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„Eine dunkle Gestalt“, so erlebte Heinrich Heine den Violinisten, Bratschisten, Gitarristen und Komponisten, „die der Unterwelt entstiegen zu sein schien. In den eckigen Krümmungen seines Leibes lag eine schauerliche Hölzernheit und zugleich etwas närrisch Tierisches, dass uns bei diesen Verbeugungen eine sonderbare Lachlust anwandeln musste; aber sein Gesicht, das durch die grelle Orchesterbeleuchtung noch leichenartig weißer erschien, hatte alsdann so etwas Flehendes, so etwas blödsinnig Demütiges, dass ein grauenhaftes Mitleid unsere Lachlust niederdrückte.“

Der zeitgenössische Kritiker Ludwig Rellstab schrieb in seiner Besprechung: „Vielleicht hätte Goethes Mephisto die Violine so gespielt.“ Das wies Goethe in einem Gespräch mit Eckermann umgehend zurück „Nein […], der Mephistopheles ist ein viel zu negatives Wesen, das Dämonische aber äußert sich in einer durchaus positiven Tatkraft. Unter den Künstlern findet es sich mehr bei Musikern, weniger bei Malern. Bei ihm zeigt es sich im hohen Grade, wodurch er denn auch so große Wirkungen hervorbringt.“ Er habe in einem Konzert-Adagio „einen Engel singen gehört“, schrieb etwa Franz Schubert, der den Virtuosen 1828 in Wien hörte: Niccolò Paganini, der am 27. Oktober vor 240 Jahren in Genua als Sohn eines Instrumentenbauers zur Welt kam.

Nach eigenen Angaben erhielt Paganini bereits in frühester Kindheit Violinunterricht, unter anderem von seinem Vater, der ihn unter Androhung von Nahrungsentzug stundenlang zum Üben zwang. Seine einzigartigen Techniken entwickelte er wohl autodidaktisch. Eine Schule besuchte er nicht, begann aber bereits mit 12 Jahren, öffentlich als Violinist aufzutreten. 1795 bis 1797 lebte er mit seinem Vater in Parma, wo er sein Violinspiel vervollkommnete. Spätestens mit 15 Jahren komponierte er hier unter der Aufsicht zweier Lehrer einige Werke, darunter zwei heute verlorene Violinkonzerte.

Porträt Niccolò Paganinis von Eugène Delacroix, 1832. Quelle: Von Eugène Delacroix – The Yorck Project (2002) 10.000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM), distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. ISBN: 3936122202., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=150203

Erstmals ohne den Vater reiste Paganini 1801 nach Lucca und bewarb sich dort erfolgreich um die musikalische Teilnahme am Hochamt von Santa Croce, worauf er Einladungen für weitere Konzerte erhielt. Für die nächsten Jahre liegen keine gesicherten biographischen Informationen vor. Möglicherweise bezieht sich Paganinis Geständnis jugendlicher Fehler wie der Leidenschaft für Glücksspiele auf diese Zeitspanne. Im Januar 1805 wurde Paganini zum Konzertmeister im Orchester der Republik Lucca ernannt und später, unter Fürstin Elisa Baciocchi, einer Schwester Napoleons, deren Kammervirtuose und Operndirektor. 1808 schickte sie Paganini zum Erfurter Fürstenkongress, wo er vor Napoleon und dem russischen Zaren spielte. Bis 1809 währte diese einzige feste Anstellung in Paganinis Leben. In dieser Zeit entstanden zahlreiche Werke für Violine und Orchester sowie für Violine und Gitarre.

„Zaubergeigerkünste“

Ab 1810 war Paganini nahezu ständig auf Konzertreisen innerhalb Italiens. 1820 wurden erstmals die „24 Capricci“ gedruckt. Technisch gehören sie mit zum Schwierigsten, was je für die Geige komponiert wurde. Sie sind kurz, zum Teil dauern sie keine zwei Minuten, und jede von ihnen hat ihre eigenen technischen Schwierigkeiten. „Jedes einzelne Stück behandelt einen gewissen geigerischen Aspekt, aber auch einen eigenen Charakteraspekt“, sagt der Violinist Thomas Zehetmair, Chefdirigent des Stuttgarter Kammerorchesters, dem BR. Sehr häufig nur als Zugabe gegeben wird die 24. und letzte der Capricen. Von ihr ließen sich viele andere Komponisten zu Bearbeitungen und neuen Werken inspirieren, wie beispielsweise Liszt, Brahms oder Rachmaninow. Paganini allerdings trug die Capricci nie in einem Konzert vor.

1824 begann Paganini in Venedig ein Verhältnis mit der Sängerin Antonia Bianchi, in Palermo kam 1825 der gemeinsame Sohn Achille zur Welt. Antonia reiste in den folgenden Jahren mit Paganini und trat in seinen europaweiten Konzerten auf. Paganini spielte ausschließlich eigene Werke: Sonaten, brillante Variationen oder eines seiner wenigstens sechs Konzerte – wie das berühmte zweite mit dem Beinamen „La campanella“, „das Glöckchen“. Als Paganini schließlich 1828 Italien verließ und sich zunächst nach Wien begab, eilten ihm bereits viele Gerüchte und der Ruf voraus, ein überragender Violinvirtuose zu sein, der seine Zuhörer durch seine „Zaubergeigerkünste“ verhexe.

Die Guarneri del Gesù von 1743, die Paganini „il mio cannone violino“ nannte. Quelle: Von I, Lucarelli, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2334373

Die Gerüchte wurden durch eine der zahlreichen Liebschaf­ten befeuert: Paganini hatte nach einem Konzert in Genua eine 16-jährige Schneiderstochter entführt, sie geschwän­gert, sie erfolglos abtreiben lassen und sie anschließend verlassen. Die an­schlie­ßenden Prozesse trugen dazu bei, dass sich um ihn eine Aura des Dä­mo­nischen bildete. Gerüchte tauchten auf: Bald hieß es, er habe das Mäd­chen in einer Klosterzelle verführt. Nur ein Mann, der mit dem Teufel im Bund ste­he, könne an einer solchen Stelle so etwas tun. Bald wurde aus dem Abtrei­bungs­ver­such ein Mordversuch. Schließlich machten die Gerüchte aus ihm einen Folterer und Verführer auch weiterer unschuldiger Mädchen. Der Aphorismus „Die Tüchtigen werden beneidet, den Talentierten wird geschadet und die Genies werden gehasst“ wird ihm zugeschrieben.

In Wien feierten ihn Fachleute und Publikum enthusiastisch. Seine Konzerte wurden in allen Zeitungen besprochen, Korrespondentenberichte über seine Kunst gelangten auch nach Deutschland und Frankreich, Modezeitungen beschäftigten sich mit seinem angeblichen Lebenswandel, Gastronomie und Kleidermode wurden vom à la Paganini befallen, Gebrauchsgegenstände trugen sein Porträt, Gedichte und Possen mit dem Thema Paganini wurden veröffentlicht, Komponisten wählten für ihre Werke Melodien und Namen mit Anspielungen auf Paganini, und der österreichische Kaiser Franz I. verlieh ihm den Ehrentitel „Kaiserlicher Kammervirtuose“. Hier in Wien trennte sich Paganini von Antonia. Achille blieb – vertraglich geregelt – bei Paganini und wurde von ihm umsichtig gepflegt und betreut. Er sollte später sein Universalerbe werden.

„seine Seele dem Bösen verschrieben“

Gesundheitliche Probleme veranlassten Paganini, sich im Sommer 1828 zuerst nach Karlsbad und dann nach Prag in Behandlung zu begeben. Er wurde erfolgreich operiert und diktierte seine Biographie, von der er sich eine Widerlegung all der über ihn verbreiteten Gerüchte erhoffte. Über allem lag der Schatten lebenslanger Krankheit: Sein Arzt Bennati berichtete von einer frühen Masern-Enzephalitis, in späteren Jahren kamen Syphilis und eine Kehlkopftuberkulose hinzu, die ihm die Stimme raubte, und schließlich eine Nekrose des Unterkiefers. Die anhand zeitgenössischer Bilder und Beschreibungen erfassten körperlichen Merkmale Paganinis deuten daneben auf das Ehlers-Danlos-Syndrom hin, das zur Überbeweglichkeit der Gelenke führen kann. Er trug stets schwarze Kleidung und spielte auch mal ein Konzert für die Toten auf einem Freidhof.

Nach Prag folgten Konzerte in Deutschland, Polen, Frankreich, Großbritannien und Belgien. Die weit über dem Üblichen liegenden Eintrittspreise für seine Konzerte während der Deutschlandtournee hatten ihm ein gut angelegtes Vermögen eingebracht, das es ihm erlaubte, an vielen Orten Benefizkonzerte zu mildtätigen Zwecken zu geben, deren Erlöse er spendete. Im Dezember 1838 erlebte er in Paris die Uraufführung von Hector Berlioz‘ „Harold in Italien“. Er huldigte Berlioz auf offener Bühne, konnte aber wegen seines Kehlkopfleidens kaum mit ihm sprechen. Wenige Tage später schenkte er Berlioz 20.000 Franc. In Belgien wurde ihm angekreidet, dass er dilettantisch wirkende Sängerinnen in seinen Konzerten auftreten ließ, so Charlotte Watson, in die er sich in London verliebt hatte. Die Liaison mit ihr endete, wie alle Beziehungen Paganinis zu Frauen, unglücklich.

Grabmal in Parma. Quelle: Von unbekannt – Foto aus dem Buch von Julius Knapp: Paganini; eine Biographie Verlag: Schuster & Loeffler, Berlin, 1913, Bild-PD-alt, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=7179785

Für Franz Liszt hatte das Erlebnis von Paganinis Virtuosität in Paris besonders große Auswirkungen. Er entwickelte in der Auseinandersetzung mit seinen Werken und dessen Art, das Publikum zu faszinieren, seinen hochvirtuosen Klavierstil und wurde zu einem vergleichbaren Publikumsmagneten. In seinem „Nekrolog“ berichtete er: „Sein unerklärliches Genie wollte man nur durch noch unerklärlichere Tatsachen begreifen, und wenig fehlte zu der Vermutung, dass er seine Seele dem Bösen verschrieben und jene vierte Saite, der er so bezaubernde Weisen zu entlocken wusste, der Darm der Gattin sei, die er eigenhändig erwürgt habe.“ Der geradezu hysterische „Hype“ seiner Auftritte beim breiten Publikum überlagerte oft die Ernsthaftigkeit und Schönheit seiner Musik und seines Spiels.

„aus seiner innersten Natur“

1832 gewann er einen Urheber-Rechtsstreit: Inzwischen erschienen viele Plagiate, Imitationen und Arrangements. Am 12. Dezember 1835 wurde er in Parma Mitglied der Kommission des Hoforchesters, was einem heutigen Generalmusikdirektor nahekommt. Er führte Opern auf, kümmerte sich um eine Verbesserung des Instrumentariums und erarbeitete umfangreiche Entwürfe eines Reglements für das Herzogliche Orchester und für eine in dieser Stadt zu errichtende Akademie. Der Normenkatalog ging der Herrscherin Marie Louise allerdings zu weit ging, so dass Paganini 1836 seine Stellung wieder aufgab und erneut auf Konzertreisen ging, die im November 1839 in Nizza ihr Ende fanden. Hier hoffte er, das milde Klima Nizzas zur Linderung seiner vielen Beschwerden bei. Umsonst: Anfang Mai 1840 zwang ihn ein schwerer Anfall ins Bett. Seine Stimme war völlig vernichtet. Am 27. Mai 1840 starb er an einem Blutsturz.

Da Paganini auf dem Sterbebett keine mündliche Beichte mehr ablegen konnte und schriftlich nicht abgeben wollte oder konnte, wurde ihm nach bischöflicher Überprüfung ein christliches Begräbnis verwehrt. Sein Sohn Achille musste ihn einbalsamieren lassen. Es sollte 30 Jahre dauern, bis sein Sohn ihm nach einer makaber anmutenden Odyssee – gegen üppige Bezahlung – seinen letzten Wunsch erfüllen konnte. 1853 wurde Paganini im Friedhof von Gaione bei Parma begraben und 1896 auf den neuen Friedhof zu Parma umgebettet, wo er immer noch in einem stetig mit frischen Blumen geschmückten Grab ruht.

Paganini galt lange als der Inbegriff des romantisch-verklärten Künstlertypus, dem Franz Lehár mit seiner Operette „Paganini“ ein Denkmal setzte. „Das Seelenvolle, Begeisterte, wahrhaft Eigenthümliche in Paganini‘s Spiel strömt aus seiner innersten Natur. Die Gefühle und Empfindungen, die er im verwandten Busen erregen will, sind seine eigenen. In den Tönen seiner Melodien ist sein Leben rege und wach, finden wir stets sein Ich, seine Individualität. Die Trauer, die er empfunden, das Sehnen, das sein Wesen durchzieht, die Leidenschaft, die seinen Puls rascher jagt, sie alle fließen in seinen Vortrag über“, befand schon 1829 der Kritiker Carl Guhr.

Kinski als Paganini. Quelle: https://m.media-amazon.com/images/M/MV5BYTBmYjM1YTQtZDc5Zi00NWRlLWJmMmMtZTUzYjM1Yzk4YmE0XkEyXkFqcGdeQXVyNDkzNTM2ODg@.V1.jpg

In Paganinis Nachlass fanden sich 15 Violinen, zwei Violen, vier Violoncelli sowie eine Gitarre, die meisten von Stradivari, Guarneri und Amati. Vier Stradivari-Instrumente werden heute als „Paganini-Quartett“ bezeichnet und wechselnden Ensembles geliehen: Im September 2019 wurden sie für vier Jahre dem Goldmund Quartett zur Verfügung gestellt. 1954 gründete Paganinis Geburtsstadt Genua den Internationalen Paganini-Violinwettbewerb zur Förderung und Entdeckung junger Talente.

