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Das haben die Sachsen Hannes Hegen nie verziehen: Als er für seinen DDR-Kultcomic Mosaik Anfang der 60er Jahre seine „Erfinderserie“ konzipiert, lässt er zwar Persönlichkeiten wie Otto von Guericke, James Watt und Werner von Siemens auftreten – nicht aber den Erbauer des ersten Elbe-Dampfschiffs, obwohl ein Gutteil der Handlung in Heft 79 an Bord spielt: Johann Andreas Schubert. Der Ingenieurwissenschaftler, Unternehmer und Maschinenbau-Professor konstruierte auch die erste funktionstüchtige, in Deutschland gebaute Dampflokomotive „Saxonia“ und erwarb sich große Verdienste beim Bau der Göltzschtalbrücke, der bis heute größten Ziegelsteinbrücke der Welt. Am 6. Oktober vor 150 Jahren starb er.

Dass er es überhaupt so weit bringen konnte, verdankt er einem glücklichen Zufall: als er mit neun Jahren seinen Bruder Christoph, einen Händler, im herbstlichen Vogtland begleitete und der ihn nach einer Halbtagestour allein wieder heim schickte, verirrte er sich und kam nach mehrtägiger Wanderung bis in die Gegend von Leipzig. Ihn überholte eine Reisekutsche, an der er sich hinten anhängte, um ein Stück mitzufahren. In diesem Wagen reiste der Polizeidirektor von Leipzig, Oberhofrichter Ludwig Ehrenfried von Rackel mit seiner Frau. Nachdem ihnen der Junge von seinem Missgeschick erzählt hatte, brachte ihn Rackel zurück und erwirkte nach längerer Unterredung von den Eltern die Genehmigung, Johann Andreas als Pflegesohn in Leipzig aufzunehmen und zu erziehen.

J.A. Schubert. Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/3e/Johann_Andreas_Schubert.jpg

Geboren wurde er am 19. März 1808 in Wernesgrün als achtes von neun Kindern eines verarmten Bauern, der als Fuhrmann und Tagelöhner arbeitete. Seine Eltern nannten ihn stets nur Andreas, in Erinnerung an seinen als Dreijähriger verstorbenen Bruder. Vom siebten Lebensjahr an hütete er bei der verwandten Bauernschaft Kühe und Schafe, um den elterlichen Haushalt mit zu entlasten. Auch die Beschaffung von Heizmaterial war seine Aufgabe. In der Wernesgrüner Dorfschule lernte er Lesen, Schreiben und Rechnen. „Freuden der Kinderjahre waren mir kaum beschieden und besonders vom achten Lebensjahr an litt ich bitterste Entbehrung“, schreibt er später, so dass ihn seine Eltern, wenn auch schweren Herzens, mit Rackel ziehen ließen.

Vom Ingenieur zum Professor

Ab Ostern 1818 lernt er auf der Leipziger Thomasschule. Als Rackel 1820 überraschend stirbt, zieht seine Witwe mit Andreas zu ihrem Bruder, Generalleutnant Carl Ludwig Sahrer von Sahr, dem Kommandanten der Festung Königstein. Hier besuchte der Junge die Garnisonsschule und nahm privaten Unterricht beim Pfarrer von Königstein. 1821 bis 1824 war er Internatszögling des Freimaurerinstituts zu Dresden-Friedrichstadt: Zeitlebens blieb er der Loge „Zu den drei Schwertern” verbunden. Sein Zeichenlehrer Faber empfahl ihm ein Bildhauerstudium. Weil an der Königlichen Akademie gerade kein Platz frei war, bewarb sich Schubert an der Bauschule unter dem gleichen Dach – heute würde man Architekturstudium dazu sagen.

Während des Studiums trat seine außergewöhnliche mathematische und technische Begabung zu Tage. In der Werkstatt des Dresdner Hofmechanikers Rudolf Sigismund Blochmann lernte er als Volontär die handwerkliche Seite des Maschinenbaus kennen und wurde zugleich in Konstruktionslehre unterwiesen. Der den Künsten zugeneigte Schubert wandte sich nunmehr dem Ingenieurwesen zu, das sich, noch zwischen Kunst und Wissenschaft angesiedelt, im Zuge der Industrialisierung rasch zu einem weit gefächerten Ausbildungsbereich entfaltete. 1828 trat er folgerichtig als Lehrkraft für Buchhaltung und zweiter Lehrer für Mathematik in die gerade gegründete Technische Bildungsanstalt Dresden ein und wurde bereits 1832 Professor. Im selben Jahr heiratete er Florentine Dennhardt, Tochter eines Steuereinnehmers in Mittweida, die ihm einen Sohn und eine Tochter gebar.

Die „Saxonia“ auf einer DDR-Briefmarke. Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/7d/Stamps_of_Germany_%28DDR%29_1985%2C_MiNr_2969.jpg

Schubert verkörperte in der Frühzeit polytechnischer Schulen einen Lehrertypus mit breiter disziplinärer Orientierung und vielgestaltigem Berufsbild, der es verstand, Lehre, wissenschaftliche Tätigkeit und praktische Berufsausübung miteinander zu verknüpfen. Dies entsprach ganz den Erfordernissen seiner Zeit, in der man versuchte, Gewerbeförderung und industrielle Entwicklung über eine solide Ausbildung von praktischen Mechanikern voranzubringen. Seine Lehrfächer waren nun auch der Maschinen- und der Eisenbahnbau. Sein Wissen auf diesem Gebiet erweiterte insbesondere eine Englandreise 1834.

Er „verfügte nicht nur über die Fähigkeit, in freier Rede seine Schüler zu fesseln, sondern vermittelte durch den Einsatz spezieller Lehrmittel jene Anschaulichkeit, die schwierige ingenieurtechnische Gegenstände als Einheit von empirischen und theoretischen Komponenten verständlich machten“, befinden seine Biographen Thomas Hänseroth und Klaus Mauersberger. Seiner außerordentlichen Lehrerfolge wegen gelang es ihm, nicht nur Einfluss auf die praktische und wissenschaftliche Gestaltung der Ausbildung zu nehmen, sondern auch auf das neue Organisationsstatut von 1835: Seine Hauptlehrgebiete, die technische Mechanik, Baulehre und Maschinenkunde, avancierten zu den zentralen Fächern der Anstalt.

Schiffs- und Lokomotivbauer

1836 gründete er die Maschinenbau-Anstalt Übigau mit, heute ein Stadtteil von Dresden, und wurde deren technischer Direktor sowie Vorsitzender des Direktoriums. Im gleichen Jahr war er Mitbegründer der Sächsischen Elbe-Dampfschifffahrts-Gesellschaft. 1837 wurde in Übigau die „Königin Maria“ fertig gestellt, zu dieser Zeit das erste Dampfschiff auf der Oberelbe; ein Jahr später folgte der Dampfer „Prinz Albert“. Beide Dampfschiffe waren Konstruktionen Schuberts. Zu Unrecht wurden ihm die Schwierigkeiten beim Probebetrieb der Schiffe angelastet: Ursprünglich hatte Schubert seine Antriebsmaschinen aus England beziehen wollen. Doch das scheiterte an der Bürokratie. So musste er auf deutschen Ersatz zurückgreifen, auf wahre „Monster“ aus Preußen, die die sächsische „Maria“ im Flachwasser behinderten.

Die Göltzschtalbrücke. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%B6ltzschtalbr%C3%BCcke#/media/Datei:G%C3%B6ltzschtalbr%C3%BCcke_2012.jpg

Parallel dazu konstruierte und baute er die „Saxonia“: „Ich habe für das erste in Deutschland gebaute Locomotiv alle nöthigen Theile selbst anfertigen lassen, was mir bis jetzt noch niemand in Deutschland nachzuthun gewagt hat… Kein einziger Arbeiter war mir zur Hand, der jemals an einem derartigen Stücke gearbeitet hatte“, schreibt er später. Bei der Eröffnung der ersten deutschen Fern-Eisenbahnstrecke zwischen Leipzig und Dresden am 8. April 1839 fuhr Schubert mit ihr hinter dem offiziellen Zug her, der von zwei englischen Loks angetrieben wurde – mit Gehrock, Zylinder und verrußtem Gesicht, heißt es.

Auch auf der Rückfahrt sollte die „Saxonia“ hinter dem Hof-Zug fahren, doch das ging der englischen Crew entschieden zu weit. Als Schubert, vom Frühstück kommend, Kohle aufnehmen wollte, war der Schuppen leer. Zu allem Übel waren in Priestewitz die Weichen verstellt, und so raste die feurige Sächsin auf eine unter Dampf stehende führerlose englische Lok. Die Reparaturen sorgten für neuerlichen Aufenthalt, zum ersten Mal übernachtete ein Professor aus Dresden in Priestewitz! Später wurde die „Saxonia“ für den Fuhrpark der Eisenbahn-Compagnie angekauft und fristete dort, vom anglophilen Personal mit Verachtung bedacht, das Dasein einer Reserve-Lokomotive, obwohl sie es unbestritten mit jeder Engländerin an Eleganz, Geschwindigkeit und Wasserverbrauch hätte aufnehmen können.

Wirtschaftlicher Erfolg stellte sich für Schubert nicht ein, so dass er 1839 seinen Vertrag beim Actien-Maschinenbau-Verein kündigte und wieder als Hochschullehrer arbeitete. Doch schon zwei Jahre später wurde er noch einmal in Sachen Eisenbahn aktiv, diesmal jedoch nicht als Maschinenbauer, sondern als Mathematiker und Architekt. Grund war der Beschluss, eine Eisenbahnverbindung zwischen Sachsen und Bayern zu bauen. Doch die Trassenführung von Leipzig über Altenburg, Crimmitschau, Werdau, Reichenbach und Plauen nach Hof war schwierig, da die Steigung mit Rücksicht auf die Lokomotiven ein Prozent nicht überschreiten durfte. Also mussten das Göltzschtal und das Elstertal überbrückt werden. Allein beim Göltzschtal waren das 600 Meter.

Brückenbauer im Vogtland

Eine solche Brücke war noch nie gebaut worden. Ein Wettbewerb wurde ausgeschrieben, dessen Jury Schubert leitete und der auch Gottfried Semper angehörte. 81 Entwürfe gingen ein, einen brauchbaren gab es nicht. Aus vier Arbeiten, die in die engere Auswahl kamen, schuf Schubert einen Kommissionsentwurf: eine durch Bögen aufgelockerte vierstöckige Massivbrücke aus Ziegelstein. Ab 1846 wurden 26 Millionen Ziegelsteine für die Göltzschtalbrücke verbaut, zwölf Millionen für die kleinere Elstertalbrücke. Im selben Jahr war er Mitgründer des „Sächsischen Ingenieur-Vereins“.

Schubert-Bau an der TU Dresden. Quelle: https://www.competitionline.com/de/ergebnisse/307658

Ein Jahr später endete Schuberts aktive Mitarbeit am Brückenprojekt. Bei der Einweihung der Brücken 1851 hatte er wegen seiner früheren Nähe zu den Initiatoren des Dresdner Aufstands von 1849 und seiner liberalen Haltung keinen so guten Stand. August Röckel, der Operndirektor und Kopf der Erhebung, hatte in Schuberts Haus in der Friedrichstraße, wo heute eine Bronzetafel auf beide verweist, gewohnt. Gottfried Semper und der Hofkapellmeister Wagner kamen bei ihm zu konspirativen Treffen zusammen; selbst der Anarchist Bakunin hatte im Gartenhaus ein Versteck. Im Jahr des Aufstands wurde er Dampfkesselinspektor für den Bezirk Dresden-Bautzen sowie in weitere Gremien berufen, darunter die „Technische Deputation“ des sächsischen Innenministeriums.

Nach dem Tod Florentines 1851 heiratete er erneut, seine zweite Frau Sophie sollte ihm noch vier Töchter schenken. Er wird mehrfach bei der Auswahl der Direktoren der Bildungsanstalt übergangen und konzentriert sich ganz auf die Lehre. Mit seinen neuen Erfahrungen vollzieht er einen Lehrgebietswechsel hin zum Bauingenieurwesen, namentlich zum Straßen-, Eisenbahn- und Brückenbau, und wurde Vorstand der Bauingenieurabteilung der Schule. Zwei seiner vier Lehrbücher waren damals Standardwerke: die „Elemente der Maschinenlehre“ und vor allem die zweibändige „Theorie der Konstruktion steinerner Bogenbrücken“.

Nachbau der Saxonia aus dem Jahr 1989. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/LDE_%E2%80%93_Saxonia#/media/Datei:Saxonia_1989_Meiningen_01092007.JPG

1859 hatte Schubert das Ritterkreuz des Sächsischen Verdienstordens erhalten. Zehn Jahre später schied er aus dem Hochschuldienst aus und wurde zum Regierungsrat ernannt. Sein Pensionsalter zu genießen blieb ihm gerade ein Jahr. Schuberts Grab befindet sich auf dem Inneren Matthäusfriedhof in Dresden, 1985 und 2008 wurde er mit Sonderbriefmarken gewürdigt. In Dresden trägt neben einer Straße und einem Gymnasium auch ein Gebäude der TU Dresden, das Teile der Fachrichtungen Physik, Biologie und Psychologie beherbergt, seinen Namen. „Bestechend bleibt Schuberts Vielseitigkeit: er war in Personalunion Lehrer, Ingenieur, Erfinder, Unternehmer, Freimaurer, Gutachter und manches mehr. Als letzter Universalist unter den Polytechnikern des 19. Jahrhunderts hat er vor allem ein weit gespanntes, fast den gesamten Fächerkanon seiner Bildungsanstalt überspannendes Werk hinterlassen“, wird er bis heute von der TU gewürdigt.

Als er 1937 seine erste Sozialversicherungskarte ausfüllte, gab er als zweiten Vornamen, in Anspielung auf seine Stimme, „Nebelhorn“ an – und hat das nie korrigieren lassen: Wolfgang Völz, seiner deutschen Synchronstimme, war es nur recht. Seine Paraderolle als schlurfender Kauz mit Knautschgesicht und Dackelblick hatte er sicher 1993 als „Mr. Wilson“ in „Dennis“, der ihm als Nachbarsjunge arge Streiche spielte. Und er ist Schöpfer mancher vielzitierten Bonmots, darunter „Der zweite Frühling kommt mit den dritten Zähnen“: Walter Matthau. Am 1. Oktober vor 100 Jahren wurde er als jüngerer von zwei Söhnen eines exiljüdischen Paares in New York geboren.

Sein Vater Milton Matthow, ein ukrainischer Ex-Priester, verließ die Familie, als Walter drei Jahre alt war. Seine Mutter Rose war eine litauische Näherin mit bescheidenem Einkommen, seine Kindheit galt als hart. In der Grundschule las er bei Versammlungen Gedichte vor und gehörte bereits als Elfjähriger zur Komparserie der jüdischen Theater an der 2nd Avenue in New York und spielte im Alter von 14 Jahren die Rolle des Polonius in einer Hamlet-Produktion. Er entschied sich, die Schreibweise seines Namens zu ändern, weil er Matthau eleganter fand. In dieser Zeit entwickelte sich auch seine später zur Sucht ausartende Leidenschaft für Sport und Wettspiele. Seine Spielverluste wird er mit 5 Mio. Dollar angeben; einmal setzte er sein gesamtes Jahresgehalt auf den Ausgang eines Baseball-Schauturniers.

W. Matthau. Quelle: https://static.kino.de/wp-content/gallery/w/a/walter-matthau/matthau-walter-walter-matthau-1-rcm950x0.jpg

Nach der High School versuchte er sich in unterschiedlichen Jobs – unter anderem als Eisverkäufer, Bodenreiniger, Box- und Baseballtrainer –, und verpflichtete sich schließlich während des Zweiten Weltkriegs bei der US-Luftwaffe, wo er mehrmals verwundet wurde. Nach dem Krieg profitierte Matthau von den großzügigen Ausbildungsstipendien, die die Regierung an ehemalige Soldaten vergab, studierte zunächst Journalismus und wechselte dann zu Erwin Piscators Dramatic Workshop. Zahlreiche bekannte US-Schauspieler wurden dort ausgebildet, seine Kommilitonen waren u.a. Rod Steiger, Tony Curtis oder Harry Belafonte. 1948 heiratete er Grace Geraldine Johnson und bekam mit ihr zwei Kinder. Im selben Jahr hatte er einen ersten Auftritt am Broadway, ab 1950 übernahm er Rollen im Fernsehen, bei dem damals kurze Stücke live aufgeführt wurden, was den Schauspielern ein hohes Maß an Können und Disziplin abforderte. 1954 wurde er mit dem „New York Drama Critics Award“ ausgezeichnet.

Mit Jack Lemmon zum Star

Sein Leinwanddebüt gab Matthau 1955 als „Bösewicht“ Stan Bodine in dem von und mit Burt Lancaster inszenierten Western „Der Mann aus Kentucky“. Später spielte er auch etwas differenziertere Figuren wie den Mel Miller in Elia Kazans Gesellschaftssatire „Das Gesicht in der Menge“ (1957). Wegen seiner unverwechselbaren Erscheinung und seiner speziellen Schauspielbegabung erwarb er sich den Ruf eines „scene stealers“, der den Hauptdarstellern auch in kleinen Szenen die Schau stehlen konnte. Nach seiner Scheidung von Grace Geraldine heiratete er 1959 erneut, diesmal die Schauspielerin Carol Grace, die ihm noch Sohn Charles schenkt, der ebenfalls Schauspieler wurde, sich aber auch als Regisseur und Produzent einen Namen machte. Mattau arbeitete in der Zeit für Alfred Hitchcock, aber auch an der Seite bekannter Kollegen wie Kirk Douglas („Einsam sind die Tapferen“, 1962) oder Cary Grant („Charade“, 1963) – Rollen, die ihn allmählich bekannt machten.

