Er galt als einer der wichtigsten Vorkämpfer der modernen Architektur in
Deutschland, als „Baumeister der deutschen Demokratie“, Verfechter eines Bauens
ohne jede Status- und Machtsymbolik, allen Herrschaftsstrukturen gegenüber
skeptisch. „Die erstrebenswerte Ordnung unserer Gesellschaft möchte ich nicht
in geometrische Klein- und Großraster, sondern eher in ihrer möglichen Vielfalt
gespiegelt sehen“, sagte er einmal. Als er vor 10 Jahren, am 12. Juli 2010, in
Stuttgart starb, erschien eine Fülle bewegender Würdigungen zu seinem Schaffen.
Der Spiegel titelte „Der Mann, der Deutschland ein junges Gesicht gab“.
Wie kein anderer habe er „Demokratie und Freiheit in eindrucksvolle Bauten
übersetzt“. Seine Arbeit prägt bis heute den Stil jüngerer Generationen: Günter
Behnisch.
Seine Skepsis gegen autoritäre Systeme und hierarchische Mächte wurzelte für viele in seiner Biografie. Geboren am 12. Juni 1922 als zweites von drei Kindern eines SPD-nahen Volksschullehrers in Lockwitz bei Dresden, zog er 1934 mit seiner Familie nach Chemnitz um: sein aus politischen Gründen kurzzeitig verhafteter Vater wurde dorthin strafversetzt. Nach der Reifeprüfung meldete er sich mit 17 Jahren, drei Monate nach Kriegsbeginn, am 1. Dezember 1939 freiwillig zur Marine als Offiziersanwärter und wurde nach dem Ausbildungslager auf der Ostseeinsel Dänholm und dem Besuch der Marineschule in Flensburg zum Leutnant zur See ernannt. Zuerst als Wachoffizier auf einem U-Boot eingesetzt, wurde er 1944, mittlerweile zum Oberleutnant zur See befördert, mit 22 Jahren einer der jüngsten U-Boot-Kommandeure der deutschen Kriegsmarine.
Nach Übergabe und Überführung seines U-Bootes U 2237 an die Engländer
ging er bis November 1946 in Kriegsgefangenschaft. Sein Entschluss, eine
Architekturausbildung aufzunehmen, entsprang einem Zufall. Während des Krieges
habe er in einem Hotel im italienischen La Spezia ein Buch gefunden; es „handelte
davon, wie man Häuser konstruiert. Der Krieg war zu Ende, und irgendetwas
musste ich ja machen.“ Ende 1946 kehrte Behnisch nach Deutschland zurück und
kam zunächst bei einem ehemaligen Kriegskameraden in Osnabrück unter, wo er ein
viermonatiges Praktikum als Maurer bei der Baufirma Hagedorn absolvierte. Sein
Versuch, ein Architekturstudium an der Universität in Hannover aufzunehmen,
scheiterte jedoch. An der TH Stuttgart dann konnte er 1947 endlich „irgendetwas
machen“ und Architektur studieren. 1952 eröffnete er sein Büro in der
baden-württembergischen Landeshauptstadt, daneben heiratet er und wird mit
seiner Frau drei Kinder bekommen. Er bleibt ihr und der Stadt bis zu seinem Tod
treu.
„Durchsichtigkeit ihrer geistigen
Ordnung“
Renommee erwarb er schnell mit einer Vielzahl von (Hoch-)Schulbauten und
Sporthallen in dem Bundesland, darunter dem Schulensemble in Lorch, dem
inzwischen denkmalgeschützten Hohenstaufengymnasium in Göppingen und der
Fachhochschule in Aalen. Die am Hang über Terrassen gestaffelten Bauten der
1959 fertig gestellten Vogelsang-Schule mit ihrem sorgsam gefügten
Sichtmauerwerk sind noch Ausdruck der Stuttgarter Tradition – und weisen doch
schon weit darüber hinaus. Denn zu dieser Zeit experimentierte er bereits mit
Rasterfassaden und Fertigteilen. Die Fachhochschule Ulm wurde 1963 als erstes
größeres Bauprojekt aus vorgefertigten Elementen gebaut. Lastende Schwere und
übertrieben lange Achsen waren für Behnisch ebenso tabu wie extreme Symmetrie –
und deshalb war zum Beispiel der Berliner Reichstag für ihn lange ein „Monster“,
ein Ausbund „wilhelminischer Machtarchitektur“. Er wollte es anders machen.
Seine Architektur charakterisiert sich durch die Verwendung neuer Materialien
wie Stahlbeton, Stahl, Glas oder Acryl. Gegenüber älteren Bauweisen mit natürlichen
Materialien wie Holz und Stein zeichnen sich diese neuen Baustoffe durch hohe Leistungsfähigkeit,
Präzision und kurze Bauzeiten aus. Seine U-Boot-Zeit verleitete später viele
Architektur-Kritiker dazu, seinen Baustil – offene Gebäude, meist mit viel Glas
– als Kontrapunkt zur klaustrophobischen Kriegserfahrung unter Wasser zu
deuten. Unsinn, beschied der Meister und sagte der Zeit: „Meine Liebe
fürs Licht kommt von ‚Brüder, zur Sonne, zur Freiheit’“, dem berühmten
Arbeiterlied. Während lange Zeit die tragende Struktur identisch war mit der
Begrenzung des Raumes, führte Behnischs neue Bauart zur Einführung der
Skelettkonstruktion.
Der sorgsame Umgang mit der Landschaft, mit den Baustoffen und den Ressourcen der Natur war Behnisch Pflicht und selbstverständlich, schon Jahrzehnte bevor man vom „ökologischen Bauen“ sprach. In einem Text von 1965 beschwor er „den faszinierenden Ausblick und die Hoffnung auf eine Architektur, die im Gegensatz zur kalten Pracht der Architekturmonumente und im Gegensatz zur Geistlosigkeit der Architekturstile immer lebendig sein wird, die nie fertig sein wird, die anbaut, abreißt, ändert, erneuert, und die ihre Schönheit nicht von einem übergestülpten System sogenannter harmonischer Maße bezieht, sondern von der Durchsichtigkeit ihrer geistigen Ordnung“. In seinen Worten zeichnete sich schon jene Spaltung ab, die auf der einen Seite in die technische Perfektion industriell gefertigter Großprojekte führte, von denen sich Behnisch bald nachdrücklich distanzierte. Und sie waren bereits ein Hinweis auf seine späteren Experimente mit der Eigensinnigkeit, auch Gegenläufigkeit von Strukturen. Die Architektur sollte dem Menschen dienen, der Mensch in der Architektur leben, nicht von ihr beherrscht werden. Kompromisse lehnte Behnisch immer ab: „Ich will nicht mehr ins Mittelmäßige hineingezogen werden“, zitiert ihn der Spiegel.
1966 wurde die Architektengruppe Behnisch & Partner gegründet, die
Behnisch unter wechselnden Namen jeweils mit einem oder mehreren Partnern
führte und erst 2005 auflöste. 1967 übernahm er bis zu seiner Emeritierung die
Nachfolge Ernst Neuferts auf dem Lehrstuhl für Entwerfen, Baugestaltung und
Industriebaukunde an der TH Darmstadt. Gleichzeitig wurde er Direktor des
dortigen Instituts für Normgebung. Im Wettbewerb um die Bauten für die
Olympischen Spiele in München entschied er sich für das Abenteuer eines
Entwurfs, der im Preisgericht zunächst als „unbaubar“ galt: ein weiträumig
modelliertes Gelände wird mit einer scheinbar schwebenden Zeltlandschaft
überdacht, dabei höchst funktional allen Anforderungen der Wettkämpfe tauglich
und zudem für die Gäste aus aller Welt ein unvergesslicher Erlebnisraum der intendierten „Heiteren Spiele“, die dann ob
des PLO-Anschlags so heiter doch nicht wurden. Die virtuose Inszenierung der
Heterogenität von Materialien, Elementen und Strukturen machte die Qualität
dieses Projekts auf dem Münchner Oberwiesenfeld aus, das Behnisch schlagartig
weltbekannt machte.
„Werkhalle der Demokratie“
In rascher Folge realisierte er jetzt bis zur Wiedervereinigung weitere namhafte Projekte: das Studien- und Ausbildungszentrum sowie die Landesgeschäftsstelle der Evangelischen Landeskirche Württemberg in Stuttgart, die Zentralbibliothek der Katholischen Universität in Eichstätt, das Bundespostmuseum/ Museum für Kommunikation in Frankfurt, das Hysolar Forschungs- und Institutsgebäude der Universität in Stuttgart, den Marco-Polo-Tower sowie die Unilever-Zentrale in Hamburg und das Nationale Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg. 1982 wurde Behnisch Mitglied der Akademie der Künste in Berlin in der Sektion Baukunst. 1984 wurde ihm von der Universität Stuttgart die Ehrendoktorwürde verliehen.
Sein zweites prestigeträchtiges Großprojekt nach München – den Wettbewerb dazu hatte er bereits 1973 gewonnen – war der Umbau des Zentralbereichs und des Plenarsaals des Deutschen Bundestages in Bonn – auch wenn der erst fertig wurde, als der Umzug nach Berlin bereits beschlossen und im Gang war. Die transparent gestaltete „Werkhalle der Demokratie“ (Behnisch) war damals das modernste Parlamentsgebäude der Welt. 1989 gründete sein Sohn Stefan Behnisch ein Zweigbüro in Stuttgart, das 1991 eigenständig wurde und inzwischen unter dem Namen Behnisch Architekten weltweit agiert.
1991 wurde er zum Ehrenprofessor an die Internationale Akademie der Architektur in Sofia berufen, ein Jahr darauf zum Ehrenmitglied der Königlichen Vereinigung der Architekten in Schottland. Im gleichen Jahr wurde er auch Ehrenmitglied des Bundes Deutscher Architekten (BDA). 1996, inzwischen mehrmals nach Dresden zu Besuchen und Architekturwettbewerben zurückgekehrt, wurde er Gründungsmitglied der Sächsischen Akademie der Künste, deren Klasse Baukunst er bis 2000 leitete. Zu seinen Dresdner Arbeiten gehörten der Bau des futuristisch anmutenden Katholischen St.Benno-Gymnasiums sowie das „Blumenhaus“, ein Wohn- und Geschäftskomplex im Rahmen des Wiederaufbaus des Neumarkts rings um die Frauenkirche. Seinen Dialekt legte er übrigens zeitlebens nicht ab.
Nach dem Entwurf zur Umgestaltung des Bayerischen Landtags von Günter Behnisch sollte das Maximilianeum in München eine gläserne Krone erhalten: ein Plenarsaal aus Glas. Der Entwurf wurde 2000 im Wettbewerb um die Neugestaltung des Sitzungssaales mit einem Sonderpreis bedacht. 2001 eröffnete das von ihm entworfene Museum der Phantasie – auch Buchheim-Museum genannt – am Starnberger See. Zwei Jahre zuvor ging sein Kontrollturm am Nürnberger Flughafen in Betrieb – seinerzeit der modernste Deutschlands. Sein drittes und zugleich letztes, und umstrittenstes, Großprojekt war der Neubau für die Akademie der Künste in Berlin, den er zusammen mit Werner Durth von 1999 bis 2005 für 56 Millionen Euro errichtete.
Er folgte auch hier seinem Prinzip des „transparenten Bauens“ – mit einer Glasfassade zum Pariser Platz und offenen Etagenübergängen im Inneren, was zu akustischen Problemen im Alltag führte und Kritik auslöste. Schon in der Entwurfsplanung gab es Konflikte mit den Berliner Stadtplanern, weil die Bausatzung an der historischen Stelle der Hauptstadt eigentlich keine durchgehende Hightech-Glasfassade erlaubte. Aber „ich bin gar nicht erst auf die Idee gekommen, da eine Steinfassade zu machen“, sagte Behnisch seinerzeit. „Wir wollten schon gar keine Assoziationen an die Großkotzigkeit der Hitler-Architektur und der wilhelminischen Architektur wecken.“ Die gigantomanischen Macht-Klötze der NS- und Kaiserzeit, so fürchtete er, feierten ein schleichendes Comeback in der neuen Hauptstadt. Er sei „traumatisiert von den ideologischen Architekturinszenierungen der Nazis“ und empfinde einen „heftigen Widerwillen gegen das Zurschaustellen steinerner, lastender Baumassen“, zitiert ihn das Portal baunetz.
Für Behnisch waren historisierende Bauten wie das Stadtschloss reine
Sicherheitsarchitektur, die eine spießig-konservative Sehnsucht nach
Gemütlichkeit bediente, wo doch eigentlich Wagnisse gefragt waren. Ein
Sentiment, das er nur mit lakonischer Bissigkeit kommentieren konnte: „Wenn es
jemand nach Gemütlichkeit verlangt, soll er sich eine Katze anschaffen.“ Berlins
Senatsbauverwaltung stellte fest, dass „Undichtigkeiten an der vertikalen
Fassade“ das Bauwerk schädigten. In den Archivräumen machte sich beizeiten
Schimmel breit, so dass die umfangreichen Bestände der Akademie seit Jahren in
einem Lager am Westhafen untergebracht sind. Eine andere Erklärung, bekannte
Behnisch freimütig, sei seine landsmannschaftlicher Tradition, die ihn mit
Berlin nie so recht warm werden lasse: „Ich bin ein Sachse, und wir haben immer
zusammen gegen die Preußen gekämpft – und haben immer verloren. Friedrich der
Große, das war ja ein Räuber. Die Österreicher waren mir immer sympathischer.
Die kennen das auch, das Laufenlassen und das Schauen-wir-mal-wie’s-Geht.“
„Heiter und ernst“
1999 war Behnisch Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München und 2006 Ehrenmitglied der Architektenkammer Keyseri in der Türkei geworden. Er starb zu Hause, wo ihn seine Frau in den letzten Jahren gepflegt hat. Nach mehreren Schlaganfällen war er halbseitig gelähmt und auf Hilfe angewiesen, jedoch bis zum Schluss ansprechbar gewesen, sagte sein Sohn der FAZ: „Er hatte ein langes, erfülltes Leben.“ Eines ist den Gebäuden Günter Behnischs immer gemeinsam: Er entwickelte seine Grundrisse nie von außen, immer von innen mit einem offenen, der Kommunikation dienenden Mittelpunkt, um den die funktionalen Bereiche gruppiert wurden und so einen vielgliedrigen, von optischer Transparenz und Öffnung nach außen geprägten Baukörper bilden. Große Kubaturen werden aufgelöst in Linien und Flächen, geschlossene Mauern weichen filigran gegliederten Glasfassaden, das „große Ganze“ wird fragmentiert zugunsten der Vielfalt. Seine Entwürfe orientierten sich in erster Linie nicht an Formen und Fassaden (deshalb war für ihn die neuere Berliner Architektur überwiegend „Angeberei“), vielmehr strebte er Räume und Raumfolgen an, welche die Nutzer mit ihren Aktivitäten „besetzen“ können.
In bester moderner Tradition suchte er für lebendig interpretierte Bedürfnisse das richtige Maß zu finden, wie er es besonders für Schulen forderte: „Heiter und ernst, geordnet und neu geordnet, individuell und eingefügt ins Ganze.“ Behnisch kannte nach eigener Aussage weder die Zahl seiner Auszeichnungen noch die Zahl errungener Architekturpreise, darunter wiederholt der Deutsche Architekturpreis. „Die Preise sind wichtig für meine Mitarbeiter, die sich jahrelang mit einem Projekt beschäftigen, und für die Eigentümer“, sagte er einmal, „nicht für mich“. Schön sei es, als Architekt einiges mitbestimmen zu können. Und das hat er getan.
Allein bis 1996 griffen 38 Filme auf seine Musik zurück. Rechnet man
Dokumentarfilme hinzu, waren es gar 46. Gleich zweimal bediente sich Woody
Allen; die japanische Kultkomödie „Tampopo“, der vielleicht „witzigste Film
aller Zeiten über die Verbindung von Essen und Sex“, so Hal Hinson in der Washington Post, nutzte genüsslich seine
Motive. Luigi Visconti hat das Adagio seiner fünften Sinfonie in der
Mann-Verfilmung „Tod in Venedig“ zum „Leidmotiv“ erhoben, selbst Hannibal
Lecter mordete mit ihm: Gustav Mahler. Der österreichische Wirtssohn war nicht
nur einer der bedeutendsten Komponisten der Spätromantik, sondern auch einer
der berühmtesten Dirigenten seiner Zeit und als Operndirektor ein bedeutender
Reformer des Musiktheaters. Am 7. Juli vor 160 Jahren wurde er im böhmischen
Kalischt geboren.
