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Er war „ein kolossal außergewöhnliches, widersprüchliches, zugleich sympathisches wie abstoßendes Individuum“, bilanziert Matthias Schreiber im Spiegel. Groß war er gewiss nicht nur körperlich: Er maß 2,03 Meter. Gawril Derschawin, ein russischer Dichter des 18. Jahrhunderts, stellte gar die rhetorische Frage: „War Gott es nicht, der in ihm niederstieg?“ Den einen gilt er als Genie, das dem breiigen Riesenland eine erkennbare und übersichtliche Form gegeben habe; den anderen gilt er als Mörder, als „gekrönter Tiger“, als Vernichter altrussischer Identität, als ungewöhnlich grausamer Tyrann; wieder anderen als Sittenverderber – wegen seiner Unterwerfung der Kirche unter die Autorität des Staates und wegen seiner Liebe zu den Frauen sowie zu den regelmäßigen „Narren- und Saufkonzilen“: Zar Peter I., der als Pjotr Alexejewitsch Romanow am 9. Juni 1672 in Moskau geboren wurde.

Brutalität ist ihm von Anbeginn vertraut: Mit nur zehn Jahren wird er im Moskauer Kreml-Palast Augenzeuge eines Blutbads. Auslöser ist eine vertrackte Mischung aus Familienzwist und politisch-sozialem Aufstand. Der Familienstreit folgt einem klassischen Muster: Peters Vater, der reformfreudige Zar Alexej Michailowitsch, hat aus zwei Ehen 16 Kinder. Zwischen den Clans der beiden Mütter schwelt eine Dauerfehde, genährt vom Wunsch, dass der nächste Zar aus ihrer Linie stamme. Gleichzeitig brodelt es bei der Palastgarde, den Strelizen, einer Elitetruppe von 20.000 Mann. Die Soldaten beschuldigen ihre Obristen der Unterschlagung von Sold und der Misshandlung. Die Regierung lässt sie gewähren, und prompt ergreifen die Strelizen Partei im Nachfolgestreit.

Im Mai 1682 verwüstet eine tobende Soldateska die Residenz der Zaren und tötet etliche Verwandte Peters, darunter zwei seiner Onkel. Sie werden durch Fenster in darunter aufgerichtete Lanzen und Hellebarden gestürzt, in Stücke gehackt und unter spöttischem Geschrei nahe der Basilius-Kathedrale zur Schau gestellt. Nun setzen die Strelizen durch, dass zusammen mit dem Zehnjährigen, der kurz zuvor zum Zaren gewählt und vom Patriarchen bestätigt worden war, auch sein sechs Jahre älterer, geistig behinderter Halbbruder Iwan gekrönt wird. Für die beiden Unmündigen übernimmt Iwans energische und fähige Schwester Sofija, 24 Jahre alt, die Regentschaft, die sie sieben Jahre lang ausüben wird.

Peter I. Quelle: Von Jean-Marc Nattier zugeschrieben – 4. Eremitage, Sankt Petersburg3. Ursprung unbekannt2. http://img15.nnm.ru/3/c/9/6/9/3223e6d548f3dff6bc0cb50f947.jpg1. Eremitage, Sankt Petersburg, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3227131

Seit diesem ersten Strelizenaufstand hielt sich Peter mit seiner Mutter im Dorf Preobraschenskoje unweit Moskaus auf, genoss eine traditionelle altmoskowitische Erziehung und beschäftigte sich vor allem mit dem Kriegsspiel, indem er mit Gleichaltrigen eine Kriegerschar bildete. Aus dieser Spielzeugarmee entwickelte sich das Preobraschensker Leib-Garderegiment, das 1698 den Zweiten Strelizenaufstand in Abwesenheit Peters I. niederschlagen und damit seine Herrschaft retten sollte. Doch schon zuvor, im August 1689, muss er in panischer Angst vor anrückenden Soldaten fliehen, springt barfuß auf ein Pferd und galoppiert in den nächsten Wald. Diener bringen ihm Kleidung und geleiten ihn in ein Kloster, wo die Entscheidung fällt: Der oberste Kirchenpatriarch ergreift Peters Partei, die ausländischen Offiziere, die russische Söldnertruppen in Moskau befehligen, fügen sich, und so muss Sofija den Kreml verlassen und ins Kloster ziehen. Drei Strelizen werden geköpft.

„indem er mit Matrosen Wirtshäuser aufsucht“

Bereits im Januar dieses Jahres musste der siebzehnjährige Peter auf Drängen seiner Mutter die drei Jahre ältere Jewdokija heiraten, die im Februar 1690 den Sohn Aleksei gebar. Ein zweiter Sohn verstarb bereits nach einem halben Jahr. Die Ehe mit Jewdokija währte formell zehn Jahre, war aber schon nach kurzer Zeit zerrüttet. An den Regierungsgeschäften zeigte er noch wenig Interesse. Inspiriert von technischen Neuerungen und Künsten ausländischer Handwerker in der Moskauer Ausländervorstadt suchte Peter durch Besuche das dortige Leben und Treiben näher kennenzulernen. Mit dem Schotten Patrick Gordon und dem Schweizer François Le Fort lernte er hier seinen späteren militärischen Hauptberater und seinen späteren Admiral der Kriegsflotte kennen. Diese Besuche erregten in ihm nicht nur große Wissbegier, sondern auch den Wunsch, Russland auf ein ähnliches kulturelles und wirtschaftliches Niveau zu bringen.

In den ersten Jahren beschäftigte er sich mit dem Aufbau einer schlagkräftigen Armee – und entwickelte eine Sehnsucht nach dem Meer. Bereits 1688 hatte er bei Verwandten ein altes englisches Boot entdeckt, das 1691 ein Schiffbauer reparierte. Mit diesem „Großvater der russischen Flotte“ unternahm Peter eine erste Seereise auf der Moskwa und träumte nun von einem Hafen für Russland, um militärisch und wirtschaftlich zu reüssieren. Doch Russland besitzt nur in Archangelsk im hohen Norden einen eigenen Zugang zum Meer, doch der ist den langen Winter über zugefroren. Das Schwarze Meer wird von den Osmanen beherrscht, die Ostsee von den Schweden. An einem Nebenfluss des Don gründet Peter eine große Werft, wo er in wenigen Monaten 30 Galeeren und Hunderte kleiner Barken auf Kiel legen lässt. Damit blockiert er im Juli 1696 erfolgreich die Versorgung der Türkenfestung Asow – seine erste erfolgreiche militärische Operation öffnet ein Nadelöhr zum Schwarzen Meer.

Bildnis 1698. Von Godfrey Kneller – www.royalcollection.org.uk/collection/405645/peter-the-great-tsar-of-russia-1672-1725, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=920701

Da er weiß, dass er ohne ausländische Schiffsbauer, Navigatoren und Artilleristen die Türken nicht besiegt hätte, beschließt er, eine „Große Gesandtschaft“ der Lernbegierigen nach Westeuropa zu schicken und selbst daran teilzunehmen – ein provozierender Verstoß gegen eine jahrhundertealte Tradition. Denn der oberste Herrscher Russlands, der Beschützer der Kirche verlässt niemals zu Friedenszeiten die russische Erde, schon gar nicht monatelang und inkognito. Das ermutigt seine Gegner zur nächsten Verschwörung, wieder mit Strelizen. Doch die Putschisten fliegen auf. Unter der Folter gestehen sie, mit der entmachteten Sofija konspiriert zu haben, so dass ihnen Peter reihenweise die Gliedmaßen und Köpfe abhacken lässt. Sechs Tage nach diesem barbarischen Schlachtfest, im März 1697, bricht die Gesandtschaft gen Westen auf, mehr als 250 Leute.

Die Reise dauert 18 Monate und führt über Riga, Königsberg, Berlin, Amsterdam, London, Dresden, Prag und Wien nach Krakau. Dabei lernt er den späteren Preußenkönig Friedrich I., den englischen König William III., der für den russischen Gast eine kleine Seeschlacht inszenieren lässt, und August den Starken kennen, mit dem er ein antischwedisches Bündnis schließt. Im Amsterdam verdingt er sich unter dem Decknamen Peter Michailow bei einer privaten Werft als Zimmermann. Doch schon bald eilen die Bürger herbei, um diese seltsamen Russen zu bestaunen wie Zoo-Tiere. Der impulsive Zar ohrfeigt einen besonders zudringlichen Gaffer. Die Kurfürstin Sophie von Hannover notierte nach Peters Besuch in Coppenbrügge: „In Amsterdam amüsiert sich seine Exzellenz, indem er zusammen mit Matrosen Wirtshäuser aufsucht.“ Und zuvor hatte sie erwähnt: „Ich muss Ihnen sagen, dass er sich in unserer Gesellschaft nicht betrunken hat.“ In Krakau erhält er Kunde vom Zweiten Strelizenaufstand, den seine Leibgarde ohne ihn niederschlug. Dennoch bricht Peter die Reise ab und übt monatelang grausame Rache: 1182 Strelizen werden aufgehängt oder geköpft, fünf von ihm selbst. Auch Jewdokija verdächtigte er der Teilnahme an der Verschwörung und verbannte sie.

