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Den sardinischen und den deutschen Krieg verlor er; seine Kriegserklärung an Serbien mündete auf Grund der Bündnisdynamik in den Ersten Weltkrieg. Eine Tochter starb als Kleinkind, sein einziger Sohn beging Selbstmord, sein Bruder wurde hingerichtet, sein Neffe erschossen, seine Frau erstochen – nach ihrem Tod soll er den Satz „Mir bleibt doch nichts erspart auf dieser Welt“ gesagt haben. Und sein als Neoabsolutismus bezeichneter Versuch, ohne jedes Parlament zu regieren, ließ ihn erst verhasst, später aber, auch aufgrund seines äußeren Erscheinungsbilds, mehr und mehr wie einen gütigen älteren Herrn erscheinen, der als archetypischer „Landesvater“ als letzte Instanz der Bewahrung und des Zusammenhalts seines Vielvölkerstaats auftrat.

Der k.u.k. Hofballdirektor Johann Strauß (Sohn) komponierte gleich zwei Märsche für ihn. Dreimal wurde er erfolglos für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Im Bewusstsein der meisten Deutschen sieht er aus wie Karl-Heinz Böhm, der ihn Mitte der 50er Jahre in der Sissi-Trilogie gespielt hatte: einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Filmproduktionen nach 1945. Joseph Roth beschreibt in seinem Roman „Radetzkymarsch“ die letzten Lebensstunden des Monarchen: Franz Joseph I. Am 18. August würde der erste und zugleich letzte Kaiser der k.u.k. Monarchie seinen 190. Geburtstag feiern.

Franz Joseph I. Quelle: https://www.habsburger.net/de/personen/habsburger-herrscher/franz-joseph-i

Seine Eltern waren Erzherzog Franz Karl und Prinzessin Sophie von Bayern; als Franz II. war sein Großvater bis 1806 der letzte Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation. Bereits von frühester Kindheit an wurde der kleine „Franzi“ als möglicher Kandidat für den Kaiserthron gesehen und konsequent darauf vorbereitet. Vor allem die stolze, dominante, staatsbewusste Mutter Sophie beobachtete die körperliche und geistige Entwicklung ihres Erstgeborenen in ihren Tagebüchern penibel – so wurde das Kleinkind in seiner Umgebung bald „Gottheiterl“ genannt. Die Erziehung lag bis zum siebten Lebensjahr in den Händen der Kinderfrau Louise von Sturmfeder. In einem Überschwang kindlicher Liebe meinte Franzi: „Wenn Du einmal stirbst, laß‘ ich Dich ausstopfen!“

Danach begann eine harte Staatserziehung: Franz Joseph hatte in seiner Kindheit wenig Freiraum. Der Sechsjährige hatte 13 bis 18 Wochenstunden zu absolvieren, mit sieben Jahren bereits 32 Wochenstunden. Im Alter von 16 Jahren war sein Tagesprogramm von sechs Uhr morgens bis neun Uhr abends vollkommen durchstrukturiert, was viele Biografen als regelrechte Dressur ansehen, durch die seine spätere Persönlichkeit vorgeformt wurde. Das Fundament für sein Selbstverständnis als Soldat und Erster Diener des Staates wurde damals gelegt. Das Hauptaugenmerk lag auf dem Spracherwerb: Deutsch und Französisch vor allem, aber auch Tschechisch und Ungarisch sowie später Italienisch und Polnisch als wichtigste Sprachen der Monarchie. Aber auch Latein und Altgriechisch wurden nicht vergessen. Neben der zeitüblichen Allgemeinbildung erhielt er Unterricht in künstlerischen Fächern wie Zeichnen, in dem er sich erstaunlich begabt erwies und Musik, aber natürlich auch in Leibeserziehung wie Turnen, Schwimmen, Fechten, Reiten, Tanzen sowie der Einführung in militärisch-strategische Grundkenntnisse. Die Einführung in das Staatswesen wurde von Metternich persönlich vorgetragen. Anlässlich seines 13. Geburtstages wurde er zum Obersten des Dragonerregiments Nr. 3 ernannt.

„einige gravierende Fehlentscheidungen“

Als es schließlich im März 1848 in großen Teilen von Deutschland und Österreich zu Revolutionsversuchen kam, beschloss der Familienrat der Habsburger, ihrer Monarchie ein neues Gesicht zu verleihen. Franz-Josephs Onkel Ferdinand I. entsagte im mährische Fluchtort Olmütz dem Thron, Vater Erzherzog Franz Karl verzichtete nach energischem Zureden seiner Gattin Sophie. Die sah nun den Moment gekommen, ihren Lebenstraum zu verwirklichen, ihren gerade 18jährigen Erstgeborenen auf dem Kaiserthron zu sehen. Zu seinem Wahlspruch erkor er „Viribus Unitis“ („mit vereinten Kräften“). Er sah seine Hauptaufgabe zunächst darin, eine erneute Revolution unmöglich zu machen. Sein absolutistisches Vorgehen, gestützt auf Militär und katholische Kirche, das im Silvesterpatent 1851 gipfelte, mit dem der neue Reichstag mit Ober- und Unterhaus wieder abgeschafft wurde, machte ihn keineswegs beliebt. 1853 versuchte der ungarische Schneidergeselle János Libényi vergebens, ihn zu erdolchen. Franz-Joseph erlitt eine Wunde unterhalb des Hinterkopfs, der Geselle wurde hingerichtet. An dieses Attentat erinnert die Votivkirche in Wien, die als Dank für die Errettung des Monarchen auf Initiative seines Bruders Ferdinand Maximilian errichtet wurde – der 1867 als Kaiser von Mexico, in Wirklichkeit Spielball von Napoleon III., erschossen werden wird.

Franz und Sisi. Quelle: https://i.pinimg.com/474x/1d/91/7c/1d917cbe51b97044a5dc7bfd26072d88–sissi-franz.jpg

Ebenfalls 1853 suchte die dynastiebewusste Erzherzogin nach einer geeigneten Braut für ihren Sohn, fasste eine Verbindung mit dem Haus Wittelsbach in Gestalt der Töchter ihrer Schwester ins Auge und sorgt für ein Treffen der 19jährigen Helene und der 15jährigen Elisabeth (genannt Sisi) anlässlich seines Geburtstags in Bad Ischl. Unerwartet zog er Elisabeth vor. Am 24. April 1854 kam es in der Wiener Augustinerkirche zur Hochzeit. Aus der Ehe gingen drei Töchter und ein Sohn hervor: Der angedachte Thronfolger Kronprinz Rudolf. Derweil machte der autoritär regierende Franz-Joseph, der es auf 15 Enkelkinder und 55 Urenkel bringen wird, außenpolitisch eine höchst unglückliche Figur: „Die ersten Jahre waren geprägt von Willkür, Unsensibilität und politischer Kurzsichtigkeit, die in einige gravierende Fehlentscheidungen mündeten“, befand sein Biograph Martin Mutschlechner. Sein erster großer Fehler war die Positionierung im Krimkrieg 1853–1856: Österreich erklärte sich neutral, wodurch Franz Joseph seinen engsten Verbündeten, den russischen Zaren Nikolaus I., brüskierte, war doch die ungarische Revolution nur durch Waffenhilfe Russlands niedergeschlagen worden.

Der Verlust der norditalienischen Gebiete während des Risorgimento, der Einigung Italiens, stellte einen weiteren Rückschlag dar, der zudem auch von einem persönlichen Tiefschlag begleitet war: bei der Schlacht von Solferino 1859 übernahm Franz Joseph persönlich das Oberkommando, und als die Schlacht für Österreich desaströs endete, galt seine Unfähigkeit als Heerführer als erwiesen. Österreich hatte in der Folge schwere Gebietsverluste hinzunehmen. Eine fundamentale Erschütterung erfuhr Franz Josephs Regierung dann durch die Niederlage in der Schlacht von Königgrätz 1866, die den endgültigen Verlust der habsburgischen Vorherrschaft unter den deutschen Fürsten zur Folge hatte. Preußen übernahm dank der energischen Politik Bismarcks die Führerschaft, der nach 1871 das österreichische Kaiserreich zu einer Bündnispolitik mit dem wirtschaftlich stärkeren Deutschen Kaiserreich als „Juniorpartner“ zwang.

So stellte sich Presse die Tragödie von Mayerling vor. Quelle: https://i.pinimg.com/474x/1d/91/7c/1d917cbe51b97044a5dc7bfd26072d88–sissi-franz.jpg

1867 half ihm seine Frau Elisabeth, vor allem durch Beziehungen zu hohen ungarischen Familien, den Österreichisch-Ungarischen Ausgleich herzustellen und, zum König von Ungarn gekrönt, den Staat Österreich-Ungarn aus der Taufe zu heben: Die Insuffizienz des neoabsolutistischen Zentralismus hatten Reformen in Richtung eines konstitutionellen Systems („monarchischer Konstitutionalismus“) unausweichlich werden lassen. Die k.u.k. Monarchie hatte nun zwei Hauptstädte – Wien und Budapest, das in wenigen Jahrzehnten einen rasanten Ausbau zu einer Metropole europäischer Geltung durchmachte, sowie zwei gesonderte Regierungen und zwei Volksvertretungen nebeneinander. Zu dieser Zeit war es jedoch längst zu Entfremdung zwischen den Eheleuten gekommen, da Sissi das strenge Hofzeremoniell abstoßend fand und ihre Zeit lieber auf Reisen verbrachte. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Franz-Joseph mehrere Beziehungen zu Geliebten einging: mit Anna Nahowski zeugte er vermutlich eine Tochter, die Schauspielerin Katharina Schratt vermittelte ihm seine Frau höchstselbst.

Wiener Hof als Hort der Traditionen

Das Habsburgerreich erlebte nun einen Gründerzeit-Aufschwung, neue Industriezweige und ein finanzstarkes Bürgertum entstanden – auch wenn anlässlich der Wiener Weltausstellung 1873 ein Börsenkrach nebst Gründerkrach folgte. Die Monarchie wandelte sich vom feudalen Agrarstaat zu einer Industriegesellschaft, wenn auch enorme Unterschiede zwischen hochentwickelten und rückständigen Landesteilen bestehen blieben. Franz Joseph stand dem gesellschaftlichen Wandel ambivalent gegenüber. Der Wiener Hof blieb weiterhin ein Hort der Traditionen und galt als elitärster Europas. Die neuen bürgerlichen Eliten und der Finanzadel wurden als „Zweite Gesellschaft“ zwar Träger des kulturellen Lebens der Stadt – die von ihm gebaute Wiener Ringstraße gilt als Symbol dieser Zeit. Dennoch wurden sie vom Hof nicht als der alteingesessenen Aristokratie gleichwertig angesehen.

Die späteren Jahre des Kaisers verliefen dann alles andere als erfreulich: Nach dem Tod seines Bruders musste er am 30. Januar 1889 den Selbstmord seines einzigen Sohns verkraften. Nach einer unglücklichen Ehe mit Stephanie von Belgien, die nur unter Druck von Franz-Joseph arrangiert wurde, erschoss Kronprinz Rudolf in Mayerling erst seine Geliebte Mary Vetsera und dann sich selbst. Rudolf hatte seine streng militärisch geprägte private Ausbildung abbrechen dürfen, sich naturwissenschaftlichen Studien gewidmet und an Brehms Tierleben mitgearbeitet – und sein Vater ihn von allen Staatsgeschäften ferngehalten. Nur neun Jahre später wurde Kaiserin Elisabeth in Genf von einem italienischen Attentäter mit einer Feile ermordet. Die Thronfolge war zu diesem Zeitpunkt bereits auf seinen ungeliebten Neffen Franz-Ferdinand übergegangen, da auch der Kaiserbruder, Erzherzog Karl Ludwig, bereits verstorben war.

Darstellung des Feilen-Attentats. Quelle: https://img.welt.de/img/geschichte/mobile181480108/9187939767-coriginal-w780/Assassination-of-Elisabeth-of-Bavaria-by-Luigi-Lucheni-1898-Artist-Anon-2.jpg

Ab 1893 verfügte die österreichische Reichshälfte über keine stabilen Regierungen mehr, da diese nacheinander an der Lösung der brennenden sozialen Probleme und angesichts des nationalistischen Extremismus scheiterten. Das Militär und der Beamtenapparat wurden somit zur wichtigsten Stütze der Monarchie, die nach veralteten Prinzipien weiterverwaltet wurde, ohne dass es zu einer grundlegenden Bereinigung der Missstände kam: „Fortwursteln“ nannte das der Volksmund. Das Reich und sein Kaiser wurden von der Moderne überrollt. „Der alte Herr in Schönbrunn“ hielt sich aus dem politischen Tagesgeschäft heraus und wurde mit zunehmendem Alter zu einer mystifizierten, über jede Kritik erhabenen Symbolfigur für den Zusammenhalt der Monarchie. Kein Staatspatriotismus, sondern die Loyalität zum Monarchen wurde als Ausdruck des Zugehörigkeitsgefühls der Bürger zur Monarchie propagiert.

Am Ende seiner Amtszeit sollte es zur folgenschwersten Entscheidung Franz-Josephs kommen, dessen endgültige Folgen der Kaiser nicht mehr erleben musste. Nachdem Franz-Ferdinand 1914 einem Attentat in Sarajewo zum Opfer fiel, nahm dies der greise Franz-Joseph zum Anlass, einen Krieg gegen Serbien zu beginnen: Er verstand das Attentat als einen Angriff auf die Ehre der Dynastie und das Königreich Serbien als Drahtzieher des Attentats. In völliger Verkennung der Weltlage führte er damit die Donaumonarchie in den Weltkrieg und zu ihrem späteren Untergang. Noch bevor es soweit war, starb Franz-Joseph schließlich am 21. November 1916, nach 68 Jahren auf dem Thron, im Alter von 86 Jahren an einer Lungenentzündung. Seine letzten Stunden lesen sich in der Rekonstruktion von Michaela und Karl Vocelka wie eine ewige Wiederholung, geprägt von der Pflicht. Er stand zwischen drei und vier Uhr auf, Termine, Akten und Audienzen folgten bis in den Abend, unterbrochen von kurzen Mahlzeiten, die die meisten Teilnehmer hungrig ließen, weil sich der Kaiser nicht einmal an seinem geliebten Tafelspitz lange aufhielt, das Essen aber mit seiner Sättigung beendet war.

„ein trockener Pragmatiker“

Auch diesen 21. November verbrachte Franz Joseph am Schreibtisch, an dem er mehrfach Schwächeanfälle erlitt. Gegen 18 Uhr wurde der stark fiebernde Monarch auf Anraten der Ärzte zu Bett gebracht, um 20 Uhr war man sich sicher, dass sein Tod unmittelbar bevorstand. Seine letzten Worte waren: „Bitte, mich morgen um halb vier wecken; ich bin mit meiner Arbeit nicht fertig geworden.“ Dann verlor er das Bewusstsein. Um 21.05 Uhr, eine halbe Stunde nach der letzten Ölung, stellte der Leibarzt Joseph Ritter von Kerzl den Tod fest. Um 22.30 Uhr wurde er dem Publikum vor dem Schloss Schönbrunn bekannt gegeben. Der Titel der Extraausgabe der amtlichen „Wiener Zeitung“ lautete: „Das edle Herz eines großen Monarchen hat aufgehört zu schlagen!“ Am 11. November 1918, verzichtete sein Nachfolger Karl I. auf „jeden Anteil an den Staatsgeschäften“. Am Tag darauf folgte die Ausrufung der Republik. Doch den meisten Zeitgenossen schien es, als sei das Kaiserreich bereits zwei Jahre zuvor untergegangen.