Über den Kinofilm „Der Teufelsgeiger“ schrieb die Münchner AZ: „Klaus Kinski hielt sich für die Wiedergeburt Paganinis, David Garrett aber ist es einfach“. Das spielt darauf an, dass Kinski 1989 einen Film über Paganini mit sich in der Hauptrolle gedreht hatte, damit aber keinen großen Erfolg feierte: Er hatte zu viel von seiner eigenen Biografie in den Film gepackt, Garret hingegen kann wirklich spielen, nicht nur Geige. Zu den unzähligen Komponisten, die Themen von Paganini bereits zu dessen Lebzeiten und erst recht danach verarbeiteten, gehörten neben Liszt Johann Strauss (Vater), Robert Schumann, Johannes Brahms, Sergei Rachmaninow, Andrew Lloyd Webber und in der Rockmusik Gitarrenvirtuose Yngwie Malmsteen.

„purer Sex“

Die Haare streng nach hinten gelegt. Mit Pomade auf schwarzglänzend getrimmt. Das Make-up adelsblass, die Kontraste ausdrucksstark. Der Blick aus schattigen Augen, der Mund diplomatisch neutral. Statt ihm das Gesicht eines monsterähnlichen Untoten zu geben, erscheint sein Dracula als charmanter Adeliger, der mit schwarzem Anzug und gutem Benehmen auf jeder Dinnerparty ein gern gesehener Gast wäre. Er ist sympathisch und besitzt eine finstere Würde, obwohl er nur auf eines aus ist: rotpulsierende Halsschlagadern unter blasser Frauenhaut. Er „pflegte mit seiner aristokratischen Spielweise und dem ungarischen Akzent eine theatralische, artifizielle Darstellung und vermittelte doch etwas von der Boshaftigkeit und Besessenheit seiner Gestalten“, befand Mira Winthagen auf kino.de: Bela Ferenc Dezső „Lugosi“ Blaskó, der am 20. Oktober vor 140 Jahren im damals zu Österreich-Ungarn, heute zu Rumänien gehörenden Lugos geboren wurde.

Er war das jüngste von vier Kindern eines erfolgreichen ungarischen Geschäftsmanns und riss von zu Hause aus, als seine Eltern 1893 beschlossen, ihn gegen seinen Willen aufs Gymnasium zu schicken. Stattdessen verwirklichte er seinen Traum einer Schauspielerkarriere. Zunächst tingelte er durch die Provinz und spielte vor allem als Shakespeare-Darsteller an verschiedenen ungarischen Bühnen. 1917 kam er mit dem Film in Berührung und wurde – unter dem Pseudonym Arisztid Olt – in verschiedenen ungarischen Stummfilm-Produktionen vornehmlich als jugendlicher Liebhaber besetzt, so in einer 1918 entstandenen Verfilmung des Oscar-Wilde-Romans „Das Bildnis des Dorian Gray“.

Da er als Schauspieler vom Kriegsdienst befreit war, meldete er sich freiwillig für den Fronteinsatz bei einer Skipatrouille. Der Leutnant der Infanterie in der österreichisch-ungarischen Armee wurde wegen zahlreicher Verwundungen und seiner Tapferkeit wegen Lugosi mit mehreren Orden geehrt. Nach Kriegsende schloss sich Lugosi der Kommunistischen Partei Ungarns an, gründete eine Schauspielergewerkschaft und führte mehrfach Protestmärsche gegen die Republik unter Graf Mihály Károlyi an. Nach der Niederlage der Räterepublik wurde auf aktive Kommunisten eine regelrechte Treibjagd veranstaltet.

Dracula – Bela Lugosi. Quelle: https://images-cdn.bridgemanimages.com/api/1.0/image/600wm.XXX.08652020.7055475/2022501.jpg

Lugosi stand offenbar auf einer „Schwarzen Liste“ als Vertreter der Schauspielergewerkschaft, er musste mit seiner ersten Frau Ilona das Land verlassen. Verborgen in einem Zigeunerkarren, hatten sie alle Grenzübergänge unbemerkt passiert, wurden aber gesichtet, wie sie über ein Feld auf ein Flugzeug zuhasteten. Sie entkamen dem Kugelhagel; Lugosi sah seine Heimat nie wieder. „Nach dem Krieg nahm ich an der Revolution teil und später fand ich mich dann auf der falschen Seite wieder“, sagte er selbst. Dass die falsche Seite die Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei bedeutete, ließ Lugosi in Hollywood stets unerwähnt.

„ausschließlich Frauen attackieren!“

Zunächst emigrierte das Paar nach Wien, ging dann 1919 nach Berlin, wo Lugosi, wie er sich nun in Anlehnung an seinen Geburtsort nannte, in der Stummfilmszene Fuß fassen konnte, wenn auch nur mit Nebenrollen. So spielte er unter anderem in den frühen Karl May-Verfilmungen „Die Todeskarawane“ und „Die Teufelsanbeter“ (beide 1920) mit. Er gehörte auch zur Besetzung des als verschollen geltenden Films „Der Januskopf“ (1920) von Friedrich Wilhelm Murnau nach „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“, womit dieser Film zugleich Lugosis ersten Kontakt mit dem Horror-Genre darstellte. Nach zwei Jahren in Deutschland ließ er such scheiden und verdingte sich als Hilfsheizer an Bord eines italienischen Frachters, um es in Amerika zu versuchen.

1923 hatte er sein amerikanisches Bühnendebüt. Obwohl er kaum Englisch sprach und seine Texte phonetisch memorieren musste, bekam er gute Kritiken und schaffte es, nicht nur beim Stummfilm zu landen, sondern auch bei seiner zweiten Frau, die wieder Ilona hieß. 1927 kam Lugosi schließlich zu der Rolle, die seiner amerikanischen Karriere den entscheidenden Auftrieb geben sollte. Die Titelrolle in der Broadway-Produktion von „Dracula“, mit der er sein Publikum 265 Aufführungen lang in den Bann schlug, war ihm geradezu auf den Leib geschrieben. Für viele war es schwierig, den Schauspieler von seiner Rolle zu trennen, und Lugosis ausgeprägtes Ego fand in dieser Identität eine neue Bestimmung. Lugosi, mittlerweile mit seiner dritten Gattin Beatrice liiert, wurde für die Filmrolle zunächst nicht in Erwägung gezogen und später mit einem Knebelvertrag verpflichtet, der ihm 500 Dollar die Woche zusprach und in dem von einer Beteiligung an den Einspielergebnissen keine Rede war.

Mit seiner ersten Frau. Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/3b/Lugosi_B%C3%A9la_sz%C3%ADnm%C5%B1v%C3%A9sz_%C3%A9s_els%C5%91_feles%C3%A9ge%2C_Szmik_Ilona._Fortepan_8777.jpg

Der Schauspielerin Carol Borland zufolge war er „purer Sex“. Wer jetzt die Nase rümpft und an Pornographie denkt, irrt: Lugosi war ein Gentleman-Vampir. Nie entblößte er auf der Bühne oder im Film seine spitzen Eckzähne. Dieses Tabu brach erst der türkische Dracula Atif Kaptan, der seine Sauge-Beißer 1953 schamlos in die Kamera hielt. Aber natürlich hüllte er sich dabei, wie jeder stilvolle Dracula nach 1931, in Bela Lugosis Vampirumhang. Aber auch sonst hielt sich Bela Lugosi weit mehr an Sitte und Moral als andere Draculas: Eigentlich stand ja im Drehbuch, er solle den bewusstlosen Immobilienmakler Renfield beißen. Derart unglaubliche Homoerotik war den Universal Studios für einen Horrorfilm einfach zu gruselig und so schickte man an den Regisseur die Notiz: „Dracula soll ausschließlich Frauen attackieren!“

„Dann hat sie mich verlassen“

Die Figur machte Lugosi zum neuen König des Horrors. Er war jetzt ein Star und kostete das neue Leben in vollen Zügen aus. Lugosis Karriere florierte mit Filmen wie „Der Tod ist ein schwarzes Kamel“ (1931), „Morde in der Rue Morgue“ (1932), „White Zombie“ (1932) und „Chandu the Magician“ (1932). Doch die harten Zeiten warteten gleich um die Ecke: 1936 begann die große Horror-Hausse drastisch abzuebben. Lugosi war verzweifelt und Lilian Arch, seine neue Lebensgefährtin, war schwanger. Als Bela junior das Licht der Welt erblickte, musste das Paar sein protziges Anwesen in den Hollywood Hills verkaufen und in eine bescheidenere Gegend in San Fernando Valey umziehen.

1939 erlebte der Horrorfilm einen neuen Aufschwung, doch Lugosi nahm seine Karriere immer noch nicht ernst. Für die Rolle des Igor in „Frankensteins Sohn“ neben Boris Karloff und Basil Rathbone bekam er wiederum nur 500 Dollar die Woche. Im selben Jahr hatte Lugosi seine einzige komische Rolle in Ernst Lubitschs „Ninotschka“. In den kommenden Jahren ging es beruflich nur noch bergab. In den fünfziger Jahren drehte er eine schundige Billigproduktion nach der anderen. Von  1953 bis 1955 trat er sporadisch in Las Vegas auf, wo er sich in Nachtclubs im Draculakostüm zeigte und in Särgen Interviews gab. In „Bride of the monster“ von Ed Woods, dem „schlechtesten Regisseur der Welt“, für den er in vier Filmen auftrat, spielte er einen Wissenschaftler, der an einem atomaren Übermenschen bastelt. In Tim Burtons Biopic „Ed Wood“ wurde Lugosi von Martin Landau gespielt, der dafür den „Oscar“ als bester Nebendarsteller erhielt.

Stern in Hollywood. Quelle: Von JGKlein – Eigenes Werk, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10848556

Immer häufiger arbeitslos, begann Lugosi zu trinken; zudem wurde sein Gesundheitszustand durch seine Morphiumabhängigkeit verschlechtert. Seine Verletzung aus dem Ersten Weltkrieg hat zu einem Zwölffingerdarmgeschwür geführt, das ihm permanente Schmerzen verursachte. Lillian versuchte ihm zu helfen. „Sie hat mir die Spritzen gesetzt“, so Lugosi 1953. „Sie gab mir immer kleinere Dosen. Am Ende hatte ich bloß noch die blanke Nadel. Ich hatte es geschafft, ich war drüber weg. Dann hat sie mich verlassen. Mit unserem Sohn. Er war mein Fleisch und Blut. Deshalb fing ich wieder mit den Drogen an. Sie hat mir das Herz gebrochen.“ Lugosi stand vor einem Scherbenhaufen. Er fand Trost auf dem Hollywood Boulevard, wo er häufig beim Betreten eines Schusterladens gesichtet wurde, der einer Drogenconnection als Tarnung diente.

„vorsichtshalber einen Pfahl durchs Herz“

An Lillians Geburtstag 1955 begab sich Lugosi freiwillig in das Los Angeles General Hospital, um seine Sucht behandeln zu lassen, und wurde Aufmacher der Zeitungen. Lugosi sah seine Chance, er war wieder im Gespräch und erhielt nach seiner Überweisung ins Metropolitan State Hospital Kalifornien Hunderte von Fanbriefen und Genesungsschreiben von Prominenten. Nach fünfzehn Wochen wurde Bela als geheilt entlassen – als Schatten seiner selbst. Mittlerweile 73 Jahre alt, sah er das anders: „Gebt mir ein paar Monate, dann bin ich wieder in alter Form.“ Im selben Jahr wurde Hope Lininger die fünfte und letzte Mrs. Lugosi.

Während seines letzten Lebensjahres war er kaum mehr in der Lage zu arbeiten. In seinem letzten Film „Die Schreckenskammer des Dr. Thosti“ (1956) spielte er einen Stummen, weil er seinen Text nicht mehr behalten konnte. Im Sommer 1956 kehrte er mit dem Stück „Devil’s Paradise“ ein letztes Mal auf die Bühne zurück: Ironischerweise einem Antidrogen-Drama. Am 16. August 1956 starb er an einem Herzanfall. „Er wollte in einem seiner Draculakostüme beerdigt werden“, so Hope. So dramatisch und chaotisch sein Leben war, so dramatisch war auch seine Beerdigung. Gerüchte besagen, dass Frank Sinatra die Kosten für die Bestattung übernommen habe und dass am Grab zwischen Vincent Price und Boris Karloff folgende Worte gefallen sein sollen: „Man sollte ihm vorsichtshalber einen Pfahl durch das Herz treiben.“

Lugosis Grab. Quelle: Von IllaZilla – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17786685

Lugosi war nicht so schaurig-schön wie George Hamilton, nicht so dämonisch wie Christopher Lee, nicht so unheimlich wie Gary Oldman, aber er ist bis heute Kult und hat mit seiner Dracula-Darstellung für alle Ewigkeit einen Filmmythos geschaffen. Das sah auch die englische Band Bauhaus so, die mit ihrem Stück „Bela Lugosi’s dead“ dem Schauspieler und seiner wichtigsten Rolle ein Denkmal setzte. Auch andere Punk- und Metal-Bands huldigten ihm, außerdem diente er Jim Henson als Inspiration für die Muppets-Figur „Graf Zahl“ in der Sesamstraße. Auf dem „Hollywood Walk of Fame“ erinnert heute ein Stern an den charismatischen Schauspieler.

Der Vorgang ist bezeichnend für die verkrampfte deutsche Unfähigkeit eines angemessenen Umgangs mit der Historie: Weil „Leben und Wirken“ des Namensgebers „nicht dem Bildungsauftrag der Berliner Schule“ im Prenzlauer Berg entspreche, wird sie umbenannt. Seine Persönlichkeit sei Grundschulkindern „schwer vermittelbar“, habe er doch gerne vom Sport als dem Mittel der militärischen Ertüchtigung gesprochen. Doch der Sohn des Namensgebers, Bierbrauer Julius Bötzow, war ein höriger Nazi, seine Frau Ruth eine große Hitler-Verehrerin. Das Unternehmerpaar nahm sich 1945 gemeinsam das Leben aus Angst vor einer Zukunft ohne „Drittes Reich“. Den Namen Bötzow kann man also als vorbelastet bezeichnen. Seinen Namen dagegen nur, wenn man die Geschichte nicht verstanden hat: Johann Friedrich Ludwig Christoph Jahn, der am 15. Oktober 1852 in Freyburg starb.