In seinem Geburtsjahr verkauften seine Eltern ihren Gasthof und zogen in
die mährische Stadt Iglau, wo Mahler den überwiegenden Teil seiner Jugend
verbrachte. Sie sollte traumatisch werden. Er musste mit ansehen, wie der Vater
die Mutter schlug, und erleben, wie sechs seiner vierzehn Geschwister früh
starben. Sein älterer Bruder Isidor war bei seiner Geburt schon gestorben, so
dass er mit dieser Fehlstelle zum ältesten Kind wurde. Als 15jähriger machte
ihm besonders der Tod seines 13jährigen Bruders Ernst sehr zu schaffen. Zudem starben
beide Eltern, als Mahler noch keine dreißig war, so dass er sich danach verpflichtet
fühlte, für seine jüngeren Geschwister zu sorgen, bis sie selbstständig waren.
Mahler nahm seine Schwester Justine zu sich, die ihm bis zu ihrer Heirat viele
Jahre den Haushalt führte.
Schon als Vierjähriger hatte er seinen ersten musikalischen Unterricht auf dem Akkordeon, kurz danach auch auf dem Klavier. Seine Begabung war so herausragend, dass er mit sechs Jahren, als er zur Schule kam, bereits selbst in der Lage war zu unterrichten. Mahler war von schneller Auffassungsgabe und von großer Wissbegierde. Er komponierte, befasste sich mit Literatur und interessierte sich für alle Musikrichtungen, die ihm in Iglau zu Ohren kamen. Elemente der jüdischen Musik, der Militärmusik oder der Volks- und Tanzmusik flossen mehrfach in seine späteren Werke ein. 1870 bekam er Gelegenheit, im Iglauer Theater erstmals als Pianist öffentlich aufzutreten. Auch im Gymnasium, an das er zwischenzeitlich gewechselt war, konnte er sein großartiges Können am Klavier zeigen.
1875 ging Mahler nach Wien, um am Konservatorium Klavier und Komposition
zu studieren. Für den Abschluss am Gymnasium in Iglau lernte er nebenbei weiter
und schaffte ihn schließlich 1877 im zweiten Anlauf: er war trotz seiner
Intelligenz ein recht mittelmäßiger Schüler. Während seiner Studienzeit
entstanden mehrere Kompositionen, außerdem begann Mahler mit der Arbeit an seiner
Märchen-Kantate „Das klagende Lied“, die er nachträglich als Op.1 bezifferte. Zusätzlich
besuchte er Vorlesungen in Germanistik, Philosophie und Bildender Kunst an der
Universität. Auch bei Anton Bruckner saß er im Hörsaal, wenn dieser über
Musikgeschichte referierte.
In seinen Konservatoriumsjahren arbeitete er an zwei Opern, die unvollendet
blieben: „Die Argonauten“ nach einem Drama von Franz Grillparzer und „Rübezahl“.
Mit einer öffentlichen Aufführung seines heute verschollenen Klavierquintetts,
für das er zuvor wiederholt einen Konservatoriums-Preis bekommen hatte,
beendete er erfolgreich sein Studium. Er hatte inzwischen Freundschaften mit
Musikerkollegen, Literaten und Philosophen geschlossen und war allen neuen
Einflüssen zugänglich. Das ging soweit, dass er sich sogar mehrere Jahre als
absoluter Vegetarier ernährte.
„Es ist nun alle Not vorüber“
Bis 1891 sammelte er dann quer durch Europa Erfahrungen als Kapellmeister in Bad Hall, Laibach, Olmütz, Kassel, Prag und Leipzig sowie die letzten drei Jahre als Königlicher Operndirektor in Budapest. Sein Anfangsverdienst am Kurtheater Bad Hall betrug 30 Gulden, das wären für gegenwärtige Verhältnisse etwa 240 Euro. Mahler konnte dieser Anstellung nichts abgewinnen, er konnte nur seinen Lebensunterhalt damit verdienen. Wie fatal ihm diese drei Monate waren, zeigte sich darin, dass er sie in Bewerbungen einfach unterschlug. Während der elf Jahre kristallisierte sich ein Muster heraus, dem er bis zu seiner Hochzeit folgen sollte: in jeder Stadt fand er eine „große Liebe“, die ihn musikalisch inspirierte und die doch mit jedem Wegzug endete. In Kassel etwa war es die Sopranistin Johanna Richter; in Leipzig schrieb er, berauscht durch seine Liebe zu Marion von Weber, der Frau eines Enkels von Carl Maria von Weber, und durch den Roman „Titan“ von Jean Paul in sechs Wochen die 1. Sinfonie, die er dann in Budapest uraufführte, und erste Lieder zu „Des Knaben Wunderhorn“, einer Textsammlung mit Volksdichtungen, die er sehr schätzte.
Während seiner Jahre als Kapellmeister dirigierte er zahlreiche Opern und
hatte Gelegenheit, zwischendurch immer wieder Konzertaufführungen anderer
Musiker zu erleben. Er wurde mit Richard Strauss bekannt und lernte bei einem
Besuch in Bayreuth Cosima Wagner und ihren Sohn Siegfried kennen. Der Ruf als
hervorragender Dirigent eilte ihm voraus, als er 1891 an das Stadt-Theater
Hamburg ging. Seine Arbeit reformierte den Musiktheater-Stil nachhaltig und
hatte weitreichende Auswirkungen auch auf andere Bühnen. Das Opernhaus erlangte
dank seines Chefdirigenten den Status, eine der besten deutschen Operbühnen zu
sein. Eine Hommage an die Stadt und an den Hamburger Michel findet sich in
Mahlers „Auferstehungs-Symphonie“ wider. Spektakulär waren Mahlers
Erst-Aufführung des „Te Deum“ in C-Dur von Anton Bruckner, das als dessen
bedeutendstes Chorwerk in der Zeit des Deutschen Kaiserreiches galt, sowie, in
Anwesenheit des hochzufriedenen Komponisten, die deutsche Erstaufführung von
Tschaikowskis Oper „Eugen Onegin“. Mit der auch im Alltag hochdramatischen Anna
von Mildenburg ging er die leidenschaftlichste Liebesbeziehung vor seiner Ehe
ein, die er jedoch mit seinem nächsten Wechsel wiederum ad acta legte.
Nach sechs Jahren beendete Mahler seine Hamburger Tätigkeit und
konvertierte vom jüdischen Glauben zum Katholizismus. Er hat seinem Glauben nie
besonders nahe gestanden, seine Weltanschauung war, wie an seinen Angaben und
Texten zur 3. Sinfonie, zur 8. Sinfonie und zum Lied zu erkennen ist, eher eine
naturreligiöse und philosophische. Allerdings befasste er sich auch intensiv
mit dem Auferstehungs- und Erlösungsgedanken des Christentums, was unter
anderem in der 2. und 3. Sinfonie deutlich wird. Dennoch befürchtete Mahler
nicht zu Unrecht, dass seine jüdische Herkunft der Grund sein könnte, ihm
weitere Aufstiegsmöglichkeiten zu versperren. „Mein Judentum verwehrt mir, wie
die Sachen jetzt in der Welt stehen, den Eintritt in jedes Hoftheater. – Nicht
Wien, nicht Berlin, nicht Dresden, nicht München steht mir offen.“
Dennoch wurde sein Anschreiben aus München abschlägig beantwortet. Das freute die Wiener Hofoper, die ihn kurz darauf zum Kapellmeister mit einem Jahreshonorar von 5000 Gulden machte. Mahlers erste Wiener Aufführung – er dirigierte den „Lohengrin“ von Richard Wagner – wurde ein sensationeller Erfolg. An Anna von Mildenburg schrieb er euphorisch: „Es ist nun alle Not vorüber! Ganz Wien hat mich geradezu mit Enthusiasmus begrüßt…“ In den nächsten zehn Jahren wird er seine an Richard Wagners Begriff des Gesamtkunstwerks orientierte Vorstellung von Oper als Einheit von Musik und Darstellung verfeinern und eine Rollendarstellung durchsetzen, die situativ und psychologisch genau war und mit der sängerisch-musikalischen Gestaltung im Einklang stand. Während der Wiener Jahre reiste er durch ganz Europa, um zu dirigieren und seine eigenen Kompositionen – mit unterschiedlichem Erfolg – aufzuführen.
1899 engagierte er Selma Kurz, die erst 17-jährige, österreichische
Sängerin an seine Wiener Bühne. Es dauerte nicht lange, und die beiden Künstler
wurden, ungeachtet des Altersunterschiedes, ein Liebespaar. Da die Bestimmungen
der Hofoper den Künstlern verboten, untereinander eine Ehe einzugehen, zog die
Sängerin nach der kurzen Affäre ihre Karriere vor und blieb, von Mahler
gefördert, als erfolgreiche Diva am Haus. Im Frühjahr 1901 erkrankte Mahler so
schwer, dass eine Operation unumgänglich war. Danach widmete er sich wieder mehr
seinen Kompositionen und ließ sich dazu an seinen Urlaubsorten kleine
„Komponierhäuschen“ errichten, in denen er ungestört arbeiten konnte: Bereits seit
1893 in Steinbach am Attersee, seit 1901 in Maiernigg am Wörthersee und seit
1908 in Toblach in Südtirol. Deshalb wird er oft auch als „Sommerkomponist“
bezeichnet. Die Natur diente ihm als stärkste Inspirationsquelle.
Schicksalsjahr 1907
1901 lernte Mahler die 20 Jahre jüngere Alma Schindler kennen. Er verliebte sich in die schöne Frau, deren Elan als musikalisch aktive Künstlerin abgeklungen war und die es stattdessen vorzog, ihre Schönheit zu Markte zu tragen, um namhaften Künstlern eine Muse sein zu können. Nach kaum zwei Monaten verlobten sich beide. Die Verbindung erregte nicht nur wegen des Altersunterschiedes großes Aufsehen: Mahler war nur ein Meter sechzig klein, fiel eher durch seine hohe Stirn als durch ebenmäßige Züge auf, litt unter Hämorrhoiden und galt dennoch als dominant. Prompt legte er seiner Zukünftigen in einem zwanzig Seiten umfassenden Brief dar, was er von ihr erwartete, und stellte sie vor die Wahl, ihre eigenen Kompositionen einzustellen oder von der Heirat Abstand zu nehmen.
Alma willigt ein und lebt acht Jahre nur für ihren Mann und sein Werk:
Als Muse, Managerin, Haushälterin und Mutter. Am 9. März 1902 fand die Trauung
in der Wiener Karlskirche statt. Die Hochzeitsreise, die gleichsam eine
Konzertreise war, führte das Paar nach Sankt Petersburg. Anschließend ging
Mahler nach Maiernigg und stellte dort die im Jahr zuvor begonnen
„Kindertotenlieder“ fertig. Seine schwangere Frau war sichtlich befremdet über
diese Arbeit. 1902 wurde Mahlers Tochter Maria Anna geboren, 1904 seine zweite
Tochter Anna Justine. Im Sommer desselben Jahres vollendete Mahler seine 6.
Sinfonie.
Mahlers Ungeduld mit Personal, das seinen Ansprüchen nicht genügte, seine
Tourneen als Dirigent eigener Werke, eine Pressekampagne gegen ihn mit
antisemitischen Tendenzen und Streitigkeiten mit seinen Vorgesetzten bei Hof
über häufige Abwesenheiten und die Programmgestaltung, deren Gipfel das Verbot
der Uraufführung von Richard Strauss’ „Salome“ war, brachten schließlich beide
Seiten 1907 dazu, Mahlers Wiener Amtszeit zu beenden. Die tiefgreifenden
Konflikte zeigten sich nicht zuletzt in der Tatsache, dass Mahler nicht
offiziell verabschiedet wurde. Dennoch bekam er eine hohe Abfindung, die Kaiser
Franz Joseph persönlich bewilligte.
Das Jahr sollte zu Mahlers Schicksalsjahr werden: neben dem Ende seines
Wiener Engagements musste er im Sommer 1907 den Tod seiner älteren Tochter
Maria verkraften, die an Scharlachdiphterie qualvoll starb, und unmittelbar
darauf die Diagnose einer schweren Herzerkrankung, die eine rigorose Änderung
der Lebens- und Arbeitsgewohnheiten des bislang robusten, sportlichen Mannes
erzwang. Heute nimmt man an, dass immer wiederkehrende, nie wirklich
auskurierte Mandelentzündungen die Ursache für seine Herzinnenhautentzündung
war, der er letztlich erliegen sollte. Mahler nahm daraufhin zum 1. Januar 1908
eine Stelle an der Metropolitan Opera an. Hier ergänzte er seine Operntätigkeit
durch ein breites Wirken als Konzert- und Tourneedirigent, zumal mit dem New
Yorker Philharmonischen Orchester. Er kehrte im Sommer stets nach Europa zurück
und schrieb noch zwei Meisterwerke: „Das Lied von der Erde“, eine Symphonie für
Alt, Tenor und Orchester nach Dichtungen von Hans Bethges „Die chinesische
Flöte“, die später seine 9. genannt wurde, und die 10. Symphonie.
„melancholisch-morbide
Grundtönung“
Die entstand in der Auseinandersetzung mit seiner Ehekrise: Alma war eine Affäre mit dem Architekten Walter Gropius eingegangen. In einem Anfall rasender Leidenschaft bittet Gropius inständig Alma, alles zu verlassen und zu ihm zu kommen. Allerdings adressiert er den Brief nicht an die „Heißersehnte“, sondern an Gustav Mahler. Der öffnet nichts ahnend den Brief, seine Welt bricht zusammen. „Wahnsinn, fass mich an, Verfluchten! Vernichte mich, dass ich vergesse, dass ich bin! dass ich aufhöre zu sein, dass ich ver…“, schreibt er auf das Notenblatt der Partitur. Seine Gefühle leben in der Musik weiter, die Sinfonie pendelt zwischen Himmel und Hölle. Mahler konsultierte im holländischen Leyden sogar Sigmund Freud.
Im Januar 1911 gab Mahler seine letzten Konzerte in Europa, bevor ihn
seine Krankheit immer mehr am Arbeiten hinderte. Er raffte sich noch einmal
auf, am 21. Februar 1910 in New York ein Konzert zu dirigieren, und reist im
April nach Paris, hoffend, dass ihm die Spezialisten des Pasteur-Instituts helfen
können. Ein befreundeter Arzt empfahl Alma Mahler, mit ihrem Mann umgehend nach
Wien weiterzureisen, da es keine Heilungsaussichten gäbe und Mahler jetzt
gerade noch transportfähig sei. Die Reise wurde zu einem öffentlichen Ereignis.
Unterwegs wurden Journalisten über den Zustand des im Sterben liegenden
Künstlers informiert. Sechs Tage vor seinem Tod war der Künstler endlich in
Wien angekommen. Am 18. Mai 1911 starb er und wurde auf dem Grinzinger Friedhof
neben seiner geliebten Tochter begraben.
Nach Mahlers Tod heiratete Alma den Architekten Walter Gropius (1915) und später (1929), nach ihrer Scheidung von Gropius, den Dichter Franz Werfel und war Geliebte von Oskar Kokoschka. In ihren Memoiren schrieb sie, sie habe sich ihr Leben lang als „Mahlers Witwe“ gefühlt. Sie nannte ihn einmal ihren „Amokläufer”, weil er mit seinem musikalischen Temperament die ganze Welt auseinander nehmen wollte. Ein anderes Mal zeichnet sie das Bild des „vergessenen“ Kindes im Walde – des kleinen Gustavs, der furchtlos inmitten der Düsternis, versunken in sich selbst, auf seine Erlebnisse wartet. „Die melancholisch-morbide Grundtönung seiner Musik, zu der vielfache Einbeziehungen von Naturpoesie und volkstümlichen Zügen unvermittelt kontrastieren, wirken heute noch ergreifend. Mahlers Musik spiegelt das Lebensgefühl vieler Menschen seiner Zeit wider, geprägt ist sie durch Zerrissenheit, Unrast und Unruhe“, heißt es auf dem Portal judentum-projekt.
Er galt als neuer Musiker-Typus, ein Außenseiter als Böhme unter Österreichern, als Österreicher unter Deutschen und als Jude in der ganzen Welt – zwischen 1933 und 1945 war er hierzulande mit einem völligen Aufführungsverbot belegt. Er habe den Glanz des Vergangenen noch einmal grandios aufleuchten lassen, den Schmerz über seinen Verlust und das Gefühl der Gebrochenheit im neuen Jahrhundert deutlich vorgestellt, befindet Axel Brüggemann auf dem Portal Klassik-Akzente: „Mahler wollte in der Musik über die Zukunft der Menschheit erzählen, als das etablierte Bürgertum noch gar nicht begriffen hatte, dass längst eine neue Zeit eingeläutet war.“ In der Welt ergänzt er: „Er hat eine Zwischenwelt von Traum, Psychoanalyse und Sehnsucht in den Klang der Extreme verpackt, ließ den Beelzebub zu Engelsstimmen lachen.“ Der Dirigent Rafael Kubelik sagte einst: „Beethoven bezeichnet man immer als Prometheus, er wollte den Menschen den Himmel bringen. Für die Zukunft sehe ich in Mahlers Werken diese Mission.“ Die Zeit wird zeigen, ob er Recht behält.