Den richtigen Kick erhielt seine Karriere aber erst, als der bekannte Bühnenautor Neil Simon ihm die Rolle eines mürrischen, jedoch liebenswerten Chaoten extra auf den Leib schrieb: Oscar Madison, den Mattau in der Komödie „Ein seltsames Paar“ bereits 1965 an der Seite von Jack Lemmon am Broadway spielt, bevor 1967 der gleichnamige Film entstand, der ihn zum Star machte und seine lebenslange Freundschaft mit Lemmon begründete. Die schnurrige Männer-WG war so erfolgreich, dass sie in den Sechziger- und Siebziger Jahren ihre Fortsetzung in einer gleichnamigen Fernsehserie fand.  „Jeder Schauspieler“, sagte Matthau in einem Interview mit Time 1971, „sucht nach der Rolle, die seine Talente mit seiner Persönlichkeit verbindet. Oscar Madison war für mich diese Rolle, mein Plutonium. Alles, was danach geschah, begann für mich mit dieser Rolle.“ Für seine Rolle in Billy Wilders Komödie „Der Glückspilz“ erhielt er 1966 den Oscar als bester Nebendarsteller.

„Traumpaar“ Matthau und Lemon. Quelle: https://ca-times.brightspotcdn.com/dims4/default/5017810/2147483647/strip/true/crop/1955×1100+0+0/resize/840×473!/quality/90/?url=https%3A%2F%2Fcalifornia-times-brightspot.s3.amazonaws.com%2F0e%2Fed%2F4ff93b77b7599f7fb5cdfa97161b%2Fla-1467402560-snap-photo

Fast hätte der exzessive Raucher seinen Durchbruch nicht mehr erlebt: In seinem Oscarjahr erlitt er einen schweren Herzinfarkt und wurde im Krankenhaus für einige Minuten bereits für tot erklärt. Matthau gab daraufhin das Rauchen auf und ging jeden Tag bis zu fünf Meilen zu Fuß, doch blieb er zeitlebens gesundheitlich angeschlagen. In den Folgejahren wurde das Duo Matthau/Lemon zu einem festen Gespann wie vor ihnen nur Laurel und Hardy und in der Dramaturgie als schmuddeliger Brummbär und akkurates Sensibelchen zum Kassengarant. In „Buddy Buddy“ und „The Front Page“ spielte sich Matthau zusammen mit Lemmon in die Spitze Hollywoods.

Neben Wilder setzten auch andere Regisseure auf das bewährte Komiker-Duo. So traten sie in den Filmen „Grumpy Old Men“ und „Grumpier Old Men“ auf – Neuauflagen des bewährten „Männer-WG“-Themas. Bis 1998 entstanden insgesamt zehn gemeinsame Filme, darunter „Extrablatt“, eine slapstick-geladene, bitterböse Satire auf Journalismus und Justiz und deren Verhältnis zu Geld, Ruhm und Macht, die, obwohl im Jahr 1929 angesiedelt, in Inszenierung, Inhalt, und Dialoge eindeutig auf die Watergate-Ära verwies. Matthau sagte in einem Interview: „Ich liebe Jack. Wäre ich eine Frau, hätte ich ihn geheiratet“. Wegen seiner knollennasigen, wülstig-runzeligen Physiognomie mit dichten Augenbrauen nannte er sich selbstironisch „Cary Grant der Ukraine“.

Ein schüchterner Musikliebhaber

Im Musicalfilm „Hello, Dolly!“ (1969) agierte Mattau unter der Regie von Gene Kelly neben Barbra Streisand, einem der Superstars dieser Ära, und spielte den „Halb-Millionär“ Horace Vandergelder, der nach allerlei Verwicklungen seine eigene Heiratsvermittlerin ehelicht. Matthau verstand sich bei den Dreharbeiten nicht mit Streisand und warf ihr „Größenwahn“ vor. Mit einer Produktionszeit von zwei Jahren und einem gigantischen Budget von rund 25 Millionen Dollar zählte der Streifen zu den aufwendigsten Produktionen der 1960er Jahre, spielte aber seine Produktionskosten nicht ein. Matthau, der sich als Charakterdarsteller empfand, missfiel es zunehmend, als Komödiant abgestempelt zu werden. Er trat zwar auch weiterhin regelmäßig in Filmen dieses Genres auf („Keiner killt so schlecht wie ich“, „Hotelgeflüster“, beide 1971), übernahm aber auch gezielt Rollen in ernsteren Filmen und Krimis. So trat er 1973 unter der Regie von Don Siegel in dem Actionthriller „Der große Coup“ in der ungewohnten Rolle eines glücklosen Bankräubers in Erscheinung und spielte im selben Jahr in „Massenmord in San Francisco“ einen Polizeidetektiv, der ein Bus-Massaker aufklären muss.

„Dennis“ war 1993 einer der erfolgreichsten Filme in deutschen Kinos. Quelle: http://de.web.img2.acsta.net/r_640_360/newsv7/16/04/27/11/44/256590.jpg

Seinen wohl bekanntesten Auftritt in einem Kriminalfilm hatte der 1,90 große Matthau 1974 in „Stoppt die Todesfahrt der U-Bahn 123“, in dem er als U-Bahn-Polizist mit der Entführung eines New Yorker Subway-Zuges konfrontiert wird und verzweifelt versucht, das Leben der Passagiere zu retten. Im selben Jahr stellte Matthau unter dem Namen Walter Matuschanskayasky in dem Katastrophenfilm „Erdbeben“ einen Trinker dar, der das titelgebende Erdbeben unbeschadet in einer Bar übersteht. Wenn er in Interviews darauf angesprochen wurde, antwortete er meist, dass dieser eigentlich sein richtiger Name sei, und schmückte die Auskunft oft noch mit Geschichten über eine angebliche Spionagekarriere seines Vaters aus. Er war bekannt dafür, dass er oft scherzhafte Geschichten erfand, die er aber ernst vortrug, vor allem wenn er in Interviews immer wieder die gleichen Fragen beantworten musste.

Nach einer Bypass-Operation 1976 nahm er sich nur wenig zurück. Zu seinen Glanzpunkten gehörten Herbert Ross‘ Komödie „Das verrückte California Hotel“ (1978) mit Jane Fonda, Roman Polanskis Abenteuerfilm „Piraten“ (1985) und seine Albert-Einstein-Verkörperung in Fred Schepisis Liebekomödie „I.Q. – Liebe ist relativ“ (1994). Und zweimal dreht er mit seinem Sohn: 1995 in der Truman-Capote-Verfilmung „Die Grasharfe“ sowie 1998 in „Papas zweiter Frühling“. In der Tragikomödie „Aufgelegt“ (2000), seinem letzten Film, legte Matthau einen vergnüglichen Leinwandtod hin und hinterließ drei unterschiedlich trauernde Töchter. Ziemlich genau drei Monate vor seinem 80. Geburtstag besiegelte ein zweiter Herzinfarkt nun sein reales Ende: In der Nacht auf den 1. Juli 2000 starb er in einem Krankenhaus in Santa Monica.

„Todesfahrt“-Screenshot. Quelle: https://images.tvtoday.de/files/images/201610/1/stoppt-die-todesfahrt-der-u-bahn-123,155110_aufmacher_100.jpg

Er wurde in Los Angeles beerdigt; neben ihm fand sein langjähriger Freund Jack Lemmon, der knapp ein Jahr nach ihm verstarb, seine letzte Ruhestätte. Matthau lebte privat sehr zurückgezogen und bezeichnete sich selbst als schüchternen Menschen. Er war ein großer Liebhaber klassischer Musik. Im Laufe seiner bemerkenswerten, mehr als 50-jährigen Karriere in Film, Theater und Fernsehen hat er in nahezu 70 Werken mitgewirkt. Er konnte von Herzen „granteln“, ähnlich wie Hans Moser, ja abweisend sein bis zur Unhöflichkeit, und genoss die Rollen der kauzig-komischen Kratzbürste mit stoischer Mimik, über die viele noch heute ins Schwärmen geraten.

Als der neunjährige Bäckerssohn Joseph Meister aus dem elsässischen Steige am 4. Juli 1885 vom Hund eines Nachbarn 14 Mal gebissen wurde, konnten weder er, seine Eltern noch die Welt ahnen, dass er einer der berühmtesten Patienten der Medizingeschichte werden sollte. Denn Joseph, den sein Vater rasch nach Paris zu einer medizinischen Koryphäe brachte, sollte der erste Tollwutkranke sein, der durch eine Impfung geheilt wurde: Er erhielt 14 Tage lang Spritzen mit dem Extrakt des getrockneten Rückenmarks unterschiedlich stark infizierter Kaninchen. Am 27. Juli wurde er als geheilt entlassen.

Diese Koryphäe wird heute von vielerlei Fachrichtungen als Pionier beansprucht. Die Medizin sieht in ihm den Entdecker der Erreger von Milzbrand, Schweinerotlauf, Geflügelcholera und natürlich Tollwut, gegen die er Schutzimpfungen entwickelte und damit die Immunisierung revolutionierte. Die Lebensmittelbiologie sieht in ihm den Entdecker der Mechanismen von Fermentation, Gärung und Fäulnis, mit denen er die Bier- und Weinproduktion sowie die Haltbarmachung flüssiger Lebensmittel revolutionierte. Und die klassische Chemie sieht in ihm den Entdecker der Stereochemie, der die Lehre vom dreidimensionalen Aufbau der Moleküle, die die gleiche chemische Bindung und Zusammensetzung, aber eine verschiedene Anordnung der Atome aufweisen, mit entwickelte und damit die Lehre vom räumlichen Ablauf chemischer Reaktionen revolutionierte.

Pasteur im Labor. Quelle: https://www.geo.de/wissen/gesundheit/22902-rtkl-held-mit-makeln-wie-louis-pasteur-die-tollwut-besiegte-und-dabei-sehr

Er war einerseits ein Vollblutwissenschaftler, dessen medizinische Erkenntnisse vielen Menschen das Leben rettete, andererseits ein glühender Patriot und Katholik, der sich weigerte, die Evolutionslehre von Charles Darwin anzuerkennen. Zeitweise galt er in französischen Umfragen noch vor Napoleon als der bedeutendste Franzose, der je gelebt hat. Während sein Andenken in Deutschland, aufgrund seiner Rivalität mit dem fast eine Generation jüngeren Robert Koch, zurückhaltend gepflegt wurde, war er vor allem auch in Russland populär: Zar Alexander III. gehörte mit einem Beitrag von 100.000 Francs zu den großzügigsten Spendern für sein Institut. Ein Asteroid trägt seinen Namen, Orte in Algerien und Kanada, die Straßburger Uni – und mehr als 2000 Straßen Frankreichs: Louis Pasteur. Am 28. September jährt sich sein 125. Todestag.

„er spricht kaum mit mir“

Louis Pasteur wurde am 27. Dezember 1822 als drittes von fünf Kindern einer Gerberfamilie in Dole geboren, wo er mit seinen Eltern und Geschwistern drei Jahre lang lebte und früh mit chemischen Prozessen in Berührung kam: Die Verarbeitung roher Tierhäute zu Leder benötigt Gerbstoffe wie Tannine, die Fäulnis verhindern, auch in der Medizin verwendet werden und als Geschmackskomponente von Wein und Tee bekannt sind. Nach dem Umzug der Familie wuchs er in der ostfranzösischen Stadt Arbois auf. Während der frühen Schulzeit zeigte Louis Pasteur zunächst kein ausgeprägtes Talent für wissenschaftliche Fächer, sondern eher eine künstlerische Begabung, denn er verbrachte viel Zeit damit, Portraits und Landschaftsmalereien anzufertigen.

Er wechselte mehrmals die Schule und besuchte einige Zeit lang die Hochschule in Arbois, bevor er ans Collège Royal in Besancon wechselte. Je älter Louis wurde, desto besser wurden seine schulischen Leistungen: 1837/38 errang er so viele Schulpreise, dass ihm nahegelegt wurde, sich auf die École normale supérieure, die Pädagogische Fakultät, in Paris vorzubereiten. Der erste Versuch scheiterte an zu starkem Heimweh, der zweite klappte. Nach dem Baccalauréat studierte er dort fünf Jahre lang und promovierte 1847 zum Doktor der Naturwissenschaften mit gleich zwei Dissertationen, die je ein chemisches und ein physikalisches Thema behandelten. Noch während seiner Studienzeit führte Pasteur Experimente zur Struktur von Weinsäure durch und entwickelte den sogenannten Weinsäurekristalltest, der heute als Anfang der Stereochemie definiert wird.

Ehepaar Pasteur. Quelle: https://artsandculture.google.com/asset/louis-and-marie-pasteur-lejeune-et-joliot-l/VwHWuNlhfV4eOQ?hl=de

Ursprünglich hatte Pasteur geplant, als Lehrer der Naturwissenschaften tätig zu werden. Als Gymnasialprofessor in Physik war er jedoch nur einige Monate am Lycée in Dijon tätig, denn zu Beginn des Jahres 1849 folgte er dem Ruf an die Universität von Straßburg, wo ihm eine Stelle als Assistent am Chemischen Institut angeboten worden war. Hier verliebte er sich in Marie Laurent, die Tochter des Rektors der Akademie Straßburg, und schrieb ihr: „Die Zeit wird Ihnen zeigen, dass sich unter meinem kalten und schüchternem Äußeren, das Ihnen möglicherweise nicht gefällt, ein Herz schlägt, das voller Liebe zu Ihnen ist“. Er unterzeichnete: „Ich, der ich meine Kristalle so sehr liebte.“

Beide heirateten bereits am 29. Mai, wobei sich der Wissenschaftler verspätete, da er im Laboratorium saß und den Termin vergessen hatte. Auch später war er so mit seiner Arbeit beschäftigt, dass die Familie – beide hatten fünf Kinder – zu kurz kam. In einem Brief an ihre Kinder an ihrem Hochzeitstag 1884 schrieb Madame Pasteur: „Euer Vater ist so beschäftigt wie immer: er spricht kaum mit mir, schläft wenig und steht schon im Morgengrauen auf; kurz, er führt dasselbe Leben, das ich heute vor 35 Jahren mit ihm zu teilen begann.“ Er erarbeitete sich in der Fachwelt rasch einen exzellenten Ruf als Chemiker und wurde 1853 von der Société de Pharmacie mit einem hochdotierten Preis ausgezeichnet. Ein Jahr später übernahm er in Lille einen Lehrstuhl für Chemie und wurde zum Dekan berufen. Hier erwies sich Pasteur als innovativer Lehrer, der durchsetzte, dass die Studenten in neuen Laboratorien praxisorientiert ausgebildet werden konnten.

„Hass auf Preußen. Rache. Rache.“

Lille lebte von der Fabrikation des Runkelrüben- und Kornspiritus, so wandte er sich zunächst den Problemen der Gärung zu. 1857 entdeckt er, inzwischen Kanzler an der École Normale in Paris, das für die Milchsäuregärung verantwortliche Bakterium und gelangt später zur Theorie, dass einzellige Lebewesen an Fäulnis- und Verwesungsprozessen beteiligt sind. Pasteur weist nach, dass der Essigpilz die Essigsäure erzeugt und damit die Entstehung und Erhaltung von Wein beeinflusst. Er bezeichnet die winzigen Mikroorganismen als „Spaltpilze“ und schloss damit die konkurrierende Hypothese aus, die etwa von Justus von Liebig vertreten worden war, es handele sich um rein chemische Reaktionen ohne Beteiligung von Lebewesen.

Tunnel-Pasteurisierungsanlage. Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Pasteurisierung#/media/Datei:60s_Pama_pasteurizer.jpg

Von Weinbauern seiner Heimatstadt Arbois um eine Lösung gebeten, die Entwicklung von Wein zu Essig zu verhindern oder zu verlangsamen, fand Pasteur heraus, dass das durch Erhitzen möglich war. Gleichzeitig musste er aber feststellen, dass dadurch der Geschmack des Weines zerstört wurde. Er experimentierte weiter und erkannte, dass nach kurzer Erhitzung auf eine Temperatur von 55° Celsius mit sofortigem Abkühlen sowohl die Bakterien abzutöten als auch der charakteristische Geschmack des Weines zu erhalten war: Als „Pasteurisieren“ wird die Technik bis heute in der Lebensmittelindustrie zur Haltbarmachung von Milch, daraus hergestellten Produkten sowie Gemüse- und Obstsäften angewandt.

1862 wurde Pasteur in die Akademie der Wissenschaften gewählt und befasste sich ab 1865 auf Bitte der Regierung mit Krankheiten der Seidenraupen. Er entdeckte winzige Parasiten, die die kranken Seidenraupen und ihre Nahrung, die Blätter der Maulbeere, befielen. Als einzige Lösung sah er die Vernichtung aller befallenen Seidenraupen und alles befallenen Futters, wodurch die Seidenindustrie gerettet wurde. Für Pasteur schien das, was für eine ansteckende Krankheit gilt, auch für andere zu gelten, womit der Grundstein der Keimtheorie gelegt war. Da er in Paris auch für die Disziplin unter den Studenten zuständig war, was ihn überforderte, wechselte er nach 1867 ausgebrochenen Studentenunruhen als Chemie-Professor an die Sorbonne. Im Jahr darauf erleidet er einen Schlaganfall, was zu einer partiellen halbseitigen Lähmung führt.

Der stockkonservative Wissenschaftler kündigte während des Deutsch-Französischen Kriegs an, künftig alle Werke mit „Hass auf Preußen. Rache. Rache.“ zu zeichnen. Einen Ehrendoktor der Universität Bonn gab er aus diesem Grund 1870 zurück und weigerte sich noch kurz vor seinem Tod, den preußischen Orden Pour le Mérite anzunehmen. 1875 kandidierte Pasteur für die Konservativen für einen Sitz im Senat für seine Heimatstadt Arbois, scheiterte aber weit abgeschlagen, weil er als Bonapartist galt. Abgesehen von diesem Ausflug in die Politik lebte Pasteur ausschließlich für die Wissenschaft, verfolgte auch keine Hobbys; in seiner Pariser Zeit verließ er nur selten das Quartier Latin, wo die für ihn wesentlichen Wissenschaftsinstitutionen lagen.