Geboren wurde er am 11. August 1778 im Dorfe Lanz (bei Lenzen/Prignitz) in Brandenburg als Sohn eines protestantischen Pastors. Über seine kurze Schulzeit in Salzwedel ab 1791 und ab 1794 am Gymnasium in Berlin ist bekannt, dass er ein schwieriges Kind und kein guter Schüler war. Er fiel den Lehrern wegen seiner Schroffheit und seines selbstherrlichen Auftretens unangenehm auf, was wohl auch auf Probleme im Elternhaus deutet. Ohne Schulabschluss studierte er ab 1796 Theologie in Halle und trat dem geheimen studentischen Orden der „Unitisten“ bei. Die Ordenskonstitution verpflichtete zu Verschwiegenheit, Bruderliebe und -hilfe, Tüchtigkeit, Zurückhaltung bei Duellen und Studienfleiß.

F.L.Jahn. Quelle: Von Lithograph Georg Ludwig Engelbach (* 28. Februar 1817, † 4. Dezember 1894) – zeitgenössische Lithographie, gescannt von APPER/2004, de.Wikipedia, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7887115

Von Studienfleiß konnte bei Jahn jedoch keine Rede sein. 1799 las er versteckt in einer Höhle am Giebichenstein in Halle, heute „Jahn-Höhle“, den utopischen Staatsroman „Dya-Na-Sore oder die Wanderer“ von Wilhelm Friedrich von Meyern. Der Text über Nationalerziehung, Wehrpflicht und Bürgerbeteiligung am Staatswesen überzeugte Jahn, der das Buch als sein künftiges Glaubenskonzept bezeichnet haben soll. Er verfasste eine Schrift mit dem Titel „Über die Beförderung des Patriotismus im Preußischen Reiche“, die er in schlimmster Geldnot für 10 Taler an einen Studenten Höpffner verkaufte, unter dessen Namen sie 1800 erschien.

Als Student fiel Jahn wegen Streitsucht und Gewalttätigkeiten auf. Welche Vorkommnisse seiner Exmatrikulation 1802 vorausgingen, lässt sich nicht feststellen. Jahn setzte sein Studium zunächst unter falschem Namen an der damals schwedischen Universität Greifswald fort, an der er Vorlesungen der philosophischen Fakultät hörte, bevor er nach 13 Semestern die Universität ohne Abschluss verließ. Zwischen 1803 und 1809 hat er als Kurier und gelegentlich als Hilfslehrer gearbeitet. Er organisierte Wanderungen, Spiel- und Badenachmittage.

DDR-Ehrungen: Münze und Briefmarke. Quelle: eigene Darstellung.

„Zerrissene Kleider und blutige Köpfe waren dabei alltägliche Erscheinungen. Abhärtung gegen jede Unbill der Natur, Übung aller Kräfte mit Hinwendung auf die Notwendigkeit, die deutsche Nation zu einer mannhaften, dem Feinde gewachsenen, wiederzuerziehen, war überall sein Augenmerk. Dabei hatte er von seinen politischen Absichten schon damals kein Hehl gemacht (…)“, berichtete ein Freund Jahns. 1806, nach dem Sieg Napoleons bei Jena und Auerstedt, hielt Friedrich Ludwig Jahn, der sich noch einmal ein Semester als Student versuchte, vor der Göttinger Studentenschaft eine politische Rede, auf der er zum ersten Mal öffentlich die Freiheit des Vaterlandes und Leibesübungen als Mittel der Charaktererziehung forderte. Er hatte sein Lebensthema gefunden.

erste deutsche Burschenschaft

1807 besuchte er den Pädagogen Guts Muths in Schnepfenthal (Thüringen), der dort Erzieher war und schon 14 Jahre zuvor eine „Gymnastik für die Jugend“ als Grundlage für die Leibeserziehung junger Menschen zu „würdigen Vaterlandsverteidigern“ geschrieben und neben seiner Schule den ersten Sportplatz in Deutschland hatte anlegen lassen. Der Besuch gab Ludwig Jahn einige Anregungen. 1809 ging Jahn nach Berlin, 1810 erschien seine Schrift „Deutsches Volksthum“, eine Sammlung dessen, was er über Deutschtum, Volk, Kultur, Vaterland, Nationalgefühl und Volkserziehung zusammengetragen hatte. In der Berliner Hasenheide ließ er 1811 den ersten öffentlichen Turnplatz in Deutschland anlegen.

Neben der Leichtathletik wurde das Turnen an den Geräten wie Pferd, Klettergerüst, Ringe und Schwebebalken, die er von den Philanthropen übernommen hatte, bevorzugt. Neu entwickelt hatte Jahn das Barren- und Reckturnen, aber ebenso zog er Schwimmen, Fechten und Wandern in seine Übungen ein, die alle sehr deutsche Namen haben: Bauchwelle, Kreuzbiege oder Affensprung. Bereits 1812 entstand aus dem losen Turnbetrieb eine fest organisierte Turngesellschaft mit Gesetz und Ordnung. Das Turnen wurde damit die erste öffentliche Einrichtung des organisierten politischen Nationalismus: „Dem ging es schlicht und einfach um die Schaffung einer Art jugendlich-männlicher Guerilla“, behauptet der Sporthistoriker Hans Joachim Teichler im WDR.

Denkmal in Hasenheide. Quelle: Von statue: Erdmann Encke; photo: James Steakley – photographed in the Hasenheide, Berlin, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6218071

Zu den Besonderheiten der nationalen Turnbewegung, wie sie durch Jahn vertreten wurde, gehörten die Aufhebung ständischer Schranken im Umgang miteinander und das Tragen einheitlicher Turnkleidung: Ein grauer Drillichanzug. Seit 1813 setzte sich die Bezeichnung „Turnvater Jahn“ durch. Ein Zeitgenosse charakterisierte Jahn so: „Man sah ihn nicht viel anders als in seiner Turnkleidung mit nacktem Halse und unbedeckter kahler Glatze, die feinen Augen fest in die Weite gerichtet. Seine Ausdrucksweise war kurz, derb, oft voll selbstgeschaffener, aber sehr bezeichnender Worte. Sein Witz war in der Regel ebenso beißend, wie treffend; die Franzosen haßte er wüthend. Die turnende Jugend enthusiassmierte er und sie folgte ihm blindlings (…)“.

Mit dem Beginn der Befreiungskriege 1813 traten viele Turner, auch Friedrich Ludwig Jahn, als Freiwillige in das Lützowsche Freikorps ein. Nach erfolgreichem Ende des Krieges wurde Jahn für seine Verdienste ein Ehrensold zugesprochen, der ihn für den Rest seines Lebens absicherte und der Not eines Brotberufes enthob. Die nationale Turnbewegung begann sich jetzt erst richtig zu entwickeln. Auf der Berliner Hasenheide fanden regelmäßige Turnveranstaltungen statt. Nationale Ansprachen, Rezitationen und vaterländische Lieder umrahmten den Übungsbetrieb. Vorturner wurden ausgebildet und trugen den Sport in andere Regionen. 1815 gründeten Studenten – Turner und ehemalige Lützower – in Jena nach Jahns Ideen die erste deutsche Burschenschaft.

1816 veröffentlichte Friedrich Ludwig Jahn gemeinsam mit Ernst Eiselen „Die Deutsche Turnkunst“, ein Buch über das Turnen und die Ausstattung von Turnplätzen, das ein getreues Spiegelbild des Turnbetriebes auf der Berliner Hasenheide war und zum Bestseller wurde. Darin fand sich auch sein Turnerwahlspruch „Frisch, fromm, fröhlich, frei“. Jahn nannte darin etwa zahlreiche Laufarten: Das Rennen, den Schlängellauf, den Zickzacklauf, den „Rücklauf“ (Rückwärtslaufen) und den Sturmlauf hinauf auf eine Anhöhe. Alle Laufübungen konnten als Schnelllauf oder Dauerlauf und als Lastlauf mit Gepäck oder Lediglauf ohne Gepäck betrieben werden.

Historische Darstellung des Turnplatzes. Quelle: https://www.tagesspiegel.de/sport/images/der-turnplatz-auf-der-hasenheide-in-berlin/alternates/BASE_21_9_W1000/der-turnplatz-auf-der-hasenheide-in-berlin.jpeg

Jahn hielt Vorträge zum „deutschen Volkstum“ und beteiligte sich an den Vorbereitungen zum Wartburgfest 1817. Die Karlsbader Beschlüsse brachten Turner und Burschenschaftler jedoch in den Verdacht der Staatsfeindlichkeit. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. verbot 1819 das öffentliche Turnen in Preußen und schloss die Hasenheide. 1825 wurde Jahn gar wegen staatsfeindlicher Äußerungen verhaftet und in der Festung Kolberg inhaftiert. Jahn sagte rückblickend auf diese Verhaftung, dass er bei Anlegung der Ketten den „Glauben an die Menschheit“ verlor. Jahn wurde zu zwei Jahren Haft wegen „frecher Äußerungen gegen Staat und Verfassung“ verurteilt. In der Berufungsverhandlung konnte er einen Freispruch erwirken, erhielt aber ein Aufenthaltsverbot für Berlin und andere Universitäts- und Gymnasialstädte. Der Dichter E.T.A. Hoffmann, der nach 1814 als Richter am Kammergericht Berlin angestellt war, hatte mit über den Fall Jahn zu entscheiden gehabt und sich für ihn eingesetzt.

„Ehre, Freiheit, Vaterland“

Ludwig Jahn ging nach Freyburg/Unstrut und stand fortan unter polizeilicher Aufsicht. Das Turn- und Burschenschaftswesen agitierte im Geheimen weiter. Jahn nahm Kontakt zu Merseburger Gymnasiasten auf, weswegen er 1828 zeitweilig ins thüringische Kölleda verwiesen wurde. Mit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. wurde Jahn rehabilitiert, 1842 das öffentliche Turnen wieder zugelassen und Turnen als Schulfach eingerichtet. Aus den Anfangsbuchstaben des Turnerwahlspruches, den vier F, formte der Darmstädter Kupferstecher Heinrich Felsing 1843/46 das Turnerkreuz. Der fünfzig Jahre später gegründete sozialistische Arbeiter-Turnerbund wandelte das Jahnsche Motto in einen neuen Wahlspruch um: Frisch – Frei – Stark – Treu.

1848 wurde Ludwig Jahn im Merseburger Wahlkreis zum Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung gewählt. Seine 1849 gehaltene Parlamentsrede war eine Rückschau auf sein Lebenswerk: „Mein Schild führt drei Farben: Schwarz-rot und gold, und darin steht Ehre, Freiheit, Vaterland“. Das Revolutionäre, für das er einst gestanden hatte, ging ihm nun komplett ab: Der alte Turnvater trat in der Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs als Verteidiger Preußens und der Monarchie auf. „Er war zu dieser Zeit völlig aus der Welt gefallen“, sagt Teichler dem Tagesspiegel.

Jahndenkmal an der Erinnerungsturnhalle in Freyburg (Unstrut), erbaut 1894. Quelle: Von MOdmate – own work /self made, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=916312

Er wurde an der Stirnseite der ersten deutschen Turnhalle in Freyburg beigesetzt. Aus Anlass der Olympischen Spiele in Berlin 1936 wurden seine Gebeine umgebettet. Sie fanden ihre letzte Ruhestätte im Ehrenhof seines Wohnhauses, das er 1838/39 erbaut hatte und heute sein Museum beherbergt. „Zurück zu Jahn, es gibt kein besseres Vorwärts!“, lautete das Motto des ersten Turnfestes unter dem NS-Regime. Der Deutsche Turnerbund verleiht die Friedrich-Ludwig-Jahn-Plakette als höchste Auszeichnung. Die Initiative „Sport ohne Turnväter“ fordert bereits seit 2011 eine Umbenennung des Berliner Jahn-Sportparks, 2018 forderte der Bezirk Pankow den Berliner Senat auf, eine Namensänderung zu prüfen.

„Jahn wurde er in der DDR als Muster-Sozialist verehrt. Das war er bestimmt nicht. Vorher feierten ihn die Nazis als ‚arischen Soldaten‘. Das war er auch nicht. Aus heutiger Sicht war er eher ein grüner Fundi, wehrte sich gegen Autoritäten und […] gehört zu den Erfindern des typisch deutschen Gesundheitskults“, bilanzierte Gunnar Schupelius in der BZ. Galt er in der DDR als bürgerlicher Rebell, feierte ihn die Bundesrepublik als sozialen Pädagogen. Zeitgenossen nannten ihn einen „Romantiker der Tat“. Heinrich Heine verspottet seine Haltung als „idealistisches Flegeltum“. „Jedes politische Regime – von der Diktatur bis zur Demokratie – schuf sich sein eigenes Jahn-Bild“, so Oliver Ohmann auf den Seiten der Deutschen Sporthilfe. „Und es passte immer“.

Der eiserne Feldherr

Nachdem seine Verlobte 17jährig an Tuberkulose verstorben war, trauerte er acht Jahre, bevor er eine andere Frau heiratete – und sandte bis an sein Lebensende jedes Jahr zu ihrem Todestag einen Kranz an ihr Grab. Er war vielfacher Ehrendoktor, mehrhundertfacher Namenspate von Straßen und Plätzen, ihm wurden allein 3824 Ehrenbürgerschaften zuteil – von denen nach 1945 viele eine Umbenennung oder Aberkennung erfuhren, zuletzt 2020 in Berlin. Und er ist bis heute das einzige deutsche Staatsoberhaupt, das je vom Volk direkt gewählt wurde: Paul Ludwig Hans Anton von Beneckendorff und von Hindenburg, der am 2. Oktober vor 175 Jahren als erster von zwei Söhnen eines preußischen Offiziers und Gutsbesitzers und einer Arzttochter in Posen geboren wurde. Sein elf Jahre jüngerer Bruder Bernhard wird 1915 die erste Biografie des Soldatenpolitikers verfassen.