Im Namen der neuen Gottheit „Antirassismus“ werden vorgeblich „belastete“ Monumente geschliffen. Der politische Ikonoklasmus führt stattdessen zu neuen Lenin-Statuen.
Mein neuer Tumult-Text, der gern verbreitet werden darf.
Die Liste seiner Verdienste sei ebenso lang wie die Zahl seiner
Fehltritte, so dass man sich „wundert, wie dieser Mann zu einer Ikone der
Meeresforschung aufsteigen konnte“, zeigte sich Hanno Charisius in der Süddeutschen Zeitung irritiert. Zu
seinen Lebzeiten war er laut Umfragen jahrelang der beliebteste Franzose,
beriet Weltbank, UNO und Unesco, bekam den Nationalen Verdienstorden und die Ehrendoktorwürde
von Harvard. Er drehte mehr als 100 Dokumentarfilme und bekam für drei den
Oscar, schrieb Dutzende Bücher und verwandelte die Meeres-Biologie von einem
exotischen Fach in einen Modestudiengang. Eine Viertelmilliarde Menschen
verfolgte die Episoden seiner TV-Serie „Geheimnisse des Meeres“. Doch eines bleibt
ihm zeitlebens verwehrt: die Anerkennung der etablierten Meereswissenschaftler.
Die Akademiker beargwöhnten den begnadeten Selbstdarsteller mit asketischer Aura, sie betrachteten ihn als Wilderer, ja Besessenen, mit dem die Phantasie durchgegangen war. So träumte er von operativen Eingriffen, mit denen sich Menschen zu Unterwasseratmern umbauen lassen sollten – eine Science-Fiction-Idee, die der russische Autor Alexander Beljajew in seinem Roman „Der Amphibienmensch“ (1928) entwickelt hatte. Und er träumte von riesigen Unterwassersiedlungen, die von Menschen bewohnt werden sollten, und versenkte 1964 eine Art bewohnbares Aquarium im Roten Meer, wo er mit seinem Sohn Philippe wochenlang unter Wasser lebte – in klimatisierten und beleuchteten Räumen, rauchend und Champagner schlürfend: Jacques-Yves Cousteau, der am 11. Juni 1910 bei Bordeaux als Sohn eines Anwalts geboren wurde. Als Schüler war ihm übrigens das Schwimmen wegen seiner schwächlichen Konstitution untersagt worden.
Beinahe wäre er nach der Marineschule in Brest, die er von 1930 bis 1933
besucht, Marineflieger geworden, doch ein Autounfall kommt ihm dazwischen. 1936
überschlug sich sein Wagen, Cousteau brach sich zwölf Knochen. Sein linker Arm
war derart zertrümmert, dass Ärzte zur Amputation rieten, um einen womöglich
tödlichen Wundbrand zu vermeiden. Cousteau wagte alles und gewann: Der Arm
verheilte. So stillte der 26-Jährige sein Entdeckerbedürfnis im
entgegengesetzten Element: Seit er im Sommer 1936 erstmals mit einer
Unterwasserbrille im Mittelmeer tauchte, träumte er von den Tiefen der Meere: „Ich
tauchte meinen Kopf unter, und die ganze Zivilisation schwand mit dieser einen
Bewegung dahin. Ich war wie in einem Dschungel, der noch nie von all denen
erblickt worden war, die sich auf der undurchsichtigen Erdoberfläche bewegten.“
Es war ein Erweckungserlebnis. Im Jahr darauf heiratet er Simone Melchior, mit
der er zwei Söhne hatte, Jean-Michel und Philippe, der 1979 beim Absturz seines
Wasserflugzeugs sterben sollte.
„Ich bin
das Meer“
Zunächst erklimmt Cousteau die militärische Karriereleiter, arbeitet als
Agent der Aufklärungsabteilung der Marine in China, Japan und der Sowjetunion
und unterstützt nach dem deutschen Sieg gegen Frankreich 1940 die Résistance.
Er verdient sich mehrere Orden und bringt es bis zum Korvettenkapitän, als er
1956 ausscheidet. Den Beinamen le commandant (englisch „captain“) behält er.
Parallel dazu wird er zum Tauchprofi und riskierte wieder sein Leben – um „selbst
Fisch zu werden“: Weiter als auf Schnorcheltiefe waren die Meere noch nicht
erforscht. Da ihm das mit den damals üblichen, von außen mit Luft versorgt
schweren Tauchhelmen und –anzügen unmöglich erschien, experimentierte er und
verlor mehrmals unter Wasser das Bewusstsein.
Dann brachte er zwei französische Ingenieure dazu, mit ihm gemeinsam den vom österreichischen Taucher und Dokumentarfilmer Hans Hass ersonnenen Lungenautomaten weiterzuentwickeln, der es erstmals ermöglichte, Luft aus Pressluftflaschen zu atmen. Auf der Aqua-Lunge basiert bis heute das Prinzip des Tauchens: Per Atemregler ließ sich fortan komprimierte Luft aus Flaschen automatisch dem wechselnden Wasserdruck anpassen. „Befreit von Schwerkraft und Auftrieb flog ich durch das All“, jubilierte Cousteau nach dem ersten Tauchgang. Und später: „Ich bin das Meer, und das Meer ist in mir.“ Die neue Technik legte das eine Fundament für seinen Welterfolg. Das andere sind die wasserdichten Gehäuse für Kameras, die er entwickelt.
1942 dreht Cousteau bei der Insel Embiez nahe Toulon am Mittelmeer seinen
ersten Unterwasserfilm „In 18 Metern Tiefe“ – mit einer simplen Kamera im
wasserdichten Einmachglas. Mit dabei sind Philippe Tailliez und Frédéric Dumas
– die drei „Mousquemers“ (Musketiere des Meeres). Für den nächsten Film „Wracks“
benutzen sie 1943 erstmals die „Aqualung“. Für die Taucher der Marine
entwickelte er den ersten Scooter, ein motorisiertes Fortbewegungsmittel unter
Wasser. Es folgten Forschungs-U-Boote, darunter die berühmte tauchende
Untertasse „Denise“, sowie eine tiefseetaugliche Kamera. 1947 schaffte er mit
91,5 Metern den Weltrekord im Freitauchen.
1950 überlässt ihm der irische Bierbrauer Thomas Loel Guinness ein
ehemaliges Minensuchboot für einen symbolischen Franc Miete im Jahr. Der
Captain baut die Calypso für seine Zwecke um. Mit an Bord bei der ersten Reise
ist der noch unbekannte Regisseur Louis Malle, mit dem Cousteau sich bei seinem
bekanntesten Film „Die schweigende Welt“ die Regie teilt – und 1956 die Goldene
Palme beim Filmfestival in Cannes. Nur 14 Jahre nach dem eher unscheinbaren
Erstling stießen seine Taucher in der später auch oscargekrönten Doku mit unter
Wasser brennenden Magnesiumfackeln wie tollkühne Eroberer in die Tiefe vor. Sie
rasten mit Scootern hinter Fischschwärmen her, flogen über bunte Korallengärten
und inspirierten damit James Bonds „Feuerball“ (1965). Sogar den Haien stellten
sie sich, geschützt nur durch einen engen Käfig. Bald darauf kommt Malle als
Spielfilmregisseur zu Weltruhm.
Mehr als 40 Jahre lang schipperte Cousteau mit der Calypso über die
Weltmeere und verarbeitete seine Expeditionen in vielen Texten und Bildern.
Geschickt machte er sich selbst zur Marke: In seinen Filmen und TV-Sendungen ließ
er die Crew auf dem blendend-weiß gestrichenen Schiff stets seine bald
weltberühmten roten Wollmützen tragen. Auf dem Boot herrschte strenge
Hierarchie: „Le Commandant“ schickte bisweilen Mannschaftsmitglieder ohne
Abendessen ins Bett, wenn sie nicht nach seiner Pfeife tanzten. Um exorbitant
teure Expeditionen zu finanzieren, schloss er auch Verträge mit der
Öl-Industrie ab und sondierte den Meeresboden nach möglichen Bohrorten. Dem
US-Sender ABC rang er die Rekordsumme von 4,2 Millionen Dollar für die
zwölfteilige Fernsehsendung „Die Unterwasserwelt des Jacques Cousteau“ ab. Und
doch reichte das Geld meist nicht. Um die Sensationslust des Publikums zu
befriedigen, soll er sich nicht immer ökologisch korrekt verhalten haben:
Biografen werfen ihm vor, er habe Haie massakriert und Tintenfische unter
Drogen gesetzt. Frühere Crew-Mitglieder behaupten gar, sie hätten massenhaft
Delfine getötet, um sie an Haie zu verfüttern.
„Der
Mensch ist schuldig“
Allen Kritiken zum Trotz wurde Cousteau zum Präsidenten der französischen Ozeanographischen Gesellschaft gewählt. Er war Mitglied der Académie Française, leitete jahrzehntelang das Ozeanographische Museum in Monaco und betrieb Museumsschiffe in Übersee. Und er konnte durchaus auch anders: „Ich habe gesehen, wie die Fische sterben, die ich liebe, ich habe nach dem Grund gesucht. Der Mensch ist schuldig“, erklärte Cousteau. Mit zunehmendem Alter wandelte er sich zum beflissenen Umweltschützer, der mit Vorträgen zum Thema Überbevölkerung um die Welt reiste. Erlöse aus Lizenzverträgen und Forschungsaufträgen stiftete er der wissenschaftlichen Meeresforschung und gründete 1973 in den USA die millionenschwere „Cousteau-Society“ zur Erforschung und zum Schutz der Meere. Er entdeckte 1976 in der Ägäis mit seinem Taucherteam zwischen den Inseln Kea und Makrónissos einer Tiefe von 120 Metern das Wrack der Titanic-Schwester HMHS Britannic.
1987 lieferte er einen eigenartigen Beweis dafür, wie „harmlos“ Frankreichs Atombomben strahlten: er schwamm eine Runde im Wasser des Mururoa-Atolls. 1991 errang Jacques Cousteau seinen größten Sieg als Umweltaktivist: Er bewegte die Mächtigen der Welt dazu, in einem Moratorium den Schutz der Antarktis für 50 Jahre zu garantieren. Selbst Georg Bush, Freund der Öl-Multis, unterschrieb. Und als der ehemalige französische Präsident Jacques Chirac 1995 im Mururoa-Atoll wieder Atombombentests durchführen ließ, reagierte der ehemalige Mururoa–Schwimmer empört. Ein Jahr später sank die legendäre Calypso, sein „Zuhause“, im Hafen von Singapur und lebt heute vor allem musikalisch weiter: John Denver schrieb sein populäres „Calypso“ (1975) in Anerkennung von Jacques-Yves Cousteau und der Besatzung des Schiffs; Jean Michel Jarre nannte sein 1990 erschienenes Album „Waiting for Cousteau“ und widmete darauf ebenfalls ein Stück der Calypso.
Schon 1985 war Cousteau mit einem Rotorschiff, der „Alcyone“, in See gestochen. Sie ist noch immer im Auftrag der Cousteau-Society unterwegs und wird heute von seiner zweiten Ehefrau, Francine Triplet, geleitet. Die Langzeitgeliebte, die ihm bereits zwei uneheliche Kinder gebar, hatte er nach dem Krebstod Simones 1991 geheiratet. Am 25. Juni 1997 starb Costeau mit 87 Jahren an einem Herzinfarkt. „Oft wird der Selfmade-Forscher mit Bernhard Grzimek, dem Verhaltensforscher und Tierfilmer, auf eine Stufe gestellt. Vielleicht wäre Reinhold Messner der bessere Vergleich“, befand Charisius. Cousteau hinterließ eine Unterwasserwelt, die es heute nicht mehr gibt. Seine Enkelin Alexandra erklärte im Spiegel: „Ich tauche nicht mehr gern. Ich bin zu oft an Orte zurückgekehrt, an denen es heute kaum noch einen Fisch zu sehen gibt. Die Meere, die mein Großvater erforscht hat, existieren so nicht mehr.“
Das Ereignis ist unbestritten: Vier Polizisten hatten Ende Mai den 46jährigen mehrfach vorbestraften Afroamerikaner Georges Floyd in Minneapolis (Minnesota) festgenommen, weil er verdächtig war, mit einem gefälschten 20-Dollar-Schein bezahlt zu haben. Nachdem er zu Boden gebracht und mit Handschellen gefesselt worden war, fixierte einer der vier, Derek Chauvin, fast neun Minuten lang Floyds Hals mit seinem Knie – eine in der Polizeischule gelernte, bei korrekter Ausführung ungefährliche Technik – und ignorierte allerdings dessen Hilferufe „I can’t breathe!“ (Ich kann nicht atmen); dokumentiert von einer Passantin per Handy-Video, das rasch viral ging. Mit einem Rettungswagen abtransportiert, starb Floyd, der u.a. wegen eines bandenmäßigen, bewaffneten Raubüberfalls in Houston angeklagt und 2009 dafür zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden war, kurz darauf. Die vier Beamten wurden am Tag nach dem Vorfall fristlos entlassen. Die Generalstaatsanwaltschaft Minnesota wirft dem Hauptangeklagten Chauvin Mord 2. Grades und Totschlag vor – als erstem weißen Polizisten Minnesotas, der wegen des Todes eines schwarzen Zivilisten angeklagt wird. Auch gegen die anderen drei Beamten wurde Anklage erhoben.
Zwischen den
Ergebnissen der staatlichen Autopsie des Hennepin County und einer von Floyds
Familie beauftragten privaten Autopsie der Universität Michigan ergaben sich
Widersprüche. Die erste stellte als
Todesursache einen Herz-Kreislauf-Stillstand infolge von Druck auf den Nacken
fest. Der Tod sei durch Fremdeinwirkung erfolgt. Zudem hält der Bericht fest,
dass Floyd herzkrank gewesen und mit dem Coronavirus infiziert sei sowie unter
Bluthochdruck gelitten habe. Zum Zeitpunkt der Obduktion ließen sich außerdem die
Drogen Methamphetamin sowie Fentanyl nachweisen. Die zweite kam zu dem
Ergebnis, dass Floyds Todesursache Ersticken gewesen sei, Vorerkrankungen hätten
nicht vorgelegen. Unabhängig von diesen Ergebnissen kam es bereits am Tag nach
dem Tod zu ausgedehnten Demonstrationen gegen Polizeigewalt und Rassismus in
Minneapolis. Viele der Demonstranten trugen dabei Plakate mit der Aufschrift „I
can’t breathe!“ und skandierten Sprechchöre.
In den
darauffolgenden Tagen breiteten sich die Proteste auch auf andere Städte aus
und nahmen teilweise gewaltsame Formen an: Es kam zu Straßenschlachten,
Plünderungen und Brandstiftungen, wobei auf Plakaten u.a. die
linksextremistische Losung „ACAB“ (All Cops are Bastards – Alle Bullen sind
Schweine) oder der Slogan „Black lives matter“ (Schwarze Leben zählen) zu lesen
waren. Dass letzterer rassistisch ist – „All lives matter“ müsste es gerechterweise
heißen – fiel übrigens kaum auf. Und nur der AfD-Europaparlamentarier Maximilian
Krah wies auf die Tatsache hin, dass sich auf einer von medium.com veröffentlichten Liste von Unternehmen, die Antifa,
Black lives matter etc. finanziell unterstützen, auch deutsche finden, und ausgerechnet
von der linken Politik angegriffene Autohersteller, so BMW, Mercedes und Porsche.
Mehrere Menschen kamen dabei ums Leben, darunter der pensionierte schwarze Polizist David Dorn in St. Louis, als er die Plünderung eines weißen Pfandleihers verhindern wollte. Von „kollektiver Hysterie“ spricht der schwarze Harvard-Ökonom Glenn Loury in der NZZ. US-Präsident Donald Trump verurteilte sowohl die Tat als auch die extrem gewalttätigen Proteste dagegen: Es sei absolut unakzeptabel, dass jeden Tag nach Einbruch der Dunkelheit Demonstrationen und Kundgebungen gewalttätig würden, sagte er und kündigte an, das Militär einzusetzen, wenn „eine Stadt oder ein Bundesstaat sich weigert, die Maßnahmen zu ergreifen, die notwendig sind, um das Leben und das Eigentum ihrer Einwohner zu verteidigen“. In 25 Städten, darunter Los Angeles, Chicago und Philadelphia, wurden Ausgangssperren verhängt sowie in Minnesota und Washington, D.C. die Nationalgarde aktiviert.