Modernes Typhus-Medikament. Quelle: https://www.apotheke-adhoc.de/nachrichten/detail/pharmazie/pharmakonzerne-sanofi-pasteur-impfstoffe-apotheke-arzt-msd-merck/

Da drei Töchter Pasteurs, Jeanne, Camille und Cécile, jeweils als Kind an Typhus starben, hatte er eine starke Motivation, seit den 1870er Jahren die Infektionskrankheiten nicht nur von Haustieren, sondern auch Menschen zu erforschen, und begann mit dem Milzbrand, gegen den er 1877 einen Impfstoff entwickelte. Zu dessen Produktion wurde ein zusätzliches Labor gebaut – der Beginn der Impfstoff-Industrie. Da Robert Koch ebenfalls zum Milzbrand forschte, gab es zeitweilig eine verbitterte, durch Missverständnisse hervorgerufene Konkurrenz, die teilweise auch öffentlich ausgetragen wurde. Durch Infizieren von Versuchshühnern mit abgeschwächten Erregern der Hühnercholera, einer nicht auf den Menschen übertragbaren tödlichen Vogelkrankheit, fand Pasteur heraus, dass die Tiere Antikörper bildeten und die Krankheit überlebten – das Prinzip der Immunisierung nahm Gestalt an. Für seine Tollwut-Forschung wurden Pasteur außerdem die alten Ställe des Schlosses Saint-Cloud zur Verfügung gestellt. Pasteur hatte zeitweise zehn Prozent der gesamten französischen Forschungsausgaben vereinnahmt. 1882 erhöhte der französische Staat seine Leibrente auf 25.000 Francs, vererbbar auf seine Frau und seine Kinder, was dem Doppelten des Gehalts eines Universitätsprofessors entsprach. Im selben Jahr wurde Pasteur als „Unsterblicher“ in die Académie française gewählt.

Karriere von Kontroversen begleitet

Die Erfolge bei der Tollwutimpfung verschaffen Pasteur finanzielle und organisatorische Freiheiten: Eine Flut von Spenden traf ein. Der für die Gründung eines Institut Pasteur aufgelegte Fonds schwoll auf 2,6 Millionen Francs an. Beim Bau des Institutsnahm der Architekt selbst kein Honorar, die Unternehmer berechneten nur ihre Selbstkosten und die Arbeiter arbeiteten gegen allen Brauch auch am Montag. Am 14. November 1888 wurde es in Anwesenheit von Präsident Carnot eingeweiht, Pasteur, der so gerührt war, dass er seine Rede von seinem Sohn vorlesen ließ, wurde erster Direktor. Nach dem Vorbild dieses weltweit ersten Forschungsinstituts für Medizinische Mikrobiologie entstanden Institute in aller Welt, so 1891 das Preußische Institut für Infektionskrankheiten in Berlin.

Gegenüber seinen Schülern und Mitarbeitern verhielt sich Pasteur autoritär, und er galt als völlig humorlos. Sein Labor führte er wie ein Familienvater, wobei er darauf achtete, dass seine Angestellten auch verwandtschaftlich verbunden waren. Durch mehrere Schlaganfälle war Pasteur ab 1887 gesundheitlich allerdings sehr angeschlagen, konnte spätestens ab 1890 keine wichtigen Beiträge zur Forschung mehr leisten und siechte die letzten Lebensjahre dahin. Der 70. Geburtstag Pasteurs am 27. Dezember 1892 wurde im großen Amphitheater der neuen Sorbonne vor über 2000 Personen gefeiert, unter ihnen auch der Präsident. Als Louis Pasteur gestützt an dessen Arm in den Festsaal geführt wurde, erscholl brausender, nicht endender Beifall. Es wurden viele Reden auf ihn gehalten. Nach seinem Tod wurde für ihn ein Staatsakt mit militärischen Ehren im Dom Nôtre Dame gegeben. Im Januar 1896 wurde er in einer Krypta im Institut Pasteur beigesetzt; Jahre später auch seine Frau.

Institut Pasteur. Quelle: https://www.hotel-15-montparnasse.fr/de/tourisme-hotel-paris-15eme/hotel-boulevard-pasteur

Der visionäre Mikrobiologe legte mit seiner unermüdlichen Arbeit im Kampf gegen Krankheitserreger den Grundstein zur Vorbeugung von bakteriell und viral verursachten Infektionen und prägte die moderne Pharmakologie damit nachhaltig. Seine über 500 Arbeiten zeigen, dass eine strikte Trennung zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung bei ihm nicht möglich ist: Er bearbeitete mit großem Elan anwendungsbezogene Probleme und stieß dabei regelmäßig zu Erkenntnissen von grundsätzlicher Bedeutung vor. Da die Diskussionskultur im Wissenschaftsbetrieb des 19. Jahrhunderts generell stärker von Polemik geprägt war als heute, war seine Karriere von Kontroversen begleitet und seine Methode der Beweisführung stark rhetorisch geprägt.

Pasteur hatte sich bereits 1878 ausgebeten, seine Laborjournale niemandem zugänglich zu machen. Doch sein letzter überlebender Enkel übergab die Dokumente 1964 der Nationalbibliothek in Paris. Der Wissenschaftshistoriker Gerald Geison kam nach der Lektüre von über 100 dieser Journale mit Pasteurs schwer entzifferbarer Handschrift zu dem Schluss, dass die Geschichte von Pasteurs Versuchen in einigen Fällen anders abgelaufen ist, als seine Veröffentlichungen nahelegen. So habe er bei der Entwicklung des Tollwut-Impfstoffs zwei Patienten ohne vorige Tierversuche behandelt – ein junges Mädchen starb. Pasteur habe sich nicht immer an die wissenschaftlichen und ethischen Normen gehalten, die er selbst in seinen Arbeiten vertrat, so Geison. Das Buch verursachte in Frankreich einen Skandal – obwohl es nie übersetzt wurde.

Pasteur und Meister. Quelle: https://asset1.betterplace.org/uploads/project/image/000/021/070/147169/limit_600x450_image.jpg

Und Joseph Meister, Pasteurs erster geheilter offizieller Tollwutpatient? Der siebenfache Vater wurde, nach der Pleite seiner Bäckerei, 1913 Hausmeister an Pasteurs Institut. Zwei Töchter traten später ebenfalls in den Dienst des Instituts. Am 24. Juni 1940 nahm sich Meister das Leben – angeblich habe er sich geweigert, deutschen Soldaten Zugang zur Krypta seines Retters zu gewähren. Sein Freitod wurde von vielen Franzosen als Zeichen aufgefasst, dass das Elsass nie wieder deutsch werden würde.

Der Juwelier der Romanows

Matilda Kschessinskaja war Ende des 19. Jahrhunderts eine der begnadetsten Petersburger Primaballerinen. Mit gleich drei Männern der Zarenfamilie Romanow liiert, wurde sie als erste russische Tänzerin bekannt, die in Tschaikowskis „Schwanensee“ die 32 Fouettés en tournant hintereinander tanzen konnte – und als erste nichtadlige Kundin eines Juweliers, der ihr nahezu komplett den Diamantschmuck herstellte. Ihrer eigenen Schilderung nach führte sie ihn aus Sicherheitsgründen nie bei sich, sondern bewahrte ihn stets in einem sicheren Safe bei dem Goldschmied auf. Wenn sie sich auf Auslandsauftritte vorbereitete, nannte sie am Telefon eine geheime Nummer, und die Firma lieferte den Schmuck ins Ausland. Ein Wachmann brachte ihn schließlich ins Hotel oder Theater und hielt sich immer in dessen Nähe auf. Der Produzent war nicht nur kaiserlich-russischer Hofjuwelier, sondern auch königlich-schwedischer Hofgoldschmied: Peter Carl Fabergé. Am 24. September vor 100 Jahren starb er.

Die Idee zu seinem bekanntesten Kleinod, dem nach ihm benannten Osterei, war zwei Zufällen zu verdanken. Der erste hieß Eric Kollin und war ein finnischer Goldschmied in Fabergés Atelier, der um 1880 herum die Idee hatte, das traditionelle russische Osterbrauchtum mit Goldschmiedekunst zu verbinden: damals war es üblich, verzierte Eier und drei Küsse zu verschenken. Waren es bei den einfachen Leuten Hühnereier, setzten die vermögenderen auf symbolische Eier aus edleren Materialien wie Glas, Porzellan oder Metall. Der zweite hieß Dagmar von Dänemark und war die regierende Kaiserin Maria Fjodorowna, die von ihrer Familie nach Russland geschickt wurde, um dort einen völlig Fremden zu heiraten: Zar Alexander III. Wie bei vielen anderen Prinzessinnen in dieser Situation führte das auch bei ihr zu enormem Heimweh. Um sie aufzumuntern, gab ihr Ehemann 1882 ein Ostergeschenk in Auftrag: das erste Fabergé-Ei.

Faberge bei der Arbeit. Quelle: https://www.wikiwand.com/en/Peter_Carl_Faberg%C3%A9

Es handelte sich um ein äußerst exquisites Exemplar: Die emaillierte Schale ließ sich drehend öffnen und präsentierte das Eigelb aus Gold, das wiederum eine kleine goldene Henne beherbergte, die stolz die russische Kaiserkrone trägt. Was dieses Geschenk noch viel besser machte: es war an eine bestehende Sammlung aus dem dänischen Königshaus angelehnt und somit eine süße Erinnerung an die Heimat der jungen Zarin. Das Geschenk wurde ein voller Erfolg, Maria war überglücklich, der Zar entschied sich, daraus eine Tradition zu machen. In 32 Jahren wurden insgesamt 50 Eier für die Zarenfamilie sowie weitere 20 für andere Kunden gefertigt, darunter ein „Eis-Ei“ aus Platin für den Neffen Alfred Nobels. Sie stehen bis heute für Luxus und höchste Goldschmiedekunst und sind Inbegriff von Reichtum und Macht. In sechs Filmen, darunter im 13. James-Bond-Streifen „Octopussy“, ist ein Fabergé-Ei wichtiger Handlungsbestandteil.

42 Eier bis heute erhalten

Sein Beruf war Fabergé in die Wiege gelegt. Carl Peter wurde am 30. Mai 1846 als Sohn des hugenottisch-stämmigen deutschbaltischen Goldschmieds Gustav Fabergé und seiner dänischen Frau Charlotte in St. Petersburg geboren und absolvierte hier die St. Annenschule. 1860 zog die Familie nach Dresden, wo er mit seinem Bruder Agathon eine kaufmännische Ausbildung erhielt. 1861 wurde er in der Dresdner Hofkirche gefirmt. Danach folgten verschiedene Reisen, unter anderem nach Frankfurt zum Juwelier Friedman sowie nach Florenz, wo er die Steinschneidekunst kennen lernte. 1870 kehrte die Familie nach Sankt Petersburg zurück, wo Peter Carl 1872 das Juweliergeschäft übernahm, das derweil von einem Freund und einem Partner weitergeführt worden war. Obwohl kaufmännisch ausgebildet, gilt er als kreativer Kopf der Brüder.

Im Fabergé-Museum in St. Petersburg. Quelle: https://russlande.de/faberge-museum-st-petersburg/

Im selben Jahr heiratete er Augusta Jakobs, die Tochter eines Aufsehers in der kaiserlichen Möbelwerkstatt, mit der er vier Söhne haben wird, die alle in das Unternehmen einstiegen. Als 1881 der Geschäftspartner des Vaters starb, konnte Carl ab diesem Zeitpunkt seine eigenen Kreationen realisieren. Zusammen mit seinem Bruder schuf er Schmuck- und Dekorationsobjekte im zeitgenössischen Trend, der vor allem dem Louis-quinze-, Louis-seize- und Art-nouveau-Stil folgte. Parallel dazu arbeiteten beide im kaiserlichen Kunstkabinett, setzten die umfangreiche Schmucksammlung instand, restaurierten zahlreiche Stücke, schätzten ihren Wert und katalogisierten sie. Diese Tätigkeit inspirierte die Fabergés, Geschmeide in altrussischem Stil nachzuempfinden und in der eigenen Werkstatt anzufertigen, teilweise als originalgetreue Kopien. Diese Geschäftsstrategie brachte ihnen erste, auch internationale Erfolge.

Der Durchbruch gelang den Fabergés, nachdem sie auf der Allrussischen Ausstellung 1882 in Moskau einige kostbare Arbeiten an Alexander III. verkaufen konnten. Für das erste der Fabergé-Eier verlieh er Peter Carl Fabergé neben der Auszeichnung als Hofgoldschmied den St. Annenorden III. Klasse. In der Folge entstand zu jedem Osterfest ein Fabergé-Ei, für das Carl renommierte Juweliermeister wie Michail Jewlampjewitsch Perchin und Henrik Wigström gewann. Nach 1895 ließ Alexanders Sohn und Nachfolger Nikolaus II. je zwei Eier anfertigen, die er der Kaiserin Alexandra Fjodorowna, geb. Alix von Hessen-Darmstadt und seiner Mutter schenkte. Dem Produktionsaufwand entsprechend stiegen auch deren Preise: Kostete das Hennen-Ei noch 4.115 Rubel, waren es für das aus Elfenbein geformte und mit Perlen und Diamanten besetzte Maiglöckchen-Ei (1898) schon beachtliche 6.700 Rubel – gewaltige Summen, kostete damals doch eine Kuh um die 60 Rubel. Das bei weitem teuerste Ei war das 1913 produzierte Winter-Ei mit 24.600 Rubel. Allein das „Krönungsei“ (1897) soll heute rund 30 Millionen Dollar wert sein.

Bond und das Ei. Quelle: https://www.cineimage.ch/film/jamesbond13/lbox_hor_scen_2.html

Von den 50 Zareneiern sind 42 bis heute erhalten geblieben; allein drei befinden sich mittlerweile im Besitz der englischen Königin Elizabeth II: die Colonnade-Eieruhr, das Blumenkorb-Ei und das Mosaik-Ei. Der Verbleib der anderen acht liegt im Nebel der Geschichte. Von fünf gibt es Fotografien als Belege über deren Existenz, die Fotos wurden von der Familie des Zaren gemacht. Für die anderen drei ließen sich nur die jeweiligen Namen herausfinden, die in Verträgen mit Fabergé niedergeschrieben waren. Niemand weiß bis heute, wie sie aussehen oder hat eine Idee, wo sie geblieben sind – bis 2014, wo auf einem texanischen Flohmarkt eins der verschollenen Exemplare auftauchte und einen Schrotthändler reich machte. Der russische Oligarch Wiktor Wekselberg, der seit 2000 mit einer kulturhistorischen Stiftung außer Landes gebrachte historische und kulturelle Schätze suchen und nach Russland zurückholen will, verfügt heute über die weltgrößte Sammlung an Fabergé-Eiern: neun kaiserliche und sechs für andere Kunden.

Rückkehr nach Russland

Sie legten letztlich den Grundstein für den Qualitätsnamen Fabergé, der seitdem für höchstes Niveau und attraktives Design in der Herstellung von Schmuck und anderen Dekorationsobjekten steht. Mit den Kronjuwelen, den offiziellen Krönungsgeschenken an Nikolaus II. und vielen von der Zarenfamilie in Auftrag gegebenen Arbeiten, zumeist originalgetreuen Kopien – nicht einmal der Zar selbst konnte seine Tabakdose von einer Replik zum Gebrauch in der Sommerresidenz unterscheiden –, entstanden bis 1916 die meisten Werke Fabergés; seit 1882 ungefähr 150.000 Stücke. Zu den weiteren Angeboten zählen unter anderem Etuis, Trinkbecher, Tischuhren, Spiegelrahmen, Stockgriffe, Flakons, Bonbonieren oder Schreibgarnituren. Die Produkte waren aber nicht nur für Aristokraten gedacht, sondern auch für einfache Bürger wie etwa zu Ostern Miniaturanhänger in Gestalt von Eiern, die mit verschiedenfarbiger Emaille verziert waren.

Hohe Auszeichnungen künden von der Akzeptanz der Schmuckstücke. Auf einer Nürnberger Ausstellung wurde dem Unternehmen für die gelungene Herstellung einer Kopie des Skythenschatzes eine Goldmedaille verliehen. Im Jahr 1897 wurde er auf der Kunstindustrie-Messe in Stockholm zum Lieferanten der königlichen Hoheit Schwedens und Norwegens ernannt. Nach der Weltausstellung 1900 in Paris, wo er Teil der Jury war, durfte er sich Ritter der Ehrenlegion nennen. Die Pariser Goldschmiedegilde verlieh ihm den Titel Maître. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte Carl Fabergé über 500 Mitarbeiter in seinen Geschäften in St. Petersburg, Moskau, Odessa und London.

Faberge-Schmuck. Quelle: https://www.echo-online.de/freizeit/kunst-und-kultur/ausstellungen/darmstadter-schlossmuseum-prasentiert-goldschmiedekunst-von-faberge_18146687

Während der Oktoberevolution 1917 gelang es Fabergé, als Kurier der englischen Botschaft getarnt, aus dem Land zu fliehen. Das Familienunternehmen wurde zunächst verstaatlicht, wenig später aufgelöst. Der Bestand an Wertsachen in der Londoner Filiale und anderen ausländischen Partnerfirmen erlaubte ihm, seinen Lebensstandard auch im Ausland zu halten. Sein Weg führte ihn zunächst über Lettland und Finnland nach Deutschland, zuerst nach Berlin, später zur Kur nach Wiesbaden, wo er bereits im Rollstuhl saß: Das Erleben, wie sein Lebenswerk zerstört wurde, belastete ihn schwer, sein Gesundheitszustand verschlechterte sich. Laut der Fremdenliste vom 30. Mai 1920 habe er hier dennoch seinen 74. Geburtstag gefeiert, mit „15 alten Petersburger Freunden“. Es sollte sein letzter Geburtstag sein. Er zog im Sommer ins Exil nach Lausanne, wo er sich behandeln lassen wollte, sich aber von den Umbrüchen nicht mehr erholte und schließlich starb. Er wurde auf dem Friedhof Grand Jas in Cannes beigesetzt.

Seine Söhne Eugène und Alexander gründeten das Unternehmen nach seinem Tode neu. Das erste Fabergé-Ei, das nach der Oktoberrevolution wieder offiziell Einzug in den Kreml hielt, war das „Gorbatschow-Friedens-Ei“, das dem ehemaligen Präsidenten der Sowjetunion 1991 anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises überreicht wurde. Das aus Gold, Silber, Emaille, Diamanten und Rubinen gestaltete Ei ist auf fünf Exemplare limitiert. Nur zwei sind weltweit ausgestellt: Gorbatschows persönliches Exemplar in der Kreml-Rüstkammer in Moskau sowie das Werksexemplar, das 1993 dem Schwabacher Stadtmuseum übergeben wurde. Seine Heimat Russland hat dem berühmten Sohn durch den Wiedereinzug seiner Kreationen in den Kreml zu Ostern 2001 mit einem Festakt in der Rüstkammer eine späte Ehre erwiesen.