„regulieren, policieren, civilisieren“

Damit stand seinen Reformplänen nichts mehr im Weg: er wollte die Modernisierung Russlands nach westeuropäischen Maßstäben. Er kennt nun Mikroskope, Barometer, Münzen und Zahnzangen: „Wir wollen Russland regulieren, policieren, civilisieren.“ Dazu gehörte zunächst die Förderung einer merkantilistischen Wirtschaft durch den Bau von Großbetrieben und die Unterstützung der Gründung privater Manufakturen. 1716 wurde das Spinnrad in Russland eingeführt. Noch ein Jahr vor seinem Tod ordnete Peter  an, dass alle Findelkinder zu Handwerkern und Fabrikanten erzogen werden sollten. In seinem letzten Regierungsjahr gab es etwa 100 Fabriken, darunter einige mit mehr als 3000 Beschäftigten. Wesentlichen Anteil an der Entwicklung der Hüttenindustrie hatte der deutsche Bergbauspezialist Baron von Hennin, der Vorsitzender des Bergkollegiums war. Am Ende der Regierung registriert die Statistik einen ausgeglichenen Staatshaushalt von etwa 10 Millionen Rubel.

Sarkophag hinten rechts. Quelle: Von D.j.mueller (talk) 19:28, 2 July 2008 (UTC) – Selbst fotografiert, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4313596

Außerdem nahm Peter massenwirksam eine Schere, schneidet etlichen Bojaren die langen Bärte ab und erhebt gar eine Bartsteuer. Wie die Bärte, so lässt er auch die langen hemdartigen Kaftanschöße, Mäntel und Gewandärmel stutzen, verordnet den Städtern praktischere ungarische oder deutsche Kleider, lässt sie auch mal als modisches Muster ans Stadttor hängen. Schließlich schafft er die Unsitte ab, dass der Untergebene bei der tiefen rituellen Verbeugung vor dem Herrscher mit der Stirn den Boden berühren muss. Treue und Diensteifer schätze er mehr als solche Selbsterniedrigung, lässt Peter verlauten. Damit verbunden war die Einführung einer Adelsrangtabelle. Nicht Abstammung und Familien-Nimbus allein sollen über die gesellschaftliche Stellung entscheiden, sondern persönliche Fähigkeiten und Verdienste: Der Dienstadel tritt dem Erbadel zur Seite.

Weitere Reformen betrafen das Militär- und das Bildungswesen: Er führte eine Schriftreform durch und gründete nach langjährigen Gesprächen mit Gottfried Wilhelm Leibniz 1724 die russische Akademie der Wissenschaften. Der julianische Kalender wurde eingeführt, obgleich im restlichen Europa in dieser Zeit bereits langsam der gregorianische Kalender übernommen wurde..  Und nicht zuletzt arbeitete er an der stärkeren Zentralisierung der Verwaltung. So schuf Peter die Bürgermeisterei und richtete einen Senat, der neue Gesetze vorbereitete und die örtlichen und zentralen Organe anleitete, als oberste Verwaltungsinstanz ein. Außerdem entstanden in seiner Regierung die Kollegien, etwa mit den Fachministerien in Westeuropa vergleichbar. Das russische Reich wurde verwaltungsmäßig in acht Gouvernements und etwa 50 Provinzen aufgegliedert. Diese Reformen gingen als Petrinische Reformen in die Geschichte ein und trugen zum Aufstieg Russlands als einer der führenden Mächte in Europa bei.

Während er überkommene Traditionen kappt, holt er zu einem politischen Doppelschlag aus: Im Juli 1700 schließt er im Süden, in Konstantinopel, nach zweijährigem Waffenstillstand, Frieden mit der Türkei – und erklärt im Norden prompt Schweden den Krieg. In diesem Zweiten Nordischen Krieg (1700–1721) konnte er trotz zahlreicher Niederlagen und erheblicher Verluste mit dem Sieg in der Schlacht bei Poltawa 1709 die Kriegswende herbeiführen. Zwischen 1701 und 1706 entwickelt er sowohl eine Form der Taktik der „Verbrannten Erde“, damit der Feind nichts Essbares, nichts Brauchbares mehr findet, als auch die Strategie des Rückzugs ins Landesinnere in Kombination mit gezielten Nadelstichen gegen die Nachschublinien des Feindes. Schon bald dezimieren Hunger, Kälte und Krankheit die schwedische Armee, wie ein Jahrhundert später die Truppen Napoleons. Als die Russen im Mai 1703 die Festung Nyenschanz nahe der Mündung der Newa in den Finnischen Meerbusen erobern, lässt Peter eine neue Festung mitten im Mündungsdelta bauen und tauft den Ort, den er zur Hauptstadt des Landes machen wird, St. Petersburg.

„Vater des Vaterlandes“

1721 finden im schwedisch-finnischen Nystad die Verhandlungen über einen Friedensvertrag statt, sie dauern über drei Monate. Ihr Ergebnis: Schweden tritt Livland, Estland und Ingermanland, die Provinz rund um St. Petersburg, „für ewige Zeiten“ an Russland ab, erhält aber Finnland zurück. Der Friede von Nystad stellt für Peter den „größten Erfolg seines Lebens“ dar, so der Historiker Erich Donnert. Russland ist jetzt die Führungsmacht im nordosteuropäischen Raum. Im Oktober treten in St. Petersburg der Senat und der Heilige Synod zusammen, jene von Peter eingesetzten obersten Instanzen weltlicher und geistlicher Kompetenz, die dem Zaren zuarbeiten wie Ministerien. Sie bitten, scheinbar von sich aus, den Herrscher um die Annahme der Ehrentitel „Vater des Vaterlandes, Allrussischer Kaiser und Peter der Große“. Damit ist er auf dem Höhepunkt seiner Macht.

Festung Peter und Paul. Quelle: Von Alex ‚Florstein‘ Fedorov, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=20479981

Privat erlebte er Höhen und Tiefen. Seit 1712 war er in zweiter Ehe mit einer einfachen Litauerin verheiratet, die an seinem Hof den Namen Katharina Alexejewna angenommen hatte und ihm zwölf Kinder gebar. Andererseits spitzte sich der Konflikt mit seinem Sohn Alexei 1718 zu, den er nicht zum Nachfolger machen wollte. Er ließ ihn nach dessen Flucht über Österreich nach Italien zurückholen, enterbte ihn und machte ihm wegen Hochverrats den Prozess. Alexei wurde zum Thronverzicht gezwungen und zum Tode verurteilt, starb jedoch vor der Vollstreckung am 26. Juni an den Folgen der Folter von 40 Peitschenhieben. August Graf von Platen hat sein Schicksal nicht völlig geschichtsgetreu in die Ballade „Alexius“ (1832) gefasst, August Strindberg in einer Novelle dargestellt. 1722 änderte Peter per Erlass die traditionell praktizierte, von der Reihenfolge der Geburt abhängige Thronfolge ab. Nun konnte der herrschende Regent seinen Nachfolger frei bestimmen, auch von außerhalb der Familie, und einen unwürdigen Nachfolger wieder absetzen. Prompt machte er seine Frau zur Nachfolgerin, die nach seinem Tod als Katharina I. auch die Herrschaft übernahm.

Die dramatische Art, wie er Anfang 1725 das Zeitliche segnet, passt zu seinem turbulenten Herrscherleben: Auf einer Inspektionstour nahe der Newa-Mündung entdeckt Peter ein Boot, das der Sturm auf eine Sandbank geworfen hat. Einige Soldaten, die nicht schwimmen können, kämpfen in der rauen See um ihr Überleben, andere versuchen, den gekenterten Kahn wieder flottzumachen. Peter lässt sich zur Sandbank rudern, ungeduldig springt er schon vor der Sandbank über den Bootsrand, um schneller helfen zu können. Das eiskalte Wasser bekommt ihm schlecht: In der Nacht quälen ihn Fieber und Schüttelfrost, ein notorisches Blasen- und Nierenleiden meldet sich heftig zurück. Scheinbar erholt, gönnt er sich noch auf einem nachweihnachtlichen Fest exzessiven Alkoholgenuss. In der Nacht zum 8. Februar ruft er nach seiner Tochter Anna, der späteren Herzogin von Holstein-Gottorf. Als sie kommt, ist er schon bewusstlos, er stirbt gegen sechs Uhr morgens.

„ein Mann von sehr hitzigem Temperament“

Zu seinen Ehren wurden Denkmale errichtet und mehrere russische Schiffe benannt. Albert Lortzings komische Oper „Zar und Zimmermann“, uraufgeführt 1837 in Leipzig, thematisierte die „Große Gesandtschaft“. Alexej Tolstoi betrachtete 1918/19 in zwei Erzählungen das Wirken des Zaren recht skeptisch. Doch in der Stalinzeit wurde daraus ein mehrbändiger Roman – aus dem 1937 ein Film und als Nebenprodukt ein Kinderbuch und ein Theaterstück erwuchsen –, um „die fortschrittliche Bedeutung der petrinischen Epoche“ zu würdigen. 1986 wurde in den USA ein Vierteiler über sein Leben mit dem Who’s Who der Schauspielerszene gedreht: Neben Maximilian Schell in der „alten“ Titelrolle wirkten Vanessa Redgrave, Omar Sharif, Laurence Olivier, Lilli Palmer und Hanna Schygulla mit.