So weit, so noch
überschaubar. Jedoch gaben Trump und sein Generalstaatsanwalt William Barr der „Antifa“
die Schuld an den Protesten. Trump twitterte, dass „Antifa und die radikale
Linke für die Unruhen verantwortlich“ seien, und erklärte, die Antifa als
terroristische Vereinigung in den USA verbieten zu wollen. Barr folgte mit der
Erklärung: „Die Gewalt, die von der Antifa und anderen ähnlichen Gruppen im
Zusammenhang mit den Unruhen angezettelt und ausgeführt wird, ist
innerstaatlicher Terrorismus und wird entsprechend behandelt werden.“ Diese Schuldzuweisung war für eine bestimmte
Klientel in Deutschland unverzeihlich, so dass die Proteste unter dem
„Rassismus“-Label prompt internationalisiert und ideologisiert wurden. Und wie
und mit welchen Argumenten, ja Inszenierungen das geschah, warf ein mehr als
bezeichnendes Licht auf die linksgrüne Heuchelei, von der heute nicht nur
Politik und Medien, leider, durchdrungen sind.
„Trump ist ein Maulheld“
Der tagesschau-Faktenfinder Patrick Gensing erklärt zunächst, dass es „die Antifa“ nicht gäbe, vielmehr stehe der Begriff „für Antifaschismus oder Antifaschistische Aktion“ und es handele sich nicht um eine „feste Organisation, sondern um ein Aktionsfeld“. Dennoch würde „von Rechtsradikalen […] immer wieder das Feindbild Antifa als einflussreiche, weit verzweigte Organisation dargestellt“. So sieht die tagesschau daher in den USA auch ganz andere „organisierte“ Kräfte wirken, nämlich „Mitglieder nationalistischer Gruppen, die die Proteste nutzen wollten, Hass gegen Schwarze zu schüren und einen Rassenkrieg zu provozieren“. Monitor-Chef Georg Restle unterstellte Trump in seinem Kommentar bei den Tagesthemen eine Ku-Klux-Klan-Gesinnung. Eine Harvardstudie ergab schon im Mai 2017, nirgends komme Trump schlechter weg als im deutschen Fernsehen.
Laut Merkur warnen Kritiker, „nicht
Antifaschisten [würden] die größte Gefahr für die USA darstellen, sondern
Rechtsextremisten“. „Trump spielt Diktator“ und „Ein Präsident setzt sein Land
in Brand“, textet der Spiegel, sieht Indizien,
„dass noch ganz andere Extremisten die Wut der Straße nutzen“, und berichtet
von zahlreichen Hinweise darauf, „dass Rechtsradikale hinter etlichen
Eskalationsversuchen stünden“. Das SPD-nahe RedaktionsNetzwerk Deutschland RND unterstellt Trump, dass dieser nicht
die „soziale Ungerechtigkeit und Rassismus“ als Auslöser für die
Ausschreitungen halte, sondern letztere „für ein linkes Komplott“. Bei Zeit Online ist Trump daher der „erste
Rassist des Landes“ und habe „keine Ahnung davon […], dass die USA einst am
Zweiten Weltkrieg teilgenommen haben, um den Faschismus zu besiegen“ und auch
nicht davon, dass „‚Antifa‘ die Abkürzung von ‚Antifaschismus‘“ sei.
Das alte
SED-Blatt Neues Deutschland klärt den
Leser daher auf, was Antifa wirklich heißt: „gelebte Solidarität mit
Geflüchteten und marginalisierten Gruppen. Antifa heißt auch, sich Nazis auf
der Straße, im Betrieb und im Alltag entgegenzustellen, um sie daran zu
hindern, das zu tun, was sie tun würden, wenn man sie nicht daran hindert.“ Auf
Twitter verkündigt der
SPD-Parteivorstand in der Folge seine Solidarität mit der Antifa: „157 [Jahre]
und Antifa. Selbstverständlich“. Dem schloss sich ebenso SPD-Chefin Saskia
Esken an: „58 und Antifa. Selbstverständlich“. Den Slogan „Wir sind Antifa“
twitterten unter anderem die „linksjugend [‚solid] Thüringen“, die „Grüne
Jugend Trier-Saarburg“ und die „BUNDjugend Bayern“.
Esken reagierte übrigens auf die Nachfrage eines Followers, ob sie hier also eine Organisation unterstütze, die Deutschlands wichtigster Handelspartner als Terrororganisation einstufen könnte: Die „Antifa ist keine Organisation, Antifaschismus ist eine Haltung, die für Demokraten selbstverständlich sein sollte“, so Esken. Ein unhistorischer Unsinn von Saskia Esken, befand Marcus Ermler auf achgut mit Blick auf den „antifaschistischen“ Gründungsmythos der KPD: „Dass die KPD der Weimarer Zeit obendrein eine Bande von Antisemiten war, die zum Kampf gegen ‚die jüdischen Kapitalisten‘ aufrief und ‚Nieder mit der Judenrepublik‘ schrie, macht es für die heutige Antifa auch nicht besser.“ Denn Ermler weist akribisch nach, dass u.a. in Los Angeles Synagogen und jüdische Geschäfte zerstört und geplündert wurden, worüber in Deutschland nichts zu lesen war, und zitiert das Simon-Wiesenthal-Center SWC, das die Antifa „eine Terrororganisation wie den Islamischen Staat“ nennt. Michael Bonvalot konstatiert im Neuen Deutschland prompt, dass das SWC sich damit „offen auf die Seite der extremen Rechten“ stellen würde.
„Diese
Polizei, deren zumindest in Teilen struktureller Rassismus sich in dem Tod
Floyds offenbarte, wird seit Jahrzehnten von linken Politikern kontrolliert und
gesteuert, mitnichten von Trump oder ihm nahestehenden Personen“, bewies
übrigens Felix Schnoor auf achgut. „Meine
wissenschaftliche Beschäftigung mit dem US-Polizeisystem liegt zwar schon
einige Jahre zurück, reicht aber immer noch für die sichere Beurteilung aus,
dass 90 % der derzeitigen Berichte bei ARD, ZDF, Spiegel, Stern & Co. über
die Unruhen in den #USA aus antiamerikanischen Fake-News und der Rest aus
linkstendenziösem Unfug besteht,“ so der promovierte Jurist Thomas Jahn auf Facebook.
Die Süddeutsche Zeitung trieb es besonders
bunt. „Trump erklärt Amerika den Krieg“ und „Trump ist ein Maulheld, ungeeignet
für sein Amt“, keift Kurt Kister. Bürgerkriegsähnlich ist der Mob auf den
Straßen, gefährlich nach Bürgerkrieg klinge aber Trump, der die Entsendung von
Soldaten angekündigt hatte – Immerhin, das sei nicht das erste Mal in der
jüngeren Geschichte der USA, räumt Thorsten Denkler ein. Aber im Gegensatz zu
früher sitze nun „ein erratischer Ichling, ein Narzisst, dem das eigene Wohl
stets das oberste zu schützende Gut ist“, im Weißen Haus: „Ihm ist alles
zuzutrauen.“ Und er hyperventiliert: „Trump ist jetzt offiziell eine Gefahr für
die nationale Sicherheit.“ Nach einer Erhebung von Rasmussen Reports liegt
Trumps Zustimmungsquote bei schwarzen Wählern übrigens bei 41 %. Den Vogel aber
ab schoss auf Twitter der
USA-Korrespondent des ZDF, Elmar
Thevessen. Er nannte Trumps Maßnahmen den „Beginn einer Trumpschen
Militärdiktatur“. Der Schutz der eigenen Bevölkerung vor linken Anschlägen ist
diktatorisch? Das ist kein Witz.
„Solche Dünnbrettbohrer schleifen noch die letzten Reste von einstmals anspruchsvollem Journalismus und geben die Begriffe Redakteur, Korrespondent oder gar Politkorrespondent der Lächerlichkeit preis“, ärgert sich Rene Zeyer auf achgut. Selbst die Europäer seien „entsetzt und schockiert über den Tod George Floyds“, muss Klaus-Dieter Frankenberger in der FAZ den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell zitieren, der zugleich Unterstützung für die Proteste gegen Machtmissbrauch und Polizeigewalt äußerte – ebenso wie der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD). Da sieht sich selbst Frankenberg gezwungen zu fragen, „ob in den europäischen Reaktionen auf das Geschehen in den Vereinigten Staaten auch hier und da routinierter Antiamerikanismus und eine Portion Selbstgerechtigkeit zum Ausdruck kommen, zumal im Vergleich etwa zu Reaktionen auf den Repressionsaufwand, den China tagtäglich betreibt und demnächst in Hongkong betreiben will.“
Weiße und
Schwarze stünden sich in Punkto Mordlust, was die Anzahl der begangenen Morde
angeht, in nichts nach, wobei Weiße mit 72% die Mehrheit der US-Bevölkerung
stellen und Schwarze mit rund 13% an zweiter Stelle folgen, recherchierte
Michael Klein für sciencefiles. Weiße
blieben beim Morden eher unter sich, während Schwarze mehr Weiße umbringen als
umgekehrt, also häufiger die ethnischen Grenzen überschreiten. „BlackLivesMatter
sollte entsprechend um WhiteLivesMatter oder AllLivesMatter ergänzt werden“,
befand er und zitiert im Screenshot einen „Alert“-Tweet von @ANTIFA_US vom 31.
Mai, 4.03 PM, in dem es u.a. hieß „Tonight’s the night, Comrades … Tonight… we
move into the residential areas… the white hoods…. and we take what’s ours”,
versehen mit den hashtags #BlacklivesMaters und #FuckAmerica. Sinngemäß kann
man übersetzen: „Heute Abend… ziehen wir in die Ortsansässigen-Wohngebiete… der
Weißmützen…. und wir nehmen, was uns gehört.“
„Respekt und Verständnis“
Dass sich in Deutschland daraufhin plötzlich der Sport politisierte – in eine Richtung, versteht sich – geschah für viele völlig unvermutet. Pionier war der Deutsche Fußballbund DFB, der aus seinem Regelkorsett ausbrach und „Protestaktionen gegen Rassismus von Bundesliga-Profis auf dem Rasen“ straffrei ließ. Grundsätzlich erlauben die Deutsche Fußball Liga (DFL) und der DFB keine politischen Botschaften auf der Spielkleidung oder während der Partien. In den DFB-Regeln heißt es unter anderem, dass die Spieler keine Unterwäsche mit „politischen, religiösen oder persönlichen Slogans“ zeigen dürfen. Jadon Sancho hatte am letzten Maiwochenende nach seinem Tor zum 2:0 beim SC Paderborn sein Trikot über den Kopf gezogen und zeigte ein Shirt mit der Aufschrift „Justice for George Floyd“. Sein Teamkollege Achraf Hakimi trug ebenfalls ein Shirt mit diesem Schriftzug. Gladbachs Marcus Thuram sank nach seinem ersten Tor beim 4:1 gegen Union Berlin auf sein linkes Knie und blickte zu Boden, Weston McKennie trug während der Partie gegen Bremen eine Armbinde mit der Aufschrift „Justice for George“ (Gerechtigkeit für George). Olympiasieger und Protest-Ikone Tommie Smith, dessen Black-Power-Geste 1968 in Mexico zum Symbol des Protests im Sport gegen Rassismus wurde, begrüßte in der BamS diese Solidaritätsbekundungen: „Sie haben offenbar verstanden, dass George Floyd auch sie repräsentiert. Er repräsentiert ein System, das Hilfe benötigt.“
Da nach den
FIFA-Fußballregeln, an die der DFB gebunden ist, keine politischen, religiösen
oder persönlichen Botschaften erlaubt sind, habe der Kontrollausschuss den
Sachverhalt überprüft und Stellungnahmen von den Spielern eingeholt. „Natürlich
hat der DFB-Kontrollausschuss stets die Vorgaben der FIFA-Fußballregeln und der
DFB-Ordnungen im Blick. Im konkreten Fall handelt es sich aber um gezielte
Anti-Rassismus-Aktionen der Spieler, die sich damit für Werte starkmachen, für
die der DFB ebenfalls steht und immer eintritt“, erklärte Anton Nachreiner, der
Vorsitzende des Kontrollausschusses, bei dpa.
„Daher werden keine Verfahren eingeleitet, auch bei vergleichbaren
Anti-Rassismus-Aktionen in den nächsten Wochen nicht.“ FIFA-Präsident Gianni
Infantino hatte zuvor erklärt, dass er die protestierenden Bundesliga-Profis
nicht bestrafen würde.
„Ich begrüße
den weitsichtigen Beschluss des DFB-Kontrollausschusses ausdrücklich und bin
sehr froh darüber“, sagte DFB-Präsident Fritz Keller und betonte: „Der DFB
tritt entschieden gegen jede Form von Rassismus, Diskriminierung und Gewalt ein
und steht für Toleranz, Offenheit und Vielfalt – also Werte, die auch in der
DFB-Satzung verankert sind.“ Deshalb hätten die Aktionen der Spieler „unseren
Respekt und unser Verständnis.“ Auch Alfons Hörmann hatte als Präsident des
Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) die Sportler in ihren Bekundungen
gegen Rassismus unterstützt und „Augenmaß“ von Verbänden in der Bewertung von
Protesten gefordert. „Es ist hoch erfreulich, wenn Sportlerinnen und Sportler
ihrer Vorbildrolle, die immer wieder eingefordert wird, gerecht werden und in
einer solch völlig inakzeptablen Entwicklung ihre Stimme erheben“, sagte er dpa..
Bayerns Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge teilte „schockiert“ mit: „Rassismus ist völlig inakzeptabel. Dem müssen wir offensiv entgegentreten.“ Der deutsche Fußball-Rekordmeister engagiere sich seit seiner Gründung vor 120 Jahren für Werte wie Respekt, Toleranz und Menschlichkeit. „In unserer Welt haben Diskriminierung, Hass, Ausgrenzung und Gewalt keinen Platz“, unterstrich er und bekräftigte: „Rot gegen Rassismus. Black Lives Matter.“ Mit einer entsprechenden Armbinde liefen am ersten Juniwochenende alle bayrischen Teams auf; auch viele andere, europäisch dominierte Bundesligavereine überboten sich in plumper Symbolpolitik. Prompt gab es für MDR-Moderatorin Stephanie Müller-Spirra kein Halten mehr: Sie moderierte die 120-Minuten-Fußballsendung Sport im Osten im T-Shirt „No heart for Homophobia, Fascism, Racism, Hate“. Wie das mit der Neutralität und Objektivität öffentlich-rechtlichen deutschen Fernsehens zusammengehen kann, wurde nirgends thematisiert.
Auch BBL-Präsident
Alexander Reil zog nach und verkündete, er halte mögliche Protestaktionen von
Spielern beim Basketball-Finalturnier für angemessen. „Meine grundsätzliche
Meinung ist, dass die BBL keine Plattform für wesentliche politische Äußerungen
sein sollte. Aber selbstverständlich gibt es Möglichkeiten, auch zum Ausdruck
zu bringen, dass man gegen jegliche Form des Rassismus ist“, sagte er bei einer
virtuellen Pressekonferenz. BBL-Geschäftsführer Stefan Holz war zuvor wegen
eines vermeintlichen Verbots von Protestaktionen in die Kritik geraten, hatte
seine Aussagen wenig später in einem Statement aber präzisiert und sich
entschuldigt. Selbstverständlich akzeptiere und respektiere die Liga, „wenn der
persönlichen Betroffenheit zu den unsäglichen Vorgängen in den USA auch verbal
oder nonverbal Ausdruck verliehen wird. Es stand und steht nie zur Debatte,
dass derartiges Engagement in Form eines Statements gegen Rassismus sanktioniert
wird“.
„Rassismus entlernen“
Was das für die
Semantik bestimmter tradierter Begriffe und vor allem für das Verständnis von
Politik zu tun hat, soll hier gar nicht diskutiert werden; es ist entsetzlich
genug. Ganz und gar nicht unvermutet aber war nicht nur angesichts des
Fußballhypes, dass diverse Organisatoren auch zu entsprechenden realitären Anti-Rassismus-Protesten
mobilisierten – allein in Frankfurt, Berlin, München, Stuttgart und Hamburg
demonstrierten am ersten Juni-Wochenende jeweils mehrere tausend Menschen, „viele
bewusst in schwarzer Kleidung“, sagte Moderator Ingo Zamperoni zum Auftakt der Tagesthemen. Das ist kein Witz. „Vermutlich
hat er schon mal was über den Schwarzen Block gehört, den strafenden Arm der
Antifa, der in Connewitz für Ordnung sorgt und in Hamburg ganze Straßenzüge
dekonstruiert. Und dessen Mitläufer sich jetzt ‚solidarisch mit den Opfern‘ des
Rassismus in den USA zeigen“, erregt sich Henryk M. Broder auf achgut. Denn weil schwarz für Freiheit,
Gerechtigkeit und Zivilcourage stehe, „hat auch die SS gerne schwarz getragen,
und das Mitteilungsblatt dieser Organisation hieß nicht zufällig ‚Das Schwarze
Korps‘“, ärgert er sich.