1969 war ein Jahr, in dem so mancher Satz fiel, der Geschichte machte: Neil Armstrong war auf dem Mond gelandet, Willy Brandt Kanzler geworden, und Woodstock gab es auch noch. Doch gefragt, was für ihn der wichtigste Satz des Jahres gewesen sei, antwortete er: „Der Schwanz bleibt drin.“ Gefallen ist der Satz im Kinosaal des Wiesbadener Fürstenschlosses, dem damaligen Tagungsort der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSK). Elf Männer und eine Frau hatten seinen Film „Dein Mann, das unbekannte Wesen“ zu begutachten. „Und auf einmal“, berichtete er im Spiegel, „war da dieser Penis“: Auf der Leinwand wurde gezeigt, wie eine Erektion entsteht. Elf der Gutachter knipsten ihre Leselampen an: Äußerste Empörung! Sie verlangten, den Film zu schneiden. Die einzige Frau im Gremium aber widersprach. So knapp wie salopp. Und da blieb der Schwanz drin.

„Zwei Tage und zwei Nächte musste ich über jede einzelne Szene verhandeln“, sagte er später der Welt. „Sie wollen wohl die ganze Welt auf den Kopf stellen, jetzt soll sogar die Frau oben liegen!“, soll ein Zensor gar angemerkt haben. Der Streifen war nur einer von insgesamt acht Aufklärungsfilmen, mit denen er als eine Art Telekolleg-Mann zwischen 1968 und 1972 beinahe eine gesamte Nation an die Sexualität heranführte – als ob es das Thema zuvor gar nicht gegeben hätte: Oswald Kolle. Der Journalist, Autor und Filmproduzent mit niederländischem Pass starb am 24. September 2010 in Amsterdam. „Sein Tod ist ein großer Verlust im Kampf um ein menschenfreundliches und lebensbejahendes Miteinander“, schrieb der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA), der ihm kurz zuvor den „Sapio“-Preis verliehen hatte, um seinen unermüdlichen Einsatz für die sexuelle Selbstbestimmung zu würdigen, in einem Nachruf.

Geboren wurde Oswald am 2. Oktober 1928 in Kiel als Sohn des renommierten Psychiaters Kurt Kolle, der im 3. Reich nicht publizieren durfte und ihn auch gern als Mediziner gesehen hätte. Doch der von ihm geplante Weg dahin bewirkte das Gegenteil: Ende der 40er-Jahre bat er seinen Sohn, Teile des ersten Kinsey-Reports „Die Sexualität des Mannes“ ins Deutsche zu übersetzen. „Damals begann mein Interesse an Sexualität und Moral, denn wir reden über eine Zeit, in der Präservative in Apotheken nur an Ehepaare verkauft werden durften“, sagt Kolle junior später, macht zunächst eine Ausbildung in der Landwirtschaft und ging 1950 in den Journalismus. Sein Bruder sollte dann dem väterlichen Wunsch nachkommen; er wurde ein berühmter Urologe.

Der gealterte Kolle. Quelle: https://www.kino.de/star/oswalt-kolle/

Kolle begann als Volontär bei der Frankfurter Neuen Presse und machte sich zunächst einen Namen als Filmjournalist. Schon 1951 wurde er Lokalchef der Frankfurter Nachtausgabe und war bis 1953 Mitarbeiter der Fachzeitschrift Filmblätter, ehe er sich der neugegründeten Bild in Hamburg anschloss und für diese Klatschgeschichten schrieb: „Bild, das merkte ich schnell, war eher ein Märchenblatt als eine Zeitung“, bemerkte er einmal. Nach seinem Abgang dort 1955 schrieb er als Kulturchef Artikel über Prominente für die BZ. Später wurde er stellvertretender Chefredakteur der Film- und Fernsehzeitschrift Star Revue, die von 1955 bis 1960 zum Spiegel-Verlag gehörte, und leuchtete die Intimzonen von Stars wie Hildegard Knef, Curd Jürgens und Brigitte Bardot aus.

„Aufklärer der Nation“

1959 lernte er seine spätere Frau Marlies Duisber kennen – beide waren sich vom ersten Tag an untreu: „Ich habe ihr von jeder Frau erzählt und sie mir von jedem Mann.“ Den Pakt beider beschrieb Kolle so: „Wir können sexuell nicht treu sein und wollen andere Beziehungen, aber wir haben keine Geheimnisse voreinander und gehen nie auseinander – unter keinen Umständen!“ Soziale Treue war ihm wichtiger als sexuelle. Er hatte mit Marlies, die nach 47 Jahren Ehe an Brustkrebs starb, drei Kinder, aber auch Affären mit den Schauspielern Horst Buchholz und O.E. Hasse ebenso wie mit Romy Schneider. Bei der Quick wurden er neben seinem damaligen Kollegen Johannes Mario Simmel zu einem der höchstbezahlten Yellow-Schreiber.

Seinen eigenen Durchbruch zum „Aufklärer der Nation“ schrieb er dabei einem Zufall zu: Die Frau des Quick-Chefredakteurs erwartete ein Kind und beklagte sich, dass die vorhandenen Bücher über Schwangerschaft und Kinderentwicklung mehr vernebelten als erklärten. Prompt schrieb Kolle „Dein Kind, das unbekannte Wesen“. „Der Chefredakteur war begeistert, es wurde gedruckt, er bekam aber daraufhin von Adenauers langjährigem Familienminister Franz-Josef Wuermeling einen Brief mit folgender sinngemäßer Aussage: ‚Wenn solche schweinischen Sachen noch einmal in der Quick erscheinen, wird die Zeitschrift verboten‘“, berichtete Kolle im Spiegel. Er hatte sein Lebensthema gefunden zu einer Zeit, als das Geschehen in Schlafzimmern und unter Bettdecken öffentlich noch tabu war: „Alle Liebe dieser Welt“, „Geheimnis der Liebe“, „Sexualität 70“ lauten Veröffentlichungen von damals, die ein enormes Echo fanden.

Ein klassischer Kolle. Quelle: https://www.booklooker.de/B%C3%BCcher/Oswalt-Kolle+Das-Wunder-der-Liebe/id/A025003j01ZZO

Für die Neue Revue schrieb er die Serie „Dein Mann, das unbekannte Wesen“ – das Blatt hatte am Ende der Serie mehr Auflage als der Stern. „Das war wie ein Dammbruch. Es kamen Zehntausende Briefe von Frauen, die erstmals ihre Not beim Sex aussprachen, und ich wollte ihnen helfen, etwas weniger unglücklich zu sein“, so Kolle. Damals entstand einer seiner vielen Lehrsätze: „Liebe kann man nicht lernen, Sexualität sehr wohl.“ Unternehmen und Kirchen riefen zum Boykott des Blatts auf, Kukident stornierte alle Anzeigen, und die Neue Revue wurde aus den Wartezimmern verbannt. Er fühlte sich zwischen Linken und Rechten zerrieben, bilanziert Kolle Jahrzehnte später im Spiegel: „Die Linken haben mich als Erzspießer betrachtet, der doch nur die Ehe retten will. Die Rechten haben gesagt: ‚Was der Mann macht, ist schlimmer als der Zweite Weltkrieg, der zerstört unsere abendländischen Werte. Die Deutschen werden in die tiefste Barbarei versinken und auf offener Straße Orgien feiern.“

Bild-Kolumnist Franz Josef Wagner schrieb damals: „Jetzt liegt in jedem deutschen Ehebett ein Dritter: Oswalt Kolle.“ Die Verfilmung der Serie zog dann sechs Millionen Zuschauer ins Kino. Als der Film in einigen Kantonen der Schweiz verboten wurde, entstand der sogenannte Kolle-Tourismus: Man setzte sich ins Auto und fuhr in einen Kanton, wo der Film gezeigt werden durfte. Der Polizeipräsident von Zürich rief zum Kulturkampf auf und erklärte: „Wir lassen uns nicht von einem Deutschen vorschreiben, wie wir uns im Bett verhalten sollen.“ Die Londoner Times bilanzierte: „Viele Männer gehen aus den falschen Motiven in Kolles Filme, aber alle kommen mit den richtigen raus.“ Seine Publikationen wurden in 17 Sprachen – auch Chinesisch – übersetzt und erreichten spektakuläre Auflagen. 140 Millionen Menschen sollen weltweit seine Filme gesehen haben; in einem davon hatte er mit seiner Frau, der Tochter und dem Sohn mitgespielt. Auf Sylt ließ er sich mit seiner Familie am Nackt-Badestrand für eine Zeitschrift fotografieren.

„Liebe altert nicht“

Mit seiner Liebesschule schuf der „Sexualdemokrat“ (Deutsche Welle) eine Fernsehserie zur sexuellen Aufklärung, außerdem schrieb er Unterhaltungsromane wie „Sylter Sommer“, den er für RTL zur Unterhaltungsserie „Sylter Geschichten“ entwickelte. Zudem überarbeitete er die Drehbücher seiner Aufklärungsfilme, die der Sender 1997 erfolgreich ausstrahlte. Das langjährige FDP-Mitglied wurde 2000 von der Deutschen Gesellschaft für Sozialwissenschaftliche Sexualforschung (DGSS) mit der Magnus-Hirschfeld-Medaille für Sexualreform geehrt. 2002 wird sein Leben unter dem Titel „Kolle – Ein Leben für Liebe und Sex“ mit Sylvester Groth in der Titelrolle verfilmt: „Er zeigt die innere Wahrheit, und das ist okay. Außerdem sind die Schauspieler zum Küssen! Nur eins muss ich in aller Bescheidenheit kritisieren: So hässliche, braungemusterte Unterhosen, wie sie der Sylvester Groth trägt, habe ich nie angehabt“, sagt er dem Spiegel.

Szenenfoto: Groth als Kolle. Quelle: https://www.kino.de/film/kolle-ein-leben-fuer-liebe-und-sex-2002/

Wenige Tage vor seinem 75. Geburtstag gesteht er in seiner holländischen Wahlheimat dem Stern: „Ich habe eine neue Liebe gefunden, es ist wie ein Wunder“. Drei Jahre nach dem Tod seiner Frau erlebt er mit seiner neuen Partnerin Jose del Ferro, was er selbst geschrieben hat: „Liebe altert nicht.“ Für Pro7 drehte er noch die fünfteilige Serie „Sexualreport 2008“, für die 100.000 Menschen online 250 Fragen beantworteten: Die größte Umfrage über Sexualität, die es in Deutschland je gab. Im selben Jahr erschien Kolles Autobiographie, in der er unter anderem über die Sterbehilfe für seine krebskranke Frau schrieb und sich gegen Pornographie aussprach: „Der 30-jährige Single – von Beziehungen frustriert – sitzt mit offener Hose vor dem PC und holt sich dort seine Befriedigung. Wir steuern auf eine Masturbationsgesellschaft zu. Das ist ein echtes Problem.“

Ein beinahe unverhofftes Comeback erlebte die These, der freie Sex der Sechziger habe die Sitten verdorben, kurz vor Kolles Tod. Der Augsburger Bischof Walter Mixa behauptete im April 2010, die sexuelle Revolution sei mit Schuld an den zuvor enthüllten Missbrauchsfällen. „Das ist grotesk“, sagte Kolle der WamS. Die sexuelle Revolution habe vielmehr dazu beigetragen, dass die Opfer endlich an die Öffentlichkeit gehen. „Die Kirche konnte ja vorher machen, was sie wollte.“ Der Einfluss des „Orpheus des Unterleibs“ auf die Gesellschaft der sechziger und siebziger Jahre dürfte ähnlich prägend gewesen sein wie der von Willy Brandt, befand Sebastian Hammelehle im Spiegel: „Womöglich lässt sich das Werk Oswalt Kolles sogar am besten mit einem abgewandelten Brandt-Wort zusammenfassen: Mehr Sexualität wagen“. Er selbst beschrieb seinen Antrieb so: „Mein Ziel war es, die Liebe der Männer zu erotisieren und die Liebe der Frauen zu sexualisieren.“ Das kann man so stehenlassen.

„Euer Rolf“

75 Pfennig für „Micky Maus“ – oder nur 60 Pfennig für „Fix und Foxi“? Seit Ende der 1950er Jahre standen bundesdeutsche Kinder vor dem Kiosk und mussten sich entscheiden, wofür sie ihr Taschengeld ausgaben. Der Mann, der als „deutscher Walt Disney“ den amerikanischen Comics mit Figuren Konkurrenz machte, von denen er nie auch nur eine einzige gezeichnet hatte, wird in seinem Leben eine erstaunliche Metamorphose vollziehen – vom sächsischen Drogeriegehilfen über den bayrischen Verleger hin zum amerikanischen Forstwirt: Rolf Kauka. Nur Wochen nach der Eröffnung des „Fix & Foxi Abenteuerlands“ im „Ravensburger Spieleland“, war er am 13. September 2000 gestorben.

Die beiden namensgebenden Hauptfiguren sind Füchse, Zwillingsbrüder, aufgeschlossen, engagiert und sozial eingestellt und sollen den jungen Lesern als vorbildhafte Identifikationsfiguren dienen. Um die kleinen Füchse herum entstand ein Universum, das wie eine Neuauflage der Disney-Welt wirkt: Aus Entenhausen wird Fuxholzen im Landkreis Grünwald im Staat Kaukasien – vermutlich eine Anspielung auf Kauka – Daniel Düsentrieb mutiert zu Professor Knox und der zunächst bösartige Lupo verwandelt sich in eine Art Goofy in Latzhosen. „Die Welt ist ganz ähnlich aufgebaut. Nur seine Typen sind viel flacher und eindimensionaler als die Disney-Figuren“, erklärt Comic-Experte Bernd Dolle-Weinkauf vom Institut für Jugendbuchforschung an der Universität Frankfurt im WDR. 750 Millionen Hefte wird Kauka verkaufen – zeitweise mit einer wöchentlichen Auflage von über 400.000 Stück.

Rolf Kauka. Quelle: https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/land-und-leute/fix-und-foxi-zwack100.html

Als er am 9. April 1917 als Sohn eines Hufschmieds in Markranstädt südlich von Leipzig geboren wird, war dieser Erfolg nicht abzusehen: Kauka absolvierte zwar die örtliche Volksschule, verließ die Realschule in Leipzig aber vorzeitig und blieb nach seiner Ausbildung noch zwei Jahre in einer Markranstädter Drogerie, ehe er aus eigenem Entschluss kündigte. Zwischen 1936 und 1938 verliert sich seine Spur: Es sind einige Cartoons für die Leipziger Neuesten Nachrichten und das Weißenfelser Tageblatt mit seiner Signatur bekannt, seiner späteren Selbstauskunft, er habe ein Gymnasium besucht und vier Semester Betriebswirtschaft studiert, ist zweifelhaft. 1938 leistete er den Reichsarbeitsdienst ab und wurde anschließend zum Wehrdienst eingezogen. Als „Presse-Zeichner“ bewarb er sich dann bei der Wehrmacht als Berufsoffizier. Im Krieg nahm er am Westfeldzug teil und wurde an der Ostfront eingesetzt. 1943 heiratete er die angehende Ärztin Erika Bahre und bekam mit ihr drei Töchter.

„sehr bewährte deutsche Kultur“

Als mehrfach dekorierter Oberleutnant eines Flakregiments setzte er sich bereits einige Wochen vor der endgültigen Kapitulation zu seiner Familie nach Prien am Chiemsee ab. Insgesamt wird er viermal heiraten und mit seiner zweiten Frau nochmals zwei Kinder haben, darunter seinen einzigen Sohn. 1947 gründet er den Kauka-Verlag Prien und verlegt einen „Leitfaden für Polizeibeamte“ – für einige Jahre die einzige Publikation. Er findet eine Anstellung im neuen „Verlag der Zwölf“ München und gründet mit dem Schriftsteller und Verleger Harry Schulze-Wilde 1948 die „Münchener Verlagsbuchhandlung Harry Schulze-Wilde & Co.“. Dabei firmierte er als „Dr. Rudolf Kauka“ – den Doktortitel entlehnte er offenbar von seiner frisch promovierten ersten Ehefrau.

1949 wird die Firma mit dem Zusatz „Rudolf Kauka OHG“ fortgeführt. Verlegt wird zum einen juristische Fachliteratur, zum anderen Unterhaltung in Form von Romanheften und Magazinen. Kauka experimentiert mit Themen und Formaten, manche Magazine erleben nur wenige Ausgaben. Die überformatige Illustrierte ER – die Zeitschrift für den Herrn gehört zu den ersten aus dem Kauka Verlag, der offiziell erst jetzt im Handelsregister eingetragen wird. Ende 1952 veröffentlicht Kauka die Jugendzeitschrift Colombo, die sich vorwiegend Erzählungen und Reportagen aus aller Welt widmete, aber auch einen ersten Kurzcomic enthielt: einen Pantomimenstrip mit einem Strichmännchen namens Dagobert, der vom Münchener Kunstmaler und Illustrator Dorul van der Heide beigesteuert wurde. Als parallel dazu die ersten US-amerikanischen Comics den westdeutschen Markt eroberten, erkannte Kauka die Marktlücke – und die Chancen.

Titel des Eulenspiegel. Quelle: http://www.kaukapedia.com/index.php?title=Eulenspiegel_mit_Fix_und_Foxi_6

Zuerst griff er auf Figuren der deutschen Literaturgeschichte und Sagenwelt zurück: „Seine Magazine sollten einen edukativen Ansatz verfolgen, und so machte er Till Eulenspiegel und Münchhausen zu den wichtigsten Protagonisten“, erklärt Kulturwissenschaftlerin Linda Schmitz im Tagesspiegel. Das bestätigte Kauka viel später „Ich wollte die guten Seiten des Entertainment nehmen und dazu etwas von unserer doch sehr bewährten deutschen Kultur, die manchmal so oberlehrerhaft ist, aber der Welt sehr viel gegeben hat. ” Im Editorial dieser Hefte grüßte er väterlich „Euer Rolf”.

In der fünften Ausgabe von Till Eulenspiegel treten Fuchs und Wolf als Widersacher auf – damit zitiert Kauka Goethes Epos „Reineke Fuchs“. Schon bald entwickelten sich aus diesen anfänglichen Nebenfiguren die Füchse „Fix und Foxi“. 1955 wurde das Heft nach ihnen benannt. Aus dem dummen Wolf wurde die Figur „Lupo“, später ein Publikumsliebling mit eigenem Jugendmagazin. „Fix und Foxi verkörpern erstmal jugendliche Figuren. Und bei ihnen geht es immer um diesen Konflikt zwischen dem gewitzten Kleineren und dem großen Starken in der Person des bösen Wolfs Lupo“, begründet Schmitz den Erfolg der Serie.