Denkmal in Petersburg. Quelle: https://www.russlandjournal.de/wp-content/uploads/2014/10/petersburg-denkmal-peter-der-grosse.jpg

Er zivilisierte das Reich durch politische, militärische und alltagskulturelle Reformen und intensivierte durch den Ostsee-Zugang zugleich die Handelsbeziehungen zu allen anderen Großmächten. So war er trotz vieler taktischer Fehler, die der impulsive, launische, vielleicht manisch-depressive Mann machte, ein bedeutender Stratege. Das sah der Marxist – und Widerpart Lenins – Georgi Plechanow ganz anderes: „Mit seiner Europäisierung Russlands führte Peter es zu seinem Ende, zu dem logischen Abschluss unter der Bedingung völliger Hilflosigkeit der Bevölkerung gegenüber dem Staat, was das Charakteristikum einer orientalischen Despotie ist.“ Und für den von Lenin geschätzten Alexander Herzen war Peter I. ein „Despot nach Art des Wohlfahrtsausschusses“, denn „der Umsturz Peters hat aus uns das Schlechteste gemacht, was aus Menschen gemacht werden kann: aufgeklärte Sklaven“.

Wenig nachsichtig urteilte auch Gilbert Burnet, der Bischof von Salisbury: „Die Natur hat ihn eher zum Schiffbauer als dazu bestimmt, ein großer Fürst zu sein … Er ist ein Mann von sehr hitzigem Temperament, der sich leicht ereifert, brutal in seiner Leidenschaft. Dieses sein natürliches Ungestüm steigert er noch durch übermäßigen Alkoholkonsum. Nachdem ich ihn oft gesehen und viel mit ihm gesprochen hatte, blieb mir nichts übrig, als die Unerforschlichkeit der göttlichen Vorsehung zu bewundern, die einem so ungestümen Menschen unumschränkte Gewalt über einen so großen Teil der Welt verliehen hatte.“

Als sein dialektischster Kritiker sollte sich Voltaire erweisen: „Peter schuf Russland. Vor ihm existierte Russland nicht … Zar Peter war ein Barbar, aber immerhin ein Barbar, der Menschen geschaffen, Städte gegründet und Meere durch Kanäle verbunden hat“, schreibt er. „Er hatte große Fehler, aber wurden sie nicht wettgemacht durch die Vielzahl von Plänen, die er für die Größe seines Landes entwarf und von denen er manche verwirklichte? … Er wollte Deutsche und Engländer aus ihnen machen, als es Not tat, Russen aus ihnen zu machen“. Legendär wurden Peters Worte „Wir werden Europa für einige wenige Dekaden brauchen – und danach können wir ihm den Rücken zukehren.“ Das liest sich heute gespenstisch.

Ex-Antifa-Redakteuse Nancy Faeser fällt als Innenministerin bislang nur durch Dekonstruktionen auf: „Telegram“ will sie abschalten, Exkanzler Schröder aus der SPD werfen – und nun „Heimat“ umdeuten.

Meine neue Tumult-Kolume, die gern geteilt werden darf. Viel Spaß beim Lesen.

Schwarz die stechenden Pupillen, rot die lustvollen Augäpfel, kalkweiß das schmale aristokratische Gesicht – und wölfisch die Fangzähne: Dracula betritt die Szene. Er war der erste transsilvanische Blutsauger in Farbe, der von Bela Lugosi, Hollywoods Dracula der 1930er Jahre, als seinen würdigen Nachfolger gerühmt wurde. Sieben Mal verkörperte er den elegant-erotischen Verführer-Vampir in B-Movies der legendär-spleenigen Londoner „Hammer Film Productions“, die ihn 1957 unter Vertrag genommen hatte, als während des Kalten Krieges das Gruselgeschäft blühte. Er sei, so Horror-Exper-te Eric Nuzum im Tagesspiegel, ein zeittypischer Katalysator für die Albträume der Nachkriegsära gewesen: Die Menschen fürchteten „Supermächte, die zutiefst böse waren und deren Motivation man nicht verstand“. Und so habe er in seinem Spiel „kein Motiv, das macht ihn so beängstigend“.

Damit ging für ihn als Mittdreißiger nach zahllosen kleinen Rollen endlich der Stern einer einzigartigen Karriere in der schwarzen Romantik auf. Ganz gleich, in welches Schocker-Kostüm der hagere Fast-Zweimeter-Mann schlüpfte, sein exzentrischer Ernst setzte Maßstäbe: Als Frankenstein-Kreatur, Rächer-Mumie und durstiger Vampir erlaubte er sich archaisches Pathos ohne psychologischen Hintergrund. Seine Monster und Schurken waren Ikonen des Bösen schlechthin, Wiedergänger schauriger Mythen, die der Opernsänger mit melodiösem Bass und elegantem Timing zu Klassikern veredelte. Gelegentlich streute er Auftritte als Edgar-Wallace-Polizist oder Comedy-Blutsauger ein, doch sein eigentliches Niveau erreichte er in seinen Rollen als Finsterling: „Hier repräsentierte er das Faszinosum des Irrationalen, die Kehrseite der Logik pädagogischen Konfliktmanagements“, befand Claudia Lenssen in der Zeit.

Lee 2013. Quelle: Von Avda – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=24647170

Fantasy-Regisseure wie Peter Jackson, George Lucas und Tim Burton sind mit seinen ikonischen Rollen aufgewachsen – und boten ihm bis ins hohe Alter immer wieder Gastrollen an. Manchmal spielte man miese Tricks, um ihn in ein, zwei Szenen und seinen Namen auf den Plakaten zu einem Film zu haben – sogar in einem Softporno tauchte er unversehens auf. Der bizarre Zauber seiner typischen Figuren schien immer wieder aufzuerstehen, auch oder gerade wenn sie durch Explosionen, Feuersbrünste, zusammenbrechende Häuser oder zerberstende Eisschollen pittoresk zugrunde gingen. Seine „Leinwand-Existenz war ein Spektakel, in dem das Böse durch wollüstig zelebrierte symbolische Tode aus der Welt geschafft wird“, so Lenssen: Sir Christopher Frank Carandini Lee, der am 27. Mai 1922 als Sohn eines britischen Offiziers und einer italienischen Gräfin, deren Adelsgeschlecht sich angeblich bis zu Karl dem Großen zurückverfolgen lässt, in London geboren wurde. Die Genealogie gefiel ihm: Seine eigene Filmfirma wird er „Charlemagne“ nennen.

Dracula wird geboren

Er wurde mit seiner Schwester Xandra in der privaten „Summer Fields“-Schule unterrichtet und genoss dabei auch eine Ausbildung als Opernsänger: an Richard Wagner lernte er Deutsch. Später bekam er ein Stipendium für das renommierte Eton College und arbeitete für einen Wochenlohn von einem Pfund als Botenjunge in der Londoner Innenstadt. Am 17. Juni 1939 war er Augenzeuge der Hinrichtung des Serienmörders Eugen Weidmann, der letzten öffentlichen Hinrichtung durch die Guillotine in Frankreich. Während des zweiten Weltkrieges diente er in der Royal Air Force sowie in Spezial-Einheiten: Nach Kriegsende verbrachte er die letzten Monate seines Militärdienstes mit dem Aufspüren von Kriegsverbrechern. Lee wurde ausgezeichnet und erwarb den Rang eines Flight Lieutenant, was etwa dem Hauptmann entspricht. Nach Kriegsende beschloss er, Schauspieler zu werden, aber alle Agenten winkten ab, weil er bei seiner Größe jeden Hauptdarsteller zum Zwerg degradiert hätte. Lee ließ sich jedoch nicht entmutigen; seine erste Filmrolle hatte er in „Im Banne der Vergangenheit“ (1947).

Zehn Jahre lang blieben Nebenrollen die nüchterne Realität seiner Karriere, außerdem arbeitete er als Synchronsprecher und Stuntman. Die Wende kam 1957 mit der Hauptrolle als Monster in „Frankensteins Fluch“ und ein Jahr später mit der Rolle des Grafen „Dracula“, beide unter der Regie von Terence Fisher. Innerhalb von zwei Jahren stand Lee für zwei Dutzend Filme vor der Kamera, darunter auch „Der Hund von Baskerville“ (1959) und „Die Rache der Pharaonen“ (1960). So begann eine endlose Serie meist billig produzierter Kinostreifen, die ihn neben Peter Cushing, mit dem er 20 Filme drehte, und Vincent Price zum populärsten Darsteller des Horrorfilms machten. Lee verband eine enge Freundschaft zu beiden, mit Boris Karloff und Ray Harryhausen wohnte er in den 1960er-Jahren in London Haus an Haus. Seit 1961 war Lee mit dem früheren dänischen Fotomodell Birgit Kroenke verheiratet, aus der Verbindung ging 1963 Tochter Christina hervor. Die Familie sollte später einige Zeit in der Schweiz und in Kalifornien leben.