Klein schreibt von „feigen Edelrassisten“, die „für Menschen schreien, die sie nicht kennen“, die ihre großen Gefühle „ausschließlich in Staaten ausleben, in denen man sicher sein kann, nicht etwa in der Weise von Panzern niedergewalzt zu werden, wie die Studenten, die sich 1989 in China auf dem Tiananmen Square eingefunden haben, um ihre Freiheit einzufordern“. Er erkennt eine „bedenkliche Hysterie, die einmal mehr zeigt, dass die Linke vornehmlich von gescheiterten Existenzen getragen wird, die ihr Leben nur ertragen können, wenn sie in Straßen marschieren und sich die Kehle voller vermeintlich Gutem aus dem hassverzerrten Gesicht schreien können“. Die armenische Publizistin Jaklin Chatschadorian fragt bei Facebook völlig berechtigt „Was machen eigentlich die #BlackLivesMatter Demos in Istanbul, Tunis, Riad, Doha, Kabul und Islamabad?“ Oder gar in Südafrika, müsste man ergänzen. „Falls nach diesen Mega-Demos die Corona-Infektionszahlen nicht massiv ansteigen, sind sämtliche Beschränkungen obsolet“, freuen sich dagegen viele Lockdown-Gegner.
Ein Leser
kommentierte, erschreckend genug: „Es war damals in der DDR auch gängige
Praxis, Terroristen zu unterstützen, die den Westen destabilisieren sollten.
Daran sollten wir immer denken, wenn wir solche Nachrichten hören.” Dessen
ungeachtet forderte Aminata Touré, 27jährige grüne Vizepräsidentin des Landtags
Schleswig-Holstein mit Wurzeln aus Mali, zugleich Fraktionssprecherin für
Migration, Frauen und Gleichstellung, Kinder und Jugend, Queer und
Antirassismus, in der Welt, „wir“
(wer ist das eigentlich?) müssten „Rassismus entlernen“. Denn wir alle wüchsen „in einer
Gesellschaft auf, in der Rassismus üblich ist.“ Begriffe wie Diskriminierung
suggerierten, „dass eine latent rassistische Gesellschaft bestimmte ethnische
oder religiöse Gruppen daran hindere, ihre Talente zu entfalten“ ärgert sich
Thorsten Hinz in der Jungen Freiheit und
verweist darauf, dass Ostasiaten sich so gut wie nie auf diese Erklärung
zurückziehen: „Wenn sie auffällig werden, dann durch Fleiß und Wissen. Es
braucht eben Voraussetzungen, die durch keine Sozialtechnik zu ersetzen sind.“
Dass der Lernbegriff bedeutet, dass „wir“ Rassismus von jemandem an einem bestimmten Gegenstand auf eine bestimmte Weise „gelernt“ haben müssten, kommt der pädagogisch völlig unbeleckten Touré nicht in den Sinn. Was das für den Wahrnehmungsbegriff und die Gestaltpsychologie sowie deren Wahrnehmungsgesetze, vor allem die der Gruppierung und der Ähnlichkeit, bedeutet, erst recht nicht. Insofern muss man ganz deutlich benennen, dass mit solchem argumentativen Unsinn uns Mitteleuropäern (die gerade noch 10 % der Weltbevölkerung ausmachen, weshalb es ja gegen uns auch keinen Rassismus geben kann, mit Ausnahme der offenbar schwarzen Juden) sowohl unsere Geschichte als auch unsere Hell-Dunkel-Wahrnehmung, unsere evolutionäre Schwarz-Weiß-Semantik ausgetrieben werden soll – ganz ungeachtet der physiologischen Tatsache, dass die originale Hautfarbe der Menschen schwarz war. Erst nachdem einige unserer Vorfahren vor 100 000 bis 70 000 Jahren Afrika verließen und sich in Breiten mit weniger intensivem Sonnenlicht ausbreiteten, mussten sie weniger Pigmente bilden, damit durch die Haut genug UV-Strahlung eindringen und sie genug Vitamin D aufbauen konnten – weiße Haut war eine biologische Anpassungsreaktion auf verändertes Klima, die natürlich unsere Seinsweise in Gänze revolutionieren musste.
Prompt wurde jede Gegenbestrebung sofort und unerbittlich bekämpft, wie der öffentliche „Fall“ des Eishockeyprofis Mark Zengerle (Eisbären Berlin) zeigte: Als Trump verlauten ließ, dass die Antifa künftig als eine terroristische Organisation eingestuft werden würde, kommentierte auf Twitter „Thank you Mr. President.“ Das kam gar nicht gut an. Tenor aus der Berliner und deutschen Eishockeyszene: Was will so ein Mann bei den Eisbären, bei denen ja auch einige Fans der Antifa nahestehen würden. Es wurde sarkastisch in die Welt gefragt, ob sich Zengerle, wenn dann mal wieder Eishockey gespielt wird, von Terroristen anfeuern lassen müsse. Die Eisbären sollten sich doch sofort von dem Spieler trennen.
„Er
bewegte sich damit durchaus auf demokratischem Boden“, muss Claus Vetter im Tagespiegel eingestehen. „Er hatte eine
Meinung geäußert zu seinem Präsidenten, Zengerle stammt aus dem US-Staat New
York“. Allerdings hat der Angreifer – 31 Jahre alt, vier Jahre Studium der
Medizin- und Wissenschaftskommunikation – einen deutschen Pass. Also macht, wer
als deutscher Profi Eishockey spielt, „auch als deutscher Staatsbürger
politische Statements. Insofern ist die Aufregung um die Aussage zum Thema
Trump tiefergehend“, dekretiert Vetter. Sportdirektor Stéphane Richer sprach
mit dem Spieler und legte ihm „deutlich die ethischen Grundwerte der Eisbären
Berlin und der gesamten Anschutz Entertainment Group“ dar, berichtet Vetter.
Zengerle entschuldigte sich daraufhin öffentlich, er wolle doch nur, dass die
Gewalt in seiner Heimat ein Ende habe und auch der Rassismus. Sein
Twitter-Account ist nicht mehr frei einsehbar, sein Tweet gelöscht.
„gern öfter politisch Stellung beziehen“
Das
Befremdende daran ist: Autor Vetter kritisiert
eine freie Meinungsäußerung statt, wie es Journalisten früher taten, diese zu verteidigen.
„Es ist nicht verboten, Trump und damit seine oft widersinnigen Aussagen zu
mögen“, muss Vetter zwar erneut zugeben. „Aber ein Profi hat auch eine soziale
Verantwortung, das dürfte Mark Zengerle nun womöglich gelernt haben. Dazu
gehört, dass sein Arbeitgeber ethische Grundsätze hat, die offensichtlich
tiefer gehen als die des US-Präsidenten.“ Das ist kein Witz. Nicht nur, dass es
mehr als bedenklich ist, wenn jemand von seinem Arbeitgeber genötigt wird,
seine von jeder Meinungsfreiheit gedeckte Stellungnahme zu revidieren. Man
stelle sich einfach nur vor, ein Fußballer würde sich pro Trump aussprechen –
würde der DFB hier auch auf Strafverfolgung verzichten? „Spitzenfussballer
dürfen gern öfter politisch Stellung beziehen“, heißt es in derselben (!)
Zeitung. Gilt das für JEDE Stellungnahme? Das simple Weltbild, das nicht nur
hier aufscheint, lautet „Wer gegen Antifaschismus ist, muss wohl ein Faschist
sein“. Das ist eine unerträgliche Enthistorisierung.
Auf die Spitze getrieben wurde die in der Welt von Deniz Yücel, der einst Tilo Sarrazin wünschte, dass der nächste Schlaganfall sein Werk gründlicher verrichten möge. Er entblödete sich nicht zu behaupten „Historisch hat sich die Mitte, von Ausnahmen abgesehen, eher mit dem Faschismus arrangiert, anstatt diesen zu bekämpfen“, und kommt prompt zu dem Schluss „Erträglicher ist es dort, wo es eine Antifa gibt; zivilisiert, wo sie die Oberhand hat“. Entsprechend bedeutet Antifa im Kern „Zivilgesellschaft“, für ihn „Selbsthilfe: nicht darauf warten, dass der Staat die Probleme beseitigt, sondern selber handeln. Dass diese Selbstermächtigung bei manchen Antifas über die Selbstverteidigung hinaus bis zur offensiven Gewaltanwendung reicht, ist problematisch, macht aber nicht den Kern der Antifa aus“. Fazit: „Antifaschismus ist kein Fall für die Polizei, sondern demokratische Selbstverständlichkeit.“ Das dürfte die Polizei mindestens in Berlin anders sehen, wo die ethnokriegerische Gewalt inzwischen angekommen ist: Ein Mob von bis zu 300 Menschen zog am ersten Junifreitag nachts durch Neukölln, warf mit Pflastersteinen mehrere Fensterscheiben von Ladengeschäften ein, attackierte eine Bank, ein Job-Center sowie mehrere Autos und zündete Pyrotechnik. In einem Bekennerschreiben auf Indymedia hieß es „Wir haben Hass auf das System“ und „George Floyd – das war Mord! Widerstand an jedem Ort!“ Erträglich? Zivilisiert?
„Der
Mob tobte in Neukölln und verwüstet ganze Straßenzüge. Wo bleibt der Aufschrei
der Zivilgesellschaft bzw. die Reaktion des Senats? Seit Jahren werden
kriminelle Aktionen der Antifa und ihrer Sympathisanten verschwiegen,
relativiert oder positiv bewertet. Linke Gewalt, die für eine vermeintlich gute
Sache ist, wird ja immer moralisch legitimiert. Unsäglich!“ twittert der
Berliner Chef der Polizeigewerkschaft, Bodo Pfalzgraf. Ex-SPD-Vize Ralf Stegner
twitterte noch Stunden zuvor „Das anständige Amerika wehrt sich gegen den offen
zutage tretenden Rassismus und die Polizeigewalt.“ Ein Follower entgegnete „Das
anständige Amerika zieht nicht plündernd und brandschatzend durch die Städte.
Und ein anständiger Politiker solidarisiert sich auch nicht damit.“ Zu Neukölln
schwieg Stegner selbstredend. Pikant daran: erst 48 Stunden zuvor hatte der
Berliner Senat die Polizei unter Generalverdacht gestellt und im sogenannten Antidiskriminierungsgesetz
eine Beweislastumkehr bei angeblicher Diskriminierung festgeschrieben.
Der
Bruder des getöteten Floyd wurde übrigens von Trump und dessen Gegenkandidat Joe
Biden angerufen. „Der Präsident nahm sich ganze zwei Minuten Zeit für ihn“,
klagte Nicolas Büchse im Stern – die für
viele Beobachter nachvollziehbare These, der ganze faule politmediale Zauber richte
sich gar nicht gegen Rassismus, sondern gegen Trump, äußerte hier bereits
Helmut Roewer. Dass aber Angela Merkel (CDU) oder Frank-Walter Steinmeier (SPD)
bei den Angehörigen der Terroropfer von Anis Amry, den Eltern der erstochenen
Mia aus Kandel oder gar der weißen Mutter des Achtjährigen, den ein schwarzer
Eritreer Ende Juli 2019 im Frankfurter Hauptbahnhof vor einen einfahrenden ICE
gestoßen hatte, überhaupt anriefen, ist nicht überliefert. Im Gegenteil: die
Proteste von Bürgern bspw. in Kandel wurden kriminalisiert. Von Aktivisten, die
„versuchen, den bürgerlichen Zusammenhalt zu zerstören“, sprach in der Welt Alexander Schweitzer, Landtags-Fraktionschef
der rheinland-pfälzischen SPD, die gar Gegendemonstranten ankarrte.
Diese ideologisch motivierte Ungleichbehandlung ist schon für sich verstörend. Noch viel verstörender ist, dass sie niemandem (mehr öffentlich) auffällt. Und am verstörendsten ist, dass sämtliche deutsche Medien die Trauerfeiern in den USA für den in einem vergoldeten Sarg begrabenen Vorbestraften – und es gab deren drei! – in unerträglicher Weise affirmierten. „Ein marxistisches System erkennt man daran, dass es die Kriminellen verschont und den politischen Gegner kriminalisiert“, erkannte Alexander Solschenizyn. Darüber darf man wirklich nicht mehr nachdenken, will man noch halbwegs gesund dieses System überstehen – einerlei, ob man es nun marxistisch oder wie auch immer nennen mag.
Starb im Mittelalter ein hochrangiger Deutscher außerhalb der Heimat,
wurde er, um dem Verwesen beim Rücktransport zu begegnen, „more teutonico“
bestattet: der Leichnam wird erst ausgeweidet und dann durch mehrstündiges
Kochen in Fleischteile und Knochen zerlegt – nur die Gebeine wurden dann nach
Deutschland überführt. Der deutsche Kaiser, dem als hochrangigsten Vertreter
diese unheimliche Zeremonie wiederfuhr, ist zugleich der einzige Herrscher des
Mittelalters, dessen Grablege bis heute unbekannt ist: seine Eingeweide wurden in
Tarsos und sein Fleisch in Antiochia beigesetzt, seine Gebeine dagegen werden
in der Kathedrale von Tyros vermutet, die heute nur noch als archäologisches
Ausgrabungsfeld existiert.
Rahewin, der Sekretär des Babenberger Bischoffs Otto von Freising, beschrieb
zu Lebzeiten das Äußere des Kaisers als wohl gebaut: „Seine Augen sind scharf
und durchdringend, die Nase ist schön, der Bart rötlich, die Lippen sind schmal
und heiter. Sein Gang ist fest und gleichmäßig, seine Stimme hell und die ganze
Körperhaltung männlich. Durch diese Leibesgestalt gewinnt er sowohl im Stehen
wie im Sitzen höchste Würde und Autorität.“ Mit ihm tauchte nicht nur der
antike Begriff des furor teutonicus nach fast völliger Vergessenheit wieder in
der Geschichtsschreibung auf, sondern erstmals für das Römische Reich auch das
Attribut „heilig“: Im Gegensatz zum Papsttum erfuhr das Kaisertum seine
Heiligkeit aus sich selbst, besaß eine eigene Heiligkeit.
Die Heimatlosigkeit im Tod eignete sich blendend dafür, den vermeintlich ertrunkenen Herrscher zur Symbolfigur der nationalen Sehnsüchte der Deutschen zu machen: Er entwickelte sich im 19. Jahrhundert nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches, den Befreiungskriegen gegen Napoleon und der „Kleinstaaterei“ Deutschlands zum Bezugspunkt des nationalen Macht- und Einheitsgedankens. Der Verschollene wurde zum schlafenden, aber wiederkehrenden Kaiser im Kyffhäuser, dem die Brüder Grimm 1816 mit „Friedrich Rotbart im Kyffhäuser“ eine Sagensammlung und Friedrich Rückert 1817 ein eigenes Gedicht widmeten: Friedrich I. Barbarossa.
Schon sein Tod im Fluss Saleph (heute Göksu, Südosttürkei), in dem
bereits Alexander der Große badete, war geheimnisumwittert. Nach der Legende
hatte ein Sterndeuter Barbarossa prophezeit, dass er ertrinke, wenn er zum
Kreuzzug ins Morgenland marschiert. Er hatte daher den Seeweg gemieden und den
beschwerlichen Landweg nach Jerusalem genommen. Bereits die Zeitgenossen
wussten nicht, ob der Kaiser den Fluss schwimmend oder zu Pferde überqueren
wollte, ob er allein oder in Begleitung schwamm, ob er nur ein Erfrischungsbad
nehmen oder ans andere Ufer gelangen wollte, ja ob er überhaupt im Wasser oder
erst am Ufer starb. Eine Theorie besagt, dass er den Fluss mit dem Pferd
durchqueren wollte, weil ihm der Vormarsch über die einzige, kleine Brücke zu
langsam ging. Eine andere, wahrscheinlichere Variante meint, dass er in der
glühenden Hitze einfach das Verlangen nach einem kurzen Bad verspürte und wegen
des Temperaturunterschieds einen Herzschlag erlitt. Nur am Todeszeitpunkt gibt
es nichts zu deuteln: es war der 10. Juni 1190, nach dem Mittagessen.