Da es in der jungen Bundesrepublik an geeigneten Comic-Zeichnern mangelte, engagierte Kauka erfahrene Illustratoren aus Jugoslawien, Italien und Spanien. Der Illustrator Walter Neugebauer, später auch Zeichner des Haribo-Goldbären, veränderte die zuerst von Dorul van der Heide entworfenen, realistischeren Fuchs-Figuren und verlieh ihnen anthropomorphe Züge. Kurz darauf stieg er zum Art Director des Verlags auf. 1958 ließ Walt Disney Rolf Kauka nach Kopenhagen kommen und bot ihm einen lukrativen Vertrag an, um die inzwischen lästige Konkurrenz loszuwerden. Kauka lehnte ab.

Bewohner von Fuxholzen. Quelle: https://taz.de/Kuratorischer-Fehlschlag/!5388920/

Ab 1964 erschienen in Lupo und anderen Magazinen franko-belgische Comic-Serien wie „Pit und Pikkolo“ (Spirou und Fantasio), „Tim und Struppi“ (Tintin), „Die Schlümpfe“ (Les Schtroumpfs) oder Lucky Luke, die vornehmlich aus dem belgischen Verlagshaus Dupuis stammten. Für Streit sorgt nicht nur bei diesen Serien die damals noch gängige Praxis, die Geschichten einfach einzudeutschen: Statt einer möglichst originalgetreuen Übersetzung erfanden die deutschen Redakteure einen „passenden Text“.  Der Streit kulminierte bei „Asterix und Obelix“, für die Kauka auch die Lizenz erhält.

Siggi statt Asterix

So wird in „Asterix und die Goten“ (1965) thematisiert, wie die Westgoten in Gallien einfallen, den Sieger des jährlichen Druidenwettstreits entführen und mit seiner Hilfe auf Eroberungszug gehen wollen. Im gotischen Kerker schmiedet Wettstreitgewinner Miraculix mit Asterix und Obelix den Plan, einen Bürgerkrieg zu initiieren, damit die Goten für die nächsten Jahrhunderte nicht mehr auf die Idee verfallen, ihre Nachbarn zu überfallen. Die „asterixinischen Kriege“ brechen prompt aus, und die drei Gallier kehren unbehelligt in ihr Dorf zurück, wo man sie schon für tot gehalten hat und ihre Wiederkehr mit der traditionellen Feier unter Sternenhimmel zelebriert.

Diese Episode war die dritte, die Kauka als „Siggi und die Ostgoten“ veröffentlicht: nach „Siggi und die goldene Sichel“ („Die goldene Sichel“) und „Kampf um Rom“ („Asterix als Gladiator“) sowie noch gefolgt von „Siggi der Unverwüstliche“ („Asterix der Gallier“, alle 1965-1966). Deutlich wird bereits an den Titeln, dass er die weltweit sicher stärkste Umdeutung des Originalcomics vornahm. Denn getreu der zeitgenössischen Manier, importiertes Comic-Material einem vorgestellten deutschen Leserhorizont anzupassen, machen die Texter aus den drolligen Galliern wackere Germanen mit Namen Siggi und Babarras, die im rheinischen „Bonnahalla“ den Besatzern in „NATOlien“ tapfer die Stirn bieten, unterstützt von einem „Hexenmeister Konradin“ in Anspielung auf den ersten Kanzler der jungen Bundesrepublik, Konrad Adenauer, zu dem der Druide Miraculix mutiert war.

Siggi-Seite. Quelle: https://i0.wp.com/comic.highlightzone.de/wp-content/uploads/2019/10/Spider-Man3.jpg

Die römischen Feinde reden sich übrigens mit „Boys“ an und kommen sprachlich auch sonst recht angloamerikanisch daher: „You forget wohl, dass we are the winner“. Die Kritik an der Bonner Republik war überdeutlich: Kauka sei „deutschnational und stockreaktionär“, so Matthias Heine in der Welt. Im schwierigen Prozess des sprachlichen und kulturellen Transfers einer Übersetzung des Comics wurde durch nationaldeutsche, xenophobe und teilweise antisemitische Interpretationen aus der Eindeutschung eine mitunter witzlose Germanisierung. Der geldgierige Bösewicht der Sichelschieberbande sprach mit jiddischem Akzent, und über Babarras’ Hinkelstein sagt Siggi etwa: „Musst du denn ewig diesen Schuldkomplex mit rumschleppen? Germanien braucht deine Kraft wie nie zuvor.“ Aus dem Hinkelstein war eine Auschwitzkeule geworden.

In der verfälschenden Kauka-Übersetzung wurden in Anlehnung an die deutsch-deutsche Teilung auch noch allzu offensichtlich die Westgoten zu Westdeutschen und die Ostgoten zu Ostdeutschen umgeschrieben: Sie sprachen mit sächsischem Dialekt, redeten sich mit „Genosse“ an und sprachen in ihren Sprechblasen mit roter Antiqua. Goscinny und Uderzo hatten sich ursprünglich für die gotische Schrift, die Fraktur, entschieden, um die Sprache vom Gallischen und Römischen, der Normalschrift Antiqua, abzugrenzen.

Außerdem wurde bei den gotischen Namen aus dem Suffix –ix ein –ik: Cholerik, Holperik, Elektrik, Lyrik, Mickerik, Rhetorik usw. In Anlehnung an die damalige DDR-Nomenklatur hießen ihre Führer und Agenten aber Hulberick (nach Walter Ulbricht), Stooferick (Willy Stoph) oder Benjaminick (Hilde Benjamin). Das Missionsziel von Häuptling Hullberick las sich so: „Mir ham den besten westgot‘schen Druiden zu kaschen und zurück ower die Grenze zu bringen, vorschtand‘n! Mit seinen Kunststückchen muß‘r uns dann bei der Invasion nach Bonnhalla gegen die Kapitalisten helfen.“

Bussi-Bär. Quelle: https://www.booklooker.de/B%C3%BCcher/Rolf-Kauka+Bussi-B%C3%A4r-Nr-04-1992/id/A02gGN2g01ZZe

Die Übersetzung führte zu einer politischen Debatte und dazu, dass der Comic der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften vorgelegt wurde – ohne Ergebnis. Schließlich wurden auch Uderzo und Goscinny auf die zu offensichtliche „Germanisierung“ aufmerksam. „Wir kauften uns eine Ausgabe, und dann ist uns der Himmel wirklich auf den Kopf gefallen“, erinnert sich Uderzo. Auf sein und Goscinnys Betreiben kündigte der Verlag den Vertrag mit Kauka, der seitdem als stockkonservativ gilt.

„nobel oder kleinkariert“

Zu Kaukas Hochzeiten erschienen bis zu zwölf verschiedene Zeitschriften, darunter das Vorschulheft Bussi Bär, das in zehn Sprachen übersetzt wurde. Kauka verkaufte seine Comics nicht nur in mehreren Ländern Europas, sondern auch in Mexiko und Brasilien. Neben Fix und Foxi wurden legendär das Pauli-Universum aus Maulwurfshausen, das Tom-und-Biberherz- sowie das Mischa-im-Weltraum-Universum sowie die Pichelsteiner. Er sagt von sich selbst, dass er die Figuren entwerfe und deren Charakter konzipiere. Gleichzeitig dürfe der Leser nicht merken, wenn unterschiedliche Zeichner am Werk sind.

Kauka zieht mit Studio und Familie in ein Schlösschen in den vornehmen Münchener Vorstadtort Grünwald, wo er wie ein Despot regiert. Sein langjähriger Mitarbeiter Peter Wiechmann erinnert sich im WDR: „Er war in einem Atemzug nobel oder kleinkariert. Stimmungsumschwünge waren an der Tagesordnung. Es war immer ein Wechselbad der Gefühle, mit ihm zusammen zu arbeiten.“ 1966 erwirbt er Gut Eichenhof bei Freising. 1973 verkauft er seine Comic-Fabrik für damals ungeheuerliche 28 Millionen Mark an den Pabel-Moewig-Verlag, war aber klug genug, die Rechte an den beiden Figuren Fix und Foxi zu behalten – was ihm jährlich eine weitere Million brachte.

Kaukas Fram in Georgia. Quelle: https://www.farmflip.com/farm/34967

Zwei Jahre später gründete er die Kauka Comic Akademie, eine Schule für Comic-Autoren. 1982 verkauft er Gut Eichenhof wieder und lässt sich nicht zuletzt aus Klima- und Gesundheitsgründen mit seiner vierten Ehefrau Alexandra auf der 2 000 Hektar großen Chinquapin-Plantation nordwestlich von Thomasville im Süden Georgias nieder. Er bezeichnete sich nun schlicht als Forstwirt: Er pflanze Bäume an und verkaufe Holz. Von seinem mediterranen Herrenhaus, auf dem seine Comicfigur Lupo als Wetterhahn thronte, fuhr er jeden Tag hinaus zu seinem Fluss, dem Pine Creek, um mit großen Fleischbrocken seine Alligatoren zu füttern, von denen er einen „Caligula” nannte. Kauka verfasste in den 80er Jahren auch zwei Science-Fiction-Romane, darunter „Roter Samstag“, in dem er zum Unmut der Kritik den Dritten Weltkrieg durchspielte.

Mit der 1982 aus dem Kauka Verlag hervorgegangenen Promedia Inc. gründete Kauka eine Verwaltungsgesellschaft für seine Comics und widmete sich fortan der Umsetzung von Fix und Foxi in eine Zeichentrickserie, die erstmals im Februar 2000 im Fernsehen lief, zunächst im Ersten, später im KiKa. 1998 wurde Rolf Kauka für sein Werk mit dem Bundesverdienstkreuz gewürdigt. Die Kauka Promedia Inc. leitete er bis Ende 1999 selbst und übergab dann die Geschäftsführung an Alexandra, in deren Armen er dann auf seiner Plantage starb. Sie versucht bis heute diverse Nach- und Neuauflagen vieler legendärer Kauka-Figuren zu initiieren: So hat die magnussoft deutschland GmbH ab 2007 mehrere Computerspiele mit Fix und Foxi auf den Markt gebracht.

Grünwalder KiTa. Quelle: https://www.facebook.com/fixundfoxicomic/photos/a.220632911319342/541785389204091/

Dennoch: „Der lange Todeskampf von Fix & Foxi ist ein Zeichen für einen Umbruch in der Lesekultur, der sich schon lange angekündigt hat. Das Heft um die beiden frühpubertären Füchse lief eigentlich nur in den Sechzigern und Siebziger wirklich gut … Zuletzt wurden 18.000 gedruckt und längst nicht komplett abgesetzt“, so Thomas Lindemann in der Welt. 2007 verlieh das Münchener Comicfestival Rolf Kauka postum den Comicpreis PENG! für sein Lebenswerk, Alexandra nahm den Preis entgegen. Die Gemeinde Grünwald, die lange Zeit Kaukas Wohn- und Verlagssitz war, eröffnete 2014 zu seinen Ehren die neue Kinderkrippe „Fix und Foxi“ auf dem Gelände des Grünwalder Freizeitparks. Im September 2017 erschien bei der Deutschen Post eine Sondermarke mit einem Fix-und-Foxi-Motiv. Die Straße zu seiner Farm in den USA heißt bis heute Kauka Lane.

Seinen Namen tragen hierzulande nicht nur die SOS-Kinderdörfer, sondern auch weit über 100 Schulen. Der Deutsche Basketball Bund spielt in Erinnerung an ihn jedes zweite Jahr im Frühjahr in Mannheim einen Pokal für Jugend-Nationalmannschaften aus. Eine Dokumentation über ihn erhielt 1958 den ersten Oscar als Bester Dokumentarfilm. Daneben reformierte er den Orgelbau; auf seine Vorstellungen gingen die Instrumente in St. Reinoldi (Dortmund 1909) und Sankt Michaelis (Hamburg 1912) zurück. Und fast nebenbei erfand er den konvexen „Rundbogen“, dessen Haare beim Geigenspiel so entspannt werden können, dass ein gleichzeitiges Anstreichen aller Saiten möglich ist: Albert Schweitzer. Der Universalist starb am 4. September 1965 in Gabun.

Geboren am 14. Januar 1875 in Kaysersberg im Elsass, wuchs er im Pfarrhaus des oberelsässischen Günzbach – dem heutigen Gunsbach – auf, wo sein Vater Dorfpfarrer war. Das Hochdeutsche erlernte Schweitzer erst in der Schule, Deutsch und Französisch beherrschte er fast gleich gut. Im Alter von 17 Jahren gab er in Mühlhausen – dem heutigen Mulhouse – sein erstes Orgelkonzert. Ab 1893 studierte er an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität in Straßburg Theologie und Philosophie und ließ sich zugleich in Paris von Charles-Marie Widor zum Organisten ausbilden.

1894/1895 leistete Schweitzer sein Militärjahr beim Infanterieregiment 143 in der Manteuffel-Kaserne in Straßburg und fasste an Pfingsten 1896 den Entschluss, ab seinem 30. Lebensjahr einen Beruf auszuüben, mit dem er den Menschen helfen wolle. Er setzte das Studium der Philosophie und der Musik in Paris fort, ab 1899 in Berlin, wo er in Philosophie promovierte. 1900 wurde er mit einer Arbeit über das Abendmahl zum Doktor der Theologie promoviert und als Vikar an der Nikolaikirche eingesetzt. 1902 erfolgte an der Universität Straßburg die Habilitation in Evangelischer Theologie, damit wurde er Dozent für Theologie an der Universität. In seinem großen Buch über Johann Sebastian Bach (1905/1908) zeichnete er Bach als Dichter und Maler in Tönen. Auch als Herausgeber der Orgelwerke Bachs gemeinsam mit Widor erwarb er sich 1912/13 große Verdienste.

Albert Schweitzer. Quelle: https://www.welt.de/gesundheit/article117999649/Rettung-fuer-Albert-Schweitzers-Urwaldklinik.html#cs-Albert-Schweitzer-Holds-Two-Newborn-Infants-At-Lambarene-2.jpg

Von 1905 bis 1913 studierte Albert Schweitzer Medizin in Straßburg mit dem Ziel, in Französisch-Äquatorialafrika als Missionsarzt tätig zu werden. Die Immatrikulation war jedoch sehr kompliziert, da er ja bereits Dozent an der Universität war. Erst eine Sondergenehmigung der Regierung machte das Studium möglich. 1912 wurde er als Arzt approbiert, im gleichen Jahr wurde ihm der Titel eines Professors für Theologie verliehen auf Grund seiner „anerkennenswerten wissenschaftlichen Leistungen“. In diesem Jahr heiratete er auch Helene Bresslau, die Tochter des jüdischen Historikers Harry Bresslau, und hat mit ihr eine Tochter. 1913 erschien seine „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“, im selben Jahr folgte seine medizinische Doktorarbeit. Somit war er im Alter von 38 Jahren, bevor er nach Afrika ging, in drei verschiedenen Fächern promoviert, habilitiert und Professor.

„Humanisierung des Krieges“

Noch 1913 reiste Albert Schweitzer mit Helene nach Afrika und gründete auf dem Gelände der Pariser evangelischen Mission in Andende – einem Stadtteil von Lambaréné in Gabun – sein erstes Spital. Er begann in einem alten Hühnerstall, den er bald in einen Operationssaal umwandelte, fügte dann kleine Bambuspavillons für die Kranken an. Seine Frau wirkte als Verwalterin und Krankenschwester, ein Einheimischer assistierte ihr und diente als Dolmetscher. Wegen des weitverzweigten Flussnetzes war der Ort aus allen Himmelsrichtungen erreichbar. Nach der Fertigstellung des Krankenhausbaus konnte er ans andere Flussufer, nach Lambarene, umziehen.

1915 benutzte Schweitzer nach einer Schifffahrt auf dem Fluss Ogove erstmals den für sein weiteres Leben zentralen Begriff der „Ehrfurcht vor dem Leben“; darin sah er zusammengefasst das „Grundprinzip des Sittlichen: Gut ist: Leben erhalten, Leben fördern, entwicklungsfähiges Leben auf seinen höchsten Wert bringen. Böse ist: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten“. Dieses Grundprinzip sei denknotwendig, absolut und universal, Ausgangspunkt dieses Denkens ist ihm die Erkenntnis: „Ich bin Leben, das leben will inmitten von Leben, das leben will“. Der Erste Weltkrieg machte einen weiteren Ausbau seiner Krankenstation unmöglich, 1917 wurde Schweitzer wegen seiner deutschen Staatsbürgerschaft als Zivilinternierter nach Südfrankreich interniert.

Bei einer Behandlung. Quelle: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/albert-schweitzer-ein-leben-fuer-afrika-12278990/der-urwalddoktor-albert-12279847.html

1918 konnte er nach Straßburg zurückkehren, nahm die französische Staatsbürgerschaft an (obwohl er sich selbst gern als „Weltbürger“ bezeichnete) und arbeitete dort als Arzt und Vikar an der Nikolaikirche. Durch Vorträge, Bücher und Orgelkonzerte gelang es ihm, weitere Finanzmittel einzutreiben. 1924 kehrte er nach Afrika zurück, wo er nun ein größeres Krankenhaus bauen konnte. Bald wurde die Raumnot aber wieder zu groß, und er begann, drei Kilometer oberhalb der Missionsstation seine dritte Krankenstation zu bauen. Das 1927 bezogene neue Spital Lambaréné bot mehr als 200 Patienten Platz, europäische Ärzte und Krankenschwestern unterstützten Schweitzer. Im Zweiten Weltkrieg blieb die Einrichtung aufgrund ihrer weltweiten Bekanntheit unzerstört. Er führte jahrzehntelang ein zweigeteiltes Leben: Der Arbeit in seinem Hospital standen längere Aufenthalte in Europa gegenüber, während denen er Konzerte gab, Vorträge hielt und Bücher schrieb – 27 waren es am Ende.