Ab 1859 besucht Hindenburg kurzzeitig das Gymnasium und wechselt dann – seine Militärlaufbahn ist vorgegeben – zur Kadettenanstalt in Wahlstatt und später nach Berlin. 1865 wurde er Königin Elisabeth, der Witwe des verstorbenen preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV., als Leibpage zugeteilt und im April 1866 als Leutnant in das 3. Garderegiment zu Fuß aufgenommen. Als solcher nahm er an der Schlacht von Königgrätz teil. Im Deutsch-Französischen Krieg ist er in der Schlacht von Sedan dabei, und er repräsentierte sein Garderegiment bei der Kaiserproklamation im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles. 1879 heiratete er die Offizierstochter und Philanthropin Gertrud von Sperling und bekommt mit ihr zwei Töchter und einen Sohn. Ein weiterer Sohn wird 1881 tot geboren. Hindenburg sah in seiner Frau, wie er selbst schrieb, „eine liebende Gattin, die treulich und unermüdlich Freud und Leid, alle Sorge und Arbeit mit mir teilte und so mein bester Freund und Kamerad wurde“.

Paul von Hindenburg. Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 183-R17289 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5436370

Die nächsten 40 Jahre verfolgte er nach dem Besuch der Berliner Kriegsakademie, die er mit der Qualifikation für den Generalstab verließ, seine Militärlaufbahn an wechselnden Orten. 1877 wurde er in den Großen Generalstab versetzt und gehörte 1888 zu den Offizieren, die am aufgebahrten Leichnam Kaiser Wilhelms I. Totenwache hielten. 1890 leitete er die II. Abteilung im Kriegsministerium und wurde im Jahr darauf Oberstleutnant. 1893 kommandierte er das Oldenburgische Infanterieregiment Nr. 91, ein Jahr später wurde er zum Oberst befördert. 1896 wurde er Chef des Generalstabes des VIII. Armee-Korps in Koblenz und im Jahr darauf zum Generalmajor ernannt. 1900 folgte seine Beförderung zum Generalleutnant und die Ernennung zum Kommandeur der 28. Division in Karlsruhe. 1903 wurde er zum Kommandierenden General des IV. Armee-Korps in Magdeburg ernannt und 1905 zum General der Infanterie befördert. Zuletzt im Rang eines Kommandierenden Generals in Magdeburg, nimmt er 1911 Abschied aus dem Militärdienst und lässt sich in Hannover nieder. 

Mythos des „Siegers von Tannenberg“

Drei Wochen nach Beginn des Ersten Weltkriegs wird Hindenburg reaktiviert und übernimmt die 8. Armee als Oberbefehlshaber mit Erich Ludendorff als Stabschef, „weil ihm im Gegensatz zu seinem Vorgänger die überlegene Ruhe des Gewährenlassens gegenüber dem eigenwilligen, energisch kraftvollen neuen Chef zugetraut wurde“, so Hindenburgs Biograph Werner Conze. „Ludendorff blieb im Kriege stets der erste Mitarbeiter Hindenburgs, überragte ihn aber in der Führungskunst an Entschlusskraft und Arbeitsleistung. Er prägte Hindenburg seinen Willen sowohl militärisch wie politisch auf, ohne dass Hindenburg dies als Fremdbestimmung empfunden hätte; denn militärisch kamen beide erfahrenen Generalstäbler aus Schlieffens Schule und fanden sich auch politisch in gleicher Gesinnung zusammen.“

Beide schlugen die nach Ostpreußen eingedrungene russische Narew-Armee in einer Umfassungs- und Vernichtungsschlacht vom 26. bis zum 30. August 1914. Dieser Sieg begründete Hindenburgs außerordentliches Prestige, das ihn im weiteren Verlauf des Krieges zum mächtigsten Mann in Deutschland machen sollte. An diesem politischen Mythos, der sich um seine Person und den Sieg ranken sollte, arbeitete er selbst aktiv mit und setzte unmittelbar nach der Schlacht durch, dass sie nach dem vom Kampfgeschehen am Rande betroffenen Ort Tannenberg genannt werden sollte. Denn in der Schlacht bei Tannenberg – auch: Schlacht bei Grunwald – hatte 1410 ein polnisch-litauisches Heer den Deutschen Orden vernichtend geschlagen, eine „Scharte“, die Hindenburg durch die Namensgebung auszuwetzen versuchte.

Russische Gefangene nach der Schlacht bei Tannenberg. Quelle: Von website: Ray Mentzer (atominfo@aol.com); photographer unknown – Photos of the Great War, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=196215

Der triumphale Sieg brachte ihm die Ernennung zum Generalfeldmarschall, die Verleihung des Sterns zum Großkreuz des Eisernen Kreuzes und 1915 die Ehre der damals größten deutschen Nagelfigur in Berlin.  Mit dem Mythos des „Siegers von Tannenberg“ erhält Hindenburg das Oberkommando über alle deutschen Truppen der Ostfront (OberOst) und übernimmt 1916 mit Ludendorff als Erstem Generalquartiermeister die Oberste Heeresleitung (OHL). Sie gewann schnell an Einfluss auf die Politik des Deutschen Reiches und entmachtete praktisch Wilhelm II. Hindenburg war dabei (mit)verantwortlich für entscheidende Weichenstellungen im Krieg wie die Eröffnung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges, die Ablehnung eines Verständigungsfriedens und die Diktatfrieden von Brest-Litowsk und Bukarest.

Die Machtfülle von Hindenburg und Ludendorff war so groß, dass verschiedene Zeitgenossen wie unter anderem Max Weber von einer regelrechten „Militärdiktatur“ sprachen. Andere Historiker weisen dagegen darauf hin, dass die Machtausübung der OHL nicht im strengen Sinne als Militärdiktatur gewertet werden könne, da sie die politische Führung nie verantwortlich übernommen habe und durchaus auch innenpolitisch an Grenzen gestoßen sei, und sprechen von einer Sonderform der charismatischen Herrschaft. Die dem „Vaterländischen Hilfsdienstgesetz“ von 1916 zugrundeliegenden Vorbereitungen deckte Hindenburg mit seinem Namen und drängte auf die Entlassung des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg.

Ende September 1918 fordert die OHL nach dem Scheitern der Frühjahrsoffensive sofortige Waffenstillstandsverhandlungen und eine parlamentarische Regierung. Am 9.11.1918 riet Hindenburg zum Übertritt Wilhelms II. nach Holland, woraus unerquickliche Kontroversen, eine Vertrauenskrise zwischen dem ehemaligen Kaiser und ihm sowie ein lebenslanges Trauma Hindenburgs folgten. Der Übergang von der Monarchie zur Republik gelang unter den Bedingungen der Niederlage, materieller Not und Revolutionsgefahr verhältnismäßig reibungslos. Hindenburg, geachtet vom größten Teil des Volkes und der Front, wurde von Friedrich Ebert und der SPD-Mehrheit für unentbehrlich gehalten, drängte am 10. November auf schnelle Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrags und stellte sich der neuen Regierung zur Verfügung, um das Frontheer geordnet zurückzuführen und, mit Hilfe der Arbeiter- und Soldatenräte, Ruhe und Ordnung aufrechterhalten zu helfen.

„von hinten erdolcht“

Mit Abschluss des Versailler Vertrages im Juli 1919 gewährte Reichspräsident Ebert Hindenburg auf dessen Wunsch den Abschied. Vor dem Untersuchungsausschuss für die Schuldfragen des Weltkrieges der Weimarer Nationalversammlung verbreitete Hindenburg am 18. November 1919 die „Dolchstoßlegende“, deren Text wahrscheinlich der deutschnationale Politiker Karl Helfferich in Absprache mit Ludendorff verfasst hatte: Ein Sieg über die Entente wäre danach möglich gewesen, „wenn die geschlossene und einheitliche Zusammenwirkung von Heer und Heimat eingetreten wäre“. Dass sie nicht eingetreten sei, sei darauf zurückzuführen, dass „die deutsche Armee […] von hinten erdolcht“ worden wäre, eine Metapher, die er dem englischen General Frederick Maurice zuschrieb – dem sie von der NZZ fälschlich in den Mund gelegt worden war. Die Entscheidung, den Waffenstillstand abzuschließen, kam aber nicht von der revolutionären Regierung, sondern war noch vor der Novemberrevolution von der letzten kaiserlichen Regierung getroffen worden.

Hindenburg und Ludendorff. Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 146-1987-127-09A / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5483400

Der General, der sich erneut nach Hannover zurückgezogen hatte, das ihn im August 1915 zum Ehrenbürger ernannt und ihm im Oktober 1918 im Zooviertel eine Villa zum lebenslangen Nießbrauch überlassen hatte, unternahm viele Reisen durch das Reich, besonders durch Ostpreußen, wo er sich als Befreier Ostpreußens einer großen Popularität erfreute. 1921 wurde er Vorsitzender der Deutschenhilfe. Nachdem beim ersten Wahlgang zur Reichspräsidentenwahl am 29. März 1925 kein Kandidat eine absolute Mehrheit erreicht hatte, fragten die Rechtsparteien bei dem parteilosen Hindenburg eine Kandidatur an. Der 77-Jährige äußerte sich zunächst zögerlich, stimmte jedoch schließlich zu und wird mit einer relativen Mehrheit vor dem Kandidaten des Zentrums Wilhelm Marx gewählt. Er sollte ein von den demokratischen Parteien weitgehend anerkannter Präsident werden, dessen politische Amnestie von 1925 die umfangreichste in Deutschland bis 1932 wird. 

Im antisemitischen Lager erntete Hindenburg 1927 Kritik, weil er sich für ein Staatsporträt von „dem Juden Liebermann“ malen ließ. Nachdem er 1930 den Young-Plan unterschrieben hatte, der von den rechtsradikalen Parteien als Verpflichtung zu jahrzehntelanger „Versklavung“ des Volkes hingestellt wurde, rückten seine ehemaligen politischen Freunde immer mehr von ihm ab. Hindenburg beschloss, die derzeit regierende Große Koalition unter Kanzler Hermann Müller (SPD) durch eine „antimarxistische und antiparlamentarische“ Regierung zu ersetzen. Die Gelegenheit hierzu ergab sich, nachdem die Große Koalition an der Frage des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung zerbrochen war: Ende März 1930 beruft er, ohne das Parlament einzuschalten, Heinrich Brüning zum Reichskanzler. Mit dieser Ernennung beginnt die Zeit der Präsidialkabinette. 

„Mangel an Urteilskraft“

Widerwillig fügte sich Hindenburg 1932 der Tatsache, dass nur er noch für populär genug gehalten werden konnte, in der durch die Weltwirtschaftskrise polarisierten Gesellschaft gegen den aufstrebenden Hitler den Wahlsieg davonzutragen. Reichswehrminister Groener musste feststellen: „Der Alte vom Berge will sich nicht küren lassen, wenn nicht auch die Rechtser mitmachen“. Dass er, verglichen mit 1925, gleichsam mit verkehrter Front, das heißt von links und der Mitte gegen rechts gewählt wurde, hat er kaum verwinden können. Nachdem er im 2. Wahlgang mit der absoluten Mehrheit von 53% vor Hitler mit 37% und Thälmann mit 10% gewählt worden war, entlässt das zweite Kabinett Brüning und ernennt Franz von Papen zum Reichskanzler – lehnt jedoch im November 1932 Hindenburg eine befristete Diktatur Papens als Ausweg aus der staatspolitischen Krise ab.

Stimmzettel 1932. Quelle: Von Reichspräsidentenwahl 1932 – Präsidentenwahl, 1932, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=134735

Spätestens seitdem war er „dem Vorgehen Hitlers aus Mangel an Urteilskraft und Information mehr oder weniger hilflos ausgeliefert“, befindet Conze – obwohl er diesen anfangs abschätzig den „böhmischen Gefreiten“ nannte. Nach dem Zwischenreich mit Kurt von Schleicher als Reichskanzler beruft Hindenburg am 30. Januar Hitler zum Reichskanzler. Am 28. Februar ebnet er mit der Unterzeichnung der „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“ den Weg in die nationalsozialistische Diktatur. Am 21. März 1933, dem sogenannten „Tag von Potsdam“, wurde der neu gewählte Reichstag in der Potsdamer Garnisonkirche, der Grablege Friedrichs des Großen, eröffnet: Durch eine Verneigung Hitlers vor dem greisen Reichspräsidenten wurde eine symbolträchtige Kontinuität zwischen der Kaiserzeit und dem Dritten Reich hergestellt und Hindenburgs hohes Ansehen für das neue Regime instrumentalisiert und vereinnahmt. Hindenburg reagierte zu Tränen gerührt auf die Huldigung Hitlers.

„In den letzten Lebensmonaten ist Hindenburg teils infolge Nachlassens seiner Kraft, teils infolge der von Hitler bewerkstelligten Isolierung schon mehr und mehr ausgeschaltet gewesen“, so Conze. Er verfasste noch ein „politisches Testament“, in dem er Hitler persönlich die Wiedereinführung der Monarchie empfahl. Mit seinem Tode sollte das Amt des Reichspräsidenten erlöschen, das auf Grund eines schon vorher verabschiedeten Gesetzes mit dem des Reichskanzlers vereinigt wurde – die Reichswehr leistet nun ihren Eid auf Hitlers Person. Hindenburgs längst erhoffter Tod am 2. August in Neudeck südlich von Danzig gab Hitler den Weg noch unbehinderter als zuvor frei. Er wird auf Hitlers Betreiben im Denkmal von Tannenberg beigesetzt. Anfang 1945 wurden nach einer Irrfahrt über Königsberg und Stettin seine Gebeine nebst vielen anderen historischen Relikten im thüringischen Bernterode eingelagert, dort von der US-Army entdeckt und nach Marburg gebracht. Dort fanden Hindenburg und seine Frau in der Nordturmkapelle der Elisabethkirche ihre letzte Ruhestätte.