Ikonisch als Dracula. Quelle: https://www.mucke-und-mehr.de/wp-content/uploads/2020/04/dracula-title-small.jpg

In den 1960er Jahren wirkte der charismatische Lee mit eigener Stimme in den deutschsprachigen Edgar-Wallace-Verfilmungen „Das Rätsel der roten Orchidee“ und „Das Geheimnis der gelben Narzissen“ mit. Da er acht Sprachen beherrschte, konnte er in Russisch, Französisch, Italienisch, Deutsch und Spanisch in zahlreichen anderen Ländern rund um den Erdball drehen. Zwischen 1965 und 1969 sah man ihn in der Titelrolle mehrerer „Dr. Fu Man Chu“-Filme. Aus Sorge, nur über die Rolle als Dracula definiert zu werden, weigerte sich Lee ab Mitte der 1970er Jahre, in weiteren Dracula-Adaptio-nen, ja insgesamt Horrorproduktionen mitzuwirken: In manchen Biographien heißt es bis heute, er sei in Rumänien geboren worden. 1974 verkörperte er Francisco Scaramanga, den „Mann mit dem goldenen Colt“ als Gegenspieler von James Bond. Bond-Erfinder Ian Fleming, dessen Groß-Cousin er war, hatte Lee anfangs auch für die Rollen von Dr. No und sogar Bond selbst vorgeschlagen. In Richard Lesters drei Musketier-Filmen spielte er Graf Rochefort. Immer wieder überraschte Lee sein Publikum nun durch seine Vielseitigkeit, so schon als Meisterdetektiv in „Sherlock Holmes und das Halsband des Todes“ (1962) oder als Prinz Phillip in „Charles & Diana – A Royal Love Story“ (1982).

„Meister des Schaurigen“

Als 1983 der köstliche Zeichentrickfilm „Das letzte Einhorn“ deutsch synchronisiert wurde, lieh er dem bösen König Haggard seine Stimme in deutscher Sprache, dies wiederholte er ein Jahr später bei dem dänischen Zeichentrickspaß „Walhalla“ und sprach Thor. Am 31. März 1993 veröffentlichte die britische Presse Nachrufe auf den angeblich verstorbenen Schauspieler – mehr als 22 Jahre vor seinem Tod. 1995 spielte er die Rolle des Pharao Ramses II. in „Moses“ als Teil der von der Kirch-Gruppe produzierten Gesamtverfilmung der Bibel, über die er sich sehr positiv äußerte. Der Streifen mit seiner Lieblingsrolle, dem Gründer Pakistans Ali Muhammad „Jinnah“ als Gegenspieler von Mahatma Ghandi (1998), kam zu seinem Leidwesen nie in westliche Kinos. Das Klischee des Ungeheuers ließ ihn aber nicht los. Nach der Jahrtausendwende spielte er einerseits in „Star Wars“ II und III den Jedi-Grafen Dooku, der als Lord Tyranus zur dunklen Seite der Macht wechselt. Andererseits sah man ihn in der Herr-der-Ringe-Trilogie als weißbärtigen Zauberer Saruman – Lee war der einzige unter den Mitgliedern der Filmbesetzung, der Tolkien noch persönlich getroffen hatte: In einem Pub in Oxford.

Auch in der dreiteiligen Verfilmung des Tolkien-Romans „Der Hobbit“ spielte er wieder diese Rolle. In Tim Burtons Literaturverfilmung „Charlie und die Schokoladenfabrik“ verkörperte er den bösartigen Zahnarzt Dr. Wonka, im packenden Mystery-Actionfilm „Der letzte Tempelritter“ an der Seite von Nicolas Cage und Ron Perlman den Kardinal D’Ambroise und in Martin Scorseses Literaturadaption „Hugo Cabret“ an der Seite von Jude Law und Ben Kingsley den Monsieur Labisse. Im Rahmen der 55. Berliner Filmfestspiele trat Lee am 14. Februar 2005 als prominenter Gastgeber der Galaveranstaltung „Cinema for Peace“ in der deutschen Hauptstadt auf. Eine seiner letzten Arbeiten für den Film war der amüsante Fantasy-Streifen „Angels in Notting Hill“  (2014), wo er als „Boss“ der Engel auftrat. Insgesamt wirkte er 67 Jahre lang in rund 280 Film- und Fernsehproduktionen mit, was ihm einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde bescherte. Zwischendurch wurde er 2009 von Elisabeth II. in den Rang eines Knight Bachelor erhoben und durfte sich nunmehr „Sir“ nennen.

Ritterschlag. Quelle: https://image.gala.de/20046856/t/AU/v16/w960/r0/-/christopher-lee-440–4788932-.jpg

Verblüffender Weise kehrte er am Ende seines Lebens zu seinen Wurzeln als Sprecher und Sänger zurück. Schon in den 70er Jahren arbeitete er am Rock-Musical „The King of Elfland’s Daughter“ mit und zeigte 1986 stimmliche Wandlungsfähigkeit bei der Aufnahme von „The Soldier’s Tale“ von Igor Strawinsky und Charles-Ferdinand Ramuz für Nimbus Records, wo er als Erzähler, Soldat und Teufel fungierte. Für Nimbus nahm er 1989 unter der Leitung von Yehudi Menuhin auch Prokofjews „Peter und der Wolf“ als Erzähler auf. Später wirkte er auf mehreren Alben der Symphonic-Power-Metal-Band „Rhapsody of Fire“ mit und setzte mit dem „Tolkien Ensemble“ die Gedichte Tolkiens stimmlich und musikalisch in Szene. 2010 veröffentlichte Lee mit „Charlemagne: By the Sword and the Cross“ ein Metal-Konzeptalbum über das Leben Karls des Großen mit zwei Bands und einem 100-Mann-Orchester, das mit dem „Spirit of Metal“ Award ausgezeichnet wurde.

An seinem 90. Geburtstag kündigte Lee eine neue Single an; mit dem dazugehörigen Album „Charlemagne: The Omens of Death“ (2013) ist er der älteste Heavy-Metal-Sänger der Geschichte. Im selben Jahr setzte er noch eins drauf und veröffentlichte zu Weihnachten eine Metal-Version von „Jingle Bells“, womit Lee im Alter von 91 Jahren und 6 Monaten zum ältesten lebenden Künstler wurde, der sich je in den Charts platzierte. Am 7. Juni 2015 starb er, seine Asche wurde auf den Surrey Hills verstreut. Londons damaliger Bürgermeister Boris Johnson würdigte den Verstorbenen, der nie einen Oscar bekam, als „einen der größten britischen Schauspieler“ und „Meister des Schaurigen“. Sein Lieblingsfilm war „The Wicker Man (1973), in dem er Lord Summerisle spielt, den „Herren eines so hippie-esken wie grausamen Sonnen-Fruchtbarkeitskults, den er in merkwürdiger Verkleidung, singend und tanzend, anführt. Er ist, von Dracula bis Summerisle, der große Andere, der dominiert und dem sich zu unterwerfen und auszuliefern die reine Lust ist“, bilanziert Fritz Göttler in der Süddeutschen. Lapidarer könnte man sagen: Niemand wie Lee war so gut darin, böse zu sein.

Nach ihrem Übernacht-Erfolg im „Blauen Engel“ gestaltete sie ihre nicht minder spektakulären Auftritte als begnadete Köchin, Idealmutter, Liebhaberin, Stilikone und Antifaschistin rasch selbst. Genau wie die der GI-Unterhalterin im 2. Weltkrieg und noch drei Jahrzehnte lang der glamourösen alterslosen Show-Diva danach. Was nicht in ihre perfekten, mutigen und mühsam ausgefeilten Selbstdarstellungen passte, stritt und streifte sie schlicht ab. Darunter auch ihre zwei Jahre ältere Schwester Elisabeth, die sie 1945 in Bergen-Belsen wiederfand: Hier betrieb sie zusammen mit ihrem Mann eine kleine Kantine für die Wehrmacht, im Truppenlager-Kino in den Kasernen der Panzerschule – nur wenige hundert Meter entfernt vom KZ, errichtet zur Entspannung der Soldaten wie der SS-Leute.

Die Nachbarschaft zum Todeslager, der ständige Kontakt zum SS-Lagerpersonal und der wirtschaftliche Gewinn, den sie als Kantineninhaber daraus zogen, rückten Elisabeth nebst Mann Georg moralisch gefährlich nahe an die Täter. Diese Verwandtschaft konnte ihren Weltruhm beschädigen – weshalb sie sie rasch umdeutete. Doch sprach Elisabeth tatsächlich noch Jahre nach dem Krieg von der „moralischen Integrität“ des Dritten Reichs: Die Nazis hätten, bei allem Übel, doch nur die deutsche Ehre wiederherstellen wollen. Kein Wunder, dass sie die verlogene Mär vom Nazi-Opfer Elisabeth bald wieder aufgab und die Schwester fortan lieber verleugnete, obwohl der geschwisterliche Kontakt privat bis zu Elisabeths Tod 1973 unverändert bestehen blieb.