Vom
Schwabenherzog zum Kaiser
Geboren um 1122 in Hagenau oder Waiblingen, waren seine Eltern Friedrich
II. der Einäugige und die Welfin Judith zu diesem Zeitpunkt Herzog und Herzogin
von Schwaben. Sein Urgroßvater Friedrich von Büren hatte auf dem 682 m hohen
Hohenstaufen nahe Göppingen die (spätere) Stammburg des gleichnamigen
Kaiserhauses gebaut. Friedrich lernte reiten, jagen und den Umgang mit Waffen,
konnte aber weder lesen noch schreiben und war auch der lateinischen Sprache
nicht mächtig. Ab 1138 wurde sein Onkel Konrad III., nachdem dieser bereits
mehrere Jahre als Gegenkönig aktiv war, zum alleinigen König des Heiligen
Römischen Reiches. Friedrich konnte daher an mehreren königlichen Hoftagen
teilnehmen und seinem Onkel 1147 auf dem zweiten Kreuzzug folgen. Im selben
Jahr, dem Todesjahr seines Vaters, heiratete er eine bayrische
Markgrafentochter, von der er sich nach vier Jahren wegen Kinderlosigkeit
scheiden ließ.
Sein Onkel
macht ihn zum Thronfolger, da sein eigener Sohn noch minderjährig war. Am 4.
März 1152 wurde der 30jährige Friedrich in Frankfurt zuerst zum König gewählt
und fünf Tage später in Aachen gekrönt. Friedrich steht vor der Aufgabe, die
Rivalitäten zwischen Staufern und Welfen einzudämmen, die seit der Königswahl
von Lothar II. 1125 andauerten. Auf dem Würzburger Reichstag verkündet er einen
Landfrieden. Zudem kommt es zu einem Ausgleich zwischen dem Welfen Heinrich dem
Löwen, dem Herzog von Sachsen, und seinem langjährigen Widersacher Albrecht dem
Bären, dem Markgrafen von Brandenburg, der immer wieder von Staufern
unterstützt worden war.
Außenpolitisch einigt sich Friedrich I. 1153 im Konstanzer Vertrag mit Papst Eugen III. auf eine gemeinsame Politik gegen Byzantiner und Normannen in Italien. Als im Jahr darauf der staufisch-welfische Konflikt erneut ausbricht, vermittelt er, indem er Heinrich dem Löwen zusätzlich zum Herzogtum Sachsen auch noch das Herzogtum Bayern zuspricht. Daraufhin steht er mit Bayern im Streit. Er beginnt seinen ersten Feldzug nach Italien, wo er wegen seines roten Bartes „Barbarossa“ genannt wird. Denn wichtigstes Anliegen des jungen Barbarossa war es, nicht nur dem Kaisertum neuen Glanz zu verleihen, sondern auch die kaiserliche Autorität in Italien durchzusetzen. Mit der Macht des Schwertes versuchte er die oberitalienischen Städte gefügig zu machen, die ihm den Gehorsam verweigerten. Besonders das widerspenstige Mailand leistete erbitterten Widerstand. Barbarossa vernichtete die Ernten im Umland und setzte der Stadt so stark zu, bis sie sich im Frühjahr 1155 dem Kaiser unterwarf.
Der neue
Papst Hadrian IV. krönt Barbarossa wenige Wochen später zum Kaiser und vertrat
dabei die Überzeugung, dass das Reich ein Lehen der römischen Kirche sei. Auf
dem Reichstag zu Besançon 1157 besteht Barbarossa aber auf einer Machtbalance
zwischen Kaiser und Papst – als Bekräftigung der Gleichrangigkeit taucht hier
zum ersten Male der Begriff „Sacrum Imperium“ (Heiliges Reich) auf, das also
politischen Ursprungs ist. Zuvor hatte er die erst 16jährige Beatrix von
Burgund geheiratet. Die Freigrafschaft Burgund, die sie in die Ehe mit
einbrachte, stärkte Barbarossas Machtposition außerhalb Italiens. Aus der 28
Jahre dauernden Ehe gingen acht Söhne und drei Töchter hervor, darunter sein
Kaiser-Nachfolger Heinrich VI., der schwäbische Herzog Friedrich V. und der
spätere römisch-deutsche König Philipp von Schwaben.
Von Italien ins Reich
Hatte er
1157 noch kurz und erfolgreich Krieg gegen den Herzog von Polen geführt, gerät
Barbarossa 1158 erneut in Konflikt mit italienischen
Unabhängigkeitsbestrebungen: Wohlhabende Städte wie Mailand, Piacenza, Brescia
und Cremona wehren sich gegen die Anerkennung der Reichshoheit und die damit
verbundenen königlichen Sonderrechte, die Regalien. Zudem möchte Barbarossa das
seit 1054 bestehende Schisma beenden, das durch die gegenseitige
Exkommunizierung hoher Vertreter der orthodoxen und der römisch-katholischen
Kirche manifestiert wurde. Er setzt 1159 gegen seinen Widersacher Papst
Alexander III. einen Gegenpapst ein, Viktor IV. Daneben erobert und unterwirft
er Mailand erneut. Insgesamt wird er fünf Italienfeldzüge führen.
Der vierte sollte 1167 in eine Katastrophe münden: Im Hochsommer brach im kaiserlichen Heer vor Rom eine Ruhrepidemie aus, die mit dem Tod zahlreicher Erbsöhne tiefgreifende dynastische Folgen für den deutschen Laienadel hatte. Unter den Opfern waren der Kölner Erzbischof Rainald von Dassel, einer der engsten Barbarossa-Vertrauten, mehrere Bischöfe, Herzöge, Grafen und 2000 Ritter. Als sich im Winter des Jahres der drei Jahre zuvor geründete Veroneser Bund unter Führung Venedigs mit dem Lombardenbund unter Führung Mailands vereinte, war das Ende besiegelt. Aus Angst um sein Leben floh Barbarossa mitten in der Nacht als Pferdeknecht verkleidet aus Susa über den einzigen freien Alpenpass. Kurzzeitig wurde er für tot gehalten.
Der fünfte
1174 bis 1176 blieb vor allem durch zwei Ereignisse im historischen
Bewusstsein. Zum einen durch den angeblichen Fußfall Barbarossas vor Heinrich
dem Löwen, um ihn zur Unterstützung seiner ausgedünnten Truppen zu „beknien“
und die Dringlichkeit der Klärung der Machtfrage gegenüber den italienischen
Städten zu unterstreichen. Heinrich lehnte dennoch ab und brach dadurch mit der
gesellschaftlichen Konvention, ein durch Fußfall eines Höheren vor dem
Rangniederen manifestiertes Ersuchen zu akzeptieren. Barbarossa ist zugleich
der letzte König, von dem eine so demütigende Bitte überliefert ist. Als
Metapher für das Scheitern der mittelalterlichen Zentralgewalt und die
Kontroverse über die kaiserliche Italienpolitik war das Ereignis im 19.
Jahrhundert ein häufig auftauchendes Motiv in der Historienmalerei. Und zum
anderen die verlorene Schlacht von Legnano, die in den Friedensschluss von Venedig
mündete: Barbarossa unterwarf sich dem Papst, seine Position in Italien war
fortan geschwächt. Dafür erweitert er das Reich, indem er Polen unter die
Lehenshoheit bringt und Böhmen zu einem Königreich erhebt. 1178 ließ er sich in
Arles zum König von Burgund krönen und begann am Sturz Heinrichs des Löwen zu
arbeiten, der 1181 mit Hilfe vieler anderer Fürsten gelang.
Dazwischen und danach arbeitete er daran, in seinem Reich die einzelnen Herrscher im Zaum zu halten und das Land zu einen. „Seine Regierungszeit war geprägt von Konflikten“, sagt der Münchner Historiker und Barbarossa-Biograf Knut Görich in der Welt. „Dennoch hatte er die Fähigkeit, Kompromisse zu schmieden.“ Für die Bevölkerung des 12. Jahrhunderts bedeutete das nördlich der Alpen weitgehend Frieden. Ein Zustand, der nach dem Ende der Staufer-Herrschaft vorbei war und die Sehnsucht nach einem Anführer wie Barbarossa lange Zeit befeuerte. Im 19. Jahrhundert wurde der Stauferkaiser sozusagen neu entdeckt, weil die Kyffhäusersage zur Grundlage des Nationalmythos wurde: Vor der deutschen Einigung 1871 hofften viele auf einen Nationalstaat, wie er – so die damalige Auffassung – zu Zeiten Barbarossas existierte.
Er schuf neue königliche Territorien in Schwaben und Franken und stärkte
die Geldwirtschaft. Auf ihn gingen der Bau von zahlreichen Burgen und die
Gründung von Städten zurück, nicht zuletzt die Reichsburg Kyffhausen. Die
gewaltige, dreiteilige Burganlage war mit Ausmaßen von 608 x 60 Metern
seinerzeit die wohl größte Deutschlands. Unter Barbarossa bildete sich
schließlich der mittelalterliche Feudalstaat heraus, mit dem der Aufstieg der
Ministerialen verbunden ist, die Aufgaben in Diplomatie, Kriegsführung und
Reichsgutverwaltung übernahmen. Aus Barbarossas Herrschaftszeit sind rund 1200
Urkunden erhalten. Als oberster Lehnsherr des Reiches band er die geistigen und
weltlichen Fürsten durch einen Eid an sich. Auch wurden die wechselseitigen
Verpflichtungen der Lehnsherren und Vasallen immer genauer festgelegt und
beschrieben. Das Lehnsrecht wurde zum vorherrschenden Element des politischen
Zusammenlebens. Im Reich bildeten sich Gruppen heraus, die bestimmte Aufgaben
übernahmen. Die Ritter boten Schutz, die Geistlichkeit sorgte für das
Seelenheil, und die Bauern erwirtschafteten die Nahrungsmittel für sich und
alle anderen Stände – Görich schreibt von einer „ranggeordneten Gesellschaft“.
„der
ideale Anknüpfungspunkt“
1183 scheiterte im Frieden von Konstanz Barbarossas Versuch, eine Sonderentwicklung der Verfassung in Reichsitalien zu verhindern. Die Kommunen waren nun selbstständige Rechtssubjekte. 1184 lässt Barbarossa seinen Sohn als Heinrich VI. zum König wählen, verheiratet ihn mit Konstanze, der Erbin von Sizilien, und macht ihn zum Mitregenten. Gemeinsam mit seinem Bruder Heinrich war er auf dem Mainzer Hoffest zu Pfingsten 1184 für volljährig und mündig erklärt worden. Zu diesem Fest erschienen neben sechs Erzbischöfen, neun Herzögen, vielen Grafen und Ministerialen mehrere Zehntausend Besucher; es galt als Höhepunkt der Verkörperung ritterlicher Ideale. In der Spätzeit Barbarossas ließ die Anziehungskraft des Hofes stark nach, er wurde vor allem ein staufischer „Familien- und Freundestreff“.
Als Saladin im Oktober 1187 Jerusalem eingenommen hatte und zwei Päpste
hintereinander zum Kreuzzug aufriefen, brach Barbarossa 1189 von Regensburg aus
über Bayern, Wien und das Königreich Ungarn mit 15.000 Soldaten auf – es war
das größte Heer, das je zu einem Kreuzzug unterwegs war. Er besiegt die Muslime
noch am 18. Mai 1190 in der Schlacht bei Ikonion (heute Konya), bevor er drei
Wochen später stirbt. Ein großer Teil seines Heeres kehrt demoralisiert auf dem
Seeweg nach Hause zurück. Barbarossas Sohn Heinrich VI. tritt mit
fünfundzwanzig Jahren die Nachfolge des Vaters an. Der Übergang verlief reibungslos,
erstmals seit 1056 stand ein allgemein akzeptierter Nachfolger bereit.
Neben dem Zeitgenossen Otto von Freising („Gesta Friderici“) kennzeichnete
ihn auch Gottfried von Viterbo („Gesta Friderici I“) als vorbildlichen
Vertreter ritterlicher Gesinnung und als Reichserneuerer. Er sei „die durch
langes Leben, Lernfähigkeit und persönliche Größe sein Jahrhundert prägende
deutsche Gestalt in den Gegensätzen des Jahrhunderts von Altem und Neuem, von
Adel und Staat, von herrschaftlichen und rationalen Strebungen, von Geistlichem
und Weltlichem, von bodengebundener Kleinwelt und weltbejahender wie
weltüberwindender Gesamtschau eines an Gott gebundenen Lebens“, befindet Jahrhunderte
später sein Biograph Hermann Heimpel. Er verkörpere die Sehnsucht und Hoffnung
des Volkes nach Frieden und Gerechtigkeit.
Die ursprünglich um seinen Enkel Friedrich II. entstandene Sage vom bergentrückten Kaiser wurde erstmals im „Volksbuch von Friedrich Barbarossa“ (1519) auf ihn übertragen. Darin eroberte Barbarossa auch entgegen den historischen Tatsachen Jerusalem und starb nicht im Saleph, sondern ging nur verloren und kehrte nach einiger Zeit zurück. Im 19. Jahrhundert dann wurde er zur Identitätsstiftung herangezogen, erklärt Görich: „Das Kaiserreich im 19. Jahrhundert hatte keine Tradition, deshalb wollte man ihm eine Vorgeschichte geben, und die sah man im Mittelalter. Barbarossa war da der ideale Anknüpfungspunkt.“ Wilhelm I., der Gründer des Deutschen Reiches von 1871, sollte von Barbarossas Ruhm profitieren. Das populäre Geschichtsbild und Machtpolitik wurden miteinander verknüpft, mit dem Hohenzollernkaiser Wilhelm I. „Barbablanca“ (Weißbart) sei Barbarossa (Rotbart) endlich wiedererstanden. Auf dem Kyffhäuser wurde 1896 ein Reiterstandbild von Wilhelm I. eingeweiht. „Der eine symbolisierte den Beginn, der andere war derjenige, der nun alles vollendet“, sagt Görich.
Jahrzehnte später wurde Barbarossas Name noch einmal im Namen der Machtpolitik instrumentalisiert: Die Nazis bezeichneten den Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion 1941 als „Unternehmen Barbarossa“. Auch sie nutzten den Mythos des Kaisers, in dessen direkter Nachfolge sie sich sahen. Seine Niederlage bei Legnano wurde dagegen im italienischen Geschichtsbewusstsein zum Sinnbild von nationaler Selbstbestimmung gegen drückende Fremdherrschaft; in Mailand gilt Barbarossa bis heute als deren Symbol. Nach Kriegsende setzte eine Regionalisierung und Entpolitisierung seiner Person ein. Er stellte sich nicht über, sondern unter das Recht, würdigt ihn Heimpel und bilanziert, seine „Persönlichkeit, seine Autorität, seine Majestät hielten Kräfte in einem Gleichgewicht, das über seinen Tod hinaus nicht dauern konnte“. Für Görich dagegen war „Barbarossas Handeln vom Habitus des mittelalterlichen Kriegeradels bestimmt, in dem Ehre, Gewalt und das Bedürfnis nach rühmendem Andenken ganz nahe beieinander lagen“. Die Wahrheit wird wohl irgendwo dazwischen liegen.
In bestimmten Familien steckt zu bestimmten Zeiten etwas Schicksalhaftes,
das wohl zu beschreiben, aber kaum zu erklären ist. Die Familie des Thüringer
Buchhändlers, Übersetzers und Verlegers August Schuhmann, dessen jüngster Sohn
Robert am 8. Juni 1810 in Zwickau geboren wurde, gehört Mitte des 19.
Jahrhunderts dazu. Roberts depressive Schwester Emilie brachte sich 29jährig
um. Roberts Sohn Ludwig fiel als kaum 20jähriger in geistige Umnachtung. Und
Robert verbrachte nach einem Selbstmordversuch die letzten zwei Jahre seines gerade
46jährigen Lebens in der Irrenanstalt.
Nachdem der Krankenbericht im Mai 2006 öffentlich gemacht wurde, kristallisiert sich als Ursache eine mit Arsenicum ebenso unvollständig wie falsch behandelte Syphilis heraus, die bei Robert zu Symptomen wie Sprachstörungen, Zornesausbrüchen, Unruhezuständen, stundenlangem Brüllen und Schreien sowie gelegentlicher Aggressivität gegen Wärter und Ärzte und zuletzt zu einer Paralyse führte. Von einem „totalen Persönlichkeitsverlust“ schreibt Caspar Franzen im Ärzteblatt: „Schumann entkleidete sich ständig, hatte zudem seine Defäkation nicht mehr unter Kontrolle“; zuletzt konnte er weder sprechen noch essen. Ob innerhalb der Familie eine bestimmte Veranlagung für psychische Probleme vorlag, ist kaum mehr zu prüfen.