Beisetzung im Tannenberg-Denkmal- Quelle: Von Bundesarchiv, Bild 183-2006-0429-502 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5348669

Seiner Überzeugung nach stören Parteien den „Zusammenhalt der Nation“. Nach dem „Eisernen Kanzler“ Bismarck galt er als „Eiserner Feldherr“, ja „Ersatzkaiser“. Seine Bedeutung sei jedoch nach dem 1. Weltkrieg von einem großen Teil der Nation überschätzt worden, bilanziert Conze. 1925 – 33 sei er überfordert gewesen, „als er aus dem militärischen Bereich herauszutreten und eine politische Führungsrolle zu spielen genötigt war. Sein Ausharren im Dienst, inmitten einer weithin fremden, ja zum Teil von ihm missachteten Umwelt, hat zum Scheitern der demokratischen Republik beigetragen“. So war „der im Kriege gefeierte Feldherr als Greis in eine für ihn ausweglose Tragik verstrickt gewesen“. Die innere Einigung der Nation, wie sie angeblich bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 existiert hatte, konnte seiner Ansicht nach nur wieder gelingen, wenn die nationalsozialistische Bewegung mit eingebunden und so die völlig zerstrittene politische Rechte zusammengeführt werde. Das gelang – mit verheerenden Konsequenzen.

Er schrieb schon als Erstklässler im Gymnasium einen Roman über die Kreuzzüge – und bestand doch seine Baccalauréats-Prüfungen nicht. Er gilt neben Stendhal, Balzac, Flaubert, Hugo und Maupassant als einer der großen französischen Erzähler des 19. Jahrhunderts – und wurde zugleich als unmoralischster Schriftsteller des 19. Jahrhunderts kritisiert. Und er starb am 29. September 1902 an einer Kohlenmonoxidvergiftung, offenbar durch einen verstopften Kamin, in seinem Pariser Haus – ob Unfall, politisch motivierter Mord oder Selbstmord, ist bis heute unklar: Émile Édouard Charles Antoine Zola.

Der Sohn eines italienischen Ingenieurs und einer französischen Mutter wurde am 2. April 1840 in Paris geboren, blieb Einzelkind und wurde als Siebenjähriger Halbwaise: Seine Mutter, zu der er zeitlebens ein enges Verhältnis hat, heiratete nicht wieder und brachte ihren Sohn alleine durch. Während seiner Schulzeit in Aix-en-Provence freundete er sich mit Paul Cézanne an, der ihm die graphischen Künste nahebrachte. Trotz seiner ärmlichen Kindheit hatte er von Anbeginn eine starke Leidenschaft für Literatur, las viel und setzte sich bald das Ziel, selbst professionell zu schreiben. Doch nach nicht bestandenem Abitur 1859 lebt er drei Jahre arbeitslos in Paris. Die in dieser Zeit gesammelten Erfahrungen vom Leben der Armen sollen ihm später in seiner schriftstellerischen Arbeit nützlich sein.

Zola um 1910. Quelle: Von Nadar – plain photo, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=788555

Zolas erste Liebe 1860 war eine Prostituierte namens Berthe, die er „aus der Gosse holen“ und ihr die Lust auf Arbeit zurückgeben wollte. Sein Idealismus scheiterte an der Realität der Armenviertel von Paris, was er in seinem ersten Roman verarbeiten wird. 1862 nahm ihn Louis Hachette als Angestellten in seiner Buchhandlung auf, kurz darauf wurde Zola als Franzose eingebürgert. Er blieb vier Jahre in der Werbeabteilung von Hachette als eine Art Pressesprecher. Zola lernte nicht nur alle Techniken der Herstellung und Vermarktung von Büchern kennen, sondern knüpfte auch viele Kontakte in die Welt der Literatur. Nach harter Arbeit in seiner Freizeit gelang es ihm, seine ersten Artikel und sein erstes Buch „Erzählungen an Ninon“ (1864) zu veröffentlichen.

„das dumpfe Wirken der Leidenschaften“

Im selben Jahr machte Zola die Bekanntschaft von Éléonore-Alexandrine Meley, zog im Jahr darauf zu ihr, heiratete sie wegen Vorbehalten seiner Mutter aber erst weitere fünf Jahre später. Ab 1863 arbeitete Zola gelegentlich und ab 1866 regelmäßig an den Rubriken zur literarischen und künstlerischen Kritik von verschiedenen Zeitungen mit. Das erlaubte ihm, seine Schriften nicht nur schnell zu veröffentlichen und seine Qualitäten als Schriftsteller einem breiten Publikum zu zeigen, sondern auch seine Einkünfte zu steigern. Bis zuletzt empfahl Zola allen Nachwuchsschriftstellern, die ihn um Rat fragten, zunächst in Zeitungen zu veröffentlichen.

1866 trennte er sich von Hachette und lebte als freier Schriftsteller. Bis 1881 veröffentlichte er neben Literatur-, Theater- und Kunstkritik in der Presse über 100 Erzählungen und Feuilleton-Romane. Er bediente sich dabei eines polemischen Journalismus, indem er seinen Hass, aber auch seinen Geschmack zeigte und seine ästhetischen wie auch politischen Positionen hervorhob. Zola beherrschte das journalistische Handwerk perfekt, sandte für seine frühen Werke sogar vorgefertigte Berichte an Pariser Literaturkritiker persönlich und erhielt von ihnen zahlreiche Rückmeldungen.

DDR-Ausgabe der Rougon-Macquart. Quelle: https://images.booklooker.de/x/01nnVZ/Emile-Zola+Die-Rougon-Macquart-Natur-und-Sozialgeschichte-einer-Familie-unter-dem-Zweiten.jpg

1867 hatte Émile Zola mit seinem dritten Roman „Thérèse Raquin“ bereits Aufsehen erregt. Das Vorwort zur zweiten Auflage 1868, in dem Zola sich gegen seine gutbürgerlichen Kritiker und ihren Vorwurf der Geschmacklosigkeit verteidigt, wurde zum Manifest der jungen naturalistischen Schule: „Ich habe in diesen Tieren Schritt für Schritt das dumpfe Wirken der Leidenschaften, das Drängen des Naturtriebes und die infolge einer Nervenkrisis eingetretenen Verwirrungen des Gehirns zu verfolgen versucht. Ich habe einfach an zwei lebenden Körpern die zergliedernde Arbeit vorgenommen, welche Chirurgen an Leichen vornehmen.“ Damit beeinflusst er die Kunst in Frankreich, Deutschland, Russland und Skandinavien und wird Wegbereiter der modernen Strömungen des 20. Jahrhunderts.

1869 begann er mit der Arbeit an dem monumentalen Zyklus „Die Rougon-Macquart“, die ihn mehr als zwanzig Jahre lang beschäftigen sollte. Ab 1871 veröffentlichte er einen Roman pro Jahr, außerdem journalistische Beiträge und Theaterstücke – er wird sich „kein Tag ohne eine Zeile“ als Motto über seinen Kamin malen lassen. Der Romanzyklus stellt im Sinne eines „Mikrokosmos“ Aspekte der französischen Gesellschaft dar. Gestützt auf darwinistische und deterministische Vererbungs- und Milieulehren, schildert er die Verfallsgeschichte einer Familie. Für Zola bestand die Welt nicht aus Gut und Böse, sondern aus Sein und Handeln. Seine sinnlichen und teilweise obszönen Werke vertraten eine neue Kultur, die Kritiker unmoralisch nannten. Als einer der ersten wandte Zola dokumentarische Verfahren an, besuchte mit dem Notizbuch in der Hand die Absteigen der armen Pariser, frequentierte die Halbwelt und die Hochfinanz.

J’accus. Quelle: Von Émile Zola – Scan of L’Aurore, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=784807

Von Februar 1871 bis August 1872 produzierte er aber auch mehr als 250 kritische Artikel zur Tätigkeit des Parlaments während des deutsch-französischen Krieges. In mutiger bis tollkühner Weise griff Zola dessen führende Köpfe an. Er beschimpfte das Parlament als ein „schüchternes, reaktionäres und […] manipuliertes Haus“. Im März 1871 wurde er zweimal verhaftet, kam aber beide Male am gleichen Tag wieder frei. Den politischen Stoff verarbeitete er später auch in seinen Romanen. Nachdem Zola jahrelang mit erheblichen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, besserte sich seine Lage nach dem großen Erfolg von „Der Totschläger“ (1877), so dass er ein Landhaus in Médan erwerben konnte, das zu einem geistigen Zentrum wurde: Mit jungen Autoren wie Maupassant, Huysmans und anderen bildete er die Gruppe der sechs, die auch in einem Novellenzyklus vorkommt.

„Gesundung der Menschheit“

1880 erscheint „Nana“, die Geschichte einer Prostituierten. Seine Werke werden kontrovers diskutiert und teilweise als Pornografie diffamiert. Er hält die Auseinandersetzungen um seine Person für die beste Werbung für sein literarisches Werk. Sein theoretisches Konzept legt er in dem Essay „Der Experimentalroman“ nieder. Literatur solle in die von der Wissenschaft noch unerforschten Gebiete der Menschenwelt eindringen, um durch das Aufdecken ihrer Krankheitssymptome zur Erhaltung und Gesundung der Menschheit beizutragen. Er fordert, dass Kunst wirklichkeitsgetreu sein müsse. Im selben Jahr fällt er nach dem Tod seiner Mutter in Depressionen.

1885 erreicht „Germinal“, in dem Zola das Bergarbeitermilieu beschreibt, Rekordauflagen; er wird zu einem der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit. Im Jahr darauf endet die Freundschaft mit Cézanne in einem Zerwürfnis, weil der sich im Roman „Das Werk“ in der Figur des scheiternden Künstlers Lantier wiedererkannte. 1888 beginnt er eine Liebesbeziehung mit der 20jährigen Wäscherin Jeanne Rozerot, mit der er zwei Kinder hat – seine Ehe blieb kinderlos. Zu Zolas Lebzeiten am erfolgreichsten war „Das Debakel“ (1892), dessen Handlung vor dem Hintergrund des Krieges von 1870/71 und der blutig unterdrückten Pariser Commune spielt. Zwischen 1894 und 1898 veröffentlichte er den dreibändigen Zyklus „Die Drei Städte“.

Grabkammer von Dumas, Zola und Hugo im Pantheon. Quelle: Von selbst erstellt – Eigenes Werk (Originaltext: selbst erstellt), Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=22496490

Auf dem Höhepunkt seines Ruhms ergriff Zola 1898 für den jüdischen Hauptmann Dreyfus Partei, der drei Jahre zuvor der Spionage für das Deutsche Reich bezichtigt worden war und unschuldig in Haft saß. Der offene Brief an den Präsidenten erschien am 13. Januar auf der Titelseite der Tageszeitung L’Aurore: „J’accuse“ (Ich klage an) lautete die Überschrift: „Ich klage den Oberstleutnant du Paty de Clam an, der teuflische Urheber eines Justizverbrechens zu sein und seit drei Jahren sein unheilvolles Werk mit den geschmacklosesten und verwerflichsten Machenschaften zu verteidigen. (…) Ich klage das Kriegsministerium an, in der Presse einen abscheulichen Feldzug geführt zu haben, um die öffentliche Meinung irrezuleiten.“

Ein politischer Skandal war die Folge, der das Land spaltete, aber zugleich den Anstoß für die Entstehung eines laizistischen Frankreichs gab. Gegen den Schriftsteller erging wegen Beleidigung der Armee ein Haftbefehl über ein Jahr. Zola flüchtete nach London, wo er bis zur Amnestie 1899 blieb und den Zyklus „Die vier Evangelisten“ begann. Nach seiner Rückkehr publizierte er die drei Bände „Fruchtbarkeit“, „Arbeit“ und „Wahrheit“ – der vierte „Gerechtigkeit“ blieb aufgrund seines unerwarteten Todes unvollendet. Eine Untersuchungskommission machte Experimente mit dem Ofen und kam zu dem Schluss, dass es sich um einen Unfall handelte.

„von der Willkür der Phantasie befreien“

„Seit dem Tode Goethes hat vielleicht keines Dichters Tod die Gebildeten erregt wie dieser“, befand Richard M. Meyer in seinem Nachruf in Die Woche. Meyer sieht Zolas Alleinstellungsmerkmal darin, dass es ihm gelang, eine „neue Aera der Litteratur [zu] schaffen, indem er sie von der Willkür der Phantasie befreien und völlig unter das Gesetz der wissenschaftlichen Technik stellen wollte“. Immer wieder betont der Literaturhistoriker Zolas Nähe zur Wissenschaft, vor allem zu Soziologie und Psychologie. Mit diesem Denken sei Zola tief in seiner (nun vergangenen) wissenschaftsgläubigen Zeit zuhause gewesen: „‚Psychologisch‘ war das Lieblingswort dieser Epoche“.

Verfilmung mit S. Signoret. Quelle: https://assets.cdn.moviepilot.de/files/5d1606246c5a246880ed8e4933d4e859a3fa42ab187bc5c54dfb34689090/limit/505/701/zzzzzzz.jpg

Am 4. Juni 1908 wurden die Überreste Zolas auf Anordnung der inzwischen linken französischen Regierung in das Panthéon überführt, wo er in einer Kammer mir Alexandre Dumas und Victor Hugo bestattet wurde. Bereits im frühen 20. Jahrhundert wurden viele von Zolas Romanen verfilmt, unter der Regie von William Dieterle entstand 1937 unter dem Titel „Das Leben des Emile Zola“ eine Filmbiografie mit Paul Muni in der Titelrolle. Er gilt bis heute als zugänglicher und lesbarer „Intellektueller“, der „eine ungeheure Kraft, Menschen zu zeichnen, die von einem dämonischen Verlangen ganz erfüllt sind“, entfaltet habe, wie Meyer schrieb. Außerdem lasse er „Landschaften leben. Er fühlt sich hinein, die Landschaft wird ihm wirklich ein ‚seelischer Zustand‘“.