Die Dietrich. Quelle: Von Eric Koch / Anefo – http://proxy.handle.net/10648/aa4985ce-d0b4-102d-bcf8-003048976d84, CC BY-SA 3.0 nl, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=97835859

Zu prominenten Fans ihrer Bühnenkunst zählen Willy Brandt und Ronald Reagan gleichermaßen wie David Bowie, die Beatles, Bryan Ferry, Udo Lindenberg, Ute Lemper, Jean Cocteau, Karl Lagerfeld oder die ebenfalls aus Berlin stammende Hildegard Knef, mit der sie eine tiefe Freundschaft pflegt. Beide überführen in der Nachkriegszeit ihr charismatisches Können erfolgreich auf die Chanson-Bühne, wo sie mit Stimmen begeistern, deren Charme vor allem aus der Verweigerung von Perfektion und prätentiösem Ton erwächst. Ernest Hemingway, zeitweise ihr Liebhaber, bringt die Faszination von ihr einmal so auf den Punkt: „Selbst wenn sie nichts anderes als ihre Stimme hätte, könnte sie damit dein Herz brechen“: Marlene Dietrich, die am 6. Mai vor 30 Jahren starb.

„Nimm dich in Acht vor blonden Frau‘n“

Marlene kommt am 27. Dezember 1901 in Berlin-Schöneberg als Marie Magdalene Dietrich zur Welt. Ihre Eltern sind ein preußischer Polizeioffizier und eine Juwelierstochter. Aufgewachsen in gutbürgerlichen Verhältnissen, genießt sie früh außer Schulstunden auch privaten Unterricht und den restlichen Tag die Rundumbetreuung einer Gouvernante. Einen ersten Einschnitt in ihr behütetes Leben stellt der Tod ihres Vaters 1907 dar, und auch der Stiefvater lässt 1917 als Leutnant schon früh sein Leben. Das habe zur Vatersehnsucht in ihren vielen Beziehungen geführt, so Hellmuth Karasek im Spiegel. Sex sei ein nützliches Mittel, um ein emotionales Gleichgewicht herzustellen, „aber keine ihrer Affären hatte auch nur vorübergehend jene Ausschließlichkeit, die auf einen Wunsch nach tiefer, geschweige denn dauerhafter Liebe schließen lässt.“

Nachdem die musikalisch begabte Marlene früh privaten Klavier- und Geigenunterricht erhält, beginnt sie 1919 ein Studium in Weimar zur Konzertgeigerin. Über ihre Studienzeit ist wenig überliefert, ebenso wie über die Gründe der Mutter, ihre Tochter 1921 praktisch über Nacht zur weiteren Ausbildung nach Berlin zurück zu holen. Kurz darauf beendet eine durch häufiges Üben verursachte Sehnenscheidenentzündung jäh Marlenes Karrierewünsche. Ihre Liebe zu Literatur bringt die Anfangszwanzigerin auf die Idee, ihr Glück am Theater zu versuchen: „Das Theater war der einzige Ort, wo man schöne Texte und schöne Verse vortragen konnte, wie die von Rilke, die mir das Herz brachen… Gibt’s was Schöneres als Rilke? Nein, nein, niemals!“ Sie absolviert die Max-Reinhardt-Schauspielschule und ergattert ab 1922 erste kleine Rollen an Theater, in Revues und Kabaretts als Fotomodell, Tanzgirl und Statistin. Ihr Leinwanddebüt gab sie als Zofe in „So sind die Männer“ (1923); „eine Kartoffel mit Haaren“, sagte sie später über die Rolle. In 18 Stummfilmen wird sie verpflichtet.

In den 20er Jahren. Von George Grantham Bain Collection (Library of Congress) – Dieses Bild ist unter der digitalen ID cph.3b24379 in der Abteilung für Drucke und Fotografien der US-amerikanischen Library of Congress abrufbar.Diese Markierung zeigt nicht den Urheberrechtsstatus des zugehörigen Werks an. Es ist in jedem Falle zusätzlich eine normale Lizenzvorlage erforderlich. Siehe Commons:Lizenzen für weitere Informationen., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5930332

Während der Dreharbeiten zum Film „Tragödie der Liebe“ lernt Marlene den Regieassistenten Rudolf Sieber kennen, den sie ein Jahr später heiratet. Im Dezember 1924 kommt die Tochter Maria zur Welt. Ihre zahlreichen Engagements für zumeist unbedeutende Unterhaltungsfilme der 20er, oft auch durch Ehemann Rudi vermittelt, führen später zu phantasievollen Interpretationen – die Zeit vor dem „Blauen Engel“ lässt sie in ihren Erinnerungen später konsequent aus. Doch ohne ihre Rolle in „Zwei Krawatten“ mit Hans Albers und den Comedian Harmonists wäre ihr Leben anders verlaufen. Denn an einem der Abende sitzt auch Regisseur Josef von Sternberg im Publikum, der nach einer weiblichen Besetzung für eine Verfilmung des Heinrich Mann-Romans „Professor Unrat“ sucht. Begeistert von ihrer unterkühlten Ausstrahlung, lädt er die Jungschauspielerin nach der Vorstellung zu Probeaufnahmen für das Filmprojekt „Der Blaue Engel“ aufs Ufa-Gelände nach Babelsberg ein.

Seit dem Casting ist Dietrich als Bartänzerin Lola Lola gesetzt, sehr zum Missfallen Heinrich Manns, der seine Lebensgefährtin Trude Hesterberg für die Rolle empfahl. Auch der eigentliche Star des Films, der bereits in den USA zu Ruhm gekommene Professor Unrat-Darsteller Emil Jannings, hat nach der Uraufführung am 1. April 1930 im Berliner Gloria-Palast seine Probleme damit, dass ihm in Filmkritiken weniger Platz eingeräumt wird als der Dietrich, dem vermeintlich unbeschriebenen Blatt. Sie bekommt für die Rolle 20.000 Reichsmark, Jannings das Zehnfache. Das Berliner Premierenpublikum feiert sie bereits wie einen Star, und der Rest der Welt reiht sich bald ein. Ihre frivol zur Schau gestellte Unschuld im „Blauen Engel“ bleibt Marlene lebenslang als Image erhalten. Neben ihrer frechen Berliner Gören-Schnauze begeistert besonders ihr Interpretationstalent der Friedrich Hollaender-Filmkompositionen. „Männer umschwirrn mich wie Motten das Licht“, singt sie in weiser Voraussicht im Filmhit „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“, und auch „Ich bin die fesche Lola“ und „Nimm dich in Acht vor blonden Frau‘n“ mutieren zu Erfolgsschlagern.

„mein Geschöpf“

Zwischen ihr und Sternberg beginnt eine zarte Romanze; das Erfolgspaar arbeitet danach noch für weitere sechs Paramount-Filme in den USA zusammen, darunter der „Blonden Venus“ (1932) im Hosenanzug und „Der Teufel ist eine Frau“ (1935). Nicht all ihre Produktionen werden Kassenmagneten, belegen dafür aber von Sternbergs unnachahmliches Talent, per gezielter Ausleuchtung von Dietrichs hohen Wangenknochen, den sinnlichen Lippen und ihrem männermordenden Augenaufschlag in künstlerischer Hinsicht Maßstäbe zu setzen. Sie ging so weit, sich für die Betonung ihrer Wangenknochen vier Backenzähne ziehen zu lassen. Unter Sternbergs Führung vollzieht Marlene die Wandlung von der pummeligen Großstadt-Göre zum erotischen und unnahbaren Vamp. Die Dietrich nennt nicht umsonst ihren Entdecker mitunter halb scherzend „Gott“, er sie im Gegenzug „mein Geschöpf“. Alle künftigen Regisseure der Diva müssen sich fortan an von Sternbergs hohen Standards messen lassen. Mit Frack und Zylinder wischt Marlene das herkömmliche Rollenklischee der Frau offensiv beiseite und verleiht ihrem Öffentlichkeitsbild zusätzlich einen androgynen sowie hedonistisch-verruchten Anstrich. Vorwürfe der Bisexualität lassen nicht lange auf sich warten.