1928 erhielt Schweitzer den Goethepreis der Stadt Frankfurt; mit dem Preisgeld ließ er in Günzbach ein neues Haus bauen, in dem er dann während seiner Aufenthalte in Europa lebte. In seiner Rede zum 100. Todestag Johann Wolfgang von Goethes 1932 in Frankfurt warnte Schweitzer vor den Gefahren des aufkommenden Nationalsozialismus. Versuchen von Joseph Goebbels, den in Lambaréné weilenden Schweitzer einzuladen und für die NS-Ideologie zu gewinnen, erteilte er auf die „mit deutschem Gruß“ geschlossene Anfrage „mit zentralafrikanischem Gruß“ eine höfliche Absage. 1949 unternahm Schweitzer seine erste Reise in die USA, wo man in ihm „den größten Mann des Jahrhunderts“ sah. 1951 wurde Schweitzer mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

Lambarene heute. Quelle: https://www.tagesspiegel.de/images/schweitzer3/8447766/2-format3001.jpg

Für 1952 erhielt er 1953 den Friedensnobelpreis – mit dem Preisgeld errichtete er ein Lepradorf in Lambaréné. In seiner erst 1954 gehaltenen Dankesrede sprach sich Schweitzer deutlich für eine generelle Verwerfung von Krieg aus: „Krieg macht uns der Unmenschlichkeit schuldig“, „zitiert“ er Erasmus von Rotterdam. Infolge der Genfer Konvention von 1864 und der Gründung des Roten Kreuzes sei es zu einer „Humanisierung des Krieges“ gekommen, die dazu geführt hätte, dass die Menschen 1914 den beginnenden Ersten Weltkrieg nicht in der Weise ernst genommen hatten, wie sie dies hätten tun sollen. 1955 bekam er den Orden „Pour le mérite“ in der Friedensklasse, hinzu kamen Ehrendoktorwürden zahlreicher Universitäten.

Arzt und Atomkriegsgegner

Zum Teil wurden Schweitzer rassistische, paternalistische und pro-kolonialistische Einstellungen vorgeworfen. So kritisierte er die Unabhängigkeit von Gabun, weil das Land dafür noch nicht bereit sei. Chinua Achebe berichtete, dass Schweitzer gesagt habe, Afrikaner seien seine Brüder, jedoch seine „jüngeren Brüder“. Der amerikanische Journalist John Gunther besuchte Lambaréné in den 1950ern und kritisierte Schweitzers paternalistische Einstellung gegenüber Afrikanern: Diese würden dort nicht als Fachkräfte eingesetzt. „Mein Vater kam mir immer wie ein Patriarch im Alten Testament vor, mit seiner Sippe von schwarzen und weißen Menschen“, erinnert sich seine Tochter an ihre Aufenthalte in dem Hospital. „Und obwohl er unerbittlich sein konnte über die Art, in der er etwas getan haben wollte, nahm man das hin, denn er hatte dieses Lambaréné geschaffen.“

Aufsehen lösten 1957 drei vom Rundfunk in Oslo ausgestrahlte Reden aus, in der er gegen die Kernwaffenversuche auftrat und zur Vernunft angesichts der atomaren Weltgefahr mahnte; sie erschienen als Buch unter dem Titel „Friede oder Atomkrieg“ und wurden in viele Sprachen übersetzt. Immer größer wurde seine Wirksamkeit im europäischen Kulturleben durch Orgelkonzerte, Vorträge und Reden; seine ethischen Impulse wurden nicht nur im europäischen Raum, sondern in der ganzen Welt gehört und gewürdigt. Nach dem Abschluss des Versuchsstoppabkommens im Jahr 1963 beglückwünschte Schweitzer John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow brieflich zu ihrem „Mut und Weitblick, eine Politik des Friedens einzuleiten“. Allerdings protestierte er im selben Jahr noch einmal öffentlich gegen die nach dem Vertrag weiterhin erlaubten unterirdischen Kernwaffentests.

Anti-Atom-Plakat BRD 1958. Quelle: https://www.hdg.de/lemo/bestand/objekt/plakat-albert-schweitzer-gegen-atomwaffen.html

1957 starb seine Frau. Ende der 1950er Jahre wich die Verehrung Schweitzers einer kritischen Bestandsaufnahme seines Hospitals. Viele kritische Äußerungen richteten sich vordergründig gegen Schweitzers Tätigkeit in Lambaréné, zielten aber offensichtlich auf die Diskreditierung seines öffentlichen Ansehens als Friedensnobelpreisträger im Zusammenhang mit seinem Engagement gegen die Atomrüstung. Theodor Heuss, den er noch aus seiner Jugendzeit kannte und den er bei dessen Heirat getraut hatte, beanstandete Schweitzers Briefwechsel mit Walter Ulbricht und die Kontakte mit der Deutschen Friedens Union DFU. Parallel dazu erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universitäten Münster und Braunschweig und ist seit 1959 Ehrenbürger der Stadt Frankfurt am Main.

1964, ein Jahr vor seinem Tode, übertrug Schweitzer, inzwischen überzeugten Veganer, die ärztliche Leitung des Spitals dem Schweizer Arzt Walter Munz. Immer noch kamen hunderte Patienten täglich. Anfang 1965 besuchten den Mann mit dem markanten Schnauzbart anlässlich seines 90. Geburtstages zahlreiche Repräsentanten aus aller Welt in seinem Krankenhaus in Afrika. Begraben wurde er neben seiner Frau. Drei Monate tanzten Afrikaner immer wieder Totentänze, um den Menschen im Jenseits zu zeigen, was für ein bedeutender Mann zu ihnen kommt – Totentänze dauerten sonst kaum eine Woche. Das Krankenhaus – heute eine Siedlung mit über 1000 Menschen – ging später auf die Schweitzer-Stiftung über. Im Wohnhaus Schweitzers in Günsbach wurden ab 1967 Archiv und Museum eingerichtet. Heute befinden sich hier tausende Briefe und viele Manuskripte seiner veröffentlichten und unveröffentlichten Bücher und Predigten, daneben Dias, Filme, Tonband- und Videokassetten, Tonbänder und Schallplatten mit seinen musikalischen Aufnahmen.

„Sühne zu leisten“

In diesem Jahrtausend nahm die Kritik post mortem an Schweitzer erneut zu. André Audoynaud, sein ärztlicher Direktor Anfang der Sechziger Jahre, kritisierte, Schweitzer habe sein Hospital trotz hoher Spenden nicht modernisiert und unelektrifiziert gelassen, unhygienische und krankheitsfördernde Zustände mit der Begründung von Tierliebe geduldet, Symptomkuriererei betrieben und blind das europäische Modell der Krankenversorgung übertragen. Überdies habe er einen kolonialen Führungsstil gepflegt, schwarze Angehörige von Erkrankten zu Fronarbeit gezwungen und geschlagen. Er sei – dem 19. Jahrhundert verhaftet – in Afrika ein Fremder geblieben, habe trotz großer Unterstützung wenig bewirkt, sich aber medienwirksam mit fremden Federn geschmückt.

Schweitzer beim Orgelspiel. Quelle: https://germanculture.com.ua/wp-content/uploads/2018/02/Dr.-Albert-Schweitzer-Playing-The-Organ-In-1952-e1518744759496.jpg

Diese Kritik wurde allerdings erst 2005 veröffentlicht; es gibt so gut wie keine Augenzeugen mehr, um die Vorwürfe zu überprüfen. Einzelne Vorwürfe können zudem widerlegt werden: Im dokumentarischen Film „Albert Schweitzer“ bereitet sich ein schwarzer Mediziner auf eine Operation vor. Zumindest im Jahre 1964 war der Operationssaal mit einem Generator versehen und mit elektrischen Operationsleuchten ausgestattet. In seiner 2009 erschienenen Biographie über Albert Schweitzer bezeichnete ihn der Theologe Nils Ole Oermann als einen „Meister der Selbstinszenierung“, ohne jedoch die großen Leistungen Schweitzers zu leugnen.

„Er war ein ruhiger Mensch, mit einem Sinn für trockenen Humor, doch er konnte auch zornig werden“, erinnerte sich Ary Van Wijnen 2009, einer seiner medizinischen Direktoren. „Er war eine starke Persönlichkeit und ein kleiner Diktator – aber nicht im schlechten Sinne. Er konnte gut zuhören, man konnte mit ihm diskutieren und ihn dabei auch überzeugen.“ Van Wijnen gab zu, dass er für einige Menschen „fast wie ein Heiliger“ war und man ihn zu viel herausgestellt habe. Dennoch sei er „sehr sensibler Mensch“ gewesen: „Er hat auch geschrieben, wir sind nicht nur in Afrika, um zu entdecken, sondern um etwas Gutes zu tun und damit Sühne zu leisten.“ Schweitzers Jugenderinnerungen bezeichnete Hermann Hesse als „beste Jugenderinnerung im deutschen Sprachraum“.

Auf den ersten Blick haben Amazon-Chef Jeff Bezos, Architekt Friedensreich Hundertwasser, Schauspielerin Heike Makatsch, Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez und Wikipedia-Mitgründer Jimmy Wales gar nichts miteinander zu tun. Auf den zweiten schon: sie alle sind Absolventen von Montessori-Schulen. So ganz falsch kann sie also doch nicht sein, die „Pädagogik vom Kinde her“, wie das reformpädagogische Experiment gern zusammengefasst wird. Seine Urheberin Maria Montessori wurde am 31. August 1870 in Chiaravalle in der Provinz Ancona als einziges Kind einer klassischen Bürgerfamilie geboren, die fünf Jahre nach der Geburt nach Rom umzieht.

Ihr Großonkel war der katholische Theologe und Geologe Antonio Stoppani, aus dessen Theorie zur Verbindung von Theologie und Naturwissenschaften Maria ihre „kosmische Erziehung“ entwickeln sollte. Schon in ihrer Schulzeit interessierte sie sich für Naturwissenschaften und besuchte daher – gegen den Widerstand ihres konservativen Vaters, eines Finanzbeamten – eine technische Oberschule. Nach ihrer Ablehnung für ein Medizinstudium studierte sie an der Universität Rom von 1890 bis 1892 zunächst Naturwissenschaften, bevor es ihr nach ihrem ersten Hochschulabschluss doch gelingt, Medizin zu studieren. Sie musste viel Kritik und Diskriminierungen über sich ergehen lassen, zum Beispiel durfte sie beim Sezieren der Leichen nicht mit Männern in einem Raum sein, was zur Folge hatte, dass sie abends und allein im Anatomiesaal arbeitete. Da sie den Geruch dort widerlich fand, soll sie kurzerhand einen Mann angeheuert haben, der abends mit ihr dort saß und Zigarre rauchte. Aufgrund ihrer Leistungen bekam sie verschiedene Stipendien, mit denen sie ihr Studium ganz alleine finanzierte.

Maria Montessori. Quelle: https://www.montessori-dietramszell.de/paedagogik/maria-montessori/

Während des Studiums war Montessori als Assistentin, später Assistenzärztin an psychiatrischen Kliniken in Rom tätig. Sie spezialisierte sich auf Kinderheilkunde und interessierte sich für die nur notdürftig versorgten geistig behinderten Kinder. Von deren würdelosen und verwahrlosten Zustand tief bewegt, bemühte sie sich um Abhilfe. Überzeugt, dass die Behandlung der „Schwachsinnigen“ oder „Idioten“ kein medizinisches, sondern ein pädagogisches Problem ist, forderte die die Einrichtung spezieller Schulen für die betroffenen Kinder. Als sie kurz vor Ende ihres Studiums einen Vortrag hielt, dem auch ihr Vater lauschte, und donnernden Applaus erhielt, fanden beide wieder zusammen, denn er hatte das Medizinstudium seiner Tochter abgelehnt. Jahre später, zu Marias 30. Geburtstag, schenkte er ihr sogar ein Buch, in das er alle Zeitungsartikel über sie und ihre Arbeit eingeklebt hatte – es waren mehr als 200.

Geburtsstunde der Inklusion

1896 promovierte sie als eine der ersten Ärztinnen Italiens an der Universität Rom über „Antagonistische Halluzinationen“ im Fach Psychiatrie und ließ sich in einer eigenen Praxis nieder. Sie begegnet ihrem Kollegen Giuseppe Montesano – die Beziehung wird einen langen Schatten auf ihre Biografie werfen. Ihr erstes Kind hat Montessori abtreiben lassen, um ihre Karriere nicht zu gefährden. 1898 bekommt sie mit Guiseppe unehelich ihren Sohn Mario und erhält 1899 vom italienischen Erziehungsminister den Auftrag, vor Lehrerinnen in Rom eine Vortragsreihe über die Erziehung geistig behinderter Kinder zu halten. Aus diesem Kurs ging die Scuola magistrale ortofrenica („Heilpädagogisches Institut“) hervor, die sie als Direktorin zwei Jahre leitete und für die sie spezielle didaktische Materialien zum Sprach- und Mathematikunterricht entwickelte. Montesano gehört zum Kollegium, beide gelten als Paar – obwohl Montesano schließlich eine andere Frau heiratet.

Er willigt ein, dass Mario seinen Familiennamen bekommt, verlangt dafür aber die Geheimhaltung der Existenz des Kindes. So wuchs Mario in einer Pflegefamilie auf und wurde von Montessori erst 1913 zu sich genommen. Erst als er über 40 Jahre alt war, bekannte sich Maria zu ihm als seine Mutter. Er diente ihr bis zu ihrem Tode als Sekretär. Ihr eigenes Kind nicht selbst erziehen zu können war vielleicht ein Grund, warum sie sich so sehr um die bestmögliche Erziehung aller Kinder bemühte. Hier ähnelt sie Rousseau, der seine Kinder ins Findelhaus brachte, um ungestört Bücher über Erziehung zu schreiben.

Mit Sohn in Indien. Quelle: https://montessori-aare.ch/lebenskette-maria-montessori/

1901 verließ Montessori menschlich enttäuscht das Institut und nahm ein weiteres Studium der Anthropologie, Psychologie und Erziehungsphilosophie auf. Am 6. Januar 1907 übernahm sie im neugegründeten Casa dei Bambini, eine Tagesstätte für Kinder aus sozial schwachen Familien, im römischen Arbeiterbezirk San Lorenzo die wissenschaftliche Leitung. Sie hatte beobachtet, dass die pädagogisch aufbereiteten Materialien den Kindern mit Behinderungen so sehr halfen, dass einige von ihnen genauso gut in der Schule abschnitten wie nicht Nichtbehinderte, die keine Förderung erhielten. „Warum sollten dann nicht auch diese normalen Kinder, wenn man die gleichen Methoden bei Ihnen anwendete, zu einer viel günstigeren Entwicklung angeregt werden als in jenen Schulen, in denen alle Freude der Kinder am Lernen erstickt wurde?“ Das kann man im Nachhinein auch als Geburtsstunde der Inklusion sehen.

„sich zu offenbaren

Aus den in dieser Zeit gemachten Erfahrungen entwickelte sie die Montessori-Methode, die sie erstmals in „Il metodo della pedagogia scientifica“ (1909) sowie „L’autoeducazione“ (1916) darlegte und ständig erweiterte. Sie beruht auf dem Bild des Kindes als „Baumeister seines Selbst“ und kann insofern als experimentell bezeichnet werden, als die Beobachtung des Kindes den Lehrenden dazu führen soll, geeignete didaktische Techniken anzuwenden, um den Lernprozess optimal zu fördern. Als Grundgedanke der Montessoripädagogik gilt die Aufforderung „Hilf mir, es selbst zu tun“. Das bedeutet einen Paradigmenwechsel von der Lehrer- zur Kindorientierung: „Die Aufgabe der Umgebung ist nicht, das Kind zu formen, sondern ihm zu erlauben, sich zu offenbaren.“ Montessori glaubte, dass sowohl Belohnungen als auch Strafen schädlich sind für die innere Einstellung des Menschen, dass Kinder ganz natürlich aus ihrer eigenen Motivation lernen wollen.

Die Montessorimethode konzentriert sich als Pädagogik auf die Bedürfnisse, Talente und Begabungen des einzelnen Kindes, das dazu ermutigt wird, das Tempo, das Thema und die Wiederholung der Lektionen selbstständig zu steuern. Das Leitmotiv der Methode ist die Pflege der natürlichen Freude des Kindes am Lernen, die einen Kernbestandteil des Wesens eines jeden Kindes darstelle und zur Entwicklung einer in sich ruhenden und ausgeglichenen Persönlichkeit führe. Kinder, die in ihrem eigenen Rhythmus und den eigenen Interessen folgend lernen, erleben Selbstvertrauen und Selbstständigkeit und verinnerlichen das Gelernte so am besten. Selbstständigkeit wird durch die Arbeiten des täglichen Lebens (Fähigkeiten, die direkt im praktischen Leben anwendbar sind) unterstützt.

Montessori und Mussolini. Quelle: https://www.orderisda.org/wp-content/uploads/2019/03/Maria-and-Mussolini.jpg

Dazu entwickelte sie ein eigenes entwicklungspsychologisches Dreiphasenmodell kindlicher Entwicklung, die Didaktik der „Drei-Stufen-Lektion“ und das Konzept der „vorbereiteten Umgebung“ mit selbst entworfenen Materialien in fünf Lernbereichen. Entsprechend ihrem bildungstheoretischen Modell der „Kosmischen Erziehung“ geht es um die pädagogische Umsetzung einer schon im antiken Griechenland vertretenen Vorstellung, dass der Mensch als Mikrokosmos Teil eines kosmischen Ganzen, des Makrokosmos, ist und dass seine „Schöpfungsaufgabe“ darin besteht, an der Realisierung eines universellen „kosmischen Plans“ mitzuwirken.

widerspruchsfreie Weltkultur

Kritisiert wird an dem Konzept bis heute, dass Montessori keinerlei wissenschaftliche Systematik ausgearbeitet habe und nicht über einen positivistischen, von missionarischem Pathos getragenen Eklektizismus hinausgekommen sei, wie Erwin Hufnagel befindet. Nach Helmut Lukesch sind Maria Montessoris „altbackene und allenfalls alltagspsychologische Ausführungen mit dem Stand des heutigen entwicklungspsychologischen oder pädagogisch-psychologischen Wissens nicht in Übereinstimmung zu bringen“ Aus ihren im Einzelfall anregenden „Ideen“ eine zusammenhängende „Montessori-Methode“ abzuleiten, sei „wirklichkeitsfremd“.