Das Attentat von 1914. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/79307cca-0001-0004-0000-000000713950_w1528_r0.7960935187925422_fpx44.99_fpy51.74.jpg

Manche Biographen meinen, der alte Kaiser habe sein Reich sehenden Auges in den Untergang geführt, da er das Ende seiner gewohnten Welt gekommen sah. Als Ausdruck seines Fatalismus muss sein bekannter Ausspruch herhalten: „Wenn wir schon zugrunde gehen müssen, dann wenigstens anständig!“ Seine Trauerfeier war der letzte große Staatsakt der k.u.k. Monarchie – ein „düster-prachtvolles Schauspiel, das sich in absoluter Totenstille vollzog“, wie es ein Zeitungsreporter beschrieb. Viele sahen mit dem toten Kaiser den letzten Anker ihrer Welt schwinden. Denn Franz Joseph I. hat tatsächlich einer ganzen Epoche seinen Stempel aufgedrückt. Als großer Bewahrer und Beschützer überkommener Traditionen und Werte, zugleich aber auch als Trugbild ihrer tatsächlichen Macht, denn sein Kaisertum verschleierte auf fatale Weise die säkularen Gewalten, die am Ende den zweitgrößten Staat Europas aus den Angeln heben sollten.

Mit seinem Tod verlor Österreich-Ungarn die verbindende Klammer, die noch die zentrifugalen Kräfte hatte im Zaum halten können. „Durch die Dauer der Regierung Franz Josephs ist jenes Gefühl der Beständigkeit erzeugt worden, das gerade in diesem zerrissenen und schwankenden Staate wohltätig wirkte“, bestätigte selbst das „Zentralorgan der Deutschen Sozialdemokratie in Oesterreich“ in seinem Nachruf dem toten Kaiser. Er „war kein großer Denker, sondern ein trockener Pragmatiker“, befindet Mutschlechner, der „durch seinen erstarrten Traditionalismus entgegen seinen Absichten zum Ende der Monarchie“ beitrug. Die Persönlichkeit des Kaisers wird unisono als nüchtern und fantasielos geschildert: Pflichtbewusst bis zur Pedanterie, galten ihm Pünktlichkeit und Ordnungssinn als höchste Tugenden. Franz Joseph galt als „Aktenmensch“, der ein enormes Arbeitspensum absolvierte und wie ein Uhrwerk funktionierte. Sein Hobby war die Jagd. 55.000 Stück Wild sind auf den Abschusslisten erfasst.

Der Trauerzug auf dem Heldenplatz. Quelle: https://www.mediathek.at/der-erste-weltkrieg/der-erste-weltkrieg-ausgabe-4/der-alte-kaiser/begraebnis-einer-epoche/

Franz Joseph präsentierte sich als statische, leidgeprüfte Gestalt, die „mit der zwangsneurotischen Pedanterie einer Maschine“ am Schreibtisch saß, Akten studierte und unterschrieb, wie Erwin Ringel meinte: „Der Mann wurde schon in der Kindheit durch seine Mutter und die Erziehung vernichtet, hat dann 68 Jahre regiert, … und hat in dieser überlangen Zeit keine einzige konstruktive Idee gehabt “. Diese Diagnose resultiert aus dem Pessimismus des Kaisers und seinem Wissen um die eigene Erfolglosigkeit, die jedoch vom Gedanken der Pflichterfüllung bis zum letzten Atemzug und dem Wunsch, mit Ehren zugrunde zu gehen, flankiert wurden, ferner von einer tief eingewurzelten „Scheu vor Entscheidungen, Reformen und Veränderungen“. Seinen Spuren begegnet man in Österreich allerorten; unzählige Verkehrsflächen, Gebäude, Schiffe oder Institutionen wie Schulen wurden nach ihm benannt und künden von einem Glanz, dem doch seit hundert Jahren keine Politur mehr zuteil wurde.

Als sich der Landwirt Johann Philipp Kreißler mit seiner Familie aus dem leiningischen Guntersblum am Rhein der ersten Massenauswanderung der Pfälzer in die Vereinigten Staaten anschloss, in der britischen Provinz New York niederließ und nach einem unspektakulären Leben nach 1744 als vierfacher Vater starb, ahnte er sicher nicht, dass er dereinst eine eigene Straße in seinem deutschen Heimatdorf bekommen sollte. Sein Verdienst: er wurde zum Ahnherrn eines Mannes, den das Time Magazine 1928 zum Man of the Year wählen sollte: Walter Percy Chrysler, wie sich die Familie inzwischen nannte. Der Automobil-Pionier und Begründer des internationalen Automobilunternehmens Chrysler Corporation starb am 18. August 1940 in Long Island.

Chrysler vor seinem ersten Auto. Quelle: https://www.drive.com.au/motor-news/mogul-walter-p-chrysler-20150608-ghiw49

Walter P. Chrysler wurde 2. April 1875 als Sohn des Lokomotivingenieurs Henry Chrysler und dessen Frau Mary in Wamego im US-Bundesstaat Kansas geboren. Nach Abschluss der High School begann Chrysler 1892 eine Lehre bei der Union Pacific in Ellis im US-Bundesstaat Kansas. Anschließend arbeitete er bei der American Locomotive Co. (ALCo) wo er es bis zum Stützpunktleiter in Pittsburgh brachte. Am 4. Juni 1900 heiratete Chrysler seine Frau Della, mit der er drei Kinder hatte. Bereits mit 33 Jahren wurde er Manager der Chicago Great Western Railway. Ein weißer Locomobile Phaeton mit roter Innenausstattung für 5.000,- US-Dollar wurde Chryslers erstes eigenes Fahrzeug. Als großer Technikinteressierter soll er das Fahrzeug auseinandergenommen und anschließend wieder zusammengebaut haben.

1910 wurde er Werksleiter bei Buick, einer Tochtergesellschaft von General Motors GM in Flint, Michigan, und brachte seine Leute in Schwung, indem er die Tagesproduktion von 20 auf 550 Fahrzeuge steigerte. Prompt wurde er 1912 Produktionschef. Fünf Jahre später, 1917, avancierte Chrysler zum Präsidenten von Buick und machte die Marke zur erfolgreichsten im GM-Konzern. 1919 wurde er zum Vize-Präsidenten von GM ernannt, gab jedoch wegen Differenzen mit seinem Vorgesetzten William C. Durant diese Position wieder auf. Chrysler fand einen Führungsposten bei Willys-Overland, dem bekannten Jeep-Hersteller, der in Schieflage geraten war. Sein Ruf als erfolgreicher Manager bescherte ihm dort nicht nur große Wirkungsfreiheiten, sondern auch ein damals sagenhaftes Gehalt von einer Million US-Dollar im Jahr.

Drittgrößter amerikanischer Autobauer

1921 betrachtete er seine Arbeit als erledigt und wandte sich dem nächsten Sanierungsfall zu, der Maxwell Motor Company, deren Präsident er ein Jahr später wurde. Zu seinem Sanierungskonzept zählte die Einstellung von Ingenieuren zur Entwicklung eines neuen Autos, das 1924 fertig gestellt war und die Bezeichnung seines Initiators erhielt – „Chrysler Six“. Es ging als Legende in die Automobilgeschichte ein. Aus 3,3 Litern Hubraum entwickelten sich 68 PS, die den Wagen auf eine Höchstgeschwindigkeit von 110 Stundenkilometer brachten. Hydraulische Bremsen an allen Rädern und Stossdämpfer gehörten gleichfalls zur Ausstattung. Allein 32.000 Stück wurden davon im ersten Produktionsjahr verkauft. 1925 wurde die Firma zur Chrysler Corporation.

Chrysler-Building. Quelle: https://nypost.com/2019/03/07/inside-the-chrysler-buildings-storied-past-and-uncertain-future/

Ein Jahr später wurde die Maxwell Motor Company von der Chrysler Corporation übernommen, das Händlernetz in den USA stieg auf rund 3.800. Mit technischen Neuheiten und Modellvariationen erlebte Chrysler eine hohe Wachstumsdynamik und landete 1926 auf Platz fünf der US-Hersteller. 1928 wurde das Modell „Plymouth“ für die untere Preisklasse gebaut. Der Typ „DeSoto“ sorgte im mittleren Preissektor für Furore und verkaufte sich nach gut einem Jahr 100.000 Mal. Im gleichen Jahr übernahm Chrysler die große Autofirma Dodge Brothers, Inc. Damit zählte der Autokonzern zusammen mit Henry Ford und General Motors zu den drei größten amerikanischen Autobauern.

Walter Chrysler war auch der Bauherr des Chrysler Building in New York, das mit 77 Etagen bei 319 Metern Höhe für 11 Monate das höchste Gebäude der Welt war, bis ihm das Empire State Building den Rang ablief, und das mit seiner Art-Deco-Fassade bis heute als einer der schönsten Wolkenkratzer der Welt gilt. Zu Chrysler gehörten in dieser Zeit Chrysler, Dodge, Imperial, DeSoto und Plymouth. 1932 und 1933 führte der Autokonzern technische Neuerungen bei der Triebwerksaufhängung und der Bremskraftverstärkung sowie das Sicherheitsglas ein. In Zeiten der weltweiten Wirtschaftskrise konnte der Autobauer seine Verkaufszahlen halten.

1936 Chrysler Imperial Airflow. Quelle: https://www.pinterest.jp/pin/680395456178635314/

1934 wurden erstmals die stromlinienförmigen Modelle Chrysler Airflow, DeSoto Airflow und Imperial Airflow hergestellt. Das Modell „Imperial“ ist das erste amerikanische Auto mit gewölbter Frontscheibe. 1935 zog sich Walter Chrysler aus dem Geschäftsleben zurück und war noch für fünf Jahre Privatier. Er gilt als letzter Automobilpionier, der aus eigener Kraft einen Automobilkonzern aufbaute und am Leben erhielt. Dass sein Unternehmen zweimal mit Milliardenbürgschaften amerikanischer Präsidenten – erst Carter 1979, dann Bush 2008 – vor dem Konkurs gerettet werden musste und seit 2014 namenloser Teil des Fiat-Konzerns ist, hätte ihn kaum erfreut.

„Für die einen ist es ein kasuistischer Zufall: am selben Tag, da Tilo Sarrazin endgültig aus der SPD ausgeschlossen wurde, löschte die Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG eine Audio-Botschaft des Kabarettisten Dieter Nuhr aus dem Netz. Für die anderen indizieren beide Tilgungen dagegen eine Methode, die sich eine fürchterliche Zukunft zu bauen anschickt: Macht und Moral ersetzen inzwischen nicht nur die Diskussion, sondern die Erkenntnis als solche.“

Mein neuer Tumult-Text, der sich dem Zusammenhang von gesinnungsethischen Anti-Wissenschaftlern mit den Erkenntnis-Ersatzwährungen Macht und Geld widmet.

Als BILD nach der Wahl Benedikts XVI. am 20. April 2005 titelte: „Wir sind Papst!“, stellte der Publizist Robert Leicht fest, dass das Blatt damit, sicher unbewusst, aus einer Schrift Luthers zitierte, verfasst in frühneuhochdeutscher Sprache. Darin brach er eindeutig mit der römisch-katholischen Kirche und bezeichnete den Papst – Leo X. aus dem Hause Medici – als Antichrist, der die Kirche in eine erbärmliche Gefangenschaft geführt hat. Die Missstände, die unter seiner Herrschaft eingerissen sind, hätten das gesamte Kirchenwesen verdorben. Stattdessen formulierte er den Grundsatz des Priestertums aller Getauften: „denn was aus der Taufe gekrochen ist, das kann sich rühmen, dass es schon zum Priester, Bischof oder Papst geweihet sei…“ Damit wurde die Zweiteilung der Christenheit in Klerus und Laien faktisch aufgegeben.

Die Schrift war nur eine von vieren Luthers aus dem Jahr 1520, die große Bedeutung erlangten. Doch „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ war die erste, in der er seine theologischen Erkenntnisse in praktische Reformvorschläge umsetzte. Der evangelische Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann bezeichnet die „Adelsschrift“ als „Manifest der Reformation“: nicht schon mit dem Thesenanschlag von 1517, sondern erst hier sei von Luther ein Entwurf zur Neugestaltung von Kirche und Gesellschaft vorgelegt worden.

Der provokante Ton schockierte; der Mitreformator Johannes Lang nannte das Buch eine „Kriegstrompete“. Luther gab zu, dass er die Schrift in prophetischer Radikalität verfasst habe, ohne Rücksichten zu nehmen. Dabei bietet sie in ihrer Offenheit und Unbestimmtheit Anknüpfungspunkte für unterschiedliche Reformationstypen, wie Kaufmann feststellt: „städtische oder bäuerliche Gemeindereformationen; Ratsreformationen; ritterschaftliche Reformationen; territorialfürstliche und Königsreformationen“. Der Grundsatz vom Priestertum aller Getauften hat im Spektrum der evangelischen Kirchen immer wieder Neuaufbrüche angeregt, ist er doch vieldeutig: besitzen Priester einen allgemeinen Anspruch oder partizipiert die Allgemeinheit in Form aller Menschen oder fließen beide Varianten zusammen?

Titelblatt. Quelle: Von Martin Luther – Hanns Lilje: Martin Luther. En bildmonografi. Stockholm 1966., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=48793665

Auch der Titel gibt zahlreiche Fragen auf: Wie sieht die Besserung des christlichen Standes aus? Um welche Art von Besserung geht es, welche Schritte sind dafür notwendig, wer soll diese Schritte vollziehen (tatsächlich der Adelsstand?) und warum? Dessen ungeachtet war die innerhalb weniger Wochen verfasste und am 5. August 1520 in der relativ hohen Auflage von 4000 Exemplaren erschiene Schrift nach drei Tagen vergriffen. In kurzer Folge schlossen sich 14 Nachdrucke an, die Gesamtauflage soll bei 68.000 Exemplaren gelegen haben – der erste Bestseller vor der Lutherbibel.

„wie er sich kirchlichen Neubau vorstellt“

Luthers Beweggründe, diese Schrift im Jahr 1520 zu verfassen, verortet Karlheinz Blaschke schlüssig in drei Bereichen: Erstens war Luthers innerer Reifeprozess, der ihn zu neuen Erkenntnissen über den christlichen Glauben und einer kritischen Haltung gegenüber der römischen Kirche brachte, weit vorangeschritten. Zweitens erfuhr Luther von Reichsrittern und Humanisten, mit denen er sich in der Reflexion von weltlichen und national-patriotischen Problemstellungen verbunden fühlen durfte, Zustimmung und Ermutigung zur offenen Stellungnahme. Drittens dürften die damals aktuellen Bestrebungen, den Prozess gegen Luther als Ketzer weiter voranzutreiben, eine bedeutende Rolle gespielt haben. Ein konkreter Schreibanlass kann allerdings bis heute nicht eindeutig benannt werden, im Gegensatz zur Zueignung: Er widmete das Werk einem Kollegen an der Wittenberger Universität, Nikolaus von Amsdorf, der 22 Jahre später als Bischof von Naumburg der erste lutherische Bischof im deutschsprachigen Raum war.