„J’accuse“ stieg zu einem Beweis dafür auf, dass sich durch Sprache politische Wirkung erzielen lässt, wenn auch nicht sofort. Zolas Ausführungen hatten ihren Anteil an Alfred Dreyfus‘ Rückkehr nach Frankreich und daran, dass der spätere Präsident Émile Loubet den Militär unter der Bedingung begnadigte, auf Berufung zu verzichten. 1906 wurde Dreyfus völlig rehabilitiert, bekam ein Kommando im Ersten Weltkrieg und starb 1935. Der Text ist und bleibt ein Beispiel für einen pointierten Stil, der auch dann nichts beschönigt, wenn dem Autor Konsequenzen drohen; das Gegenteil jenes Gratismuts, der er heute viel zu oft in der Publizistik zu beobachten ist.

Drei unsterbliche Figuren hat er in die Weltliteratur eingeführt: „Don Quijote“, den verarmten Land-edelmann aus der Mancha, der „wider jeglichen Verstands“ auf seiner alten Stute Rosinante gegen die Ungerechtigkeit zu Felde zieht und einer goldenen Vergangenheit nachtrauert; seinen erdverbundenen Schildknappen Sancho Pansa, ohne dessen Realitätssinn er keines seiner Abenteuer überstanden hätte; und das etwas einfältige Bauernmädchen Dulcinea, das er als seine „Minneherrin“ vergöttert. Mit diesen Gestalten hat der spanische Schriftsteller eines der berühmtesten und meist übersetzten Bücher geschaffen, ja für viele den modernen westlichen Roman begründet: Miguel de Cervantes, der am 29. September vor 475 Jahren als drittes von sieben Kindern verarmter Adliger in Alcalá de Henares geboren wurde.

Der Sohn eines Wanderchirurgen studierte Theologie an den Universitäten von Salamanca und Madrid, wo er die Schriften des Aristoteles und des Erasmus von Rotterdam kennenlernte. Erste Gedichte erscheinen 1568 in einer Sammlung zum Andenken an die spanische Königin Elisabeth von Valois. Im Jahr darauf begleitet er vermutlich als Kammerdiener den späteren Kardinal Claudio Aquaviva nach Rom, wo er sich bald gründliche Kenntnisse der italienischen Sprache und Literatur aneignet. Die italienischen Erfahrungen hinterließen vor allem in seinem Novellenwerk deutliche inhaltliche und stilistische Spuren. Noch im gleichen Jahr trat er als unvermögender Hidalgo, dem kaum andere Karrierewege offenstanden, in eine in Neapel stationierte Einheit der spanischen Marine ein.

Porträt um 1600. Quelle: Von Juan de Jáuregui zugeschrieben – 1. Ursprung unbekannt2. cervantesvirtual.com3. The Bridgeman Art Library, Objekt 119216, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=676819

1571 kämpfte er in der Schlacht von Lepanto gegen die Türken und erhielt drei Schusswunden, darunter eine in den linken Unterarm. Dadurch blieb seine linke Hand dauerhaft gelähmt. Später schrieb er, er habe „die Fähigkeit, seine linke Hand zu bewegen, zum Ruhme seiner rechten verloren“. Nach weiteren Jahren in der spanischen Marine wurde Cervantes, als er sich im September 1575 an Bord einer Galeere auf der Heimreise befand, nach einem Angriff algerischer Korsaren als Sklave nach Algier verschleppt. Erst nach fünf Jahren und vier erfolglosen und halsbrecherischen Fluchtversuchen wurde er von Familie und Freunden freigekauft.

Als Steuereinnehmer inhaftiert

Nach seiner Rückkehr scheitern langfristig alle Versuche, seine Existenz wirtschaftlich abzusichern. Auch seine Arbeit als Schriftsteller ist finanziell zunächst wenig lukrativ, so dass er zwischen 1580 und 1582 als Soldat an den Kriegszügen Spaniens nach Portugal und auf die Azoren teilnimmt. 1584 heiratete er die 18 Jahre jüngere Catalina, Tochter eines wohlhabenden Bauern, von der er sich nach wenigen Jahren wieder trennt. Diese Verbindung blieb kinderlos, doch hatte er aus einer Affäre mit der Schauspielerin Ana Franca de Rojas eine Tochter, Isabel de Saavedra. In dem nach 1582 ohne größere Beachtung aufgeführten und erst 1615 veröffentlichten Theaterstück „Los tratos de Argel“ verarbeitete er seine Erfahrungen aus der Gefangenschaft.

Von seinem frühen dramatischen Schaffen, einer Reihe von über 20 „Comedias“, bleibt kaum etwas erhalten. Der Schäferroman „Die Galatea“ trägt ihm 1585 zwar einen gewissen literarischen Ruf ein, doch bleibt der Verkaufserlös gering. Cervantes verdient sich seinen Lebensunterhalt als Proviantkommissar der spanischen Flotte in Andalusien und schließlich als Steuereinnehmer in Granada und Malaga. Er erweist sich als wenig erfolgreich; seine Methoden resultieren in Defiziten. Da die Bauern nur leere Scheunen vorweisen konnten und er sich auch am Kircheneigentum vergriff, wurde er von einem Inquisitionsgericht exkommuniziert, und er kommt mehrmals für kurze Zeit ins Gefängnis.

Titelblatt des Quixote. Quelle: Von Miguel de Cervantes – Miguel de Cervantes Saavedra. El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha. Madrid: Juan de la Cuesta; 1605., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=89167492

Hier beginnt er den ersten Teil des „Don Quijote“, dessen Held in tragisch-komischer Weise versucht, in einer veränderten Welt nach den Regeln des Rittertums zu leben, und den er auch selbst illustriert. Der Roman hat über die Jahrhunderte vielfältige Interpretationen erfahren: So wurde das Werk nicht nur als Parodie auf die Ritterromane der damaligen Zeit gesehen, sondern auch als Darstellung eines heroischen Idealismus, als Traktat über die Ausgrenzung des Autors selbst, als Geschichte eines Scheiterns oder als Kritik am spanischen Gesellschaftssystem. Es besteht in der Literaturwissenschaft bis heute kein Konsens über die eigentliche Aussage des Romans.

Die Dualität zwischen dem kleinen Dicken und dem großen Dünnen ist in der modernen Literatur seitdem immer wieder zu finden. Don Quijotes Kampf gegen die Windmühlen ist die bekannteste Episode des Romans. Sie spielt im Original nur eine untergeordnete Rolle, ist aber in den meisten modernen Bearbeitungen des Stoffes zentral. Einer häufigen Interpretation zufolge war das 17. Jahrhundert von diesem ausweglosen Kampf des Don Quijote gegen die gnadenlose Maschine fasziniert, weil der rasante technische Fortschritt damals den Machtverlust der Aristokratie vorantrieb. Die lächerliche Auflehnung des Junkers gegen Windmühlen war dafür das ideale Symbol. Der Roman brachte seinem Verfasser zwar den ersehnten Erfolg, doch verlor Cervantes das dadurch gewonnene Geld wieder.

„Roman der Desillusion“

Im Juli 1613 trat er der säkularen franziskanischen Bruderschaft bei und veröffentlichte die „Exemplarischen Novellen“, die als erste Novellen spanischer Sprache gelten, sehr erfolgreich wurden und bis heute aufgelegt werden. Darin greift er bevorzugt Themen des spanischen Alltagslebens auf, mit teils didaktischer, teils unterhaltsamer Tendenz. Die außergewöhnlichste der Novellen ist „Das Gespräch der Hunde“. Der zweite Teil des Quijote kam 1615 auf den Markt. In seinem Todesjahr vollendete er noch den Roman „Los Trabajos de Persiles y Sigismunda“, bevor er verarmt am 22. April 1616 in Madrid starb. Sein Grab auf dem Gelände des Klosters der Unbeschuhten Trinitarierinnen im Literatenviertel der Stadt wurde trotz aufwändiger Suche bis heute nicht eindeutig identifiziert.

Verfilmung von 1965. Quelle: https://a2.tvspielfilm.de/imedia/5769/1985769,dtXuD_9KFH4BVKhaapzB590vWQk0vsUnZafdOdclLXj+rb7uv2tsKyQsxSaYJctRZ5rJIEytDbP_o8xedKHyuA==.jpg

Cervantes gilt bis heute als spanischer Nationaldichter, als Luther und Goethe in einer Person. Der wichtigste Literaturpreis der spanischsprachigen Welt ist nach ihm benannt. Auch mehrere Theater tragen seinen Namen. Die 10-, 20- und 50-Cent-Münzen der spanischen Euromünzen tragen eine Cervantes-Abbildung. 1877 wurde ihm in Valladolid ein Denkmal gesetzt. Die internationale Cervantes-Literatur ist kaum mehr überschaubar. Vincent Sherman inszenierte 1967 mit „Cervantes – Der Abenteurer des Königs“ eine Filmbiografie nach dem Roman von Bruno Frank mit Horst Buchholz in der Titelrolle.

Der Quijote ist vielfach adaptiert, dramatisiert, vertont und verfilmt worden. Wieland, Schlegel und Kafka bezogen sich auf ihn; Bulgakow brachte ihn auf die Bühne; Telemann, Salieri und Ravel widmeten ihm Suiten, Opern und Lieder; und nach der ersten Verfilmung mit Pat und Patachon 1926 wurde er von Fjodor Schaljapin, Rex Harrison und selbst Christoph Maria Herbst sowie in einer Musicalfassung von Peter O’Toole verkörpert. Für Carlos Fuentes hat der Roman erstmals „ermöglicht, uns selbst zu verlassen und die Welt zu erschließen, und zwar mit Sinn für Ironie und Humor. Es ist ein Roman der Desillusion, der ambivalenten Wirklichkeit, ein Roman der Reise, der Dynamik, der Bewegung vom Verstand zum Wahnsinn.“

Seine konfuse deutsche Rezeptionsgeschichte hängt damit zusammen, dass er erst in der Mitte der dreißiger Jahre erstmals ins Deutsche übersetzt wurde. Aber die drei Romane  „Licht im August“, „Wendemarke“ und „Absalom, Absalom“ stehen in seinem Gesamtwerk nicht an erster bis dritter, sondern an zwölfter, sechzehnter und siebzehnter Stelle. Dazu sind die Übersetzungen, über mehrere Verlage verteilt, so Günter Blöcker 1956 in der Süddeutschen Zeitung, „in so krausem Durcheinander erschienen, dass weder die innere und äußere Kontinuität des Werkes noch seine kompakte Einheitlichkeit hinreichend deutlich werden.“ Westdeutsche Leser dürften die oft ohnehin komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse und Familiengeschehnisse kaum noch durchschauen.

Die meisten seiner Romane und Kurzgeschichten spielen in dem fiktiven Yoknapatawpha County, das von seinem realen Wohnsitz, dem Lafayette County, inspiriert wurde. Der Quartalstrinker, der sich auch nach Genuss beträchtlicher Whiskymengen stets peinlich korrekt verhalten hatte, beschrieb Neger, Seeleute, Bettler und Huren, Schwachsinnige und Schwarzhändler, Polizisten und Priester, er übte sich in der Niederschrift innerer Monologe und bekundete seine Vorliebe für Skurrilität, bissigen Humor und dramatisch gesteigerten individualistischen Realismus. Er schraubte übrigens den Türknauf seines Arbeitszimmers ab, um konzentriert und ohne Ablenkung zu schreiben: William Cuthbert Faulkner, der am 25. September 1897 als erster von vier Söhnen eines verarmten Kleinindustriellen in Oxford (Mississippi) geboren wurde.

Schon als Kind las er Shakespeare, Conrad und Balzac, verließ aber mit 17 Jahren die Schule ohne Abschluss und erhielt eine Anstellung in der Bank seines Großvaters. Dabei begann er zu zeichnen und zu schreiben. Bei Kriegseintritt der USA meldete er sich freiwillig zur Luftwaffe, wurde aber abgelehnt, da er nur 1,67 Meter groß war. Ab 1918 belegte er einige Kurse an der University of Mississippi in Oxford und veröffentlichte in der Universitätszeitung Zeichnungen, Gedichte und Prosa. Im Herbst 1921 arbeitete er mehrere Monate bei einem Buchhändler in New York, danach bis 1924 als Leiter der Poststelle der University of Mississippi.

Faulkner. Quelle: https://media2.nekropole.info/2012/09/William-Faulkner-9292252-1-402.jpg

Im selben Jahr erschien sein erstes Buch, der Gedichtband „Der Marmorfaun“. 1925 lernte er in New Orleans den Schriftsteller Sherwood Anderson kennen und fand Gefallen an dessen Lebensgewohnheiten: Morgens Arbeit, abends Zeit für die eine oder andere Flasche Whisky – wenn so der Arbeitstag für Schriftsteller aussah, meinte Faulkner, war Schriftstellerei für ihn der passende Beruf. Seinen ersten Roman „Soldatenlohn“ schloss er im Mai 1925 ab. Wochen später reiste er mit einem Freund erst nach Italien, dann über die Schweiz nach Frankreich, wo er sich lange in Paris aufhielt. Ab 1928 schrieb Faulkner innerhalb von acht Jahren seine vier bekanntesten Romane, darunter „Schall und Wahn“, der, fünfmal umgeschrieben, in der BRD erst 1956 erschien, sowie zahlreiche Kurzgeschichten.

„die Kontrolle zu verlieren“

1929 heiratete er seine Frau Estelle, die er schon lange verehrt hatte und die zuvor mit einem anderen Mann verheiratet war. Weil das Eheleben durch ökonomische Probleme geprägt war, mussten sie in einem Mietshaus leben und Faulkner als Aufseher im Heizwerk der Universität arbeiten. Wachsende Einkünfte ermöglichten dem Paar, das Parkhaus Rowan Oak in Oxford mit weißer Säulenfassade und 700 Morgen Land zu kaufen, das Faulkner bis zu seinem Tod bewirtschaftete: „Ich bin kein Literat, ich bin Farmer“, wird er später sagen. Der recht freizügige, im Pulp-Fiction-Stil verfasste Roman „Die Freistatt“ (1931), der die weibliche Sexualität und den moralischen Verfall behandelt, wurde zum bisher größten Erfolg und machte Faulkner auch im Vereinigten Königreich und in Frankreich bekannt. Im selben Jahr starb, gerade neun Tage alt, die erste Tochter Alabama.