Ikonisch in „Der blaue Engel“. Quelle: Von George Grantham Bain Collection (Library of Congress) – Dieses Bild ist unter der digitalen ID cph.3b24379 in der Abteilung für Drucke und Fotografien der US-amerikanischen Library of Congress abrufbar.Diese Markierung zeigt nicht den Urheberrechtsstatus des zugehörigen Werks an. Es ist in jedem Falle zusätzlich eine normale Lizenzvorlage erforderlich. Siehe Commons:Lizenzen für weitere Informationen., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5930332

Dennoch will Goebbels die Berlinerin unbedingt für den deutschen Film zurückgewinnen: Für jeden Film, den sie in Deutschland dreht, soll sie 200.000 Reichsmark bei freier Wahl des Stoffes, des Produzenten und des Regisseurs erhalten. Doch Marlene macht die Begleitung ihres Mannes zur Bedingung – wohlwissend, dass Rudi Sieber als Jude niemals Teil dieses Angebots sein würde. Sie wird eine erbitterte Feindin Hitlers und gilt in ihrer Heimat erst als „Judenfreundin“, später als „Ami-Hure“. Nach dem Cut mit Sternberg arbeitet sie mit dem emigrierten Ernst Lubitsch zusammen und erlebt, wie ihr heller Stern langsam erblasst. 1938 nimmt sie die amerikanische Staatsbürgerschaft an, kehrt Hollywood den Rücken und verbringt in Europa viel Zeit mit ihrer Familie und rasant wechselnden Liebschaften. Im Sommer 1939 – sie weilt mit ihrem Liebhaber Erich Maria Remarque gerade an der französischen Mittelmeerküste – erhält sie ein Western-Angebot und sagt zu. Mit „Der große Bluff“ an der Seite von James Stewart feiert Marlene ein überraschendes Comeback, der Thekenschunkler „The Boys In The Backroom“ mausert sich zu einem ihrer bekanntesten Songs.

Nach einigen weniger Aufsehen erregenden Filmen fühlt sich die Schauspielerin 1943 in der Pflicht, die GIs im Kampf gegen Hitler-Deutschland zu unterstützen. Auch Schauspieler Jean Gabin, mit dem sie zu jener Zeit liiert ist, tritt in die französische Armee ein. Marlene meldet sich für die amerikanische Truppenbetreuung an und reist bis 1945 teilweise an vorderster Front von Grönland über Frankreich bis Nordafrika. Ein Filmstar in Uniform, ohne Leibwächter und Stargehabe – das macht Eindruck auf die Hundertschaften an Soldaten, die Marlene im Gegenzug auf Händen tragen. Später gesteht sie, ihre Zeit bei den Soldaten sei die glücklichste ihres Lebens gewesen. Eine jener Shows vor alliierten Truppen findet 1945 sogar in der niederbayerischen Spargelstadt Abensberg statt. Nach dem Krieg erhält sie die „Medal Of Freedom“ als höchste zivile Auszeichnung des US-amerikanischen Kriegsministeriums, Frankreich ernennt sie zum „Ritter der Ehrenlegion“.

„zu Tode biografiert“

1945 stirbt Marlenes Mutter im ausgebombten Berlin, auch das verheißungsvoll gestartete Liebesglück mit Gabin geht in die Brüche. Grundsätzlich ist es Dietrich, die auf der Stelle kehrt macht, sobald ihr ein Liebhaber zu nahe kommt oder gar mehr Aufmerksamkeit von ihr einfordert. Seitenlange Liebesbriefe ihrer Verehrer beantwortet sie in der Regel mit wenigen Sätzen, oft auf eigenen Autogrammkarten. Auch als der von Kinderwünschen getriebene Gabin ihr seine Familienplanungen eröffnet, bleibt sie zurückhaltend. Gabin zieht die für Marlene wohl ungeahnte Konsequenz und wendet sich von der Schauspielerin ab: 1949 heiratet er Christiane Fournier, die ihm drei Kinder schenkt. Somit ist Gabin der einzige Mann, der die Dietrich je verlassen hat. Vergessen konnte sie ihn nie.

Berliner Ehrengrab. Quelle: Von George Grantham Bain Collection (Library of Congress) – Dieses Bild ist unter der digitalen ID cph.3b24379 in der Abteilung für Drucke und Fotografien der US-amerikanischen Library of Congress abrufbar.Diese Markierung zeigt nicht den Urheberrechtsstatus des zugehörigen Werks an. Es ist in jedem Falle zusätzlich eine normale Lizenzvorlage erforderlich. Siehe Commons:Lizenzen für weitere Informationen., Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5930332

Doch längst ist Marlene wieder mit ihrer Karriere beschäftigt, die sie mit der ihr eigenen Gründlichkeit und Ausdauer vorantreibt. Sie nimmt Rollen in Billy Wilders „Eine auswärtige Affäre“ (1947), Alfred Hitchcocks „Die rote Lola“ (1950) und Fritz Langs „Engel der Gejagten“ (1952) an, moderiert Radio-Shows und spricht Krimi-Hörspiele ein. Bis in die 60er Jahre ist sie fast ausschließlich als Diseuse und Entertainerin auf Achse und findet in Orchester-Dirigent Burt Bacharach erneut einen feinsinnigen Förderer ihres Talents. Der Startschuss für ihre zweite Karriere fällt 1953 im Hotel „Sahara“ in Las Vegas.

Mit einer Mischung aus alten Filmsongs und Neuinterpretationen von Hollaender, Cole Porter, Bob Dylan oder Pete Seeger nimmt die Dietrich in atemberaubenden Bühnenoutfits die Herzen des Theaterpublikums für sich ein. So sorgt ihr Bühnenmantel aus Brustdaunen von Schwänen mit einer drei Meter langen Schleppe immer für großes Aufsehen; angeblich sollen 3000 Schwäne für zwei dieser Mäntel ihr Leben gelassen haben. Nur bei ihrer Deutschland-Rückkehr 1960 wird sie unschön von ihrer Vergangenheit eingeholt. Zahlreiche Medien versuchen teils populistisch, teils hetzerisch ihre Haltung während des Zweiten Weltkriegs gegen sie auszuspielen: „Die war‘n mir beese“, sagte sie oft. 1961 hatte Dietrich ihre letzte Hauptrolle in dem Film „Judgment at Nuremberg“, in dem sie die Witwe eines zum Tode verurteilten deutschen Generals mimte.

Reibungsloser verlaufen die Auslandsreisen: Sie singt in Paris und Cannes (1962), Monte Carlo und Mexico City (1963), Leningrad und Edinburgh (1964) oder auch Südafrika und Australien (1965). Sie war nach dem Zweiten Weltkrieg die erste deutsche Künstlerin, die in Russland auftrat, und die erste, die in Israel deutsche Texte auf der Bühne singen durfte. In jener Zeit besucht Marlene auch immer mal wieder die Schweiz, wo sie ihre berüchtigten Frischzellenkuren erhält, mit denen sie das Altern aufzuhalten versucht. Doch natürlich wird auch ein „Blauer Engel“ irgendwann flügellahm. Nach einem weiteren Bühnensturz 1975 in Sydney, bei dem sie einen Oberschenkelhalsbruch erleidet, beendet sie im Alter von 74 Jahren ihre Laufbahn als Showstar. Die Einsamkeit, eine Legende zu sein, überfällt sie am Ende ihres Lebens.

„Schöner Gigolo, armer Gigolo“ 1978. Quelle: https://cdn.prod.www.spiegel.de/images/2dd59321-0001-0004-0000-000000637514_w1200_r1.33_fpx39_fpy28.jpg

Im Film „Schöner Gigolo, armer Gigolo“ mit David Bowie hat sie 1978 einen letzten Kurzauftritt. „Der lange Fall der Filmgöttin – 13 Jahre auf dem Sterbebett“, titelte der Spiegel. 1987 publizierte die Diva ihre Memoiren unter dem Titel „Ich bin, Gott sei Dank, Berlinerin“. Bis zu ihrem Tod lebt sie abgeschottet sowie alkohol- und tablettenabhängig in ihrem Pariser Appartement, nicht gewillt, der Öffentlichkeit auch nur einen winzigen Blick auf ihren alternden Körper zu gestatten. 40.000 Mark nahm sie zuletzt für ein Stern-Interview. Ihr Grab befindet sich neben dem ihrer Mutter auf dem Friedhof Schöneberg an der Stubenrauchstraße. Die Grabinschrift „Hier steh ich an den Marken meiner Tage“ ist eine Zeile aus Theodor Körners Sonett „Abschied vom Leben“.

„Ich bin zu Tode fotografiert und zu Tode biografiert worden“, klagt sie 1983 in Maximilian Schells ergreifender Dokumentation, der Dietrich als einer der wenigen engen Freunde im Alter noch einmal besuchen darf. Für seinen Oscar-nominierten Film „Marlene“ führt Schell mit ihr sechs Tage lang Gespräche in ihrer Wohnung und nimmt diese auf Tonband auf, das Filmen ist selbstredend auch ihm strengstens untersagt. Das Ergebnis beeindruckt: In Dietrichs brüchiger und dauernörgelnder Stimme spiegelt sich einerseits die Unzufriedenheit der Diva wieder, die Welt nicht mehr aktiv mitgestalten zu können, wie auch ihr unbedingter Wille, den Mythos Marlene Dietrich bis zum Tod zu kontrollieren. Dabei konnte sie ätzend, ja verletzend zu Kollegen, anderen Promis, ja selbst Freunden sein – Sternberg bekam am Ende seines Lebens Wutausbrüche, wenn er nur ihren Namen hörte. Die Liste ihrer Telefonpartner, beginnend mit der Queen, war ein Who’s Who der Elite der Welt.