Luthers Adelsschrift gliedert sich in drei größere Sinnabschnitte: Am Bild von drei Mauern, die das Papsttum (die Romanisten) errichtet habe, erläutert Luther zunächst das Ausbleiben von notwendigen Reformen: die erste Mauer bildet der Anspruch des Papstes auf die Oberherrschaft über die weltlichen Obrigkeiten, dem Luther energisch widerspricht. Das Monopol normativer Schriftauslegung und die Überordnung des Papstes über ein allgemeines Konzil bilden Mauer zwei und drei. Theologischer Kern der Schrift ist die Lehre vom allgemeinen Priestertum aller Getauften. Dass Päpste irren können, lässt Luther ihre Schlüsselgewalt bestreiten.

Luther. Quelle: https://www.br.de/themen/kultur/inhalt/religion/luther/martin-luther-online-144~_v-img__16__9__xl_-d31c35f8186ebeb80b0cd843a7c267a0e0c81647.jpg?version=ef93d

Daran schließt sich eine Darstellung dreier Bereiche an, die im Rahmen eines Konzils behandelt werden müssten: die Selbstherrlichkeit des Papstes, die große Zahl der Kardinäle und der enorme Umfang des päpstlichen Hofes, dem Luther dann noch einen Exkurs über den römischen Rechtsmissbrauch folgen lässt. Beide Teile fügen sich zu einem zweiten Sinnabschnitt der Schrift zusammen. Im dritten Abschnitt bringt Luther vor, „was wol geschehen mocht und solt von weltlicher gewalt odder gemeinen Concilio.“ Er führt dabei 26 Verbesserungsvorschläge an, von denen sich zwölf auf genuin römische Missstände beziehen und die folgenden die Christenheit im Allgemeinen betreffen. Der 27. Punkt kritisiert zahlreiche weltliche Übel. In seinen Forderungen und seiner Kritik am Luxus wird er sehr konkret: Er fordert die Einschränkung des ausuferndes Klosterwesens, die Abschaffung des Zölibats, eine Neuordnung des kirchlichen Sozialwesens und eine stärkere Schriftorientierung im Theologiestudium. „Der erste volkssprachliche Text Luthers, der zu erkennen gibt, wie er sich kirchlichen Neubau und den Aufbau einer deutschen Nationalkirche vorstellt“, befand Thomas Kaufmann in der FAZ.

„notwendiger Quell der Verunsicherung“

Luthers Adelsschrift und sein Verständnis vom Allgemeinen Priestertum berührten, ja symbolisierten zentrale Fragen und Probleme der damaligen Zeit. Sie bewegten sich im Spannungsfeld von Freiheit und Begrenztheit, Recht und Pflicht, Macht, oder besser Vollmacht, und Ohnmacht, weltlichem und geistlichem Handeln, Ordnung und Anarchie, Mittel- und Unmittelbarkeit – und nicht zuletzt von Hierarchie und Egalität, Gleichheit und Ungleichheit. So formulieren der Memminger Kürschnergeselle Sebastian Lotzer und der Prädikant Christoph Schappeler 1525 das zentrale Dokument des Bauernkrieges, die „12 Artikel der Bauernschaft in Schwaben“. War es in den meisten regionalen Vorläufern noch allein das „alte Recht“, auf das man Bezug nahm, so bemühen die 12 Artikel nun das „göttliche Recht“.

Titelblatt der 12 Artikel. Quelle: Von Autor unbekannt – eingescannt aus: Otto Henne am Rhyn: Kulturgeschichte des deutschen Volkes, Zweiter Band, Berlin 1897, S.21, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3926052

Damit knüpfen sie ausdrücklich an das reformatorische Verständnis an: Göttliches Recht ist biblisches Recht, also das Recht des Evangeliums. Explizit benennt der erste Artikel des Memminger Programms das protestantische Gemeindeprinzip und fordert die Wiederherstellung des Rechts der freien Pfarrerwahl durch die Gemeinde. Der selbst gewählte Pfarrer soll das Wort der Bibel „lauter und klar predigen, ohne allen menschlichen Zusatz“. Aber auch die ausschließlich den wirtschaftlichen und sozialen Problemen gewidmeten Artikel zeigen die Präsenz des reformatorischen Gemeindegedankens in seiner ganzen politischen Dynamik. So soll die Verwaltung des Kirchenzehnten der Gemeinde übergeben werden, ebenso wie die Allmenderechte sowie die Nutzungsrechte am Fischfang, an der Jagd und am Wald, die künftig „der ganzen Gemeinde anheimfallen“ sollen, wie es Artikel 12 sagt.

Was bedeutet es für das Verständnis von Kirche, Gemeinde und Gemeinschaft der Gläubigen, wenn Luthers Verständnis vom Allgemeinen Priestertum konsequent, ja radikal zu Ende gedacht wird? Der Zugang von Frauen zur Priester- beziehungsweise Bischofsweihe, wie jüngst selbst die Synodalversammlung der katholischen Kirche diskutierte? Kardinal Walter Brandmüller kritisierte in Die Tagespost prompt den „synodalen Weg“ als offenkundigen Versuch, „der Kirche säkulare, demokratische Strukturen“ aufzuzwingen, der „sich im Grunde gegen das Wesen der Kirche“ richte. Es sei „ebenso bezeichnend wie befremdend zu sehen, wie wenig die Verfasser unseres Textes verstanden haben, dass die Kirche Jesu Christi weder Monarchie noch Demokratie oder etwas ähnliches ist. Sie ist ein mit menschlichen Kategorien nicht adäquat zu fassendes Mysterium des Glaubens, über das selbst die Heilige Schrift nur in Bildern zu sprechen vermag.“

Das recht unscharfe Bild der „neuen“ Kirche, das Luther in der Adelsschrift zeichnete, changiere zwischen Momenten einer zentralistischen landesherrlichen oder gar kaiserlichen, einer synodal verfassten und einer ganz an den Erfordernissen und Realitäten der Ortsgemeinde orientierten kongregationalistischen Verfassungsstruktur, weiß dagegen Kaufmann. In der Geschichte des Protestantismus habe das allgemeine Priestertum tiefgreifende Wirkungen hinterlassen. In den Gemeinden wachten Aufseher aus dem „Laienstand“ über die Verwendung der Gelder aus dem „gemeinen Kasten“ und wirkten als Organisatoren des Schulwesens und der Armenversorgung. An der Wahl der Pfarrer beziehungsweise der Amtseinsetzung waren „Laien“ kraft des allgemeinen Priestertums beteiligt. „Laien“ aus dem Fürsten-, Adels- oder Ratsherrenstand leiteten die Kirche. Auf den Kirchentagen noch unserer Tage melden sich, wenn irgendwo, evangelische Nichtkleriker zu Wort.

Gebäude der Kramerzunft in Memmingen. Quelle: Von –Martin Egg (talk) – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4885110

Im Priestertum aller Gläubigen hat der Protestantismus das Prinzip seiner permanenten Selbstkritik bei sich – ein notwendiger Quell der Verunsicherung, erklärt Kaufmann. „Das Priestertum aller Gläubigen steht für eine egalitäre und partizipatorische Religion, die allen Menschen beiderlei Geschlechts gleiche Rechte eröffnet und den ‚Professionellen’ Grenzen steckt, den Popen, Pfaffen, Mullahs, Oberkirchenräten, den Theologieprofessoren und Berufsreligionsdeutern, den Klerikalfunktionären dieses Äons“. In Luthers „Adelsschrift“ bräche dies erstmals auf. Mit diesem Text begann ein Projekt der Umformung des bestehenden Kirchen- und Gesellschaftswesens, das nach und nach das Gesicht Europas verändern sollte.

Die Stiftung Lesen präsentiert eine Empfehlungsliste von „Büchern gegen Rassismus“. Das ist fürsorglicher Totalitarismus im Dienst linker Ideologie.

Meine neue „Tumult“-Kolumne, die gern verbreitet werden kann.

Kann man einen Menschen mit einem Affen kreuzen? Allein die Frage jagt den meisten einen kalten Schauer über den Rücken. Wenige wissenschaftliche Themen wecken ähnlich schwere ethische Bedenken und entfachen hitzigere Diskussionen zwischen Darwinisten und Kreationisten. Doch auch dieses heikle Thema ist dem ehernen Gesetz der Wissenschaft unterworfen: Was erforscht werden kann, wird früher oder später erforscht. Stets taucht zu dem Thema derselbe Name als Erstes auf: Ilja Iwanowitsch Iwanow, Professor an der Universität Charkiw (Ukraine) und hochrangiger Wissenschaftler am Zoologischen Institut in Moskau. Am 20. Juli vor 150 Jahren wurde er in Schtschigry bei Kursk geboren.

Seine Familie sowie seine Kindheit und Jugend liegen, nicht zuletzt seinem Lebens- und Karriereende geschuldet, im Dunkeln. Verbürgt ist, dass er in Charkow studierte und bereits 1910 einen Vortrag auf dem Internationalen Zoologenkongress in Graz zur Kreuzung von Menschen und Affen hielt. Von 1917 bis 1921 und von 1924 bis 1930 war er am Staatlichen Institut für experimentelles Veterinärwesen tätig und arbeitete in den Jahren dazwischen in einer Forschungsstation, die sich mit der Züchtung und Fortpflanzung von Haustieren befasste. Seine ersten praktischen Erfolge erzielte er bei Pferden. Iwanow befruchtete edle Stuten mit dem Sperma von ebenso sorgfältig ausgewählten Hengsten, um ein Superpferd zu kreieren. Ein bedeutsames Unterfangen in einer Zeit, da die Streitkraft der Kavallerie noch nicht von Panzerdivisionen abgelöst worden war, und zugleich wegbereitend für die künstliche Befruchtung, die damals noch in den Kinderschuhen steckte. Die von ihm dazu entwickelten Methoden bei landwirtschaftlichen Nutztieren waren in der Sowjetunion weit verbreitet.

Ilja Iwanowitsch Iwanow. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/166c64f4-0001-0004-0000-000001342790_w909_r0.7575_fpx39_fpy35.jpg

Iwanow ging aber über die ursprüngliche Forschungsfrage hinaus und kreuzte unterschiedliche Tierarten miteinander. Die Ergebnisse blieben zwar hinter den Erwartungen zurück, allerdings erwiesen sich Iwanows Methoden der Befruchtung durchaus als erfolgreich und breit einsetzbar. Es gelang ihm, ein Zebra und einen Esel zu etwas zu kreuzen, das er „Zebroid“ nannte. Und einen Wisent und eine Kuh vermählte er zu einem „Zubron“. Nach und nach setzte Iwanow seine Arbeit mit anderen Tieren fort, die zoologisch gesehen etwas weiter auseinanderlagen. Er kreuzte Antilope und Kuh, Maus und Ratte, Maus und Meerschweinchen. Das Tor zum ultimativen Experiment stand nun weit offen.

„sehr unerfreuliche Folgen“

Das war gedacht als Test auf Darwins Hypothese, dass die Schimpansen die nächsten Verwandten des Menschen seien. Pläne, zum Experiment bereite Frauen mit Schimpansensperma zu befruchten, scheiterten mangels männlicher Schimpansen. Um diese zu beschaffen, nahm er 1926 Kontakt zu Rosalía Abreu auf, die seit mehr als 20 Jahren auf Kuba eine Gruppe von Schimpansen hielt. Sie war die Tochter eines wohlhabenden kubanischen Plantagenbesitzers und weltweit die erste Tierhalterin, der es gelang, Schimpansen über deren gesamte Lebenszeit in Gefangenschaft zu halten und zu züchten. Ihre Erkenntnisse bildeten die Grundlage für die erfolgreiche Haltung von Großen Menschenaffen in den Zoologischen Gärten weltweit. Doch sie zog sich aus dem Vorhaben zurück nach einem an sie gerichteten Drohbrief des Ku-Klux-Klans, der die „Verunreinigung reinrassiger weißer Frauen“ fürchtete.

Dann lud das renommierte französische Institut Pasteur Iwanow nach Westafrika ein und stellte ihm frisch gefangene Affen zur Verfügung: Das Institut unterhielt im damaligen Französisch-Guinea eine Forschungseinrichtung, die sich auf Menschenaffen spezialisiert hatte. Iwanow erhielt die Erlaubnis, seine Forschung dort durchzuführen, und warb die finanziellen Mittel für die Reise im eigenen Land ein. Auch das menschliche Sperma organisierte Iwanow selbst. „Es wurde von einem Mann gewonnen, dessen Alter nicht genau bekannt ist. Auf jeden Fall nicht älter als 30“, schrieb er in sein Notizbuch, aus dem sich der Ablauf des Experiments rekonstruieren lässt. Spermien in die Vagina eines Schimpansenweibchens zu bekommen, erwies sich als schwierig: Schimpansen sind kräftiger als Menschen und schlagen um sich, wenn sie sich bedroht fühlen. Am 28. Februar 1927 im botanischen Garten von Conakry, einer Stadt im westafrikanischen Guinea, wollte er es mit der Unterstützung der russischen Akademie der Wissenschaften, des US-amerikanischen Vereins für den Fortschritt des Atheismus und des Instituts Pasteur dennoch wissen.

Kreuzungsskizze 1927. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/8f65354e-0001-0004-0000-000001342793_w920_r1.6597510373443984_fpx39.67_fpy49.94.jpg

Wenn die örtliche Bevölkerung vom Experiment erfahre, könne das „sehr unerfreuliche Folgen“ haben, notierte er. Nur sein 22-jähriger Sohn stand ihm zur Seite, er hieß ebenfalls Ilja. Einmal sollte ihn ein Schimpanse so heftig prügeln, dass er ins Krankenhaus musste. Irgendwie schafften die Iwanows es offenbar, die Katheter mit den Spermien einzuführen. Nun mussten sie warten. Vermutlich war ihnen die politische Sprengkraft ihres Experiments bewusst. Ein Affenmenschenbaby würde die Lehre der Bibel widerlegen, dass dem Menschen eine Sonderstellung in der göttlichen Schöpfung zustehe. So hoffte ein Sowjetfunktionär, das Experiment könne Argumente im Kampf gegen die christliche Schöpfungslehre liefern, ja die Arbeiterklasse von der „Macht der Kirche befreien“ – knapp zehn Jahre nach der Oktoberrevolution waren in der Sowjetunion viele Arbeiter und Bauern religiös. Außerdem wäre das Affenmenschenbaby nicht nur der letzte Beweis für Charles Darwins Evolutionstheorie, sondern zugleich ein Prestigeerfolg für die Wissenschaft der Sowjetunion in Konkurrenz zu den Kollegen im Westen.

Das Experiment schlug fehl: Nach wenigen Wochen musste Iwanow einsehen, dass die Schimpansenweibchen nicht trächtig waren – er weiß noch nicht, dass diese Kreuzung durch die unterschiedliche Chromosomenanzahl von Menschen und Affen genetisch unmöglich ist. Er gab jedoch nicht auf und versuchte, das Experiment erneut zu spiegeln: mit menschlichen Frauen und Affensperma. Er fragte den Gouverneur von Guinea – damals Teil einer französischen Kolonie -, ob er in den örtlichen Krankenhäusern heimlich Versuche an Einwohnerinnen durchführen dürfe. Der Franzose lehnte ab. Iwanow nahm einige Affen mit zurück in die Sowjetunion, vielleicht mit dem Plan, seine Experimente mit fortschrittsbejahenden Sowjetbürgerinnen fortzusetzen. Die meisten Primaten starben jedoch bei der Überfahrt. So scheiterte ein renommierter Biologe mit einem ethisch fragwürdigen Experiment.