Schumann galt lange als schwierig zu spielen. 1891 kam erstmals das
Bonmot auf, er habe als Genie begonnen und als Talent geendet; seine späten
Werke seien von seiner Krankheit geprägt gewesen. Manche Kompositionen lagen auch
in der Schublade: das 1853 entstandene Violinkonzert in d-Moll wurde erst 84
Jahre später im Rahmen einer propagandistischen Inszenierung in Berlin
uraufgeführt – es sollte als „deutscher“ Ersatz für das von den Spielplänen
gestrichene Violinkonzert von Felix Mendelssohn Bartholdy propagiert werden, der
als Jude verpönt wurde. Schon während des Deutschen Kaiserreichs und danach vor
allem während der NS-Herrschaft wurde Schumann immer enger als deutschnational
interpretiert und propagiert. Die nationalsozialistisch geprägte
Musikwissenschaft erhob ihn zum typisch deutschen Genie und verkleinerte ihn gleichzeitig
zum Komponisten der Innerlichkeit. Beides wird ihm nicht gerecht.
„es
überläuft mich eiskalt“
„Ich genoss die sorgfältigste und liebevollste Erziehung“, wird Schumann
bekunden. Angeregt von der literarischen und verlegerischen Tätigkeit seines
Vaters sowie der Lektüre in dessen reichhaltiger Bibliothek, schrieb Robert
Gedichte, Romanfragmente, Aufsätze und führte Tagebuch: „Es drängte mich imer
zum Producieren, schon in frühesten Jahren, war‘s nicht zur Musik, so zur
Poësie“. Besonders prägten ihn romantische Schriftsteller wie Heinrich Heine,
den er vor seinem Studium in München kennen lernte, und E.T.A. Hofmann. Der
Vater unterstützte Roberts Kunstsinn und ließ ihn als Siebenjährigen
Klavierunterricht nehmen.
Als Jugendlicher gründete er ein Schulorchester, daneben auch einen „litterarischen Verein“, und „war von der absoluten Gewißheit beherrscht, künftig ein berühmter Mann zu werden – worin berühmt, das war noch sehr unentschieden, aber berühmt unter allen Umständen“, hielt sein Jugendfreund Emil Flechsig fest. Nach dem Tod des Vaters entschied seine Mutter, dass der sprachbegabte Abiturient Jura studieren solle. Also schrieb sich Robert 1828 in Leipzig ein und begegnete dort dem Mann, der sein Leben verändern sollte: Friedrich Wieck, der als Klavierpädagoge einen ausgezeichneten Ruf genoss und dessen Tochter Clara als „Wunderkind“ bereits Konzerte gab.
Das Studium ödete ihn an, „es überläuft mich eiskalt, wenn ich denke, was
aus mir werden soll“, notiert er. Dafür führte er ein „wildbewegtes Studentenleben, war Schleppfuchs
auf Mensur und Partei in einem Ehrenhandel“, wie es bei der Burschenschaft Markomannia heißt, und hatte
Liebschaften – bei einer handelte er sich die unglücksselige Krankheit ein. Er nimmt bei Wieck Klavierunterricht, liest viel,
hört Konzerte und geht für ein paar Monate jeweils an die Uni Heidelberg sowie
nach Italien. Am 10. April 1830 hat er in Frankfurt ein Erweckungserlebnis:
nach einem Konzert Niccolò Paganinis schreibt er seiner Mutter, dass er nach
langem Ringen beabsichtige, den Beruf eines Musikers zu ergreifen, ja wie Paganini
„Teufelspianist“ zu werden: „Folg ich meinem Genius, so weist er mich zur
Kunst, und ich glaube zum rechten Weg.“
Er nimmt in Wiecks Haus ein Zimmer, freut sich über „Compositionsunterricht“
und bildet sich anhand von Bachs „Wohltemperiertem Klavier“ auch autodidaktisch
fort. Doch schon 1831 zerschlägt sich die Karriere aufgrund einer chronifizierten
Sehnenscheidenentzündung: sein rechter Mittelfinger bleibt nach falschem und
übertriebenem Üben für immer versteift. Prompt wandte er sich dem Komponieren
zu und hat dennoch Mühe, seine Verletzung zu verarbeiten: 1833 geriet Schumann erstmals
in eine psychische Krise mit Wahn- und Suizidvorstellungen, die er in einem
Tagebuch-Rückblick als „fürchterlichste Melancholie“ beschrieb. Nachdem ihm ein
Arzt Hoffnungen machte, diese Krise durch eine Heirat zu überwinden, verlobte
er sich mit einer böhmischen Adoptivadligen, löste die Verlobung aber vor
Ablauf eines Jahres wieder.
Zeitgleich scharte er einen Kreis junger Künstler und Burschenschafter um
sich, die sich regelmäßig im Leipziger Lokal „Coffe Baum“ einfanden und in
Anlehnung an die Serapionsbrüder um E.T.A. Hoffmann „Davidsbündler“ nannten. Der
Bund und die Phantasienamen der Künstler spielen in einigen Werken Schumanns
eine Rolle, so in den „Davidsbündlertänzen“ und in Artikeln der „Neuen
Zeitschrift für Musik“, die er 1834 mit Wieck und anderen gründet und für die
er zehn Jahre lang als Herausgeber und Redakteur viele Texte schrieb. Auch
Schuhmann schrieb unter Dutzenden Fantasienamen, darunter den fiktiven Figuren
Florestan und Eusebius: der eine verkörpert den leidenschaftlichen, der andere
den in sich gekehrten Robert. Die Zeitschrift erscheint noch heute.
„Die Welt
ist böse“
Im November 1835 wurden er und die 16-jährige Clara zum Liebespaar. Der alte Wieck tobte und unternahm in der Folgezeit alles, um jeden Kontakt zwischen den frisch Verliebten zu unterbinden. Im August 1837 verlobten sie sich heimlich; Clara führt seine „Symphonischen Etüden“ im Dresdner Gewandhaus auf. Andere umfangreichere Kompositionen, darunter der von Hofmann inspirierte und Chopin gewidmete Klavierzyklus „Kreisleriana“ von 1838, der heute als Schlüsselwerk der romantischen Klavierliteratur gilt, bleiben noch erfolglos.
Im selben Jahr reist Robert nach Wien, um seine Zeitschrift zu
etablieren, scheiterte aber an der Ablehnung Wiener Verleger. Nach Leipzig
zurückgekehrt, klagte er vor Gericht darauf, dass entweder Claras Vater der Ehe
zustimmen oder von Amts wegen eine Einwilligung herbeigeführt werden sollte. Um
seine Position im Prozess gegen Wieck zu verbessern, bemühte sich Schumann ebenso
fragwürdig wie erfolgreich um die „Doctorschaft“ der Universität Jena: ein
handgeschriebener Lebenslauf, Sittenzeugnisse und mehrere Aufsätze reichten aus.
Er gewann den Prozess.
Über das Verhältnis beider Künstler wird bis heute gemutmaßt. „Wenn er komponierte, tat er es
vorzugsweise für sie, und wenn sie spielte, war er ihre kritische Instanz:
Enger als Robert und Clara Schumann hat kaum je ein Künstlerpaar
zusammengearbeitet“, so Johannes Saltzwedel im Spiegel. „Clara Wieck war eine Steffi Graf der deutschen Romantik,
eine (Klavier-)Spielerin von offenkundiger Brillanz, aber mit wenig Anmut; ein
abschreckendes Beispiel väterlichen Siegeswillens“, befindet Willi Winkler aber
ebenfalls im Spiegel und spricht von
ihr als „abgerichtete Musikpuppe, die mechanisch ihre Kunststücke vollführte
und der jedes Verständnis für das Wesen ihrer eigenen Kunst abging.“ „Die Welt
ist böse; wir wollen aber rein hervorgehen“, hat der Idealist Schumann seiner
Angebeteten einmal geschrieben.
Parallel zur Heirat 1840 verfiel der junge Ehemann in einen ersten Schaffensrausch. Er komponiert die Sammlung „Liederjahr“ mit ungefähr 140 Stücken, in denen er vor allem Heine und Eichendorff, aber auch Goethe und Chamisso vertont. Es schließen sich das „Jahr der Sinfonien“ 1841, in dem die Sinfonie B-Dur „Frühlingssinfonie“, sein erfolgreichstes Werk, entstand, und das „Jahr der Kammermusik“ 1842 an, in dem er mehrere Streich- und Klavierquartette schuf. 1843 komponiert er das Oratorium „Das Paradies und die Peri“ nach einer Dichtung von Thomas Moore, mit dem er Erfolge bis hin nach New York, Kapstadt und Dublin erzielt. Als Mendelssohn Bartholdy im selben Jahr das Leipziger Konservatorium gründete, gehörte er zu den ersten Lehrern. Eine Konzertreise führt ihn nach Norddeutschland, Clara reist weiter nach Kopenhagen, später sind beide in Russland zu Gast.
Der
erfolglosen Arbeit am Konservatorium folgte 1844 eine Chorleiterstelle in
Dresden. Hier söhnte er sich mit dem alten Wieck aus, komponierte die Oper „Genoveva“,
die Bühnenmusik „Manfred“ und zahlreiche Werke in anderen Gattungen und
schließt Bekanntschaft mit vielen zeitgenössischen Künstlern, darunter Ernst
Rietschel, Karl Gutzkow und Richard Wagner. Während der Revolutionsjahre verfällt
er in einen weiteren Schaffensrausch und drückt seine republikanische Gesinnung
in Freiheitsgesängen und Märschen aus.
Sein Haushaltsbuch verzeichnet teilweise
eigenwillige Ausgaben und Einnahmen, etwa zum Märzaufstand 1848: „Beischlaf.
Die Revolution. Spaziergang mit Klara. Die Todten.“ Werner Theurich
kommentiert im Spiegel: „Mit winzigen Sechzehntelnoten notierte er
säuberlich jeden Geschlechtsverkehr, den er seiner Ehefrau abverlangte. Das
eheliche Pflichtprogramm war ihm wohl lästiger, als es die Häufigkeit der
Eintragungen vermuten lässt“. Seine Biographin Eva Weissweiler meint gar, Schumann
sei ein heimlicher Homosexueller. Allerdings kommen in der Dresdner Zeit
vier seiner acht Kinder zur Welt, viele „Schumännchen“, wie sie das Paar nannte.
Für seine erste Tochter Marie komponierte er zum achten Geburtstag das „Album
für die Jugend“.
Die beiden letzten Kinder Eugenie und Felix wurden in Düsseldorf geboren. Dort hatte Robert Schumann 1850 eine neue Stelle als städtischer Musikdirektor angenommen. Aber er war dort bald alles andere als glücklich, denn die Nervenerkrankung nimmt ihren Lauf, er kehrt sich zunehmend nach innen. Es war unmöglich für ihn, sich als Dirigent oder Lehrer zu etablieren: er hatte eine leise Stimme, war kurzsichtig und blickte oft nur abwesend in die Partitur, während er undeutliche Bewegungen zur Musik machte. Prompt wurde ihm als Musikdirektor wieder gekündigt.
Dennoch
hatte er in den Düsseldorfer Jahren bis 1853 seinen dritten Kreativitätsschub
und komponierte etwa ein Drittel seines Œuvres, so die 3. Sinfonie (Die Rheinische)
oder das Oratorium „Der Rose Pilgerfahrt“. 1853 stellt Schumann eine Sammlung seiner früheren
musikalischen Aufsätze und eine Anthologie literarischer Zeugnisse über Musik zusammen
und unternimmt zusammen mit Clara eine triumphale Konzertreise nach Holland. „Denn
Schumann war mehr als nur Musiker, er arbeitete als Kultur-Intellektueller und
Fachjournalist, der sich intensiv um Werke anderer kümmerte und sich Gedanken
machte über Musik und Gesellschaft“, so Theurich. Doch er litt zunehmend an
Angstzuständen, Depressionen, Halluzinationen und Gehörtäuschungen, bedrohte
seine Frau, nahm Bäder, bekam Aderlässe. Nichts half, so dass er sich nicht
mehr anders zu behelfen wusste als in
der Rosenmontagsnacht 1854 im Nachthemd in den Rhein zu springen.
„Verbindung von Poesie und Intellekt“
Er wurde gerettet und nur Tage danach auf eigenen Wunsch in Franz Richarz‘
Heilanstalt in Endenich bei Bonn eingeliefert, die er bis zu seinem Tod am 29.
Juli 1856 nicht mehr verließ. Kontakte zur Familie und nahestehenden Personen wurden
ausgesetzt und sollten nur auf seinen Wunsch wieder aufgenommen werden. Laut
Richarz‘ Aufzeichnungen wechselten sich klares Denken, Halluzinationen und
Wahnideen ab, standen sich unvermittelt gegenüber und vermischten sich:
Manchmal spielte er Klavier, ja komponierte im Januar 1856 noch eine
Fuge. Doch ein Besucher schilderte sein Spiel als ungenießbar und verglich ihn
mit einer Maschine, deren Mechanismus zerstört ist. Am 5. Mai 1855 schrieb
Schumann seinen letzten Brief an Clara. Sie sah ihn erst zwei Tage vor seinem
Tod wieder und war sich sicher, dass er sie erkannte. Er wurde auf dem Alten
Friedhof in Bonn zu Grabe getragen. Clara überlebte ihn um 40 Jahre und wurde
neben ihm im gemeinsamen Ehrengrab beigesetzt.
„Die so kaum wieder erreichte Verbindung von Poesie und Intellekt, die seine Musik charakterisiert, spricht auch heute Interpreten wie Zuhörer unvermindert an“, meint sein Biograph Gerd Neuhaus. Als Sucher, der sich an Einfällen festbiss, hat ihn Charles Rosen gedeutet. Zum Beispiel ist Schumann bekannt für das Komponieren nach Buchstaben: In seinen „Sechs Fugen über den Namen Bach op. 60“ spielen die Töne b-a-c-h die Hauptrolle. Er war auch der erste Komponist, der bei den Anweisungen zum Spielen der Stücke auf die italienische Sprache verzichtete – also kein „allegro“, kein „adagio“, sondern lieber Bezeichnungen wie „rasch“ oder „durchaus phantastisch und leidenschaftlich vorzutragen“.
Sein Schaffen wurde erst nach seinem Tod allmählich erschlossen. Tschaikowski meinte 1871, „dass die Musik der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts als eine Periode in die Geschichte der Kunst eingehen wird, die spätere Generationen als die Schumannsche bezeichnen werden.“ Bis heute fehlt eine umfassende Darstellung seiner Rezeptionsgeschichte. Seit 1991 entsteht an der Robert-Schumann-Forschungsstelle Düsseldorf eine „Neue Robert-Schumann-Gesamtausgabe“ (RSA), die aber noch Jahre bis zum endgültigen Abschluss braucht. „Traumphantast“ nannte ihn der BR. Auf dem internationalen Schuhmann-Wettbewerb versuchen Musiker seit 1956 aller vier Jahre, den Phantasten ebenbürtig zu interpretieren.
Nicht nur als Überlebender des Warschauer Ghettos – er war in mehrfacher
Hinsicht eine lebende Legende. Wie Willi Winkler für die Süddeutsche Zeitung
bereits 2000 recherchierte, hat er seit 1960 achtzigtausend Bücher rezensiert.
Seit Friedrich Nicolai (1733 – 1811) hat niemand so viel Einfluss auf den
deutschen Buchmarkt ausgeübt wie der „Literaturpapst“ – der mehrfach betonte,
dass er nicht die Autoren, sondern die Leser beeinflussen wolle. Auf das
Verhältnis von Schriftstellern zu Literaturkritikern angesprochen, soll er
einmal darauf hingewiesen haben, dass die Vögel nichts von Ornithologie
verstehen, aber auch noch kein Ornithologe einem Vogel das Fliegen beibringen
konnte: Marcel Reich-Ranicki.
„Man musste ihn lieben, weil er gesagt hat, was er dachte – und sich keine Sekunde darum scherte, was andere davon halten würden. Fürchten musste man ihn, weil er dabei weder Freund noch Feind kannte. Was ihm nicht in den Kram passte, wischte er unwirsch zur Seite. Das konnte auch mal ein Fernsehpreis sein“, erklärte Entertainer Thomas Gottschalk anlässlich seines Todes im Spiegel. Damit meinte er sich selbst: als er ihm für sein Lebenswerk und seine ZDF-Sendung „Das Literarische Quartett“ am 11.10.2008 den Deutschen Fernsehpreis verleihen wollte, lehnte der Kandidat unter spontanem Hinweis auf den „Blödsinn, den wir hier heute Abend zu sehen bekommen haben“, die Auszeichnung ab. Gottschalk bot ihm daraufhin eine einstündige Diskussionsrunde zur Qualität des deutschen Fernsehens an – die auch stattfand.