1932 schloss er einen Vertrag mit Metro-Goldwyn-Mayer und schrieb fortan Drehbücher für die Filmindustrie in Hollywood. Darunter waren die Verfilmungen von Raymond Chandlers „Tote schlafen fest“ und Ernest Hemingways „Haben und Nichthaben“, beide unter der Regie von Howard Hawks,  mit dessen Scriptgirl Faulkner eine zehn Jahre währende Affäre hatte. Die zierliche blonde Meta entflammte den schüchternen, „sexuell ausgehungerten“ Faulkner so, dass er „fürchtete, die Kontrolle zu verlieren“, schrieb sie in ihren Erinnerungen. Ihr Liebeslager schmückte er gern mit Gardenien- und Jasminblüten, und unters Kopfkissen legte er eigene erotische Verse und Zeichnungen über ihre „wilden Liebesakte“. Sie werden heute im „Giftschrank“ in der Faulkner-Sammlung der New York Public Library aufbewahrt.

Wohnhaus in Oxford. Quelle: Von Gary Bridgman – Eigenes Werk, CC BY 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1810643

1933 wurde seine Tochter Jill geboren. In den nächsten Jahren schrieb er diskontinuierlich weitere Romane und Erzählungen; so begann er die Snopes-Trilogie, die er erst kurz vor seinem Tod beendete. Er schrieb in langen, labyrinthischen Sätzen, kreierte Handlungsspiralen, in denen Gegenwärtiges und Vergangenes durcheinanderkreisten, verband Redensarten und Slangschlenker und war doch Traditionalist, konservativ. Dass die Mehrheit recht habe – Glaubenssatz der Demokratie -, konnte ihm niemals einleuchten; er jedenfalls möchte auf keinem Schiff reisen, sagte er, über dessen Navigation die Matrosen und der Schiffskoch abstimmten. Neuerungen gegenüber war er skeptisch eingestellt, er schaffte sich lange kein Radio an und zögerte auch den Kauf eines Autos hinaus. Und er erklärte, wenn es wegen der Farbigenfrage zu einem Bürgerkrieg käme, würde er auf Seiten des Südens kämpfen.

Faulkner bewarb sich bei der US-Armee, um im Zweiten Weltkrieg mitzukämpfen, wurde aber wieder abgelehnt. 1948 erschien der Roman „Griff in den Staub“, der kurz nach Erscheinen in Faulkners Heimatort Oxford verfilmt wurde, was sehr zu seiner Popularität in Oxford beitrug. 1949 begann er eine Affäre mit der wesentlich jüngeren Schriftstellerin Joan Williams, der er auch als Ratgeber diente und der zahlreiche Reflexionen Faulkners zu seinem Werk zu verdanken sind. 1950 wurde ihm der Nobelpreis für seinen „machtvollen und unabhängigen künstlerischen Beitrag zur neuen Erzählliteratur Amerikas“ verliehen. Die Nachricht erreichte ihn beim Düngen auf der Farm.

Erst seine Tochter konnte ihn überreden, nach Stockholm zu fahren. Der Preis gelte nicht ihm als Person, sondern seinem Werk, sagte er und spendete einen Teil seines Preisgeldes einer Stiftung zur Unterstützung von Nachwuchsautoren, die bis heute den PEN/Faulkner Award for Fiction vergibt: „Wenn ich nicht gelebt hätte, würde mich jemand anders geschrieben haben: Hemingway, Dostojewski, wir alle. Der Künstler ist nicht von Wichtigkeit.“ Der Spiegel befand: „Der Süden mit seinen provinziellen Städten und der von Sonne bedrückten Unendlichkeit der Baumwollfelder, ein Land, erobert und geprägt von den Weißen, getränkt vom Schweiß der Neger, wird in Faulkners Romanen zu einer fast mythischen Landschaft, über der wie Gewitterschwüle ein schwerer Fluch zu lasten scheint“.

Ein  „homerischer Provinzler“

In den Jahren nach der Nobelpreisverleihung wurden seine Werke deutlich moralischer – und wahrnehmungsstärker; er erhielt mehrfach den Pulitzerpreis und den National Book Award. Das als Drama verfasste „Requiem für eine Nonne“ ist die Fortsetzung von „Freistatt“ und hat die Sittlichkeit des Menschen zum Thema. 1957 und 1958 war Faulkner „Writer in Residence“ an der University of Virginia in Charlottesville, wo auch seine Tochter lebte und wo die Studenten dem gemeinhin wenig interviewfreudigen Romancier über 2.000 Fragen stellten, die samt Antworten auf 37 Tonbändern konserviert wurden. Ihm seien alle seine Bücher „vollständig misslungen“, und dies sei für ihn „der einzige Grund, Neues zu schreiben, denn das Schreiben selber ist wahrhaftig kein Vergnügen“, heißt es da. Oder „Ich glaube nicht, dass ein College dazu verhilft, Schriftsteller zu werden; ebenso wenig hindert es daran, Schriftsteller zu werden.“

Faulkners Schreibmaschine. Quelle: Von Gary Bridgman – own work, http://www.southsideartgallery.com, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1810998

Seinen letzten Roman „Die Spitzbuben“ schrieb er 1961 innerhalb weniger Wochen. Nach einem Pferdesturz kam der begeisterte Reiter, Jäger und Flieger am 5. Juli in eine Klinik und starb dort am Folgetag an einem Herzinfarkt, der auf eine Thrombose als Folge des Reitunfalls zurückgeführt wurde. In Deutschland, wo er in Ost und West verlegt wurde, beeinflusste er wesentlich das Schaffen von Heinrich Böll, Alfred Andersch, Uwe Johnson und Peter Handke. Sein vielschichtiges Gesamtwerk gebe „den geistig-kulturellen Untergang des Südens sowie den wachsenden Einfluss skrupelloser Aufsteiger nach dem Bürgerkrieg“ sowie „die Dekadenz ehemals angesehener Südstaatenfamilien und die Gegensätze zwischen weißen und schwarzen Einwohnern“ wieder, weiß der Brockhaus. Romancier Arno Schmidt, in Vulgärsprache wohlgeübt, hat als sechzehnter seine 15 Übersetzer-Vorgänger allesamt an Fertigkeit übertroffen.

„Der Schriftsteller ist nur seiner Kunst gegenüber verantwortlich. Er wird völlig gewissenlos sein, wenn er ein guter Schriftsteller ist. Er hat einen Traum. Der ängstigt ihn so sehr, dass er ihn loswerden muss. Er hat keinen Frieden bis zu diesem Augenblick. Er wirft alles über Bord: Ehre, Stolz, Anstand, Sicherheit, Glück – alles, um das Buch fertig zu bekommen“, behauptete Faulkner. „Wenn ich die Wahl habe zwischen dem Nichts und dem Schmerz, dann wähle ich den Schmerz“, ist eine seiner vielen Lebensweisheiten. In deutschen Kritiken ist von „stenographischer Poesie“ eines „homerischen Provinzlers“ zu lesen, ja eines cholerischen, „menschenfeindlichen und hoffnungslos bornierten literarischen Hinterwäldlers“. Er sei so widersprüchlich wie seine Figuren, meinte Tom Noga im DLF. Das kann man so stehen lassen.

Weil ein Winnetou-Kinderfilmbuch „rassistische Stereotype“ reproduziere und Völkermord „romantisiere“, nahm es der Ravensburger Verlag vom Markt. Das ist der Endsieg des Zeitgeists über die Kultur.

Meine neue Tumult-Kolumne, die gern verbreitet werden kann.

Er stand für Lebensfreude, ewige Jugend, basslastige Hits mit Streicherarrangements – und für ein Genre. Er trug glitzernde Anzüge, Damenschuhe, Federboas und Zylinder und klebte sich Anfang 1971 für einen Auftritt in der populären Fernsehsendung Top of the Pops glitzernde Sternchen ins Gesicht: Der Glam Rock war geboren, dem sich Stars wie Gary Glitter, Slade, Sweet, Mud oder auch David Bowie verschrieben. Dieter Bohlen nannte seinen ersten Sohn in Erinnerung an ihn „Marc“: Marc Bolan. Der Sänger, Komponist, Autor und Journalist kam am 30. September 1947 als Mark Feld in London zur Welt.

Als Sohn jüdischer Eltern wuchs er in einfachen Verhältnissen auf und entwickelte durch die Plattensammlung seiner Eltern seine erste Beziehung zur Musik. Als er acht Jahre alt war, kaufte ihm sein Vater eine Platte von Bill Haley, die nach seinen Worten den Ausschlag für seine spätere Karriere geben sollte. Er brachte sich auf selbstgemachten Instrumenten das Gitarrespielen bei und gründete 1956, nachdem er seine erste Gitarre geschenkt bekommen hatte, in der Schule eine Skiffle-Band namens Susie and the Hula Hoops. 1962 wurde er wegen schlechten Benehmens relegiert und schlug sich mit Gelegenheitsjobs als Barkeeper und Garderobier in der Mod-Szene, aber auch als Schauspieler durch.

Sein gutes Aussehen brachte ihm kurzzeitig einen Job bei einer Modelagentur ein, doch 1964 entschied er sich für eine Karriere in der Musik, jobbte als Straßenmusiker mit Songs von Bob Dylan und erhielt 1965 seinen ersten Plattenvertrag bei Decca, die seinen Namen ohne seine Zustimmung in Marc Bowland änderte. Er bestand darauf, den Namen Bolan zu schreiben. 1967 tourte er mit „John’s Children“ als Vorband für „The Who“ durch Deutschland und gründete mit Steve Peregrin Took die akustische Formation „Tyrannosaurus Rex“. Bolan schrieb, ganz dem Geschmack der Hippie-Kultur entsprechend, Songs über Feen, Elfen und Zauberer, die er mit psychedelischen Sounds versah. Die Band stach durch den ungewöhnlich hohen Gesang Marc Bolans und die stimmlichen Improvisationen der beiden Musiker hervor, die sie akustisch, mit Gitarre und Percussion, auf einem Teppich sitzend, vortrugen.

Quelle: https://www.sundaypost.com/wp-content/uploads/sites/13/2017/09/59b7e6588cda0-e1505388180536.jpg

So lernte sie der aufstrebende US-amerikanische Produzent Tony Visconti kennen, der maßgeblich an der Entwicklung des streicherspezifischen Gruppensounds beteiligt war und 1970 den Namen zu „T. Rex“ verkürzte: „Was ich in ihm sah, war pures Talent. Ich habe Genie gesehen. Ich habe in Marc einen potenziellen Rockstar gesehen – von der ersten Minute an, als ich ihn kennengelernt habe.“ Bolan schrieb auch Gedichte und Geschichten, veröffentlichte 1969 „The Warlock of Love“, das in die britischen Bestseller-Charts kam, und heiratete 1970 June Child. In neuer und erweiterter Besetzung entstand im Hochzeitsjahr mit „Ride a white swan“ der erste Hit: Die Geburtsstunde der „T.Rextasy“.

Seiner Zeit voraus

Ab 1971 hatte die Band vier Nr.1-Hits in Folge. Der fünfte im September vor 50 Jahren schaffte es „nur“ auf Platz 2, gehört aber zu den unsterblichen Hymnen der Musikgeschichte: „Children of a Revolution“. Elton John und Ringo Starr traten bei der Aufnahmesession als Gastmusiker auf: „Jeder wollte ein Stück Bolan, und er war das Gesicht einer ganz neuen Generation, die ihre Stimme laut und deutlich hörbar machte“, schrieb Joe Taysom im faroutmagazine. Eigentlich nur als Zugabe für den Soundtrack zu Starrs Bolan-Film „Born to Boogie“ gedacht, wurde der Song in zahlreichen Werbespots eingesetzt und vielfach gecovert, so von Bono, Elton John oder den Scorpions. Später wurde eine 12-Minuten-Version für das dritte T. Rex-Album produziert. Der Refrain „You Won’t Fool the Children of the Revolution” wurde zum geflügelten Wort und gab auch Kunstprojekten ihren Namen. „T. Rex“ wurden bisweilen schon als Nachfolger der „Beatles“ angesehen.

Doch der Erfolg verkehrte sich von nun an in eine tragische, von Drogenexzessen, Alkohol, Dekadenz und Selbstzweifeln durchwobene Geschichte eines fallenden Rockstars. Das bis zur Peinlichkeit übertriebene Bühnengehabe Bolans, durch das er seine Bandkollegen zu Hintergrundstatisten degradierte, führte zunehmend zu schlechten Kritiken, und die Fans verloren das Interesse. Als er sich auch bei der Produktion für das nächste Album in den Vordergrund drängen und auf Tony Viscontis Vorschläge nicht länger eingehen wollte, verließ dieser schließlich das Team. Bolan trennte sich dann auch von seiner Frau, löste die Band vorübergehend auf und ging aus steuerrechtlichen Gründen nach New York, wo er mit seiner Freundin Gloria Jones zusammenlebte.

T.Rex. Quelle: https://i.ytimg.com/vi/wZkTh_T75QY/maxresdefault.jpg

Als sie schwanger wurde – Sohn Rolan kam 1975 zur Welt –, versuchte Bolan, T. Rex wieder aufleben zu lassen. Die Platten stiegen nicht mehr so hoch in die Charts ein wie früher, aber er schaffte es noch immer, Hallen auszuverkaufen. Er wurde auch journalistisch tätig, bekam eine eigene Kolumne beim Record Mirror und eine eigene Fernsehshow „Marc“ bei Granada. Hier erwies sich Marc Bolan als seiner Zeit voraus und engagierte Bands wie die „Boomtown Rats“ oder „The Jam“. Damit gab er der gerade entstehenden Punk-Bewegung eine Bühne; auf seiner letzten großen Tour engagierte er „The Damned“ als Vorband. Spätere Größen wie Bob Geldof oder Billy Idol hatten in der „Marc“-Show ihre ersten Fernsehauftritte überhaupt. In seiner letzten Show war David Bowie zu Gast.