Wissenschaftler ohne Gewissen?

An dieser Stelle könnte die Geschichte von Iwanow und seinen Affenmenschen schon enden. Denn 1930 fiel Iwanow einer Säuberungswelle zum Opfer und wurde wegen „konterrevolutionärer Aktivitäten“ nach Kasachstan verbannt. Mit seinen Experimenten hatte das wohl nichts zu tun: Unter Stalins Herrschaft verhaftete die Geheimpolizei den Großteil der Eliten – oft völlig grundlos. Zwei Jahre später, am 20. März 1932, starb er in Alma-Ata. Er galt als Wissenschaftler ohne Gewissen, seine Arbeit als Verirrung – zwar zu Unrecht, wie Spezialisten auf dem Gebiet der Fruchtbarkeitsforschung wissen. Doch interpretiert wird er als Monster.

Forschungszentrum Sochumi 1959. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/25913db5-0001-0004-0000-000001342806_w920_r0.66650390625_fpx49.97_fpy33.31.jpg

Denn das Experiment sollte der Ausgangspunkt für eine wilde Verschwörungstheorie werden: Im Auftrag von Sowjetdiktator Stalin habe er Affenmenschen als Arbeiter oder Krieger gezüchtet und dazu ein geheimes Labor an der Schwarzmeerküste betrieben: Iwanow, der „Rote Frankenstein“. Stalin hatte viel davon gesprochen, die Gesellschaft und jeden einzelnen Einwohner umzubauen, umzugraben, umzukrempeln. Waren Iwanows Kreuzungen Teil von Stalins Plan zur Schaffung des „neuen Menschen“? Tatsache ist, dass Iwanow den Segen von Nikolai Petrowitsch Gorbunow hatte, damals Ranghöchster an der Russischen Akademie der Wissenschaften. Tatsache ist auch, dass er am grundsätzlichen Gelingen des Experiments festhielt. Ob er aber seine Forschung in die sowjetische Stadt Sochumi am Schwarzen Meer verlagerte, wird bis heute bestritten.

Als gesichert gilt, dass Iwanow eine Gruppe Affen nach Sochumi brachte, Weibchen und Männchen. Danach verschwimmt sein Treiben wieder im Nebel der Geschichte. Ließ er tatsächlich menschliche Eierstöcke in ein Weibchen transplantieren? Und stimmt es, dass er vergeblich versuchte, es künstlich zu befruchten? Bis heute sind die Antworten unklar. Dies gilt auch für den nächsten Schritt: die künstliche Befruchtung von Frauen mit Affensperma. Historische Dokumente belegen anscheinend, dass Iwanow öffentlich nach Freiwilligen suchte. Laut historischen Aufzeichnungen meldeten sich daraufhin tatsächlich fünf Frauen, und von diesen „Heldinnen des Vaterlandes“ wurden sogar Fotos verbreitet.

In Sochumi lernten die Wissenschaftler bald, die Affen im Schwarzmeerklima und in Gefangenschaft am Leben zu halten. Sie testeten an den Primaten Antibiotika sowie Impfstoffe gegen Tetanus und Diphtherie. Gemeinsam mit ihren Kollegen vom Raumfahrtprogramm erforschten sie, wie Primaten Schwerelosigkeit verkraften. Iwanow arbeitete dort allerdings nie. Bei seinem einzigen Besuch im Sommer 1928 waren nicht einmal Primaten vor Ort. Ein weiteres Fragezeichen. Doch noch immer tuschelten die Einwohner der Sowjetunion über Stalins Geheimlabor.

J. Parnov. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/25913db5-0001-0004-0000-000001342806_w920_r0.66650390625_fpx49.97_fpy33.31.jpg

Als 1989 die Sowjetunion zusammenbrach und sich ehemals geheime Archive öffneten, wühlte sich der Science-Fiction-Autor Jeremei Parnow durch die Akten und fand angeblich belastendes Material. „Ein Blick in die geheimen Dokumente würde selbst die Herzen der härtesten Kerle in Angst versetzen“, schrieb er in einem Text, der in einer russischen Zeitschrift namens Medizinische Mysterien erschien. Er galt rasch als Experte für das Sochumi-Institut und raunte in Fernsehsendungen über das geheime Forschungsprogramm, dessen Ziel darin bestehe, „dumme, gehorsame Sklaven hervorzubringen, die schwere Arbeit verrichten.“ Die angeblich erstrebte Kreatur nannte er „Yahoo Sovieticus“, in Anspielung auf Jonathan Swifts Romanklassiker „Gullivers Reisen“, in dem „Yahoos“, menschenähnliche Wesen, die Sklaven von pferdeähnlichen Wesen sind.

Vermutlich setzte Parnow auch das Gerücht in die Welt, dass Stalin höchstpersönlich in einem Brief ans Politbüro Affenmenschenkrieger bestellt habe. Das russische Staatsfernsehen drehte die Dokumentation „Roter Frankenstein“, die auf einem gleichnamigen Buch des Journalisten Oleg Schischkin basiert. Die Doku kam zu dem Schluss, dass Iwanow keine Affenmenschen gezüchtet hatte. Und doch machte sie die Verschwörungstheorie eher bekannt, als sie einzudämmen. Die meisten Biologen bezweifelten zwar, dass Affen und Menschen überhaupt überlebensfähige Nachkommen zeugen können – über Versuche nach Iwanows Experiment in Afrika ist nichts bekannt. Aber den Boulevardblättern aus den USA, Großbritannien, Italien und Deutschland war das egal. Aus Iwanows Notizen, den Briefen der freiwilligen Probandinnen und Parnows Science-Fiction schufen sie steile Schlagzeilen. Bild etwa titelte: „Irrer Geheimplan enthüllt: Stalin züchtete Affen-Menschen für den Krieg“. So wurde Ilja Iwanow Jahrzehnte nach seinem Tod noch einmal weltberühmt. Nicht wegen seiner zweifellos vorhandenen Verdienste für die Biologie, sondern als Stalins „roter Frankenstein“.

Doch inzwischen ist klar, dass sich derartige Experimente meist nicht nur einem dubiosen Wissenschaftler, einem zweifelhaften Regime zuschreiben und in der fernen Vergangenheit verorten lassen. Bereits 1717 riet Jean Zimmermann in Paris zur Produktion einer Arbeiterschaft ein „leichtes Mädchen“ von einem Orang-Utan bzw. ein Menschenaffenweibchen von Männern schwängern zu lassen. 1889 schlug der Rassismustheoretiker Georges Vacher de Lapouge in Montpellier vor, durch solche Kreuzungen „gelehrige Arbeiter – Halbmenschen – herzustellen“. Er hielt dies für möglich, denn „der Unterschied zwischen Menschenaffen und Menschen ist geringer als z. B. der zwischen Makaken und Langschwanzaffen. Und diese Affen aus unterschiedlichen Familien haben schon mehrfach erfolgreiche Kreuzungen hervorgebracht.“

Lapouge. Quelle: https://atlantisforschung.de/images/Vacher-de-lapouge.jpg

Der niederländische Autor und Historiker Piet de Rooy schildert 2015 in seinem Buch „De Nederlandse Darwin“ die Geschichte von Herman Marie Bernelot Moens (1875 – 1938). Der Anthropologe und Biologielehrer hatte in Deutschland studiert und war den Theorien von Ernst Haeckel zugetan, einem renommierten deutschen Zoologen, der zu Zeiten Bismarcks für den Darwinismus und gegen den Kreationismus der Kirche kämpfte. Laut dem „Biografisch Woordenboek van Nederland“ wollte Moens Anfang des 20. Jahrhunderts einen gemeinsamen Nachkommen von Mensch und Affe schaffen, und Haeckel hielt einen Erfolg angeblich für möglich. Moens wollte damit der Evolutionstheorie handfeste Argumente liefern und warb öffentlich für sein Anliegen, erntete aber viel Empörung. In dieser Phase blieb sein Vorhaben 1908 anscheinend stecken.

„halb Mensch, halb Schimpanse“

Einen anderen Weg in dieselbe Richtung nahm ab 1930 Wladimir Petrowitsch Demichow. Der geniale russische Chirurg und Pionier der Transplantationschirurgie führte unter anderem die erste Herztransplantation bei einem Warmblüter, die erste Lungentransplantation und die erste Herz-Lungen-Transplantation in der Geschichte der Chirurgie durch. In der Öffentlichkeit wurde er vor allem durch Operationen bekannt, bei denen er Köpfe und Vorderkörper von und an Hunden verpflanzte. Seine Versuche wurden in der Sowjetunion als „Sputnik der Chirurgie“ bezeichnet. Der südafrikanische Herzchirurg Christiaan Barnard, der 1967 die erste erfolgreiche Herztransplantation bei einem Menschen durchführte, hat 1960 und 1963 Demichows Labor besucht und betrachtete ihn als seinen Lehrer.

Demichow mit einer seiner Kreaturen. http://www.rebirths.de/439403133

Der Science-Fiction-Autor Gert Prokop kreierte in der DDR der 70er Jahre den Begriff „Demichont“: einem todgeweihten Senior, der damit den Erbschleichereien verhasster Angehöriger ein Schnippchen schlagen will, wird der Oberkörper eines gesunden jungen Mannes transplantiert. Überhaupt erfreuten sich Gedankenspiele zur menschlichen Optimierung in der Science Fiction des Ostblocks großer Beliebtheit. Als namhaftester Ahne in dieser literarischen Tradition muss Alexander Beljajew gelten, der zu Lebzeiten Iwanows „Der Kopf des Prof. Dowell“ (1925) und „Der Amphibienmensch“ (1928) schrieb. In letzterem implantiert ein Chirurg seinem Sohn Kiemen, da der an einer unheilbaren Lungenkrankheit litt. So kann er nun an Land und im Ozean leben.

Unklar ist bis heute die Rolle von Erich Traub (1906 – 1985), einem deutschen Veterinärmediziner, der ab 1942 Laborchef in einem NS-Geheimlabor auf der Ostseeinsel Riems war und dessen Forschungen für die biologische Kriegsführung von Bedeutung waren. Er arbeitete von 1949 bis 1955 in Fort Detrick, wo die US-Army ihr Hauptquartier für biologische Kriegsführung hatte, sowie auf Plum Island, wo er mit mehr als 40 tödlichen Keimen arbeitete. Unter anderem wird seinen Aktivitäten auf Plum Island die Verbreitung der Lyme-Borreliose angelastet, er soll aber auch an der Züchtung von Mensch-Schwein-Hybriden im geheimen Labor der Insel beteiligt gewesen sein.

Filmcover „Amphibienmensch“. Quelle: https://www.videobuster.de/dvd-bluray-verleih/131341/der-amphibienmensch#bilder-offen&bilder

2018 offenbarte der Evolutionspsychologe Gordon Gallup von der New York State University, er wisse von einem „Affenmenschen“, der in den 1920er Jahren im Primatenforschungszentrum Orange Park in Florida geboren wurde: „Sie befruchteten ein Schimpansenweibchen mit menschlichem Sperma und behaupteten, die vollendete Schwangerschaft habe zu einer Geburt geführt“, wird der Forscher zitiert. Nach ein paar Tagen oder Wochen, so heißt es weiter, hätten sie das Neugeborene wegen moralischer und ethischer Bedenken getötet. Auch für den Evolutionsbiologen David P. Barash, Professor für Psychologie an der University of Washington, soll der Mensch der Zukunft halb Mensch, halb Schimpanse sein: „Die Schaffung eines Affenmenschen mittels Genmanipulation ist nicht nur denkbar, sondern könnte eine hervorragende Idee sein. Der Mensch wäre so gezwungen zu erkennen, dass er sich im Grunde nicht von Tieren unterscheidet. Das könnte helfen, dem grotesken Missbrauch von anderen Lebewesen auf der Erde ein Ende zu setzen.“ Mit anderen Worten: Zu einem der umstrittensten wissenschaftlichen Szenarien ist das letzte Wort noch lange nicht gesprochen.

Die Skulptur, die Gottfried Schadow von ihr und ihrer Schwester Friederike anlässlich ihrer preußischen Doppelhochzeit am Weihnachtsabend 1793 schuf, habe so viel Erotik ausgestrahlt, dass sie ihr Mann lange vor der Öffentlichkeit versteckte. In Filmen wurde sie von Hansi Arnstädt, Henny Porten oder Ruth Leuwerik gespielt. Wie viele Straßen, Plätze, Parks, Schiffe und Institutionen wie Schulen, Krankenhäuser, Apotheken oder Bäder ihren Namen tragen, ist fast unüberschaubar und daher strittig. Allein bis zum 1. Weltkrieg erschienen 391 Texte der Trivialliteratur, die ihr Leben würdigten, selbst heute noch existieren Webseiten zu ihrem Gedenken – Königin Luise von Preußen, die am 19. Juli vor 210 Jahren starb.

„Sie wär’ in Hütten Königin der Herzen / Sie ist der Anmut Göttin auf dem Thron“ dichtet August Wilhelm Schlegel und beweist damit, dass lange vor Lady Diana das geflügelte Wort verbreitet war – für die nach Friedrich dem Großen meistpopuläre Persönlichkeit Preußens. Ihr früher Tod sorgte dafür, dass sie in der Vorstellung auch nachfolgender Generationen als jung und schön in Erinnerung blieb, doch schon zu Lebzeiten erfuhr sie eine fast kultische Verehrung: als bürgerliche Frau, liebevolle Mutter und preußische Patriotin, die sich dem Vaterland geopfert hat, als sie dem legendären Treffen mit Napoleon zustimmte.

Geboren am 10. März 1776 in Hannover als vorletztes Kind von Herzog Karl zu Mecklenburg und Prinzessin Friederike von Hessen-Darmstadt, verlor sie bereits als Sechsjährige ihre Mutter und wurde mit zwei Schwestern 1786 ihrer Großmutter in Darmstadt zur weiteren Erziehung anvertraut. Mit Kosenamen wie „Jungfer Husch“ bedacht, war sie lange kindlich unbefangen, verspielt und bestach durch eine unbekümmerte Frische: Sie sagte, was sie dachte, war unpünktlich und naschte gern und viel – heute würde man sie sicher eine „wilde Hummel“ nennen. Im Unterricht galt sie als lebhaft, vorlaut und aufsässig, zeigte wenig Motivation und, bis auf den Religionsunterricht, eher mangelhafte Leistungen.

Königin Luise. Quelle: Von Josef Mathias Grassi – Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=64422861

Zeit ihres Lebens konnte sie weder auf Deutsch noch Französisch fehlerfrei schreiben. Ihr Interesse an geistiger Bildung erwachte erst später, sie beeindruckte durch natürliche Intelligenz. In einem Brief an Heinrich von Kleists Cousine Marie schrieb sie: „Möge Gott mich davor bewahren, meinen Geist zu pflegen und mein Herz zu vernachlässigen“; sie würde eher „alle Bücher in die Havel werfen“, als den Verstand über das Gefühl zu stellen. Sie reiste viel und nächtigte 1792, anlässlich der Krönungsfeierlichkeiten für Franz II., den letzten Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, bei Goethes Mutter. Den Festball in der Botschaft Österreichs eröffnete Luise gemeinsam mit dem jungen Klemens von Metternich – zugleich ihre Einführung in die Gesellschaft.