Aufgrund seiner rigorosen Urteile zürnten ihm manche der von ihm
Rezensierten bis ins Grab. Rolf Dieter Brinkmann giftete ihn 1968 an: „Wenn
dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie jetzt über den Haufen
schießen“. Peter Handke sagte in einem Interview mit André Müller, dass er es
nicht bedauern würde, wenn Reich-Ranicki sterben würde. Elfriede Jelinek
bezeichnete Reich-Ranickis Äußerung, sie (Jelinek) sei zwar eine tolle Frau,
aber ein gutes Buch sei ihr nicht gelungen, als „größte Demütigung“. Aber auch Kollegen
urteilten nicht minder scharf: „Das selbstgerechte, wahllos wütende Hassgebrüll
des entfesselten Kulturspießers“, kommentierte Andreas Kilb eine Äußerung
Ranickis in der Zeit. Der so Gescholtene kam am 2. Juni vor 100 Jahren
zur Welt.
„wurzelloser Kosmopolit“
Geboren als Marceli Reich in Włocławek (Leslau, Provinz
Kujawien-Pommern), war er das dritte Kind einer jüdischen Mittelstandsfamilie:
Sein Vater David besaß eine kleine Fabrik für Baumaterialien, ging aber 1928
Konkurs. Während er seine deutsche Mutter Helene zeitlebens als „liebevoll,
aber weltfremd“ verehrte, hielt er seinen polnischen Vater für einen Versager. Marceli
durfte als einziger seiner Geschwister die deutsche Schule von Leslau besuchen
und wurde, um ihm seine berufliche Zukunft nach dem väterlichen Geschäftsruin
offenzuhalten, zu wohlhabenden Verwandten nach Berlin geschickt. Trotz des Gleichbehandlungsgebots
der jüdischen Schüler, das am Fichte-Gymnasium in Berlin-Wilmersdorf noch galt,
blieb er von Schulausflügen oder Sportfesten ausgeschlossen und vertiefte sich
stattdessen in die Lektüre der deutschen Klassiker und besuchte Theater,
Konzerte und Opern. 1938 machte er sein Abitur, wurde aber an der
Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, wo er Germanistik studieren wollte,
wegen seiner jüdischen Abstammung nicht mehr immatrikuliert.
Nach kurzer Abschiebehaft nach Polen ausgewiesen, fuhr er mit der Bahn nach Warschau, wo seine Familie inzwischen lebte und von Bruder Alexander, einem Zahnarzt, ernährt wurde. Seine erfolglose Arbeitssuche – immerhin musste er die polnische Sprache neu lernen – endet abrupt zum Poleneinmarsch am 1. September 1939. Soldaten der Wehrmacht, die bei Zahnärzten Gold vermuteten, plünderten die Wohnung der Familie Reich. Am 21. Januar 1940 bat Helene ihren Sohn, sich um ein gleichaltriges Mädchen in der Nachbarschaft zu kümmern. Die Zwanzigjährige war verzweifelt, denn sie hatte gerade ihren Vater tot vorgefunden; er hatte sich erhängt, nachdem die jüdische Familie von den Deutschen enteignet und aus Lodz vertrieben worden war. Marcel Reich versuchte, Teofila („Tosia“) Langnas (1919 – 2011) zu trösten. Die beiden verliebten sich und wurden unzertrennlich.
Ab November 1940 wurde er mit mehr als 400 000 Juden hinter der 18
Kilometer langen und drei Meter hohen Mauer des Warschauer Gettos zusammengepfercht.
Die jüdische Kultusgemeinde (der sog. „Judenrat“) beschäftigt ihn als Schreiber
und Übersetzer, daneben verfasste er für die Ghettozeitung „Gazeta Żydowska“
unter dem Pseudonym Wiktor Hart Konzertrezensionen und arbeitete im
Untergrundarchiv. Am 22. Juli 1942, dem ersten Räumungstag des Gettos, ließen
er und Tosia sich von einem Rabbi trauen. Ihnen gelang im Februar 1943 die
Flucht, sie wurden von dem polnischen Schriftsetzer Bolek Gawin und dessen Frau
in einem Vorort Warschaus versteckt. Das Paar konnte auch eine Mappe mit
Zeichnungen von Tosia Reich-Ranicki herausschmuggeln, die erst 1999
veröffentlicht wurden. Bis zuletzt überwies das dankbare Ehepaar der Tochter
Gawins Geld. Reichs Eltern und sein Bruder fielen dagegen den Nazis zum Opfer,
seine Schwester war nach England emigriert.
Die Sowjetische Armee befreit ihn, er tritt der Kommunistischen Partei Polens bei, arbeitet in der Polnischen Militärkommission in Berlin, im Polnischen Außenministerium, 1948 und 1949 als Konsul der Republik Polen in London und zugleich im polnischen Geheimdienst im Range eines Hauptmanns. Seine Frau war in London als Korrespondentin für zwei Zeitungen beschäftigt. 1948 änderte die Familie den zu sehr an die Deutschen erinnernden Namen „Reich“ in „Ranicki“, im selben Jahr wurde Sohn Andrzej, später Andrew, geboren, ihr einziges Kind. Marcel galt als arroganter „Intelligenzler“, wurde von Geheimdienst und Außenministerium Anfang 1950 entlassen und wegen „ideologischer Entfremdung“ aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen. Im Rahmen der ostblockweiten stalinistischen Aktion gegen „wurzellose Kosmopoliten“ und „zionistische Spionage“ verbrachte er einige Wochen in Einzelhaft im Gefängnis. Die später erhobenen Vorwürfe, er habe Exilpolen zur Rückkehr in die Heimat überredet, wo sie dann zum Tod verurteilt worden seien, blieben ungeklärt, er bestritt sie.
Danach durfte er, unterbrochen von Berufs- und Publikationsverboten, in
jenem Reservat arbeiten, in dem man politisch „unzuverlässigen“ Individuen am
ehesten gewisse Narrenfreiheiten zubilligt: auf dem Gebiet der Literatur und
des literarischen Lebens. Er arbeitete in einem Verlag, schrieb für die Zeitung
und für den Rundfunk, und er übersetzte – alles als Vermittler deutscher
Literatur für polnische Leser. Nachdem er in der Schweiz weder eine Arbeits-
noch eine Niederlassungsbewilligung bekam, kehrte er von einer Studienreise in
die Bundesrepublik Deutschland im Sommer 1958 nicht mehr nach Polen zurück. Tosia,
die sich mit ihrem Sohn nach London abgesetzt hatte, traf sich mit ihm in
Frankfurt am Main. Heinrich Böll und Siegfried Lenz halfen ihm, hier Fuß zu
fassen, Hans Werner Richter lud ihn zur Teilnahme an einer Sitzung der „Gruppe 47“
ein.
„so effektvoll wie unaufrichtig“
Weil ihn die Zeit am 1. Januar 1960 als Literaturkritiker
einstellte, zog er nach Hamburg. Vierzehn Jahre lang schrieb er für die
Wochenzeitung und eroberte sich in dieser Zeit den Ruf eines „Großkritikers“.
Nebenbei verbrachte Reich-Ranicki 1968 und 1969 jeweils einige Zeit als
Gastprofessor in den USA. Von 1971 bis 1975 war er ständiger Gastprofessor für
neue deutsche Literatur in Stockholm und Uppsala. Vortragsreisen führten ihn
1972 bis ans andere Ende der Welt, nach Australien und Neuseeland. 1973 kehrte
Marcel Reich-Ranicki nach Frankfurt zurück, wo er die Leitung der „Redaktion
für Literatur und literarisches Leben“ der FAZ übernahm und sie zur
buch- und literaturfreundlichsten Zeitung Deutschlands machte. Im selben Jahr
wurde er Dozent für Literaturkritik an der Universität Köln und im Jahr darauf
Honorarprofessor an der Universität Tübingen. 1979 hielt er sogar in China
Vorträge. Gemeinsam mit anderen Literaturfreunden initiierte er 1977 den
Ingeborg-Bachmann-Preis, der rasch zu einem der bedeutendsten deutschsprachigen
Literaturwettbewerbe und -preise wurde.
Als er sich 1988 aus Altersgründen aus der Leitung des Literaturteils zurückziehen musste, blieb ihm zunächst nur noch die wöchentliche „Frankfurter Anthologie“, die er seit dem 15. Juni 1974 bis zu seinem Tod betreute und auch die jährlich erscheinenden Buchausgaben herausgab. In jeder Samstagsausgabe der FAZ erschien ein Gedicht mit einem Kommentar eines Lyrikkenners unter dem Motto: „Der Dichtung eine Gasse.“ Doch dann fand er in der ZDF-Sendung „Das Literarische Quartett“ ein neues Wirkungsfeld. Der temperamentvolle Medienstar bewies, dass Literaturkritik unterhaltsam sein kann. Mit außergewöhnlichem Erfolg wurden vom 25. März 1988 bis 14. Dezember 2001 siebenundsiebzig Folgen des „Literarischen Quartetts“ ausgestrahlt. Es sei erst das Fernsehen gewesen, das ihn zu einem Helden der Öffentlichkeit werden ließ, befand Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung, „und wenn er Bestseller schuf oder verhinderte (keiner konnte das so wie er), dann waren die Form des Urteils, der Witz, die Pointe, aber auch die Schmähung und das Indiskrete etwas, das die Menschen ebenso bewegte wie der Inhalt des Urteils.“ Er beendete die Sendung mit einem Brecht-Zitat, das die Offenheit literaturkritischer Urteile unterstrich: „Wir sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Ein Zitat übrigens, mit dem er bereits in den frühen Sechzigern eine Radiosendung über Literatur beschlossen hatte, die er zusammen mit Hans Mayer moderierte.
Zwischendurch ging er 1990 als Gastprofessor nach Düsseldorf und ein Jahr
später nach Karlsruhe. Das Altern empfand er als Zumutung: „Das Leben ist
scheußlich, wenn man alt ist. Sehr unangenehm. Ich kann Ihnen nur sagen, es ist
kein Vergnügen, so alt zu sein“, sagte er der Zeit. Weniger erfolgreich
als mit „Das Literarische Quartett“ war Marcel Reich-Ranicki 2002 mit seiner
Sendung „Reich-Ranicki-Solo. Polemische Anmerkungen“. 1999 veröffentlichte er
seine Autobiografie „Mein Leben“, die zehn Jahre später mit Matthias
Schweighöfer in der Hauptrolle verfilmt wurde. Zu Beginn seiner Autobiographie
schreibt Reich-Ranicki, dass er „kein eigenes Land, keine Heimat und kein
Vaterland“ hat. Seine Heimat sei im Letzten die Literatur gewesen. Und er schreib
darin zur „arithmetischen Formel“, wonach er einst zu Grass gesagt habe: „Ich
bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude“, dass sie „so
effektvoll wie unaufrichtig“ gewesen sei: „Hier stimmte kein einziges Wort. Nie
war ich ein halber Pole, nie ein halber Deutscher – und ich hatte keinen
Zweifel, dass ich es nie werden würde. Ich war auch nie in meinem Leben ein
ganzer Jude, ich bin es auch heute nicht.“
Nachdem er bereits 2001 in einem Spiegel-Gespräch einen „Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke“ entwickelt hatte, gab Reich-Ranicki 2002 im Insel-Verlag unter dem Titel „Der Kanon. Die deutsche Literatur“ das erste von bislang drei Buchpaketen heraus. 2007 verlieh ihm die Humboldt-Universität als Rechtsnachfolgerin der Friedrich-Wilhelms-Universität, die ihm ein Studium verwehrt hatte, die Ehrendoktorwürde. Im selben Jahr wurde an der Universität Tel Aviv ein Marcel-Reich-Ranicki-Lehrstuhl für Deutsche Literatur eingerichtet, 2010 in seinem Beisein eine „Arbeitsstelle Marcel Reich-Ranicki für Literaturkritik in Deutschland“ an der Uni Marburg als Teil des Forschungsschwerpunkts „Literaturvermittlung in den Medien“ eröffnet.
Am 27. Januar 2012 schilderte Reich-Ranicki in der Rede zur Gedenkstunde zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag, wie er im Warschauer Ghetto den ersten Tag der Deportationen ins Vernichtungslager Treblinka als Übersetzer des „Judenrats“ erlebte. Das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen würdigte den Vortrag mit der Auszeichnung „Rede des Jahres“. Im März 2013 machte Reich-Ranicki seine Krebserkrankung öffentlich und bilanzierte kurz vor seinem Tod in der Zeit bitter: „Ich bin nicht glücklich. Ich bin überhaupt nicht glücklich. Ich war es nie in meinem Leben. Ich war es nie. Ich war nie in meinem Leben glücklich. Das ist etwas, was ich nicht kenne.“ Er starb, zwei Jahre nach seiner Frau, die bis zuletzt als Illustratorin und Übersetzerin gearbeitet hatte, am 18. September 2013.
„Kritik ist immer pädagogisch“
Marcel Reich-Ranicki hat für seine Arbeit als Literaturkritiker und die
frühere Arbeit im politischen Bereich bis heute zahlreiche Auszeichnungen und
Ehrungen in Deutschland und Polen erhalten. Ähnlich wie Robert Lembke hatte er
Umfragewerte, von denen Politiker nur träumen können: 2010 kannten ihn 98
Prozent der deutschen Bevölkerung mit Namen. Zu seinen schärfsten Feinden zählt
Martin Walser, der 2002 den Schlüsselroman „Tod eines Kritikers“ veröffentlichte,
in dem er seinen Einfluss durch das Literarische Quartett thematisierte. Hellmuth
Karasek, sowohl mit Reich-Ranicki als auch Walser lange beruflich verbunden,
wertete die postmoderne Generalabrechnung im Tagesspiegel als „Dokument
eines schier übermenschlichen Hasses, der den Autor überwältigt, weil er sich
sein Leben lang unter der Fuchtel von Reich-Ranicki sah“. Auch
Antisemitismus-Vorwürfe wurden laut, die Walser als absurd zurückwies.
Doch das focht Reich-Ranicki nie an: „Die Kritiker sind dazu da, an dem Ast zu sägen, auf dem sie sitzen. Unter uns: Sie können es getrost tun, denn je mehr man an ihm sägt, desto fester wird er.“ Sein Grundsatz war: Der Kritiker reagiere auf ein Buch „von Fall zu Fall“, ohne verbindliche Normen, ohne Theorie. Indem er über Autoren schrieb, schrieb er immer auch über sich selbst, erkennt Hajo Steinert im DLF. So habe er sich von Lessing die Legitimation des kritischen Urteils geholt, so vernichtend es auch für den Verfasser des Kunstwerks ausfallen möge. Von Fontane übernahm er Schlüsselbegriffe wie „unmittelbare Empfindung“ oder „gesunder Menschenverstand“. Selbst Walter Benjamin zitierte er inbrünstig: „Wer nicht Partei ergreifen kann, der hat zu schweigen. Nur wer vernichten kann, kann kritisieren“.
Realistische Literatur, Natürlichkeit, lebensnahes Erzählen gehen dem belesenen Autodidakten über Postmoderne und Avantgarde. Von Genre-Literatur wie Science-Fiction und Fantasy hielt Reich-Ranicki wenig, ohne sich aber je umfassend mit ihr beschäftigt zu haben; insbesondere von der Science-Fiction glaubte er, dass ihre Vorzüge „mit Kunst nichts zu tun“ hätten. Aus seinem erzieherischen Auftrag, seinem aufklärerischen Impetus machte er keinen Hehl: „Kritik ist immer pädagogisch.“ So protegierte er Heinrich Böll, um ihn als Repräsentant der deutschen Nachkriegsliteratur gegen Gerd Gaiser durchzusetzen. Der Adressat seiner „Belehrungen“ ist allerdings nicht der Schriftsteller, sondern einzig und allein der Leser: „Schriftsteller sind nicht lenkbare, nicht erziehbare Wesen.“ Und so meint Steinert treffend: „Sein größter Verdienst besteht darin, dass er die Literaturkritik aus dem akademischen Milieu befreit hat.“
Während in Schwerin eine Linksextreme Verfassungsrichterin wird, soll ein „neurechter“ Autor als Kulturamtsleiter in Sachsen „rückgewählt“ werden. DDR und BRD werden zunehmend eins.
Mein neuer Tumult-Text dreht sich um die unsäglich undemokratischen aktuellen Vorgänge in Radebeul.
Dass Walter Ulbricht in der DDR Kirchen sprengen ließ, galt als Willkürakt proletarischer SED-Diktatur. Wie muss man es nennen, wenn ein SPD-Politiker das Berliner Maifeld „abtragen“ will?
Meine neue Tumult-Kolumne widmet sich dem Problem, der Vergangenheitsabschaffung als Indiz für totalitäre Zukunftskontrolle.