Dabei muss das Konzept der vorbereiteten Umgebung als Grundlage von Montessoris Forderung nach einer soziopsychischen Hygiene der gesamten Gesellschaft verstanden werden. Denn es ist nach Montessori nicht genug, einzelne Kinder in ihren Verhaltensweisen zu beeinflussen, sondern sie fordert die „Normalisierung“ der gesamten Population durch diese Hygiene, das Entfernen schädlicher Einflüsse auf die Kinder. Dieser Ansatz einer homogen gestalteten Umwelt führt in Konsequenz nicht nur zu einer Gesellschaft, welche die individuellen Ausprägungen der Kinder dämpft, sondern auch zu einer uniformen, widerspruchsfreien Weltkultur.

Montessori-Material. Quelle: https://www.pinterest.de/pin/581034789395190369/

Und genau das machte sie problemlos anschließbar an den Faschismus Mussolinis – der nach einer Begegnung mit ihr 1924 die Montessori-Methode an allen italienischen Schulen einführte. Durch diese Protektion wurde die italienische Montessori-Gesellschaft von der faschistischen Regierung unterstützt. Die Entfremdung Montessoris gegenüber der faschistischen Regierung setzte erst 1934 ein, als das Regime immer mehr versuchte, sich in die tägliche Arbeit an den Montessori-Schulen einzumischen, beispielsweise durch das Gebot des Uniformtragens.

Doch da hatte ihr Konzept bereits weltweite Verbreitung gefunden. Ab 1913 entwickelte sich in Nordamerika ein starkes Interesse an ihren Erziehungsmethoden, das später erlahmte und ab 1960 mit der Gründung der Amerikanischen Montessori-Gesellschaft wieder aufflammte. In Deutschland hatte in den 1920er Jahren vor allem Clara Grunwald die Montessori-Pädagogik bekannt gemacht und verbreitet. Das erste Montessori-Kinderhaus in Österreich wurde 1917 von Franziskanerinnen in Wien gegründet.

Seit 1916 in Barcelona lebend, wo sie eine Ausbildungsstätte für ihre Pädagogik einrichtet, reiste sie viel, hielt Vorträge und veröffentlichte ihre großen Werke, etwa „Dr. Montessoris Own Handbook“ sowie „The Secret of Childhood“ („Kinder sind anders“). Vor dem Bürgerkrieg in Spanien floh sie 1936 nach Amsterdam und nach Ausbruch des zweiten Weltkrieges nach Indien, wo sie von 1939 bis 1946 mit ihrem Sohn Mario lebte, teilweise von den Briten interniert. Sie baut eine starke indische Montessori-Bewegung und ein großes Netzwerk auf, erlebte aber aus der Ferne zugleich, dass alle Montessori-Einrichtungen in Italien, Spanien, Russland, Österreich und Deutschland geschlossen wurden.

Verkehrserziehung als Anwendungsfeld

Sie kam erst 1949 endgültig nach Europa zurück und ließ sich in den Niederlanden nieder, wo sich heute auch der Hauptsitz der von ihr 1929 gegründeten Association Montessori Internationale (AMI) befindet. Ihr letztes großes Werk „The Absorbent Mind („Das kreative Kind – der absorbierende Geist“) erschien 1949 erstmals in Indien und entstand wie die meisten ihrer Bücher aus einer Sammlung von Vorträgen, die sie selbst hielt und deren Mitschriften von ihrem Sohn Mario stammten. Sie starb am 6. Mai 1952 in Noordwijk aan Zee.

Grab in Nordwijk. Quelle: https://montessori-aare.ch/lebenskette-maria-montessori/

Eine Reihe nationaler Montessori-Gesellschaften, die bestimmte Qualitätskriterien erfüllen, sind heute der AMI angeschlossen. Darüber hinaus gibt es eine Reihe nationaler und internationaler Montessori-Vereinigungen, die unabhängig von der AMI sind und sich in Deutung, Umsetzung und Qualitätsverständnis der Montessoripädagogik von der AMI unterscheiden. Nach Schätzungen der AMI existierten 2011 in 110 Ländern der Welt rund 22 000 Montessori-Einrichtungen. In Deutschland arbeiteten 2009 über 600 Kitas nach den Prinzipien der Montessoripädagogik. Ende 2012 gab es 225 Montessori-Grund- und 156 Sekundarschulen, die meisten in freier Trägerschaft.

Schulübergreifend spielt ihre Pädagogik heute noch in der Verkehrserziehung eine Rolle. Die Kinder werden allerdings nicht nur mit pädagogisch präparierten Lehrmaterialien versorgt, sondern zur Entwicklung eigenen Spielzeugs angeleitet. Dies geschieht etwa in Form der Gestaltung eines eigenen Schulwegspiels, das die Kinder als Brettspiel auf der Basis ihrer begleiteten Schulwegerkundungen selbst entwerfen und herstellen dürfen. Denn die Schüler sollen lernen, altersgerecht für sich und die Verkehrssicherheit mit Verantwortung zu übernehmen, bspw. beim Fahrradfahren, nicht aber als „unfertige Erwachsene“ behandelt und im Verkehrsleben bevormundet und entmündigt werden, in dem sie sich etwa im Elterntaxi zur Schule kutschieren lassen. Das kann man doch glatt gut finden.

Es gibt Medienikonen, die trotz unbekannter Personen wirken, etwa Jewgeni Chaldejs Schnappschuss der gerade durch Sowjetsoldaten gehissten Flagge auf dem Berliner Reichstag. Es gibt natürlich auch Medienikonen, die wegen bekannter Personen wirken, wie Sam Shaws Standfotografie Marilyn Monroes aus den Dreharbeiten zu „Das verflixte siebte Jahr“, auf der ihr weißes Kleid durch den Luftzug eines U-Bahn-Schachts angehoben wird. Und es gibt Medienikonen, die allein wegen ihres verfremdeten Motivs wirken. Der nackte Frauenrücken seiner Geliebten Kiki von Montparnasse mit zwei Celloöffnungen von 1924, „Le violon d‘Ingres“, das als wohl bekanntestes Surrealistenfoto gilt, gehört zu dieser Gruppe. Sein Schöpfer, Man Ray, kam am 27. August 1890 in Philadelphia als erstes von vier Kindern russisch-jüdischer Eltern als Emmanuel Rudnitzky zur Welt.

Die Familie wird ihren Namen später zu Ray amerikanisieren; zu seinen Wurzeln blieb Ray zeitlebens einsilbig. Sein Vater Melech (Max) Rudnitzky arbeitete zu Hause als Schneider, alle Kinder wurden streng er- und schon früh in die Arbeit mit einbezogen, lernten nähen, sticken und das Zusammenfügen unterschiedlichster Stoffe in Patchwork-Technik. Diese Erfahrung des spielerischen Umgangs mit verschiedenen Materialien sollte sich später in Rays Werk widerspiegeln, daneben zitierte er gern Utensilien aus dem Schneiderhandwerk wie Beispiel Nadeln oder Garnspulen in seiner Bildsprache. Er galt von Anbeginn als kreativ und eigensinnig.

Man Ray. Quelle: https://www.cassina.com/de/designer/man-ray

Nach einem Umzug 1897 nach Williamsburg begann er erste Buntstiftzeichnungen anzufertigen, was von den Eltern nicht für gut befunden wurde. Prompt musste er seine künstlerischen Neigungen lange geheim halten: „Ich werde von nun an die Dinge tun, die ich nicht tun soll“ wurde sein früher Leitsatz, dem er lebenslang folgen sollte. Im höheren Schulalter belegte er Kurse in Kunst und Technischem Zeichnen – und dazu, so eine späte Beichte des Künstlers, klaute der junge Besessene wie ein Rabe von Ölfarben bis hin zu farbiger Tinte alles, was ihm in die Finger fiel. Nach dem Abschluss der High-School lehnte er ein Architekturstipendium ab und versuchte sich, eher unbefriedigend, in Porträt- und Landschaftsmalereien. 1908 schrieb er sich an der National Academy of Design und der Art Students League in Manhattan, New York, ein. Doch der didaktisch konservative, zeitintensive und ermüdende Unterricht war nichts für den ungeduldigen Studenten. Auf Anraten seiner Lehrer gab er das Studium alsbald auf und versuchte selbstständig zu arbeiten, so in einer Werbefirma.

Avantgarde im Zeitraffer

Ab 1910 malte Ray Porträts von Freunden und Verwandten in seinem Atelier im Wohnhaus seiner Eltern. Zwei Jahre später schrieb er sich an der liberal-anarchistischen Modern School of New Yorks Ferrer Center ein und belegte Abendkurse. Erstmals fühlte er sich in seinem freien und spontanen Arbeiten unterstützt. Tagsüber arbeitete er als Kalligraf und Landkartenzeichner für einen Verlag in Manhattan. Laut vieler Biographen habe er die europäische Avantgarde im Zeitraffer durchlaufen: Beginnend mit den Impressionisten, gelangte er bald zu expressiven Landschaften, die einem Kandinsky ähnelten, um schließlich zu einer eigenen futuristisch-kubistischen Figuration zu finden, die er abgewandelt sein Leben lang beibehielt.

Rays berühmtestes Werk. Quelle: https://www.researchgate.net/figure/Le-Violin-dIngres-Ingress-Violin-by-Man-Ray-He-mentions-few-more-examples-such-as_fig17_307606894

1913 verließ er sein Elternhaus und zog in eine Künstlerkolonie in Ridgefield, New Jersey, wo er mehr als zwei Jahre lebte. Hier begegnete er der belgischen Dichterin Adon Lacroix, die seine erste Frau werden sollte und mit der er gemeinsame Buchprojekte startete. Ein Galerist verkaufte ein Bild für 150 $ an einen Sammler – der erste Erfolg Man Rays als Künstler. 1915 erwarb er einen Fotoapparat, nutzt das fotografische Bild zunächst aber nur zu Reproduktionszwecken und als Inspirationsquelle. Im selben Jahr wurde er mit den Konzeptkunstpionieren Marcel Duchamp und Francis Picabia bekannt und hatte seine erste Einzelausstellung.

Er experimentierte mit Aerographie, einer Airbrushtechnik, trennte sich von Adon Lacroix, gründete die erste modernistische Künstlervereinigung der USA und entdeckte zunehmend das künstlerische Potential des Fotoapparats, auch des Films. Bei der Arbeit in der Dunkelkammer experimentierte Man Ray erstmals mit Fotogrammen, bei denen Objekte auf lichtempfindlichen Materialien wie Film oder Fotopapier direkt im Kontaktverfahren belichtet werden. Er nennt die Technik Rayographie und produziert sie in der Folgezeit wie am Fließband: Fast die Hälfte seines gesamten Œuvres an Rayographien beziehungsweise „Rayogrammen“ entstand in den ersten drei Jahren nach der Entdeckung seiner „Erfindung“. Bereits Anfang 1922 hatte er alle technischen Möglichkeiten der damaligen Zeit am Fotogramm ausprobiert. Er legt sich in seiner gesamten Künstlerlaufbahn nie auf ein bestimmtes Medium fest: „Ich fotografiere, was ich nicht malen möchte, und ich male, was ich nicht fotografieren kann“, sagte er einmal.

„nicht länger auf Anerkennung warten“

Im Sommer 1921 trifft er, endlich, in seiner „Stadt der Sehnsucht“ Paris ein, wo er bis 1940 leben wird. Hier lernte er die Gruppe von Literaten um André Breton und Paul Eluard kennen, die 1924 den Surrealismus aus der Taufe hob – und sich dabei u.a. auf sein Werk berief. Durch seine fotografischen Porträts der Pariser Avantgarde der zwanziger und dreißiger Jahre macht er sich rasch einen Namen: „um dazuzugehören, brauchte man ein Foto von Man Ray“, weiß der Sammler Marconi im Spiegel zu berichten. Doch der erhoffte finanzielle Erfolg blieb aus, und Man Ray fasste einen folgenschweren Entschluss. „Meine ganze Aufmerksamkeit“, schreibt er in seiner Autobiographie, „richtete ich jetzt darauf, mich als Berufsfotograf zu etablieren, ein Studio zu finden und es einzurichten, um effektiver arbeiten zu können. Ich wollte Geld verdienen – nicht länger auf eine Anerkennung warten, die sich vielleicht nie einstellen würde.“

Das Casati-Bild. Quelle: https://static.geo.de/bilder/60/95/15686/colorbox_image/465509b2eadfbaf751b13e1b1a567a43.jpg

Die Anerkennung als Fotograf aber erfuhr er fast augenblicklich. Er revolutionierte mit seinen Aufnahmen die Ästhetik der Fotografie – und schrieb Geschichte. Ab 1930 machte er regelmäßig Modeaufnahmen für Vogue und Harper’s Bazaar und konzentrierte sich auf surreal-traumhafte Arrangements in statisch-kühlem Studioambiente, die er mit experimentellen Techniken mischte: so arbeitete er oft mit Spiegelungen und Doppelbelichtungen. „Die Bilder, die heute längst Klassiker der Moderne sind, trieben damals manchem Kunstkritiker die Röte ins Gesicht, sie waren ihrer Zeit weit voraus und nicht jeder begriff, welches Darstellungspotential in der Fotografie verborgen lag“, befand Stephan Reisner auf dem Online-Portal lumas.

Auch die Reichen und Schönen rissen sich darum, von Man Ray abgelichtet zu werden – und waren selbst dann noch begeistert, wenn die Aufnahmen völlig in die Hose gingen. Das verhunzte Foto der schrillen Marquise Casati – unscharf und verwackelt bis zur Unkenntlichkeit – zeigte drei Paar Augen untereinander und sollte sofort nach der Entwicklung in den Papierkorb. Aber die betuchte Exzentrikerin bettelte um einen Abzug und war überwältigt. Nichts Geringeres als ein „Porträt ihrer Seele“ habe der große Meister geschaffen, schmachtete sie ergriffen. Mit diesem historischen Stoßseufzer verhalf sie Man Ray zu einer steilen Karriere als Porträtist der feinen Gesellschaft.

Ende der 20er Jahre probiert er sich auch als Filmregisseur aus, doch seine artifiziellen Premieren, obwohl durch US-Mäzene gefördert, floppen. Sein Ruhm war dennoch so groß, dass die 22-jährige Amerikanerin Lee Miller sich bei dem Künstler meldete, um dessen Assistentin zu werden. Die beiden perfektionierten gemeinsam Man Rays Technik der Solarisation – eine Verfremdung des fotografischen Bildes durch starke Überbelichtung – und wurden ein Liebespaar. Miller setzte gegenüber dem älteren Künstler ihre persönliche und künstlerische Unabhängigkeit durch, was nach drei Jahren in der Trennung endete. In dieser Phase wandte sich Man Ray den Theorien des Marquis de Sade zu, seine Werke werden deutlich erotischer, ja pornographischer. Kolportiert wird bis heute, dass ihn die sexuell unabhängige, intelligente und sehr kreative Miller zu einer merkwürdig obsessiv-destruktiven Liebesbeziehung verleitete, die er nicht mehr kontrollieren konnte.

„unbekümmert, aber nicht gleichgültig“

1940 flieht er zurück in die USA, zum einen vor dem heraufziehenden Krieg, zum anderen vor dem Trend der schnelllebigen realistischen Schnappschuss-Fotografie, wie ihn der aufkommenden moderne Fotojournalismus mit seinen innovativen Fotografen wie Henri Cartier-Bresson oder Robert Capa in seiner politischen Emotionalität verkörperten. Er ließ nicht nur seine Freunde und seinen Status als Künstler in Paris zurück, sondern auch seine wichtigsten Werke der letzten zwanzig Jahre: Fotografien, Negative, Objekte und zahlreiche Gemälde. Die meisten Arbeiten hatte er wohl bei Freunden versteckt, dennoch sind zahlreiche Arbeiten im Krieg zerstört worden oder verschollen.

„The long hair“. Quelle: https://www.pinterest.de/pin/831336412444414230/

1941 wurde er in Los Angeles sesshaft. Wenn er auch als Maler reüssieren wollte, so arbeitete er doch als Berater für Hollywood-Studios und als Porträtfotograf. Seine umfangreichste Ausstellung, die am 13. Dezember 1948 mit zahlreichen internationalen Künstlern, Schriftstellern und Filmemachern eröffnet wurde, war ein großes Ereignis und erinnerte noch einmal an die „guten“ Pariser Jahre. Die Ausstellung war zugleich Höhepunkt und Abschluss seines Schaffens in Los Angeles. Ungeachtet des respektablen Erfolgs an der Westküste empfand Man Ray die Resonanz des Publikums in den USA als zu gering, und so kehrte er gemeinsam mit seiner zweiten Ehefrau, Juliet Browner, die der 1946 geheiratet hatte, 1951 nach Paris zurück und bezog eine Studiowohnung in der Rue Férou, die er bis zu seinem Lebensende bewohnte und in der er seine Werke mannigfach kuratierte, ohne Neues zu schaffen.

1960 war er auf der Photokina in Köln vertreten; auf der Biennale von Venedig erhielt er 1961 die Goldmedaille für Fotografie. 1963 legte Man Ray in London seine Autobiografie „Self-Portrait“ vor. Er starb am 18. November 1976 in Paris und wurde auf dem Cimetière Montparnasse beigesetzt. Die Inschrift seines Grabsteins lautet: „unconcerned, but not indifferent” (unbekümmert, aber nicht gleichgültig). Seine Frau Juliet kümmerte sich bis zu ihrem Tod 1991 um den Nachlass von Man Ray, spendete zahlreiche seiner Arbeiten an Museen und gründete die Stiftung „Man Ray Trust“, die eine große Sammlung von Originalarbeiten besitzt und die Urheberrechte des Künstlers hält. Sie wurde neben Man Ray beigesetzt.

„aggressiver Charme“

Der Künstler zählt bis heute zu den bedeutendsten Vertretern des Dadaismus und Surrealismus, wird aber aufgrund der Vielschichtigkeit seines Werkes allgemein der Moderne zugeordnet und gilt als wichtiger Impulsgeber für die moderne Fotografie und Filmgeschichte bis hin zum Experimentalfilm. Seine zahlreichen Porträtfotografien zeitgenössischer Künstler dokumentieren die Hochphase des kulturellen Lebens im Paris der 1920er Jahre. „Geprägt von dem unbedingten Willen, die Motive zu verrätseln und die Welt in die Sphäre des Traums zu heben“, strebe er zumindest für sein künstlerisches Œuvre nach Fotografien, „die nicht wie Fotografien aussehen“, so Freddy Langer in der FAZ und erkennt einen „radikalen Ausdruck aggressiven Charmes“.