„Ikone einer neuen Bürgerlichkeit“

Monate später wurde sie mit ihrer jüngeren Schwester dem preußischen König Friedrich Wilhelm II. vorgestellt, der prompt schrieb: „Ich wünschte sehr, dass meine Söhne sie sehen möchten und sich in sie verlieben“. Der Wunsch wurde wahr. Zum ersten Mal traf Luise den 22-jährigen Kronprinzen Friedrich Wilhelm am 14. März 1793, schon am 19. März machte er seinen persönlichen Heiratsantrag. Es war Liebe auf den ersten Blick. Luises Schwester Friederike verlobte sich unterdessen mit Prinz Louis, der nach unglücklicher Ehe bereits drei Jahre später an Diphterie starb.

Ganz anders Luise: noch in der Hochzeitsnacht bot sie ihrem Gemahl das „Du“ an, beide galten als immer verliebtes Traumpaar. Das war für den Hof in Preußen derart ungewöhnlich, dass es als Zeichen einer neuen Zeit gedeutet wird. Und nicht nur das: Luise mischt das nüchterne Berlin auf. „Sie bringt aus Darmstadt süddeutsches Temperament mit; setzt durch, dass zu ihrer Hochzeit der bei Hofe verpönte Walzer getanzt wird, umarmt als Braut ein Bürgermädchen am Wegesrand und treibt die Oberhofmeisterin Sophie Marie Gräfin von Voß, die ihr beibringen soll, wie man sich als preußische Prinzessin zu verhalten hat, zuverlässig an den Rand der Verzweiflung“, ergötzt sich Judith Scholter in der Zeit.

Das Königspaar im Berliner Schloßgarten. Quelle: https://img.zeit.de/reisen/2010-03/wilhelm-luise/wilhelm-luise-540×304.jpg/imagegroup/wide__820x461__desktop

1797, da Kronprinz Friedrich Wilhelm nach dem Tod seines Vaters zu König Friedrich Wilhelm III. wurde, begleitet sie ihren Gatten auf seiner Antrittsreise zu den preußischen Ständen, „um ohne Zwang die Liebe der Untertanen durch […] zuvorkommendes Wesen […] zu gewinnen und zu verdienen, und so, glaube ich, werde ich mit Nutzen reisen“. Ein Sekretär der britischen Gesandtschaft schrieb seinen Schwestern: „In der Berliner Gesellschaft, besonders unter den jüngeren Leuten, herrscht ein Gefühl ritterlicher Ergebenheit gegen die Königin […] Wenige Frauen sind mit so viel Lieblichkeit begabt als sie.“ Spaziergänge ohne Gefolge Unter den Linden oder Besuche von Volksbelustigungen wie dem Berliner Weihnachtsmarkt und dem Stralauer Fischzug wurden von der Bevölkerung beifällig zur Kenntnis genommen.

Dabei hatten es die Eheleute schwer, übernahmen sie doch einen heruntergewirtschafteten Staat. Friedrich Wilhelm III. möchte im Stile Friedrichs des Großen regieren und setzte sich zum Ziel, den Schuldenberg abzutragen. Aus lauter Sparsamkeit blieb er mit seiner Familie im Kronprinzenpalais Unter den Linden in Berlin wohnen. Luise erhielt nicht den sonst üblichen eigenen Wohnsitz und musste mit einem Etat von 1000 Talern monatlich auskommen. Modisch ehrgeizig, machte sie bald Schulden. Im kleinen Dorf Paretz wurde ein ländliches Schlösschen gebaut, das von Freunden „Schloss Still-im-Land“ genannt wurde, eine ländliche Einsiedelei, in der sich die königliche Familie gern aufhielt, ein bürgerliches Leben führte und sich erholte. Dabei galt der Thronfolger als schüchtern in der Öffentlichkeit, sprachlich wenig ausdrucksfähig und nicht als Freund schneller Entscheidungen. Er soll äußerst unschlüssig gewesen sein und galt zudem als kaum vorbereitet, ein problembeladenes Königreich in schwierigen Zeiten zu regieren. Luise ist 21 Jahre alt, als sie Königin wird.

Luise mit Gemahl auf einem Berliner Weihnachtsmarkt. Quelle: https://img.welt.de/img/kultur/mobile100098329/7041624497-ci23x11-w1136/luise-markt-DW-Wissenschaft-Berlin-jpg.jpg

„Luise war die Ikone einer neuen Bürgerlichkeit. Damals war es etwas Revolutionäres, heute ist es der Versuch, in einem Haufen Asche noch einen Krümel Glut zu finden“, befand Eckard Fuhr in der Welt. Der König, der die mündliche Konversation gern auf militärische Formeln verknappte, schrieb seiner Frau poetisch-zärtliche Briefe; beide waren sich treu. Aus dem Hof verschwanden die Schwärme der Mätressen, neue Empfindsamkeit hielt Einzug. Das befriedigende Eheleben führte zu fast ständigen Schwangerschaften und insgesamt zehn Kindern, von denen sieben erwachsen wurden. Prinz Friedrich Wilhelm IV., der älteste, folgte seinem Vater als preußischer König nach. Prinz Wilhelm I., der Zweitgeborene, wurde 1861 preußischer König und ab 1871 der erste Kaiser des Deutschen Kaiserreiches. Die älteste Tochter, Prinzessin Charlotte von Preußen, bestieg als Alexandra Fjodorowna den russischen Zarenthron.

„über unsere Mittel getäuscht“

Für die Dichter, Maler und Bildhauer ist die Familie ein Fest: „Alle Herzen flogen ihr entgegen, und ihre Anmut und Herzensgüte ließen keinen unbeglückt“, schrieb Friedrich de la Motte Fouquè über Königin Luise. Besonders tat sich Novalis hervor mit seinem programmatischen Aufsatz „Glaube und Liebe oder Der König und die Königin“ vom Sommer 1798, dem er eine Reihe überschwänglicher Gedichte an das Königspaar vorangestellt hatte. Friedrich Wilhelm III. lehnte den Text ab, eine Monarchie auf parlamentarischer Grundlage entsprach nicht seinen Vorstellungen. Dennoch blieben Luise und er Hoffnungsträger für die Wunschvorstellungen der Bürger Preußens nach einem Volkskönigtum, in dem die Ideale der Französischen Revolution nach der Überwindung von Standesschranken ohne Terror und Blut Wirklichkeit würden. Zwischen 1798 und 1805 unternahm das Paar mehrere sogenannte Huldigungsreisen zwischen Pommern und Franken und bestieg 1800 die Schneekoppe in Schlesien.

Luise bei Napoleon. Quelle: https://img.welt.de/img/kultur/mobile100098447/7731626587-ci23x11-w1136/luise-1807-napoleon-1-DW-Wissenschaft-Berlin-jpg.jpg

1795 hatte der alte König noch den Friedensschluss von Basel ausgehandelt, der für ein Ende der Allianz Preußens mit den anderen Staaten im Ersten Koalitionskrieg gegen Frankreich bedeutete. Die linksrheinischen Landesteile gingen verloren, das nördliche Deutschland wurde für neutral erklärt. Preußen kann sich so einige Jahre aus dem Krieg heraushalten. 1802 und 1805 kommt es zu Treffen zwischen Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise mit Zar Alexander I. von Russland, den Luise sehr sympathisch findet. Nach der Dreikaiserschlacht 1805 bei Austerlitz, da Napoleon gegen die Russen und Österreicher gewinnt, sind Preußens stille Jahre Geschichte. Die Neutralität endete spätestens, als im Juli 1806 in Paris der Vertrag über den Rheinbund geschlossen wird und Napoleon seinen Einflussbereich im deutschen Gebiet erhöht. Da Friedrich Wilhelm III. wieder zögert, dauert es, bis Preußen Frankreich am 9. Oktober den Krieg erklärt – wohl auch auf Druck von Königin Luise hin: „Ich habe Könige geboren, ich muss königlich denken: die Ehre der Nation fordert Krieg.“

Nur fünf Tage später erlitten die schlecht geführten, getrennt kämpfenden preußischen Truppen bei Jena und Auerstedt vernichtende Niederlagen, die Reservearmee wurde bei Halle geschlagen, fast alle befestigten Städte ergaben sich kampflos. Keine 20 Tage später zog Napoleon als Sieger in Berlin ein und schmähte Luise noch in seinen Bulletins. Die traurige, tiefverletzte Königin muss mit ihren Kindern in mehreren Wochen unter abenteuerlichen Umständen bei widrigem Winterwetter über Küstrin und Königsberg bis ins abgelegene Memel fliehen und übersteht dabei einen Typhus. Die nächste Demütigung bereitet ihr der geschätzte Zar, der nach der verlorenen Schlacht bei Friedland einen Separatfrieden mit Napoleon aushandelte. Da Preußen drohte, völlig untergebuttert zu werden, schlug Graf Kalckreuth dem König vor, „dass es von guter Wirkung sein würde, wenn Ihre Majestät die Königin hier sein könnten, und zwar je eher, je lieber“. Der König übermittelte den Wunsch, sie sagt zu, „wie eine Bittstellerin vor den Gebieter der Welt [zu] treten, ohne von ihm eingeladen worden zu sein“, meint Gertrude Aretz.

Das denkwürdige, rund einstündige Treffen fand am 6. Juli 1807 in Tilsit statt. Karl August von Hardenberg hatte ihr geraten, liebenswürdig zu sein, vor allem als Ehefrau und Mutter zu sprechen und keinesfalls ein betont politisches Gespräch zu führen. Der Zar sprach ihr beruhigend zu und sagte: „Nehmen Sie es auf sich und retten Sie den Staat!“ Als Napoleon eintraf, schien er „zum ersten Mal vielleicht in seinem Leben die Situation nicht zu beherrschen“, schreibt Aretz. Er selbst teilt seiner Josephine nach Paris brieflich mit: „Die Königin von Preußen ist wirklich bezaubernd, sie ist voller Koketterie zu mir. … Ich musste mich tüchtig wehren, da sie mich zwingen wollte, ihrem Mann noch einige Zugeständnisse zu machen. Aber ich war nur höflich und habe mich an meine Politik gehalten. Sie ist sehr reizvoll… Der König von Preussen ist zur rechten Zeit dazugekommen, denn eine Viertelstunde später hätte ich der Königin alles versprochen.“ Während der Unterredung gab sie auf Napoleons Frage, wie die Preußen so unvorsichtig sein konnten, ihn anzugreifen, die oft zitierte Antwort: „Der Ruhm Friedrichs des Großen hat uns über unsere Mittel getäuscht.“

Luises Tod. Quelle: https://img.welt.de/img/kultur/mobile100098515/6381626587-ci23x11-w1136/luise-sterbelager-DW-Wissenschaft-Berlin-jpg.jpg

In einem ebenso bedrückenden wie politisch wachen Brief an ihren Vater vertiefte sie 1808 diesen Gedanken: „Wir sind eingeschlafen auf den Lorbeeren Friedrichs des Großen, welcher, der Herr seines Jahrhunderts, eine neue Zeit schuf. Wir sind mit derselben nicht fortgeschritten, deshalb überflügelt sie uns.“ Konkret erreicht sie nur, dass Napoleon seine Sticheleien gegen sie beendet, politisch erfolgreich war sie nicht. Zwar blieb Preußen als Staat erhalten, da sich wohl auch Zar Alexander dafür eingesetzt hatte, um eine Art Puffer zwischen sich und den Franzosen zu haben. Aber im Frieden von Tilsit vom 9. Juli 1807 verlor Preußen rund die Hälfte seines Territoriums und seiner Bevölkerung – alle Gebiete westlich der Elbe und die polnischen Besitzungen. Hinzu kamen die Versorgung des französischen Besatzungsheeres und Zahlungsverpflichtungen von 400 Millionen Talern. „So arm war der König, dass er und Luise sich von manchem wertvollen Familienstück, von manchem Schmuckgegenstand trennen mussten. Das goldene Tafelservice Friedrichs des Grossen fiel in jenen Tagen der Entbehrung der Münze zum Opfer“, weiß Aretz.

„Meine Gesundheit ist völlig zerstört“

Die nächsten Jahre verbringt das Paar in Königsberg. Luise bildet sich, liest viel, versammelte Künstler und Gelehrte und hat immer wieder mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen: „Das Klima Preußens ist … abscheulicher, als es sich ausdrücken lässt. … Meine Gesundheit ist völlig zerstört“, klagt sie in einem Brief an den Bruder. Einziger Lichtblick war eine Reise von acht Wochen im Winter 1808/09 an den Zarenhof nach Sankt Petersburg. Über ihre Einflussnahme auf die von Hardenberg und von Stein angestoßenen preußischen Reformen (Oktoberedikt 1807, Städteordnung 1808) sind die Historiker uneins: sie waltete wohl als wichtigste Beraterin ihres Mannes, obwohl der ihren Einfluss nicht wahrhaben wollte und ihn ständig herunterspielte, und setzte sich für den von ihr geschätzten Hardenberg ein, doch galt sie als politisch eher unbeteiligt.

Erst zum 23. Dezember 1809 erlaubt Napoleon ihre Rückkunft nach Berlin. Sie wird in der festlich illuminierten Stadt triumphal empfangen. Im Sommer war ein Treffen mit ihrem Vater und ihrer Großmutter geplant, das dann ab 25. Juni auf Schloss Hohenzieritz bei Neustrelitz stattfand. Bei der fiebrigen Luise wird eine Lungenentzündung diagnostiziert, von der sie sich nicht mehr erholte. Ihr Mann und die beiden ältesten Söhne waren im Tod bei ihr. Bei der Obduktion fand sich neben einem völlig zerstörten Lungenflügel auch eine Geschwulst im Herzen, „eine Folge zu großen und anhaltenden Kummers“ notiert Gräfin Voß die Aussage der Ärzte in ihrem Tagebuch. Unter großer Anteilnahme der Bevölkerung wurde der Leichnam nach Berlin überführt, drei Tage im Berliner Stadtschloss aufgebahrt, am 30. Juli im Berliner Dom beigesetzt und am 23. Dezember 1810 – genau 17 Jahre, nachdem die damals 17-jährige nach Berlin gekommen war – zu ihrer letzten Ruhestätte überführt: einem Mausoleum, das inzwischen von Heinrich Gentz unter Mitarbeit von Karl Friedrich Schinkel im Park des Schlosses Charlottenburg gebaut worden war und bald zu einem Wallfahrtsort werden sollte, der erst 1947 mit der Auflösung Preußens durch die Alliierten an Anziehungskraft verlor.

Luises Mausoleum. Quelle: https://img.welt.de/img/kultur/mobile100098546/9561628677-ci23x11-w1136/luise-mausoleum-DW-Wissenschaft-Berlin-jpg.jpg

Nach ihrem frühen Tod wurde sie als Verkörperung weiblicher Tugenden und Vaterlandsliebe geradezu mystifiziert. „Luise sei der Schutzgeist deutscher Sache / Luise sei das Losungswort zur Rache!“ dichtet Theodor Körner schon 1813. Der König, seit ihrem Tod ein untröstlicher, gebrochener Mann, stiftet im selben Jahr das Eiserne Kreuz als Tapferkeits-Auszeichnung und datiert diesen Akt auf den 10. März zurück, den Geburtstag seiner Frau. Wer immer nun für Preußen kämpft, tut dies im Namen Luises. „Luise, du bist gerächt“, soll Marschall Blücher auf dem Montmartre gesagt haben, als er 1814 in Paris einzieht. Preußens Kriegserklärung gegen Frankreich erfolgt am 19. Juli 1870, also genau am 60. Jahrestag ihres Todes. Als König kniete Wilhelm I., bevor er in den Krieg zog, am Sarkophag seiner Mutter nieder; als Kaiser suchte er bei seiner Rückkehr am 17. März 1871 wiederum ihr Grab auf. Nach diesen symbolbeladenen historischen Vorgängen gehörten Luises Leben und Wirken als „Preußische Madonna“ zu den unverzichtbaren und systematisch verbreiteten Gründungsmythen des Kaiserreichs, in der öffentlichen Darstellung führte eine direkte Linie von ihrem sogenannten Opfertod zum Sieg über Napoleon und zur Reichsgründung.