Am 16. September 1977 verlor Gloria Jones in London die Kontrolle über Bolans Mini, mit dem sie ihren Freund nach einem Restaurantbesuch heimfahren wollte, prallte gegen einen Betonpfahl am Straßenrand und dann gegen einen Baum. Marc Bolan war sofort tot, Jones überlebte schwer verletzt. Um die Unfallursache ranken sich bis heute Gerüchte, die von zu niedrigem Reifendruck bis zu einem Reifenschaden und unzureichend angezogenen Radmuttern reichen. Am Unfallort befindet sich heute eine Gedenkstätte. Maria Callas starb übrigens am selben Tag, doch ihr Tod wurde in Großbritannien weniger beachtet.

Gedenkstätte. Quelle: Von Britmax at the English Wikipedia, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4552264

2020 erschien mit „Angel Headed Hipster” ein Tribute-Album, auf dem Bolan Stars wie U2, Joan Jett, die Lennon-Söhne, Nena oder Nick Cave ihre Reverenz erweisen. „Ich bin in diesen Künstler eingetaucht“, erklärte Produzent Hal Willner. „Dabei fand ich heraus, dass über Bolan kaum jemals als ‚Komponist‘ gesprochen wurde. Es ging nur darum, was für ein großartiger Rocker und wie innovativ er war.“ „Die Leute kannten ihn als großartigen Musiker, Songwriter, Gitarristen, aber er war auch ein Dichter“, sagte Ringo Starr, als er Bolan im selben Jahr posthum in die Rock and Roll Hall of Fame aufnahm. „Tatsächlich war ihm seine Poesie genauso wichtig wie seine Musik. Er hatte einen großartigen Stil und war wirklich anders als alle anderen, die ich je getroffen habe.“

Der erste Freidenker

Ohne ihn hätte es Karl Marx nicht gegeben – sein anthropologischer Materialismus steht heute wohl gleichberechtigt neben Marx’ dialektischem und historischem Materialismus. Ohne ihn hätte es auch Richard Wagners musiktheoretische Arbeit „Das Kunstwerk der Zukunft“ (1850) nicht gegeben: Der Komponist war etwa zehn Jahre lang sein glühender Anhänger, widmete ihm die Schrift und wandte sich erst danach Schopenhauer zu. Ohne ihn hätte es auch die Psychoanalyse nicht gegeben: Max Scheler bezeichnete ihn als einen der „großen Triebpsychologen“. Und ohne ihn hätte es auch noch heute geläufige Aphorismen nicht gegeben, so „Der Mensch ist, was er isst“: Ludwig Feuerbach, der am 13. September vor 150 Jahren an den Folgen einer Lungenentzündung starb.

Er wird am 28. Juli 1804 in Landshut als viertes von sieben Kindern in eine namhafte Familie hineingeboren. Sein Vater Paul Johann Anselm von Feuerbach gilt als Begründer des modernen deutschen Strafrechts und lehrt an der Bayerischen Landesuniversität, seine Mutter Eva Wilhelmine stammt vom Weimarer Herzog Ernst August I. ab: Ihr Großvater war ein außerehelicher Sohn des Herzogs. Auch Ludwigs Brüder sollten als Komponist, Mathematiker und Sprachwissenschaftler bekannt werden. Er besucht in München die Elementarschule, in Bamberg die Oberprimärschule und in Ansbach das Gymnasium.

1823 begann Feuerbach in Heidelberg ein protestantisches Theologiestudium und wechselte 1824 gegen den Willen des Vaters nach Berlin, wo er zwei Jahre lang sämtliche Vorlesungen hörte, die Hegel in dieser Zeit hielt, die „Logik“ sogar zweimal. Da er als Stipendiat des bayerischen Königs das Studium an einer Landesuniversität abzuschließen hatte, kehrte er 1826 nach Bayern zurück. Nach einem Jahr privater Studien in Philologie, Literatur und Geschichte belegte er in Erlangen Botanik, Anatomie und Physiologie und schrieb gleichzeitig seine Dissertation „Über die Unendlichkeit, Einheit und Allgemeinheit der Vernunft“. Nach Promotion und Habilitation begann er 1828, als unbesoldeter Privatdozent in Erlangen zu lehren.

Feuerbach. Quelle: Von August Weger – http://www.marxists.org/glossary/, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=478696

Doch eine akademische Karriere verbaute sich Feuerbach durch die anonyme Erstlingsschrift „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“ (1830), in der er die persönliche Unsterblichkeit leugnete.  Wegen ihres religionskritischen Inhalts wurde die Schrift sofort verboten und der Verfasser polizeilich ermittelt. Dreimal bewarb er sich vergeblich um eine außerordentliche Professur. Versuche, durch familiäre Beziehungen eine Stellung in Paris zu finden, scheiterten, ebenso Bemühungen um einen Lehrstuhl in Bern oder eine passende Tätigkeit in Griechenland. Da ihm die akademische Lehrtätigkeit ohnedies nicht zusagte, zog er sich 1836 endgültig von der Universität zurück. Auf der Suche nach Alternativen schrieb er eine Aphorismensammlung, eine „Geschichte der neuern Philosophie“ sowie „Kritik des ‚Anti-Hegels‘. Eine Einleitung in das Studium der Philosophie.“

Aufhebung aller Theologie

Im ländlichen Bruckberg bei Ansbach fand er dann den ihm zuträglichen Ort: Seine Geliebte Bertha Löw, die er 1837 heiratete, war dort Mitinhaberin einer Porzellanmanufaktur, die im ehemals markgräflichen Jagdschloss untergebracht war. Die kleine Fabrik warf zwar nur bescheidene Gewinne ab, bot aber freies Wohnrecht und umfangreiche Naturaliennutzung. 1839 wurde die erste Tochter „Lorchen“ geboren, 1842 die zweite, die jedoch sehr früh starb. „Die wahre Philosophie besteht darin, nicht Bücher, sondern Menschen zu machen“, wird er später schreiben. Das einfache, aber insgesamt sorglose Leben auf dem Land entsprach Feuerbachs persönlichem Geschmack, und die völlige Freiheit von allen akademischen Rücksichten wurde, wie er selbst bekannte, zum „archimedischen Punkt“ in seinem philosophischen Entwicklungsgang. In Bruckberg schrieb er, nun Privatgelehrter und freier Autor, einen zweiten, ausschließlich Leibniz und dessen Monadentheorie gewidmeten Band seiner Geschichte der neueren Philosophie.

Nach mehreren Aufsätzen, etwa „Zur Kritik der Hegelschen Philosophie“ (1839), machte ihn dann sein Hauptwerk „Das Wesen des Christentums“ (1841) schlagartig berühmt. Darin kritisiert er Gott als Projektion der Vollkommenheit des Menschen, die sich in dessen wirklichem Gattungsleben realisieren soll. Durch seine in der Zeit der Restauration in breiten Kreisen als befreiend empfundene Religions- und Idealismuskritik wurde Feuerbach zur intellektuellen Leitfigur der Dissidentenbewegungen des „Vormärz“. Die selbständigen philosophischen Werke „Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie“ (1842) und „Grundsätze der Philosophie der Zukunft“ (1843) schlossen sich an. In seiner Philosophie geht Feuerbach davon aus, dass der Geist der Neuzeit die Aufhebung aller Theologie und metaphysischen Philosophie in Anthropologie.

Sondermarke 2004. Quelle: Von s.u. – Website der Deutschen Post AGURL: https://philatelie.deutschepost.de/philatelie/art/informationen/jahrgaenge/04/ph040702_max.jpg (Descr.), Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5206304

Feuerbach schließt sich den „Freien“ an, einer Gruppe von liberalen und sozialistischen Intellektuellen, und diskutiert mit Friedrich Engels und dem Anarchisten Max Stirner. 1844 beginnt er einen Briefwechsel mit Karl Marx und schreibt weitere religionskritische Werke, darunter „Das Wesen der Religion“. 1845 erhielt er von seinem Verleger Otto Wigand das Angebot, seine Schriften in einer Werkausgabe zu versammeln. Bis 1866 erreichten diese „Sämmtlichen Werke“ zehn Bände. Der erste erschien bereits 1846. Feuerbach überarbeitete alle seine Bücher aus den dreißiger Jahren, um der inzwischen vollzogenen Abkehr von der Hegelschen Philosophie Rechnung zu tragen.

Nach der März-Revolution geht Ludwig Feuerbach nach Frankfurt, wo er die Beratungen des Paulskirchenparlaments verfolgt und im Rathaus Vorlesungen hält. Durch Ruge, Herwegh und Marx ist Feuerbach mit den revolutionären Bestrebungen verbunden, nimmt jedoch keinen unmittelbaren Anteil an der Tagespolitik. Gottfried Keller sympathisiert mit dem Philosophen und setzt ihm in „Der Grüne Heinrich“ (1849) ein literarisches Denkmal. Parallel dazu verschlechtert sich die wirtschaftliche Situation der Bruckberger Porzellanfabrik. Pläne, in die USA auszuwandern, scheitern am fehlenden Geld. Er verfasst eine zweibändige Biographie seines Vaters.

„enttäuschend banaler Schluss eines gewaltigen Dramas“

Nachdem die Reaktion jeden politisch-emanzipatorischen Funken gründlich erstickt hatte, verschwand auch Feuerbachs Philosophie völlig aus dem öffentlichen Interesse; der allgemeine Defätismus verhalf der bislang fast unbekannten Schopenhauer‘schen Philosophie zu einem rasanten Aufstieg. Feuerbach hingegen wurde 1856 in einer Zeitungsmeldung sogar totgesagt. In Frankreich, England und den USA indes begann er bekannt zu werden. 1859 war die Bruckberger Porzellanfabrik dann endgültig bankrott, Feuerbach und seine Frau verloren nicht nur alle investierten Ersparnisse, sondern auch ihr Wohnrecht und die Naturaliennutzung und zogen nach mühsamer Suche in ein Haus in Rechenberg bei Nürnberg. Freunde bezahlten den Umzug und sammelten Spenden.

Feuerbachs Wohnsitz in Rechenberg. Quelle: Von verschiedene – Scan des Originals, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=7020520

Von 1862 an erhielt er eine regelmäßig erneuerte Ehrengabe der eben geschaffenen Schillerstiftung, außerdem zwei Leibrenten zweier vermögender Freunde, darunter vom Nürnberger Industriemagnaten Theodor von Cramer-Klett. 1863 entwirft er Studien zur „Willensfreiheit“ und zur „Ethik“; beide bleiben Fragmente. 1866 erscheint die Abhandlung „Über Spiritualismus und Materialismus, besonders in Beziehung auf die Willensfreiheit“ im zehnten Band seiner „Sämmtlichen Werke“. Der preußisch-österreichische Krieg erschüttert Feuerbach tief. Bismarcks Einigungspolitik lehnte er entschieden ab, weil sie auf Gewalt gestützt war und in seinen Augen keine Freiheit brachte. Hingegen studierte er den ersten Band von Marx’ „Kapital“ kurz nach dessen Erscheinen und begeisterte sich für die in Amerika aufkommende Frauenbewegung.

1867 erlitt er einen leichten Schlaganfall, von dem er sich im österreichischen Salzkammergut erholte. 1869 trat Feuerbach in die kurz zuvor von Wilhelm Liebknecht und August Bebel gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) ein. Am Tag nach der Kriegserklärung des Deutsch-Französischen Kriegs traf ihn ein zweiter, schwerer Schlaganfall, der sein geistiges Vermögen völlig zerstörte und sein Ableben beschleunigte. Nach seinem Tod riefen mehrere Zeitungen, darunter die auflagenstarke Familienzeitschrift Die Gartenlaube, zu einem „Nationaldank“ auf. Die Spenden flossen so reichlich, dass für Frau und Tochter, um deren Zukunft Feuerbach gebangt hatte, ein bescheidenes, aber lebenslanges Auskommen gesichert war. Am Begräbnis auf dem Nürnberger Johannisfriedhof nahmen Tausende teil, Cramer-Klett stiftete das Grabmal.

Seine Wirkung war zwiespältig: Die „kritischen Arbeiten schlugen bei den Zeitgenossen durch, aber seinem positiven Ansatz blieb größere Anerkennung versagt“, konstatiert seine Biographin Ruth-Eva Schulz: „Die Selbstbestätigung des Menschen in seiner Sinnlichkeit als Resultat der gesamten Religions- und Geistesgeschichte: das wirkte wie der enttäuschend banale Schluss eines gewaltigen Dramas.“ Seine „sperrige“ Philosophie „fügte sich weder der Totalität der Dialektik, noch der Logik des Klassenkampfes und wurde alsbald von der Hegel- wie Marxorthodoxie wieder fallengelassen“, schreibt die Münsteraner Pädagogin Ursula Reitemeyer.

Gedenktafel in Rechenberg. Quelle: CC BY 1.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15167

Einen indirekten, aber bedeutenden Einfluss hatte Feuerbachs Philosophie auf eine ganze Generation von Naturwissenschaftlern und Medizinern, die für die Erklärung des Naturgeschehens keine übernatürlichen Ursachen mehr gelten lassen wollten. Die Freidenkerbewegung beruft sich auf ihn, auch Max Webers grundlegender Begriff der „Deutung“ erinnert an das Verfahren von Feuerbachs Religionskritik. Einen Kenotaph zu Feuerbachs Gedenken auf dem Rechenberg, der 1933 vergraben wurde, stellte der SPD-geführte Stadtrat Nürnbergs gegen den Widerstand von CDU und FDP 1955 wieder auf. Gegner versuchten, mit einer letztlich erfolglosen Verfassungsbeschwerde das Denkmal wieder zu beseitigen, es stand zeitweise unter Polizeischutz. Christlich-fundamentalistische Täter beschmierten es bis in die jüngste Vergangenheit.

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