Rayographie. Quelle: https://www.ebay.de/itm/Rayograph-XVIII-1923-MAN-RAY-Vintage-Photography-Dada-Surrealism-Poster-/292932958389

Er sei „ein Getriebener, ein ewiger Pendler zwischen den Kunst- und Lebenswelten, der sich immer wieder neu erfinden musste“, meint Bettina Pieper in der Jüdischen Allgemeinen. „Äußerliche Unruhe und Zerrissenheit spiegeln sich wider in den Brüchen seiner künstlerischen Arbeit. Die Beachtung, die Man Ray zu Lebzeiten als Auftragsfotograf entgegengebracht wurde, fand er als Künstler erst lange nach seinem Tod.“ „Man Rays größtes Anliegen und das was, ihn seine ganze Laufbahn hindurch beschäftigte, war sein Wunsch, die Grenzen zwischen den Medien aufzuheben“, bilanzierte Merry Foresta 1988. Er hat allein über zwölftausend Negative hinterlassen, die noch lange nicht aufgearbeitet sind. In Deutschland wird er regelmäßig ausgestellt. Die jüngste Einzelschau hatte im Frühjahr die Stiftung Saarländischer Kulturbesitz ausgerichtet, daneben war er in Düsseldorf und Chemnitz zu sehen.

Schon die Legende, wie seine Vorfahren in die Welt kamen, war abenteuerlich: Saba, die Königin von Reicharabien, kam, „Salomo zu versuchen mit Rätseln“, wie es im 1. Buch der Könige, Kapitel 10, heißt. Von Salomos Weisheit beeindruckt, schenkte sie dem „König hundertzwanzig Zentner Gold und sehr viel Spezerei und Edelgestein“ und zog beglückt von dannen. Die offiziellen, aus dem vierten vorchristlichen Jahrhundert stammenden äthiopischen Geschichtstafeln „Kebra Nagast“ („Ruhm der Könige“) enthüllen aber außerdem: „Salomo hatte der schönen Fremden scharf gewürzte Speisen vorgesetzt, so dass sie in der Nacht Durst bekam. Um aber den Brunnen zu erreichen, musste sie durch das Schlafgemach des weisen Königs. Und diesem Durst entsprang der Ahnherr der erobernden Löwen aus dem Stamme Juda, Menelik, Sohn Salomos.“ Ein äthiopischer Gouverneurssohn sah sich über seine Großmutter väterlicherseits als 225. Nachfolger Salomos: Ras Tafari Makonnen.

Nun findet die Königin von Saba, die im 10. Jh.v.Chr. gelebt haben soll, nicht nur im Alten Testament und äthiopischen Legenden, sondern auch im Koran Erwähnung, weshalb unklar ist, ob ihr Reich tatsächlich in der Gegend von Aksum in Äthiopien gelegen hat. Doch einerlei: als Anfang des 20. Jahrhunderts auf Jamaika eine protestantisch geprägte afroamerikanische Neu-Religion entstand, die als eines der gemeinsamen Merkmale die Vorstellung eines Mensch gewordenen Gottes teilen, prophezeite der jamaikanische Nationalheld Marcus Mosiah Garvey: „Schaut nach Afrika, wenn ein schwarzer König gekrönt werden wird, dann ist der Tag der Erlösung nahe!“

Haile Selassie. Quelle: https://timenote.info/de/Haile-Selassie

Am 2. November 1930 war es soweit: der gerade 1,62 m große Makonnen wurde unter dem Namen Haile Selassie I. („Macht der Dreieinigkeit“) zum Kaiser von Äthiopien gekrönt, der Messias war da. Bis 1953 gehörten zu den Glaubenssätzen der Rastafaris übrigens Aussagen wie „Schwarze sind den Weißen überlegen. Sie werden bald die Welt regieren“ oder „Bald werden die Schwarzen sich an den Weißen rächen.“ Die Farben der äthiopischen Nationalflagge Grün, Gelb, Rot sind zugleich die Farben der Rastafaribewegung. Am 27. August 1975 starb der inzwischen abgesetzte Monarch im Arrest unter ungeklärten Umständen an „Durchblutungsstörungen“. Sein Großneffe Asfa Wossen Asserate schrieb in seinen Erinnerungen, Haile Selassie sei mit seinem Kopfkissen erstickt worden.

„und grübelt und grübelt“

Am 23. Juli 1892 wird er als Sohn des Oberbefehlshabers der Königstruppen und Gouverneur der Provinz Harrar geboren und von französischen Lehrern erzogen. Er sei ein „elfenzarter Knabe“ gewesen, dessen Spielgefährte Iyasu, der designierte Thronerbe, ihn „jederzeit einarmig aufs Kreuz legen konnte“, so der Spiegel 1954. Seine Ausbildung blieb nach europäischen Maßstäben rudimentär, in seiner Jugend war er Gouverneur kleinerer Landstriche. Er heiratet seine erste Frau, die ihm eine Tochter zur Welt bringt, die bereits 1940 stirbt. 1912 folgte die Ehe mit der späteren Kaiserin Menen II., die ihm nochmal sechs Kinder schenkt und 1931 die erste Hochschule für Mädchen gründen wird. Nach einem Putsch der christlich-orthodoxen Aristokratie gegen Iyasu wegen seiner islamfreundlichen Politik wurde dessen konservative Tante Kaiserin und Makonnen, der als Vertreter des liberalen Adels gilt und von der Kaiserin „schmachtäugiger Zwerg“ genannt wird, am 27. September 1916 Kronprinz.

Als Bevollmächtigter Regent war er für die Administration des Landes zuständig, Regierung wäre wohl zu hoch gegriffen. Äthiopien wurde auf sein Betreiben hin 1923 Mitglied des Völkerbundes, 1928 schloss er einen zwanzigjährigen Friedensvertrag mit Italien. Die von ihm fortgesetzte Modernisierung kommentierte er jedoch mit den Worten: „Wir brauchen den europäischen Fortschritt nur, weil wir von ihm umringt sind. Das ist gleichzeitig ein Vorteil und ein Unglück.“ Nach zwei erfolgreich niedergeschlagenen Aufständen wird er 1928 erst König und zwei Jahre später, nach dem Tod der Kaiserin, Kaiser („Neguse Negest“, „König der Könige“).

Selassi bei einem Frontbesuch 1935. Quelle: https://www.spiegel.de/geschichte/aethiopiens-kaiser-haile-selassie-wurde-auf-toilette-verscharrt-a-1049750.html#fotostrecke-3ae55050-0001-0002-0000-000000129467

„Was macht er denn noch so spät?“, soll Selassies Berater Daniel Arthur Sandford laut Spiegel einmal einen Leibgardisten gefragt haben. „Nichts, er sitzt alleine in seinem Arbeitszimmer und grübelt und grübelt und grübelt“, habe der Soldat geantwortet. Ergebnis dieser nächtelangen Überlegungen war ein radikales Modernisierungsprogramm. Zum Entsetzen der Adeligen verbot Selassie die Sklaverei, er rüstete die Armee auf und schickte junge Leute zum Studium nach Europa. Drei Jahre später erließ er erste Verfassung des Kaiserreichs Abessinien, die das Land zwar formell in eine konstitutionelle Monarchie umwandelte, tatsächlich aber seine absolute Machtposition festigte. Als Staatsmann schmiedete er zahlreiche Pläne, wie er sein Land vor den Europäern beschützen könnte. Vor allem vor den Italienern, deren erstes abessinisches Abenteuer 1896 blutig endete und die auf Rache sannen.

„Spannung der Entschlossenheit“

Als die Italiener 1935 in Eritrea Truppen massierten und Grenzzwischenfälle provozierten, enthüllte sein Taktieren – so schlug er eine internationale Beobachterkommission vor und machte das Angebot, seine Truppen von der Grenze zurückzuziehen – die Schuld Mussolinis vor der Weltöffentlichkeit, noch ehe die Invasion begann, mit der die Römer ihre „Kolonialansprüche“ befriedigen wollten. Vor der Generalversammlung des Völkerbunds hielt er am 30. Juni 1936 eine flammende Rede gegen die Untätigkeit angesichts der italienischen Aggression. „Schaffen die Staaten damit nicht einen schrecklichen Präzedenzfall, indem sie sich der Gewalt beugen?“, fragte der Kaiser die Politiker. Seine Anklage blieb unbeachtet, zahlreiche Staaten erkannten die italienische Eroberung an. Trotzig hatte ihn das amerikanische „Times“-Magazin zum Mann des Jahres erklärt. Selassie emigrierte nach Großbritannien. Das Ende des freien Abessinien, einem seit fast 3.000 Jahren unabhängigen und nie kolonisierten Kaiserreich, scheint absehbar.

Dennoch ist die fünfjährige italienische Episode ambivalent zu werten. Unentschuldbar ist die Grausamkeit der italienischen Besatzer, die anfangs sogar das Giftgas Yperit einsetzen, das Zehntausende tötet, das Vieh der Bauern verenden lässt und das Trinkwasser verseucht. Die Bevölkerung wehrte sich mit Attentaten gegen wichtige Funktionsträger. „Auf solche Attentate hat der faschistische Staat dann mit härtester Repression reagiert und hat Tausende von Äthiopiern hinrichten lassen. Und zwar in erster Linie die äthiopische Intelligenz“, meint der Historiker Lutz Klinkhammer vom Deutschen Historischen Institut Rom im DLF.

Selassie kehrt zurück. Quelle: https://www.spiegel.de/geschichte/aethiopiens-kaiser-haile-selassie-wurde-auf-toilette-verscharrt-a-1049750.html#fotostrecke-3ae55050-0001-0002-0000-000000129467

Andererseits hat Italien „das Land ins 20. Jahrhundert gezerrt. Mussolinis Kolonisatoren brachten moderne Technik und konfrontierten die versteinerte mittelalterliche Sozialordnung des Landes mit den Werkzeugen Europas. Sie legten Telephonkabel und Wasserleitungen, sie bauten Autostraßen, Geschäftshäuser, Kühlhäuser, Schulen und Rundfunkstationen, sie demonstrierten die Effektivität moderner Verwaltungsformen“, so der Spiegel. 1941 kehrte Selassie an der Spitze der britischen Befreier zurück und erkannte, dass sein Staat im 20. Jahrhundert nur bestehen kann, wenn er sich des technischen Instrumentariums Europas bemächtigt. „Diese Spannung der Entschlossenheit, den Geist des Alten zu bewahren und die Technik des Neuen zu gebrauchen, kennzeichnet die Regierung Haile Selassies seit seiner Rückkehr“, befindet der Spiegel.

„Wir sind nicht Gott“

Sein Reformeifer nach innen erlahmte allerdings. Der Kaiser zeigte vor allem Interesse am eigenen Machterhalt. Es gibt keine Tageszeitungen, nur zwei Wochenzeitungen, die wenig informativen Wert haben. Die kaiserliche Zensur verbietet alle halbwegs interessanten Meldungen als zu „politisch“. Für moderne Aufgaben, meinen die Äthiopier, sind die ausländischen „Berater“ da, die der Kaiser anwirbt. Sie sind geschickt aus vielen Nationen ausgesucht, deren Einflüsse sich gegenseitig aufheben. Ein Schwede drillt die Luftwaffe, ein Amerikaner die Zivilluftfahrt, Deutsche sitzen im Handelsministerium, Engländer in der Polizei, und Sowjetrussen betreuen das Menelik-Krankenhaus, das Stalin dem Land vermacht hat, weil das einst vom Zaren gestiftete Hospital zerstört wurde. Der frühere Wiener Bürgermeister und SS-Gruppenführer Hermann Neubacher hat die Aufgabe, das „Großdorf“ Addis dem stärkeren Verkehr anzupassen.

Staatsbesuch in Deutschland mit Heuss und Adenauer. Quelle: https://www.spiegel.de/geschichte/aethiopiens-kaiser-haile-selassie-wurde-auf-toilette-verscharrt-a-1049750.html#fotostrecke-3ae55050-0001-0002-0000-000000129467

Und Selassie zeigt Interesse an zahlreichen Auslandsreisen, die ihm den Spitznamen „Reisekaiser“ einbrachten. Im November 1954 besuchte er als erster offizieller Staatsgast die Bundesrepublik, traf Präsident Heuß und Kanzler Adenauer, Parlamentarier und Industrielle, besichtigte Universitäten, Pferdegestüte und Krankenhäuser und gab auf dem Bonner Petersberg eine Pressekonferenz. Mit Kamelen, Elefanten und Ponys auf der Beueler Rheinbrücke wollte man dem Afrikaner ein Gefühl von Zuhause geben. Zehntausende Menschen waren zusammengeströmt, um einen Blick auf den Märchenkaiser zu erhaschen – genau wie bald darauf auch in den USA und zahlreichen anderen Staaten, die Selassie besuchte. Vor allem in Jamaika 1966 entfachte er Begeisterungsstürme. „Wir sind nicht Gott. Wir sind kein Prophet“, versuchte er die Rastafaris umzustimmen. Schließlich stiftete er eine Kirche auf der Karibikinsel.

Haile Selassie genoss im Ausland hohes Ansehen als Staatsoberhaupt des ältesten afrikanischen Landes, eines Gründungsmitgliedes der Vereinten Nationen, und war graue Eminenz und Integrationsfigur des afrikanischen Kontinents in der Dekolonialisierungsphase. Gleichwohl fallen in seine Amtszeit mehrere Kriege, unter anderem mit Somalia um das Grenzgebiet des Ogaden sowie gegen Separatisten in der ehemaligen italienischen Kolonie Eritrea, das seit Ende des Zweiten Weltkrieges beziehungsweise 1950 föderaler Teil Äthiopiens war, dann aber vom Kaiser zur Verwaltungsprovinz herabgestuft wurde. Äthiopien hat ein Parlament, doch das darf nur verabschieden, was der Kaiser vorschlägt. Er selbst ernennt die Mitglieder des Oberhauses, und diese wiederum ernennen die Unterhaus-Abgeordneten. Wahlen sind mit der Würde des Throns unvereinbar. Bereits 1960 war einer seiner Söhne in einen Putsch gegen ihn verwickelt.

„brillanter Außenpolitiker“

Anfang der 1970er Jahre zeigte sich dann auch immer mehr die Unzufriedenheit der Bevölkerung, vor allem der Studenten, mit der Machtfülle des Kaisers, der zu keinerlei Reform des konservativ-aristokratischen Staatsaufbaus bereit war, was sich in den Parlamentswahlen in Äthiopien 1973 zeigte: „Das Volk weiß nicht, was es braucht“, behauptete der Alleinherrscher. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Selassies Reich betrug 38 Jahre, nur jeder zehnte Äthiopier konnte lesen. Weltweit sorgt nun die Untätigkeit des einst so bewunderten Selassie und seiner Beamten für Entsetzen. In diesem Jahr versuchte sein Enkel Iskander Desta, damals Oberbefehlshaber der äthiopischen Marine, einen Umsturz zu erzwingen.

Freilaufende Löwen im Palast. Quelle: https://www.spiegel.de/geschichte/aethiopiens-kaiser-haile-selassie-wurde-auf-toilette-verscharrt-a-1049750.html#fotostrecke-3ae55050-0001-0002-0000-000000129467

Als im Norden eine verheerende Hungersnot ausbrach, während das fruchtbare Äthiopien zugleich 200.000 Tonnen Getreide exportierte, rebellierten die Untertanen: Im Dokumentarfilm „Die unbekannte Hungersnot“ war gezeigt worden, wie Selassie zahme Löwen in seinem Palast mit Fleischstücken von goldenen Tellern fütterte. Ein Jahr später führte die Rebellion gemeinsam mit gewaltsamen Protesten von Studenten schließlich zur Revolution, in deren Verlauf die Forderung nach einer parlamentarischen Monarchie schnell unter Führung des Hauptmanns und späteren Diktators Mengistu Haile Mariam einer marxistisch-leninistischen Doktrin wich. Nach einem Militärputsch musste der Kaiser am 12. September 1974 abdanken. Sein Diener fand den 83-Jährigen im Jahr darauf leblos in seinem Zimmer.

Rastafaris in Jamaica. Quelle: https://www.spiegel.de/geschichte/aethiopiens-kaiser-haile-selassie-wurde-auf-toilette-verscharrt-a-1049750.html#fotostrecke-3ae55050-0001-0002-0000-000000129467

Haile Mariam ließ den Leichnam Selassies unter einer Toilette einmauern, wo er erst 1992 wieder entdeckt wurde. Erst nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft wurde im Jahr 2000 die Bestattung in der Familiengruft in der Dreifaltigkeitskirche von Addis Abeba nachgeholt. Selassie hatte das Land 45 Jahre lange geführt – kein afrikanischer Herrscher der Neuzeit war so lange an der Macht. Er hielt die Landbevölkerung, vor allem die Leibeigenen, in Unwissenheit – noch immer heute hemmt diese Rückständigkeit des ländlichen Äthiopiens jede Entwicklung. Der Kaiser versuchte aber, der städtischen Elite den Anschluss an das 20. Jahrhundert zu verschaffen. Im restlichen Afrika wurde er geschätzt für die Unterstützung der Befreiungsbewegungen im Kampf gegen die Kolonialherrschaft: Nach der Phase der Dekolonisierung wurde Addis Abeba Sitz der Organisation Afrikanischer Einheit (OAU), die Selassie mitbegründete.

Sein Großneffe Asserate kommt zu einer ambivalenten Einschätzung: Zwar habe er sein Land „vom Mittelalter in die Moderne“ geführt, dem italienischen Faschismus Widerstand geleistet und sei ein „brillanter Außenpolitiker“ gewesen, womit er „wesentlichen Anteil an der Entkolonisierung Afrikas“ gehabt hätte. Aber er war den Herausforderungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr gewachsen und uneinsichtig, „dass sich ein moderner Staat … nicht mehr paternalistisch-autokratisch regieren ließ“. Daneben habe er Macht nicht teilen können und sei unfähig gewesen, Entscheidungen zu delegieren, weshalb es „Stillstand im Land“ gegeben habe und er es versäumte, „das Zepter an die nächste Generation weiterzureichen“. Sein Fazit: Vor dem Urteil der Geschichte würden seine „Verdienste um Äthiopien mehr Gewicht haben als die großen Fehler, die er zweifelsohne besaß.“

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