Auf Anordnung der Schulbehörde fiel an ihrem 100. Geburtstag an allen Mädchenschulen der Unterricht aus. Als Leitbild wurde sie in der Weimarer Republik von politischen Gruppierungen wie der Deutschnationalen Volkspartei in Anspruch genommen, später aber nochmal nicht mehr bei der Werbung für den staatlich angestrebten Kinderreichtum: Das tradierte Bild der passiv leidenden Frau passte nicht in das ideologische Konzept von männlicher Kraft und Härte. Nach 1945 verloren links und rechts der Elbe sowohl der „Erbfeind“-Bezug als auch das Frauenideal – die Personalunion von treusorgender Ehefrau, vielfacher Mutter und unerschütterlich dem Vaterland dienender Dulderin – an Aktualität und Anziehungskraft. Auf einer Königin-Luise-Route kann man seit 2010 zehn Stationen ihres Lebens zwischen Hohenzieritz im Norden und Paretz im Süden besichtigen. Eine vor allem emotional interessante Figur der deutschen Geschichte bleibt sie allemal.

Manchen Menschen spielt das Schicksal unterschiedlich mit – einerlei, ob mit oder ohne eigenes Zutun. Mal wirft es sie hin und her, lässt sie in einer regelrechten Achterbahnfahrt in schwindelnde Höhen aufsteigen und mit atemberaubender Geschwindigkeit wieder abstürzen. Einen der merkwürdigsten solcher Lebensläufe hatte Johann August Sutter, der als Gründer von „Nueva Helvetia“ den amerikanischen Pioniergeist wie kaum ein anderer lebte. Das von ihm urbar gemachte Land bildete die Grundlage für den landwirtschaftlichen Aufstieg Kaliforniens und gleicht heute noch einem paradiesischen Garten. Doch was er erarbeitet hatte, verlor er im Zuge des kalifornischen Goldrauschs fast vollständig und erlitt verarmt und verbittert am 18. Juli 1880 einen Herzinfarkt – auf der Treppe des Kongreßhauses in Washington, wo er immer noch hoffte, seine Ansprüche durchzusetzen: Als Mann, den sein Reichtum arm machte.

Geboren am 23. Februar 1803 in Kandern bei Lörrach als Sohn eines Papierfabrikanten, absolvierte er eine kaufmännische Lehre in Basel und kam 1824 nach Burgdorf im Kanton Bern, wo er seine künftige Frau Annette kennen lernte. Bei der Überreichung des Verlobungsgeschenks, einem Seidentuchs, kam ihm seine erste Geschäftsidee: Seidentüchlein bedrucken. Am 24. Oktober 1826 heiratete er Annette, am Tag darauf wird ihr erster Sohn geboren. Vier weitere Kinder, drei Jungen und ein Mädchen, folgten in kurzem Abstand. 1828 eröffnete er mit Mitteln der Schwiegermutter seine „Tuch- und Kurzwarenhandlung“, Anfang der 1830er Jahre wurde Sutter auch Unterlieutenant der Infanterie in der Berner Reserve.

Sutter. Quelle: https://www.verlagshaus-jaumann.de/media.media.db2dfc5a-ab0f-402b-b2ab-9125e88ff6a7.original1024.jpg

Er wird als jovial, aber auch schlitzohrig beschrieben, der als Angeber und Tagträumer an der Seite seiner manchmal als griesgrämig charakterisierten Ehefrau ein biederes Familienleben geführt hat und die Abende oft im „Kaltwasserleist“ verbrachte – einem Lese-und Diskussionszirkel, in dem nach 20 Uhr kein Alkohol mehr konsumiert werden durfte und der ihm die große weite Welt näher bringt. Mangelnde kaufmännische Begabung, Betrug durch Geschäftspartner und die Tatsache, dass er über seine Verhältnisse lebte, führten im Frühjahr 1834 zum Konkurs. Steckbrieflich gesucht, floh er im Mai 1834 über Le Havre in die USA und ließ seine Familie sowie Schulden von über 50.000 Franken zurück. „Mit Einverständnis seiner tapferen Frau verliess er Burgdorf bei Nacht und Nebel“, weiß Roland Hübner, einer seiner Biographen; für andere ließ er sie im Stich.

Aufbruch nach Kalifornien

Im Juli 1834 angekommen, führte der umtriebige Sutter erst das unstete Leben eines mittellosen Einwanderers, machte geschäftlich erfolgreiche und kontaktbringende Abstecher über Hawaii und das russische Nowo-Archangelsk (heute Sitka) und etablierte sich als Pelzhändler in Kansas City. Doch es zog ihn in den „goldenen Westen“, das noch weitgehend unerschlossene Land „Kalifornien“. Er holte beim Gouverneur die Erlaubnis ein, für zehn Jahre im Sacramento-Tal zu siedeln, auf einem Gebiet von der Größe des Kantons Baselland. Zugleich schreitet sein Angebertum voran: Er kleidet sich in Phantasie-Uniformen, ist etwa „Captain John A. Sutter“, erlogener Hauptmann a.D. einer königlich-französischen Schweizergarde.

1838 macht er ernst, verkauft, was er hat, begleicht seine Schulden in der Schweiz und rüstet mit dem Rest seines Vermögens einen Schiffstreck aus, der, nach der Landung, in der weiten kalifornischen Ebene zunächst von den Mokelumne-Indianern bedroht wird, die wegen ihrer Giftpfeile gefürchtet sind. Sutter verbietet zu schießen und geht allein den Indianern entgegen, verhandelt mit ihrem Häuptling und sichert einen „vorläufigen Frieden“, so dass die Expedition ungeschoren kalifornischen Boden betreten kann. 1839 hat sich Sutters Karawane auf über 400 Büffelwagen mit Zelten, Werkzeugen, Kleidern, Lebensmitteln, Waffen und Munition sowie Geschenken für die Wilden vergrößert. Hinzu kommen Hunderte von Pferden, Kühen, Büffeln und als Deckung ein langer Zug von Allround-Gesellen, die es ins kalifornische Abenteuer lockte.

Die „Gold-Mühle“. Quelle: https://blog.buchplanet.ch/wp-content/uploads/2012/08/220px-Sutters_Mill-300×216.jpg

Ohne Verzug ging es seit Juni 1839 ans Bauen: Sutter erweist sich als Planer ersten Ranges, tatkräftig unterstützt von einigen vortrefflichen Handwerkern und Bauern aus aller Welt, die er wie ein Magnet angezogen und um sich versammelt hatte. Er berechnet und vermisst sogleich die erste Siedlung, die er „Fort Sutter“ nennt, die Ortschaft ringsherum soll „Suttersville“ heißen. Lehm ist genügend vorhanden, so dass man außer Holz auch solide von der Sonne getrocknete Ziegel verwenden kann: Wirtschaftsgebäude, Stallungen, Kornkammern, Schulen, Kasernen, Werkstätten, Schmieden, Tischlereien, eine Gerberei und vieles andere mehr entstehen.

Die Tiere bevölkern Weideflächen, die für die 30-fache Viehmenge reichen würden. Wild gibt es ebenfalls reichlich. Auch monetär bewährt sich das Geschick Sutters: Den anfänglichen Bargeldmangel behebt er durch Prägung von „Suttergeld“, einfache Blechtaler, die er in seinen Schmieden anfertigen lässt, und wofür man in den Läden von Sutterland alles kaufen kann. Der Handel entfaltet sich in unglaublichem Tempo, Wege, Kanäle, neue Umschlagplätze werden geschaffen, denn Sutter versorgt jetzt auch Hafenstädte von Sitka bis Lima mit seinen Waren.

Er gründet den „San Francisco Reporter“ und ruft die „San Francisco Bankers Union“ ins Leben, bestellt Obst- und Weinreben aus Europa, die er neben ausgedehnten Orangen-, Zitronen-, Weizen-, Korn-, Spargel- und Tabakplantagen auf den Hügeln von Sacramento anzupflanzen beginnt. Sein „Reich“ wächst und wächst, die ersten ausgesetzten Sorten tragen bis zu fünfmal mehr als in Europa. Er hat Mühe, genügend Viehhalter für die inzwischen auf mehrere zehntausend Stück angewachsenen Rinder- und Pferdeherden zu finden. Zugleich vertrieb er die ortsansässigen Indianer und gründete die Stadt Sacramento als Verwaltungssitz.

Sutters Fort. Quelle: https://www.swissinfo.ch/blob/7412712/a77075e47bc575dd6a928a84f167751e/sriimg20090522_10727647_2-data.jpg

Der Traum von einem „eigenen Reich“, von einer kleinen Schweiz im kalifornischen Paradies, scheint Wirklichkeit zu werden: „Neu-Helvetien-Sutterland“ ist in voller Blüte, ein gut ausgebildetes Militärkorps sichert den Frieden. Man nannte ihn „Captain“, und er durfte sich als der „Kaiser von Kalifornien“ fühlen: „Ich war alles: Patriarch, Priester, Vater, Richter. Im Fort herrschte militärische Zucht“, erinnert er sich später. Nicht emigrierende Indianer rekrutiert er für seine Mannschaft und schafft ihre „Vielweiberei“ ab: „Ich stellte Männer und Mädchen in je einer Reihe einander gegenüber. Dann befahl ich den Mädchen, eines nach den andern vorzutreten und aus der Reihe der Männer einen Gatten auszuwählen. Den Häuptlingen erlaubte ich ebenfalls nur eine oder höchstens zwei Frauen.“

„Gold ist das einzige Gesetz“

1841 erhält Sutter vom mexikanischen Gouverneur Don Juan Alvarado „das Land am Sacramento“ mit über 12 Leguas, etwa 6.000 Quadratkilometer, als „erbliches Eigentum legal verschrieben“, mit dem „souveränen Recht, selbst Besitzrechte zu verleihen, das oberste Richteramt auszuüben, Pässe auszustellen und oberster Kriegsherr zu sein.“ Das Land rings um den Zusammenfluss von Sacramento und American River wurde „Nueva Helvetia“ benannt und umfasste die gesamte fruchtbare Landschaft zwischen dem Küstengebirge und der Sierra Nevada. Einige Jahre später ziehen die Russen ab, die hier Pelzhandel betrieben, und verkaufen ihm vorher Bodega und Fort Ross mit allen ihren reichen Besitzungen und Ländereien. Sutter verfügt damit über den größten Privatbesitz im Süden Nordamerikas.

Er baut die „Hockfarm“, einen vornehmen Landsitz, der für seine ihm nun nachziehende Familie aus der Schweiz und später als Alterssitz gedacht ist. Doch im Vertrag von Guadalupe Hidalgo, der den Mexikanisch-Amerikanischen Krieg beendete, fiel das Gebiet des heutigen Bundesstaats Kalifornien (damals Oberkalifornien) und damit auch Neu-Helvetien 1848 an die USA. Sutter wird Amerikaner und ist ein Mitunterzeichner der Verfassung Kaliforniens, das dann 1850 als 31. Bundesstaat in die Union aufgenommen wird.

Plakat zu Trenkers Verfilmung. Quelle: https://image.tmdb.org/t/p/w1280/ltt4UW0UCkfUH0wwLxM9xIRWxAu.jpg

Bei Coloma am Südarm des American River lässt Sutter ein Sägewerk durch seinen Zimmermeister James W. Marshall errichten. Der steht am 28. Januar 1848 atemlos vor seinem Chef: Er sei beim Graben des Abflusskanals für die Sägemühle auf golden schimmerndes Gestein gestoßen. Er vermute, das sei Gold. Es war welches. Sutter war sich der Brisanz dieser Entdeckung bewusst und versuchte, sie geheim zu halten – vergeblich. Der berühmte Kalifornische Goldrausch begann und löste eine unvergleichliche Zunahme der Bevölkerung aus, denn Hunderttausende strömten nach dem „neuen El Dorado“. Zwischen 1848 und 1849 wuchs allein San Francisco von 1.000 auf 25.000 Einwohner.

Die ohnehin fragile staatliche Ordnung im fernen Westen brach unter dem Ansturm zusammen, die Glücksritter ruinierten Sutters Imperium. Goldgräbersyndikate schießen aus dem Boden und betreiben ihre unsauberen Geschäfte, indem sie Parzellen im Goldgräbergebiet, ohne einen Rechtstitel zu besitzen, an die goldsüchtigen Digger verpachten. „Was wissen diese Horden schon von Sutters verbrieften Rechten? Was schert sie sein altmodisches Bauernparadies? Sie schlagen ihre Zelt- und Hüttensiedlungen auf seinen Feldern, in seinen Hainen auf. Rücksichtslos hacken sie die Fruchtbäume um, nehmen die Bretter der Sägewerke, schlachten sein Vieh und nisten sich in den verlassenen Farmen ein. Gold ist das einzige Gesetz, das die Menschen anerkennen“ entsetzt sich sein Biograph Siegfried Hagl.

Goldrausch. Quelle: https://www.theeuropean.de/guido-walter/2519-test

Sutter liefen die Arbeiter davon; auch die Soldaten, die er anforderte. Bevor sich der verzweifelte Patriarch umsieht, haben sich über 17000 kleine Siedler (sog. „Squatter“) auf seinen Ländereien eingenistet, ganz zu schweigen von den Leuten, die „seine Wassermühlen, Sägewerke, seine Schiffe, Hammerwerke und Bauernhöfe fortgenommen haben. An allen Wasserläufen entstehen wilde Ansammlungen von Goldgräberdörfern: künstliche Bretterkanäle, Waschbecken, Schüttelwerke, Gruben und das dazugehörige Gewucher von ‚Saloons‘, Spielhöllen, Hütten und Tanzlokalen“, beschreibt Otto Zierer die Situation. Doch Sutter strengt eine Monsterklage an und fordert vom Bundesstaat Kalifornien Schadenersatz.

„Tod dem Sutter“

1855 dann die Urteilsverkündung im Operntheater von San Francisco. Kurz zuvor wurde Sutter von General Riley in Würdigung seiner Verdienste um Kalifornien zum General befördert und ihm der goldene Säbel der kalifornischen Miliz verliehen: „Bürger von San Francisco, Kalifornier, stimmt mit mir ein in den Ruf: Es lebe General Sutter!“ Und die Menge brach in ein Freudengeschrei aus, immer wieder tönt es: „General Sutter, General Sutter!“ Doch nach der Urteilsverkündung schrie die gleiche Menge: „Tod dem Sutter“. Denn das Gericht hat die Rechtmäßigkeit aller Ansprüche und Forderungen Sutters sowie die Unversehrbarkeit aller seiner Ländereien bestätigt, was ihn als Eigentümer des Bodens von San Francisco und des goldreichen Gebiets abermals zum reichsten Mann der Erde machte. Doch jeder fühlte sich betroffen und an seiner Goldader angezapft, es kam zum Aufruhr: Die Bevölkerung akzeptierte den Urteilsspruch nicht und brannte den Justizpalast nieder. Seine Söhne wurden gelyncht, Sutter konnte sich mit seiner Frau knapp retten.

