Whiskey fordern auch von einem Hollywoodstar ihren Tribut. Gable wurde im Großen Mausoleum im Forest Lawn Memorial Park neben seiner dritten Frau, Carole Lombard, beigesetzt. Heute erinnert ein Stern auf dem „Hollywood Walk of Fame“ an den legendären „King of Hollywood“, der vom kernigen, grobschlächtigen Farmer bis zum eleganten Gentleman wandlungsfähig war wie wenige. Bei einer Umfrage des American Film Institute wurde er noch 1999 auf Platz sieben der größten männlichen Filmstars gewählt.

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