Fritz Lang soll gesagt haben, Marlene sei nie eine gute Schauspielerin gewesen, aber sie habe ohne Unterlass eine Rolle gespielt: „Sie weiß selbst nicht mehr, wer sie ist.“ Als „Vamp und Emanze zugleich“ vereinte sie „Hollywood-Glamour und preußische Disziplin“, so Karasek. „Keine wird je sein wie sie“, bilanziert Martina Pock in der Süddeutschen. In Berlin erinnern der Marlene-Dietrich-Platz und die Dauerausstellung „Marlene Dietrich“ im Filmmuseum an sie. Eine Luxus-Edition des Füllfederhalter-Herstellers Montblanc und ein ICE 4 tragen ihren Namen, eine deutsche Briefmarke ihr Konterfei. Das American Film Institute wählte sie 1999 unter die 25 größten weiblichen Leinwandlegenden aller Zeiten. Durch Joseph Vilsmaiers Film „Marlene“ (2000) mit Katja Flint in der Titelrolle setzte hierzulande eine neue Dietrich-Manie ein.

Das italienische „conversazione“ bedeutet viel mehr als nur Geschwätz und den Austausch seichter Höflichkeitsfloskeln: Konversation bedeutet „soziale Praxis des Debattierens und Urteilens“, wie die Soziologin Claudia Honegger schrieb. Ein „Konversationslexikon“ also hat sich das emanzipatorische Programm der Aufklärung auf seine Fahnen geschrieben. Seine Leser und Leserinnen sollten, frei nach Kant, durch den öffentlichen Gebrauch der Vernunft die Wahrheit öffentlich darstellen. In Deutschland war es der „Große Brockhaus“, dessen erste, sechsbändige Auflage zwischen 1796 und 1808  erschien, der dieses Programm verfolgte. Herausgegeben wurde er von Friedrich Arnold Brockhaus, der am 4. Mai 1772 in Dortmund als Kaufmannssohn geboren wurde.

Sein Vater, ein Ratsherr, unterhielt eine Materialwarenhandlung, in der der Heranwachsende in seiner Gymnasialzeit bedienen musste, um Gespür und Kenntnisse für das Geschäft zu entwickeln. Eine „wahre Lesewuth“ attestierte er sich schon damals, er las vor allem nachts. Die erste geschäftliche Begegnung mit Büchern ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Bereits als Jugendlicher wurde er im Dienste des Geschäfts auf Auktionen geschickt, um Folianten und Quartanten zu erstehen, die der Vater in seinem Geschäft als Makulatur brauchte. Bei einer der Auktionen wurde Voltaires Leben von Karl XII. angeboten, und der junge Brockhaus ersteigerte, zum Entsetzen seines Vaters, das Buch für zwei Groschen.

Brockhaus. Quelle: Von Carl Christian Vogel von Vogelstein – http://www.bildindex.de, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=356606

Gemäß den elterlichen Wünschen brach Friedrich Arnold die Schule ab und begab sich von 1788 bis 1793 nach Düsseldorf, um in einer großen Firma „die Handlung zu erlernen“. Trotz der erfolgreichen Lehr- und Arbeitsjahre in Düsseldorf hatte „die Liebe für Literatur und die Wissenschaft indessen nie geschlummert(…)“. Je mehr er las, umso mehr fühlte Brockhaus die Lücken in seinem Wissen. Er hatte das Gefühl, keine solide Grundlage zu besitzen. Nach einem Streit mit seinem Prinzipal brach Brockhaus, der zeitlebens für sein aufbrausendes Temperament bekannt war, die Lehre in Düsseldorf ab und kehrte 1793 nach Dortmund zurück.

Kauf des Löbel‘schen „Conversationslexikon“

Der Vater entsprach letztlich seinen dringenden Bitten und gestattete einen Studienaufenthalt in Leipzig zur Verbesserung der Allgemeinbildung des Sohnes. Brockhaus hörte Philosophie und Naturwissenschaften und lernte daneben das rege buchhändlerische und literarische Leben der Messestadt kennen, das ihn faszinierte. Nach glücklichen anderthalb Jahren kehrte Brockhaus nach Dortmund zurück und gründete mit zwei Partnern eine eigene Handlung mit „englischen Manufacturen“. Das Geschäft ging sehr gut, und so konnte er 1798 die Dortmunder Patriziertochter Sophie Beurhaus heiraten. Nach dem Zerwürfnis mit seinen Partnern verlegte Brockhaus 1801 die Firma nach Arnheim und dann nach Amsterdam, zumal Holland den Hauptabsatzmarkt für seine Tuchware bot.

Die Kontinentalsperre Napoleons verhinderte jedoch eine erfolgreiche Weiterführung des Geschäfts. Brockhaus wandte sich in der Not seinen alten Vorlieben zu und gründete 1805 mit dem Buchhändler J. G. Rohloff die Sortiments-und Verlagsbuchhandlung „Rohloff & Co“. Rohloff lieh dafür allerdings nur seinen Namen, denn als Deutscher konnte Brockhaus nicht Mitglied der Amsterdamer Buchhändlergilde werden. So kam es zu der kuriosen Tatsache, dass einer der bekanntesten deutschen Verlage im Ausland gegründet wurde, ein Tuchhändler sein Gründer und Napoleon der Inspirator war.

Neben seiner Arbeit als Sortimentsbuchhändler gründete Brockhaus die politisch-literarische Zeitung Der Stern, die zeitgeschichtliche Monatsschrift Individualitäten aus und über Paris sowie die französische belletristische Vierteljahrsschrift Le Conservateur. Die weitere Verlagstätigkeit umfasste die Herausgabe literarischer Werke wie etwa Übersetzungen, naturwissenschaftliche Werke und Reiseliteratur. Mit dem Historisch-militärischen Handbuch für die Kriegsgeschichte der Jahre 1792 bis 1808 des Freiherrn von Groß begründete er 1808 die Verlagstradition der Militaria.

Büste in Leipzig. Quelle: Von Photo: Andreas Praefcke – Selbst fotografiert, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10494240

Den wohl folgenreichsten Schritt in seiner verlegerischen Karriere machte er im Herbst 1808 beim Besuch der Leipziger Buchhändlermesse: Er erwarb aus einer Insolvenzmasse für die – nach damaligen Verhältnissen bescheidene – Summe von 1.800 Reichstalern die Rechte an dem 1796 von Renatus Gotthelf Löbel unter dem Titel Conversationslexikon mit vorzüglicher Rücksicht auf die gegenwärtigen Zeiten begonnenen Werk. Brockhaus war also nicht der Erfinder des „Konversationslexikons“, seine Leistung bestand vielmehr darin, die Chancen des unvollendeten Löbelschen Lexikons erkannt und durch seine Arbeit daran den Grundstein dazu gelegt zu haben, dass es sich später zum Standardwerk des deutschen Bildungsbürgertums entwickelt.

Parallel dazu hatte er familiäre Probleme: 1809 war Sophie im Kindbett gestorben, und ihr Mann sah sich veranlasst, seine sieben Kinder bei verschiedenen Verwandten unterzubringen, um seinen ohnehin mühsamen Geschäften nachgehen zu können. Schließlich entschloss er sich 1811, seine Firma wieder nach Deutschland zu verlegen, und wählte Altenburg als ersten Sitz der neuen „Verlagsbuchhandlung F. A. Brockhaus“. Die Verlobung mit Hofrätin Wilhelmine Spazier, Schwägerin von Jean Paul und Herausgeberin des von Brockhaus verlegten Jahreskalenders Urania, löste er wieder, nachdem die Frau Wahnvorstellungen entwickelte: „O Gott, aus welchem Himmel bin ich gestürzt.“

Als Bürger in Leipzig

Im Winter 1812 heiratete Brockhaus die Altenburgerin Jeannette von Zschock und konnte daraufhin auch seine Kinder wieder zu sich holen. Nach anfänglichem Eheglück und vier gemeinsamen Kindern setzte jedoch eine Entfremdung ein, die schließlich 1821 zur Trennung der Eheleute führen sollte, aber das Zusammenleben von Vater und Kindern aus erster Ehe ermöglichte. Das führte dazu, dass er mit seinen mittlerweile fast erwachsenen Söhnen gemeinsam am Weiterbau des Verlages arbeiteten konnte. Diese Zusammenarbeit war für den Vater besonders beglückend. In diese Jahre bis 1823 fallen die verlegerischen Projekte, die den Verlag über den Tod von Friedrich Arnold Brockhaus hinaus erfolgreich machen sollten.