Er beginnt, sich ins Elend zu trinken. Zwischendurch versucht er sich als Hotelier. Während die Zuwanderer früher bei ihm im Fort gratis übernachten durften, verlangt er nun 100 Dollar pro Nacht und Person. Als ein Landstreicher, dem Sutter aus Mitleid Unterkunft angeboten hat, ihn bestiehlt, lässt Sutter ihn auspeitschen. Der Landstreicher revanchiert sich, indem er die Hock-Farm anzündet. Mit dem Herrenhaus werden alle persönlichen Gegenstände Sutters zu Asche. Er sieht ein, dass er Kalifornien verlassen muss, zieht mit seiner Frau nach Pennsylvania, wo er auch begraben liegt, und reist oft ins nahe Washington, um sich mit seinen Anwälten zu besprechen, die vor dem amerikanischen Kongress Sutters Recht auf Entschädigung einfordern sollen.

Der Prozess zieht sich in die Länge, vor allem die Juristen verdienen jetzt. De iure hat er Recht, de facto wird er arm trotz seiner Rente als General. Er nahm zwar weiter Anteil an vielen Geschehnissen Kaliforniens und gilt auch als Mitinitiator des Bahnbaus zwischen dem Atlantik und dem Pazifischen Ozean. Doch bald war er nur noch von dem  einen Gedanken besessen, sein Recht durchzusetzen. Als Relikt aus der inzwischen vergangenen Pionierzeit, das keiner mehr ernst nahm, schlägt er sich zwei Jahrzehnte um den Justizpalast herum und stirbt kurz vor der endgültigen Kongressentscheidung. Seine Frau folgt ihm nur Monate später ins Grab.

Familiengrab auf dem Friedhof der Herrnhuter Brüdergemeine in Lititz. Quelle Von Bohemianroots – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2629783

Sutters Persönlichkeit wird unterschiedlich beurteilt. Nicht alle Autoren sehen in ihm das unschuldige Opfer des „Gold Rush“, das zwangsläufig scheitern musste. Sein Verhalten war zwiespältig. Er hörte nicht auf den Rat ehrlicher Freunde, ließ sich von Gaunern betrügen, vergraulte kompetente Mitarbeiter und verstand nicht, seine Geschäfte ehrlich und anständig zu führen. „In entscheidenden Situationen fehlten ihm menschliche Größe, Bescheidenheit und Zuverlässigkeit, was aufgrund seines Lebenslaufes fast zu erwarten war“, befindet Bernard R. Bachmann in der NZZ. So verstand er auch nicht, sich wenigstens als Händler an dem Goldrausch zu beteiligen, wozu er eigentlich beste Voraussetzungen hatte.

„Fort Sutter“ wurde an gleicher Stelle eins zu eins wieder aufgebaut und ist heute Gedenkstätte für den „Gründer Kaliforniens“. Stefan Zweig hat ihm mit der Skizze „Die Entdeckung Eldorados“ in seinem Essayband „Sternstunden der Menschheit“ (1927) ein bleibendes literarisches Denkmal gesetzt. Ein filmisches Denkmal setzte ihm Luis Trenker 1936 mit seinem Film „Der Kaiser von Kalifornien“. „Sutter`s Gold“ nannte ein Züchter namens Swim seine Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA gezüchtete gelb-orange Rose: überreich blühend, stark duftend und, da anspruchslos, für Anfänger geeignet.

Der Ex-Notenbankchef der USA, Alan Greenspan, fand es verblüffend, dass unsere heutigen Vorstellungen von der Wirksamkeit des Marktes und des freien Wettbewerbs im Wesentlichen schon in seinen Gedanken enthalten seien. Der indische Philosoph Amartya Sen bezeichnete seinen Beitrag für unser Verständnis dessen, was später Kapitalismus genannt wurde, als monumental und nannte seine Erkenntnisse bis zum heutigen Tag bedeutend. Ganz anders der US-Ökonom Murray Rothbard, für den er den theoretischen Unterbau für den Marxismus gebildet, die Fortschritte seiner Vorgänger negiert und die Wirtschaftswissenschaften auf den falschen Weg gebracht habe. Der so polarisiert, heißt Adam Smith und gilt als Begründer der klassischen Nationalökonomie. Am 17. Juli vor 230 Jahren starb er in Edinburgh.

Zuvor hatte er im Beisein einiger Freunde alle Notizen und Manuskripte verbrannt, um zu verhindern, dass er der Welt etwas Unfertiges überlässt. Sein Freund, der Philosoph David Hume, beschrieb ihn in einem Brief: „Sie werden in ihm einen wahrhaft verdienstvollen Mann finden, wenngleich seine sesshafte, zurückgezogene Lebensweise sein Auftreten und Erscheinungsbild als Mann von Welt getrübt hat.“ Er lebt nicht nur auf der 20-Pfund-Sterling-Note der Bank of England sowie gleich zwei Adam-Smith-Preisen zweier Ökonomie-Institutionen weiter, sondern vor allem in seinen Texten, die bis heute in vielen Wirtschafts-Studiengängen Pflichtlektüre sind.

Geboren am 5. Juni 1723 in Kirkcaldy in der schottischen Grafschaft Fife, hatte er eine enge Bindung zu seiner Mutter Margaret, mit der er bis zu ihrem Tod 1784 lebte: Vater Adam sen., ein Rechtsanwalt und Zollkontrolleur, war vor der Geburt seines Sohnes gestorben. Im Alter von vier Jahren soll das schwächliche Einzelkind entführt, doch schon nach kurzer Zeit wieder nach Hause gebracht worden sein: Die Entführer hätten ihn bei der Verfolgungsjagd verloren. Er besucht die Burgh School in Kirkcaldy und studierte ab seinem 14. Lebensjahr Philosophie und Ökonomie – damals ein Teilgebiet der Moralphilosophie, das sich „Lehre vom richtigen Haushalten“ nannte. Zunächst blieb er drei Jahre an der Universität Glasgow, mit einem Stipendium weitere drei am Balliol College in Oxford. Die Atmosphäre im beschaulichen Oxford empfand er im Vergleich zu Glasgow als rückständig; unter seinen Kommilitonen hatte er kaum Freunde.

Adam Smith. Quelle: Von Autor unbekannt – author: مايكل هارتdate: 2012-06-11, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=19857903

Nachdem er 1746 nach Kirkcaldy zurückgekehrt war, aber keine Anstellung fand, konnte er 1748/49 in Edinburgh eine Serie thematisch breit gefächerter öffentlicher Vorlesungen halten – damals eine Voraussetzung für eine Tätigkeit als Universitätsdozent. Zeitgenossen berichten über riesigen Andrang. Spätestens 1751 wurde er im Alter von nur 27 Jahren Professor für Logik an der Universität Glasgow und folgte 1752 als Professor für Moralphilosophie seinem Lehrer Francis Hutcheson nach. Das Fach deckte ein weites Spektrum von Theologie über politische Ökonomie bis hin zu Ethik ab. Smith‘s Unterrichtsniveau galt als hoch, er war einer der ersten, die statt Latein als Unterrichtssprache Englisch nutzen. In dieser Zeit freundete er sich mit Hume an: Als er in Oxford beim Lesen eines Buches von Hume erwischt wurde, hatte er dafür einen Tadel erhalten.

Professor und Privatlehrer

1759 erschien sein erstes großes Werk, die „Theorie der ethischen Gefühle“ („The Theory of Moral Sentiments“), das sich mit der menschlichen Natur und ihrem Verhältnis zur Gesellschaft befasste und ihn rasch bekannt machte. Im Mittelpunkt steht die „Sympathie“ des Menschen – sie sei die moralische Begründung des Kapitalismus. Als Gefühl ermögliche sie erst die Bildung von Gemeinschaften und sichere so das Überleben. „Wie selbstsüchtig der Mensch auch immer eingeschätzt werden mag, so liegen doch offensichtlich bestimmte Grundveranlagungen in seiner Natur, die ihn am Schicksal anderer Anteil nehmen lassen“, schrieb er.

Damit entpuppte er sich als Aufklärer und stellte sich gegen das etwas rohe Weltbild, das sich z. B. in Thomas Hobbes’ „Leviathan“ manifestiert. Die Fähigkeit der Selbstkritik, glaubte Smith, hält die egoistischen Züge im Zaum. Da diese Fähigkeit als Kontrollinstanz nicht ausreiche, forderte er Gesetze, die ein Ausufern der Eigenliebe in hemmungslose Selbstsucht verhindern sollen. Die Gesellschaft sollte aber auf keinen Fall das Streben nach persönlichem Wohlstand unterdrücken. Die Eigenliebe, die uns von der Geburt bis zum Grab begleite und ohne die freie Marktwirtschaft undenkbar wäre, sei ein positiver Charakterzug, eine Eigenschaft, die Achtung verdiene. Diese Theorie machte Smith schlagartig bekannt.

Seit 2007 auf der britischen 20-Pfund-Note. Quelle: https://www.wiwo.de/images/mittig_adam-smith_banknote_16_12_11_pr/5969438/2-format1001.jpg

Vier Jahre später legte er seine Professur nieder und begleitete den Sohn des Duke of Buccleuch, Henry Scott, als Privatlehrer auf eine fast dreijährige Bildungsreise durch Frankreich und die Schweiz – der Job war finanziell lukrativer und brachte Smith eine lebenslange Rente von 300 Pfund Sterling jährlich ein. Die Reise lieferte ihm viele neue Erkenntnisse und vor allem Bekanntschaften, darunter mit Voltaire, Diderot und d’Alembert. Zugleich hatte er Muße zum Lesen und Schreiben – die ersten Entwürfe seines Hauptwerks fallen in diese Zeit. Die Reise musste 1766 abrupt abgebrochen werden, da der jüngere Bruder des Herzogs, der an dieser Reise teilnahm, plötzlich erkrankte und kurz darauf starb. Nach seiner Rückkehr nach Kircaldy schreibt er „Der Wohlstand der Nationen“ („An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“) fertig, das Buch erscheint 1776.

Zwei Jahre später beruft ihn Premierminister Lord Frederick North zum Zollkommissar von Schottland, das Amt übte er bis seinem Lebensende aus. Im Kampf gegen militante Tee- und Branntweinschmuggler soll er rigoros agiert haben: In Briefen ist überliefert, wie er das Militär zu Hilfe rief und zusammen mit seinen Kollegen an der Küste alte Schiffsrümpfe als Truppenstützpunkte einrichten ließ. Innerhalb von zwei Jahren gelang ihm die Sanierung des schwer maroden schottischen Geldwesens. Smith machte mehreren Frauen Heiratsanträge, die jedoch alle abgelehnt wurden, und so steckte er sein Geld in karitative Projekte und baute eine ansehnliche Privatbibliothek auf. Anekdoten berichten von einer vorwiegend geistigen Existenz: Er soll zeitlebens Selbstgespräche geführt haben und auch einmal im Schlafanzug durch Edinburgh gegangen sein. Drei Jahre vor seinem Tod wird er noch zum Lord Rector der Universität Glasgow ernannt. Er liegt auf dem Canongate Kirkyard in Edinburgh begraben, wo seit 2008 vor der St.-Giles-Kathedrale ein Denkmal an ihn erinnert.

„durch eine unsichtbare Hand geleitet“

Sein 900seitiges Hauptwerk „Wohlstand der Nationen“, das Greenspan als eine der größten Errungenschaften der Geistesgeschichte pries, ist zunächst eine Art eklektische Enzyklopädie des ökonomischen Wissens der Zeit. Darin verhandelte Smith fünf Hauptthemen: neben den Rollen von Arbeitsteilung und freiem Markt auch Fragen der Verteilung, des Außenhandels und der Rolle des Staates. Mit seinen Ansichten vollzog er zunächst einen Paradigmenwechsel vom Merkantilismus, der typischen Wirtschaftsform zu Zeiten des Absolutismus, hin zum Liberalismus. War bis dahin vorrangiges Ziel, den Reichtum der herrschenden Fürsten vor allem durch den Export von Fertigwaren zu maximieren, um die stehenden Heere, aber auch den wachsenden Beamtenapparat und nicht zuletzt die Prunkbauten der Herrscher zu finanzieren, setzt Smith auf die Bedeutung freier Produzenten sowie die Rolle von Käufer und Preis.

Smith‘ Hauptwerk. Quelle: http://www.impulsderzeiten.de/wp-content/uploads/2013/05/Adam-Smith-und-die-Ehre-Titelseite-Wohlstand2-300×248.jpg

Zunächst erklärt und rechtfertigt er den internationalen Handel. Mit der Theorie des absoluten Kostenvorteils beweist er, dass es sich für jedes Land lohnt, mit seinen Nachbarn Handel zu treiben, und wendet sich damit gegen die protektionistischen Wirtschaftsauffassungen seiner Zeit, die besagten, möglichst wenige Waren zu importieren, um die Produktion im eigenen Land nicht durch Konkurrenz aus dem Ausland zu gefährden. Für Smith bestimmt sich der Wert einer Ware durch die Arbeitsstunden, die zu seiner Produktion nötig waren. „Sie enthalten den Wert einer bestimmten Menge Arbeit, von der wir zum Zeitpunkt des Erwerbs annehmen, dass sie die gleiche Menge Arbeit enthält, wie das Gut, das wir erwerben.“ Durch den Wettbewerb des freien Marktes stimmt der Preis am Ende mit dem Wert der Ware überein – niemand kann mehr verlangen, als die Produktion der Ware ihn wirklich an Arbeit gekostet hat. Unterschiede im Preis einer Ware hängen also mit einer unterschiedlichen Produktivität der Länder zusammen.

Grundlegend war seine positive Beurteilung des menschlichen Erwerbsstrebens. Smith forderte, die Regulierung der Produktion dem Markt selbst zu überlassen. Aufgrund des Preises, das heißt durch die Verbraucher, solle entschieden werden, was produziert wird. Um die Bedürfnisse der Käufer optimal zu befriedigen, müsse ein Wettbewerb freier und rechtlich gleicher Produzenten herrschen. Nicht dem Wohl der Produzenten, sondern dem der Käufer sollte die neue Wirtschaftsordnung dienen, in die der Staat möglichst wenig eingreifen dürfe. Smith forderte die Abschaffung von Preis- und Lohnordnungen, von Zünften, Privilegien und Monopolen – also die Freiheit für alle Produzenten, Art und Umfang der Produktion selbst zu bestimmen (Freie Marktwirtschaft). Allerdings reicht die Liste der von Smith für gerechtfertigt erachteten Staatseingriffe von der Regulierung des Bankgeschäfts und der Kontrolle der Zinsen über Steuern zur Eindämmung des Alkoholkonsums bis hin zur Förderung der Kunst.

Das Ziel war eine dynamische Wirtschaftsordnung, angetrieben durch das „natürliche“ Erwerbs- und Besitzstreben des Menschen und die Konkurrenz der Produzenten. Der Wettbewerb würde für reelle Preise sorgen und eine stete Innovation erzwingen, das heißt eine Verbesserung der Produkte und Produktionsmittel, die Fortentwicklung der Arbeitsteilung – und damit des „Wohlstands der Nationen“: Der einzelne habe „weder die Absicht, das öffentliche Interesse zu fordern noch weiß er, wie sehr er es fördert … Er beabsichtigt nur seinen eigenen Gewinn, und er wird dabei, wie in vielen anderen Fällen, durch eine unsichtbare Hand geleitet, die ein Ziel befördert, das nicht Teil seiner Absichten war.“ Diese berühmt-berüchtigte Metapher, die die vielen Einzelinteressen zum Gemeinnutzen zusammenfügt, ist nun in Tatsachen erfahrbar, „auch wenn ihr Wirken in der Realität durch Interventionen so sehr abgelenkt wird, dass es kaum noch auffindbar ist“, meinte Ralf Dahrendorf schon 1984 in der Zeit.

Statue in Edinburgh. Quelle: https://media-cdn.tripadvisor.com/media/photo-s/14/fd/81/34/adam-smith-tribute-statue.jpg

Das Buch erlebte bis zur Jahrhundertwende neun Auflagen und wurde auch rasch ins Deutsche übersetzt, doch blieb seine Wirkung hier begrenzt. Hardenberg berief sich zwar gerne auf Smith, doch sah die deutsche Schule der Nationalökonomie in ihm den britischen Individualisten, der die Aufgaben des Staates verkannte, dessen Interessen deutsche Ökonomen näherstanden als der unsichtbaren Hand. Für Marx und Engels war der „ökonomische Luther“ ein „Inbegriff kapitalistischer Ideologie; sie priesen ihn, um ihn in der Kritik umso tiefer zu stürzen“, so Dahrendorf. Der Knackpunkt: Smith verteufelt nicht den Unternehmergewinn, sondern verteidigt ihn als lebensnotwendig. Denn weil ein Unternehmer auch künftig Gewinne erwirtschaften will, investiert er in Arbeit nicht aus Nächstenliebe dem Arbeitsuchenden gegenüber, sondern wegen seiner Gewinnziele. Er schafft keine Arbeitsplätze aus Mitgefühl, sondern im Hinblick auf seinen Gewinn, er denkt bei der Investition nicht ans Gemeinwohl, sondern nur an sein eigenes Interesse (self-interest). Diese Kopplung von Eigennutz und Wohlfahrt ist der entscheidende Gedanke der liberalistischen Wirtschaftstheorie.

Dennoch betrachtete Smith Fabrikanten und Kaufleute mit großer Skepsis, sah in ihnen zuweilen „Verschwörer“, die die Preise hochtreiben und die Löhne niedrig halten. So forderte er Gewerkschaften, denn der einzelne Arbeiter hat gegen diese „Kaste“ keine Chance. Sein Traum war ein sittlich reifer, moralischer Kapitalismus. „Die altruistische Forderung der utilitaristischen Ethik, nach der eine Handlungsweise gut genannt wird, deren Folgen geeignet sind, das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl zu erreichen, wird bei Smith nicht um den Preis des Egoismus erreicht, sondern vermittels des Egoismus“, bilanziert Josef Bordat 2007 auf dem Webportal philosophieren. Der Grazer Volkswirtschaftsprofessor Heinz D. Kurz verweist vor allem auf Smith‘ Erkenntnis, dass eine Gesellschaft „zwar ohne Wohlwollen auskommen kann, die Vorherrschaft von Ungerechtigkeit sie jedoch letztlich zerstören muss“. Das klingt hochaktuell.

Ein oft bemühter Vergleich im letzten Jahrhundert lautete: Was den Deutschen ihr Maybach, ist den Briten ihr Rolls-Royce. Das mag auf die Marke zutreffen, keinesfalls aber auf alle genannten Personen, denn wirklich vergleichen konnte man nur die Techniker und Tüftler Carl Maybach und Henry Royce. Charles Rolls dagegen war als Verkäufer und Kapitalgeber dafür zuständig, die Ideen seines Kompagnons an den Mann zu bringen – „eindeutig der schillerndste der beiden“, befindet Harald Huppertz auf dem Portal autogazette. Der Co-Gründer einer der luxuriösesten Automarken der Welt starb am 12. Juli vor 110 Jahren als erster Brite, der bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam.

Geboren wurde er am 27. August 1877 bei London nach zwei Brüdern und einer Schwester als Nesthäkchen von John Allan Rolls und seiner Frau Georgiana. Seine ältere Schwester Eleanor soll sich als eine der Gründerinnen der Women‘s Engineering Society und als begeisterte Heißluftballonfahrerin einen Namen machen. Sein Vater, ein konservativer Landwirt und örtlicher Mäzen, wurde 1892 als Baron Llangattock in den Adelsstand erhoben und stieg 1894 zum Provinzgroßmeister der Freimaurer auf. Seine Loge stand unter dem Motto: Celerias et Veritas (Geschwindigkeit und Wahrheit) – das sollte auch seinem Sohn wegweisend werden.

Über Charles Kindheit und Jugend ist wenig bekannt außer, dass er sich für Motoren begeisterte. Laut Huppertz war er so geizig, dass er sich von Freunden bei Reisen mit dem Zug den Zuschlag erster Klasse bezahlen lässt. Als 19jähriger kauft er sich 1894 einen Peugeot Phaeton – in Wales gab es damals nur noch zwei weitere Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor. Rolls wird zum Mitbegründer des Automobile Club of Great Britain, der versucht, die enormen Beschränkungen des unseligen Red Flag Act loszuwerden. Das Gesetz schrieb vor, dass ein Gefährt ohne Pferde oder ein Automobil mit einer Geschwindigkeit von maximal 4 Meilen (ca. 6,4 km/h) in der Stunde fahren durfte. Innerhalb der Ortschaften betrug das Limit gar nur 2 Meilen pro Stunde. Bei jedem Automobil mussten zwei Personen zum Führen des Fahrzeugs anwesend sein, und ein Fußgänger hatte voraus zu laufen, der zur Warnung der Bevölkerung eine rote Flagge (red flag) tragen musste. 1896 wurde das Gesetz gekippt.

Charles Rolls. Quelle: Von Unbekannter Fotograf – National Motor Museum via Heritage Image, PD-alt-100, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=3232373

Charles, der als charmanter Typ mit nicht geringer Wirkung bei den Frauen gilt, aber unverheiratet bleiben wird, schließt ein Studium am Trinity College in Cambridge als Ingenieur ab und gründet nach einem Intermezzo auf einem Dampfschiff im Januar 1903 eine Werkstatt und einen Laden in London. Sein Vater borgte ihm das Startkapital von 6.600 Pfund. Schon abseits der Universität trug er am liebsten einen ölverschmierten Blaumann: Unter seinen Kommilitonen und Professoren handelt er sich deshalb den Spitznahmen „Dirty Rolls“ – „Schmutziger Rolls“ ein. Die Firma heißt „C. S. Rolls“ und erhält bald einen „Co“, weil dem Firmengründer der Handel mit französischen („Panhard“) und belgischen („Minerva“) Automobilen und deren Reparatur über den Kopf wächst. Denn er ist als einer der ersten Rennfahrer Englands auch auf dem Kontinent erfolgreich. 1903 stellt er einen Geschwindigkeitsrekord auf: 152 Stundenkilometer. Zugleich war er der zweite Brite, der vom 1901 gegründeten Royal Aero Club eine Fluglizenz bekam.

„mach es noch besser“

Seit der Unternehmensgründung auf der Suche nach einer britischen Automarke, die er in sein Programm aufnehmen wollte, genügten die Fahrzeuge der damaligen Zeit Charles‘ hohen Qualitätsansprüchen nicht. Da kommt ein Zufall zu Hilfe. Geschäftspartner Claude Johnson, sein „Co“, kennt den Konstrukteur Henry Royce, der bislang mit Elektromotoren experimentierte und jetzt sein erstes Auto entwickelte. Drei Prototypen „Royce 10 hp“ sind bereits gebaut, als Johnson am 4. Mai 1904 ein Treffen von Royce und Rolls im Midland Hotel in Manchester arrangiert. Bei diesem Treffen machte Rolls auch eine Probefahrt mit dem brandneuen Wagen und war von der Qualität des Fahrzeugs überzeugt. Die Gentlemen besiegelten ihre Kooperation sofort per Handschlag.

Ohne feste Verträge begann die Serienproduktion des Royce 10 hp, der nun mit wenigen Modifizierungen als Rolls-Royce 10 hp vermarktet wurde: Der Kühler erhielt die typische „Tempel-Form“, die seit 1974 offiziell als Warenzeichen eingetragen ist und ausschließlich durch Rolls-Royce verwendet werden darf; auch die Namensplakette wurde geändert. 1904/1905 wurden 17 Fahrzeuge dieses Modells gebaut. Auch der 20 hp wurde in dieser vertragslosen Zeit entwickelt und als Rolls-Royce in Serie gebaut und verkauft (1904–1906: 37 Stück). Erst am 23. Dezember 1904 wurde vertraglich fixiert, was schon monatelang praktiziert wurde: C.S. Rolls & Co. bekam die Alleinverkaufsrechte für alle Fahrzeuge, die Royce Ltd. baute. Verkauft werden sollten die Fahrzeuge unter dem Namen Rolls-Royce, obwohl C.S. Rolls & Co. und Royce Ltd. zur Firma Rolls-Royce Ltd. mit Sitz in Manchester erst am 15. März 1906 fusionierten. Das inoffizielle Motto der Firmengründer lautete: „Nimm das Beste, was es gibt, und mach es noch besser.“

RR 20 HP. Quelle: https://steenbuck-automobiles.de/oldtimer-lexikon/rolls-royce-oldtimer/

Auf der Autoshow in Paris, die zur Zeit der Vertragsunterzeichnung stattfand, wurden erstmals die neuen Autos präsentiert – angetrieben von Zwei-, Drei- und Vierzylinder-Motoren. Die schwachbrüstigen Antriebe blieben freilich Episode, schnell wurde ein – allerdings wenig erfolgreicher – V8 konstruiert, danach erschien bereits 1906 der 40/50 HP, ein Sechszylinder mit deutlich verlängertem Chassis. Schon bei diesem Modell war klar zu erkennen, was die Kernwerte der Marke Rolls-Royce werden sollten: Gediegenheit, Laufruhe und, vor allem, Zuverlässigkeit. Aus einem dieser 40/50-Modelle entstand ein Jahr darauf der berühmte Silver Ghost, ein Auto, das dem weit verbreiteten traurigen Schwarz im zeitgenössischen Automobilbau leuchtendes Silber entgegenhielt. Nicht von ungefähr hießen spätere Modelle Silver Cloud, Silver Shadow oder Silver Spur.

Zwischen 1906 bis 1928 wurden vom Ghost 6.173 Stück zum Preis von 305 englischen Pfund verkauft. Das luxuriöse Fahrzeug verschaffte dem Unternehmen den Ruf, das schnellste, leiseste und teuerste Automobil der Welt zu bauen: „Mochten manche Marken aus Deutschland, Frankreich und USA … mehr Zylinder und ausladender designte Karosserien mit Art-Deco-Elementen bieten, stilvolleres und zuverlässigeres Fahren als mit einem Rolls-Royce fand sich nirgendwo“, befand die Welt. Der als „Lawrence von Arabien“ berühmt gewordene Lt. Col. T.E. Lawrence schrieb in seinem Buch „Die sieben Säulen der Weisheit“: „Ein Rolls-Royce in der Wüste ist mehr wert als Rubine“. Derweil geht Charles mit den Fahrzeugen der eigenen Firma auf die Rennstrecke. Seine hierbei gewonnenen Erkenntnisse fließen in die Produkte seiner Mechaniker ein. 1906 gewinnt er mit einem der ersten Ghosts die „Tourist Trophy“ auf der Isle of Man. Er hat 27 Minuten Vorsprung vor seinem nächsten Verfolger. Nachdem Claude Johnson es 50.000 Meilen gefahren ist, nennt er es „das beste Auto der Welt“.

Erster über dem Ärmelkanal

Aber Rolls will noch höher hinaus und widmet sich verstärkt der Fliegerei. Am 26. Dezember 1908 demonstrierte Charles die Möglichkeiten der Ballonfahrt: Er startete mit dem Ballon „Mercury“ mit weiteren vier Personen, darunter auch seine Mutter, in Monmouth, landete auf dem Rasen vor seinem Elternhaus und stieg nach dem Essen wieder auf. Nach dem Überqueren eines Gebirgszugs landete er in Blaenavon. Bei der Landung waren sämtliche Taue am Ballon gefroren. Er regt seinen Partner an, auch Flugzeugmotoren zu konstruieren, doch erst 1914 stieg Rolls-Royce mit dem Hawk in den Flugmotorenbau ein, der später mit Typen wie dem Rolls-Royce-Merlin bald den größten Teil der Geschäftstätigkeit ausmachte. Während des Zweiten Weltkriegs waren ca. 50 Prozent der alliierten Flugzeuge mit Motoren von Rolls-Royce und seinen Lizenznehmern ausgestattet.

Rolls erwartet den Start. Quelle: https://doverhistorian.files.wordpress.com/2014/02/th-charles-rolls-awaiting-to-take-off-on-his-memorable-flight-dover-library.jpg

Parallel zu seiner Ballonfahrt entwickelt Rolls für die Gebrüder Wright einen Flugzeug-Stabilisator. Am 2. Juni 1910 überquert er mit einem Wright-Doppeldecker den Ärmelkanal und fliegt nonstop auch wieder zurück – als erster Mensch der Welt. Nur Tage später nimmt Rolls, wieder mit seiner Wright-Maschine, die inzwischen ein neues Heck hat, an einem Präzisionsflugwettbewerb im englischen Bournemouth teil. Er war bereits am Morgen seines Todestags mit seinem Doppeldecker eine Wettbewerbsrunde geflogen, landete dabei aber mit 24 Meter Abstand deutlich weiter vom Ziel als ein Konkurrent mit 13 Metern. Obwohl die Gebrüder Wright das neue Heck des Flugzeugs noch nicht geprüft und abgenommen haben, startet er mittags bei schlechtem Wetter erneut. Das Heck bricht, Rolls stürzt aus ca. 30 Fuß Höhe ab, und beim Aufprall explodiert der Motor. Charles stirbt noch am Unfallort an inneren Quetschungen.

Den Einstand der legendären Kühlergrillfigur „Spirit of Ecstasy“ nur Monate später erlebte er nicht mehr. 1931 übernahm Rolls-Royce den Konkurrenten Bentley und meldete 40 Jahre später selbst Insolvenz an, die durch die britische Regierung abgewendet wurde. In einem Bieterstreit setzte sich zunächst VW durch und kaufte das Unternehmen für 1,44 Milliarden Mark, ehe kurze Zeit später BMW den Luxus-Hersteller übernahm, in dessen Besitz sich Rolls-Royce noch heute befindet. 2019 wurden weltweit 5.152 Fahrzeuge ausgeliefert, 25 Prozent mehr als im Vorjahr. Wichtigster Einzelmarkt für Rolls-Royce sind heute die USA, die für rund ein Drittel des weltweiten Absatzes stehen. Erst dahinter folgen China und Europa. Insgesamt verkauft Rolls-Royce seine Fahrzeuge mit 135 Händlern in über 50 Ländern. Darüber hätte sich Charles Rolls heute sicher gefreut.

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