117 Bände. Quelle: https://i.ebayimg.com/00/s/MTIwMFgxNjAw/z/83oAAOSw435iTsza/$_59.JPG

So die Urania, eines zu jener Zeit äußerst beliebten „Taschenbuchs für Damen“, die aus einer Sammlung zeitgenössischer Prosastücke und Gedichte bestanden und für die Brockhaus Autoren wie Jean Paul, Theodor Körner, Gustav Schwab, Ludwig Tieck und Eichendorff gewinnen konnte. Sie glänzte allein aufgrund ihres hochwertigen Drucks und der sorgfältigen Bebilderung mit Kupferstichen namhafter Künstler. Unmittelbar vor der Leipziger Völkerschlacht brachte er die Deutschen Blätter heraus, die unter dem Eindruck des Kriegsgeschehens zur täglichen patriotischen Nachrichtenquelle wurden. 1818 erhielt Brockhaus das Leipziger Bürgerrecht, das ihm den Eintritt in die Leipziger Buchhändlergemeinschaft ermöglichte. Damit war er einer von damals 121 Verlags- und Sortimentsbuchhändlern der Stadt. Bis 1819 erfolgte die Umarbeitung des „Conversations-Lexikons“, dass so großen Anklang fand, dass der junge Verlag, der in den ersten Jahren vor allem wissenschaftliche Verlagstätigkeit betrieb, nun finanziell günstig stand.

Zum ersten Mal soll Wissen nicht für den exquisiten Kreis der Gelehrten zugänglich werden, sondern für das gebildete Bürgertum: zur Belehrung, aber auch zur Unterhaltung in den Salons und guten Stuben. „Flüssigmachung und Popularisierung der wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Ergebnisse, nicht für die geschäftliche Praxis, sondern für die Befriedigung und Förderung der allgemeinen Bildung“ wird Brockhaus diese Aufgabe nennen. Darin lebt das emanzipatorische Grundanliegen der Aufklärung weiter: Dass „der Einzelne selbst denken lernen möge, damit er mit seinen Mitmenschen räsonieren könne und die Welt also vernünftiger werde. Denn: Wer räsoniert, nimmt Wissen nicht als gegeben hin und macht es – zur Zeit der Aufklärung und auch nachher keine Selbstverständlichkeit – öffentlich“, so Urs Hafner in der NZZ.

Mit der Übersiedlung der Firma nach Leipzig verwirklichte Brockhaus ein seit langem gehegtes Vorhaben – den Bau einer eigenen Druckerei. Fremde Druckereien konnten die steigende Nachfrage nach dem Konversations-Lexikon nämlich kaum noch bewältigen. Außerdem gab er das später ebenfalls weit verbreitete „Handbuch der deutschen Literatur“ heraus. Brockhaus selbst trat im Jahrgang 1822 unter dem Pseudonym „Guntram“ mit der Erzählung „Die Nebenbuhlerin ihrer selbst“ als Schriftsteller auf, war damit aber wenig erfolgreich. Mit der von dem Naturforscher Lorenz Oken herausgegebenen Isis oder Encyclopädische Zeitung von Oken geriet er mehrfach an den Rand eines Verbots durch die Zensur.

Urania von 1812. Quelle: https://www.booklooker.de/B%C3%BCcher/Brockhaus-Friedrich-Arnold+URANIA-Taschenbuch-f%C3%BCr-Damen-auf-das-Jahr-1812-Mit-zw%C3%B6lf-Kupfern/id/A02jwOXi01ZZh

Die Reihe Zeitgenossen. Biographien und Charakteristiken bildete den Hauptteil seiner journalistischen Verlagstätigkeit in Leipzig. Das Werk stellte die Biografien von damals noch lebenden oder bereits verstorbenen Personen der Zeitgeschichte vor und übernahm damit ein Konzept, das sich zuvor bereits in England bewährt hatte. Autoren waren etwa Varnhagen von Ense und August Wilhelm Schlegel. Neben dem weiteren Ausbau des enzyklopädischen Programms seines Verlages wagte sich Brockhaus auch an die Veröffentlichung der Memoiren Casanovas. Das Werk wurde ein voller Erfolg und der Ausgangspunkt einer umfangreichen Casanova-Literatur im Brockhaus-Verlag, der nun ein spezielles Casanova-Archiv anlegte. 2010 verkaufte die Familie Brockhaus das Manuskript der Memoiren an die französische Nationalbibliothek – für siebeneinhalb Millionen Euro, wie gemunkelt wurde. Brockhaus hatte es 1821 für 200 Taler erworben.

„Was er geschaffen hat, soll fortleben!“

Mit seinem Tod am 23. August 1823 verloren die deutschen Verleger einen vielseitig gebildeten Menschen mit großer Verehrung für das Wissen und Können seiner Autoren, über den Heinrich Heine, trotz der Ablehnung eines Gedichtbandes urteilte: „…ein Mann von angenehmer Persönlichkeit. Seine äußere Repräsentation, sein scharfblickender Ernst und seine feste Freimütigkeit lassen in ihm jenen Mann erkennen, der die Wissenschaften und den Meinungskampf nicht mit gewöhnlichen Buchhändleraugen betrachtete.“ Gleichsam als Vorgriff auf die Zukunft schrieb sein Sohn Heinrich kurz nach dem Tode des Vaters in sein Tagebuch: „Was er geschaffen hat, soll fortleben!“

Der Brockhaus war Vorbild vieler ausländischer Lexikaprojekte, darunter das 26-bändige niederländische Großlexikon Winkler Prins Geïllustreerde Encyclopaedie (1870–1882) oder auch eine 43-bändige russische Enzyklopädie (1890–1906). Zwischen Oktober 1936 und März 1938 veröffentlichte die Redaktion, dem neuen Zeitgeist entsprechend, eine vierbändige Ausgabe „Der Neue Brockhaus“, die durch einen Atlasband ergänzt und nicht mehr Konversationslexikon, sondern „Allbuch“ genannt wurde. Eine kompromisslose Attacke gegen das enzyklopädische Wissensmodell ritt der 1948 verstorbene französische Autor Antonin Artaud: Es erlaube irgendwelchen Pedanten, ihre „geistigen Beschränktheiten zu kanalisieren“.

Der Verkauf der letzten, 21. Auflage war so schlecht verlaufen, dass Brockhaus mit einem Verlust in der Größenordnung von mehreren Millionen Euro abschließen musste. Die für den 15. April 2008 angekündigte Lancierung des kostenlosen Onlineportals wurde auf unbestimmte Zeit verschoben und später ganz abgesagt. Die Brockhaus-Enzyklopädie wurde schließlich rückwirkend zum 1. Februar 2009 durch die Bertelsmann-Tochter Arvato übernommen, die Mitte 2013 verlauten ließ, die „Brockhaus-Enzyklopädie“ nicht weiterzuführen. Die Marke hat sich seitdem vom Wissens- zum Bildungsanbieter gewandelt und bietet neben Online-Nachschlagewerken bestehend aus Enzyklopädie, Jugendlexikon und Kinderlexikon, noch digitale Lehrwerke, E-Learning-Material sowie englischsprachige Lehrvideos an.

Publikationsanordnung für Brockhaus auf Befehl des Fürsten Schwarzenberg in der ersten Ausgabe der Deutschen Blätter aus dem Jahr 1813. Quelle: Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=374058

In der „schönen neuen Medienwelt“, in der das Digitale und das dynamisch Bewegte eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausüben, wirkten die in schwarzes Leder eingebundenen Wälzer, auf deren Rücken goldfarbene Lettern prangen, seit spätestens der Jahrtausendwende wie Dinosaurier. Die Standardausgabe wurde bei Komplettabnahme zu einem Gesamtpreis von 2.820 Euro verkauft. Dem Verlag zufolge wiegen die Bände zusammen 70 Kilogramm und nehmen 1,70 Regalmeter ein. Die 30 Bände bieten zwar 300 000 Artikel, doch die deutschsprachige Wikipedia stellt bereits über eineinhalb Millionen bereit – und das obendrein noch kostenlos. Doch das Verdienst, das bedeutendste Nachschlagewerk deutscher Sprache geschaffen zu haben, das sich im Laufe seiner Geschichte zum zentralen Träger des Wissens unserer Gesellschaft entwickelte, ist Brockhaus nicht zu nehmen.

Wie Joseph von Eichendorff oder Caspar David Friedrich muss er schuld sein. Denn er schrieb: „Der Poet versteht die Natur besser wie der wissenschaftliche Kopf.“ Und so wurde auf der Suche nach einer Erklärung dafür, warum Millionen Deutsche sich gegen das Impfen sträuben und warum ausgerechnet im deutschen Sprachraum die Impfquoten so viel niedriger sind als im gesamten übrigen Europa, seit November 2021 auf die großen Dichter und Maler der Romantik verwiesen. Sie hätten uns mit ihrem sehnsuchtsvollen Hang zur Idylle, zur Gefühlswelt, zur Weltflucht den Verstand, die Logik, die Errungenschaften der Aufklärung ausgetrieben, so Hans Bellstedt im Business Insider.

Es gebe im deutschsprachigen Raum eine „klare geistesgeschichtliche Linie zwischen der Romantik und der Impfskepsis heute“, pflichtet Andreas Speit in der taz bei. In der romantischen Literatur sei „das Natürliche unglaublich verklärt und verabsolutiert“ worden, was „eine Distanz zur vermeintlich kalten Wissenschaft und sogenannten schulischen Medizin bewirken kann“. Doch hätte sich etwa ein Kult um ihn ausgebreitet, hält Johannes Franzen in der FAZ dagegen, „mit blauen Blumen am Parka, dann hätte die Berufung auf das Erbe der Romantik eine ganz andere Energie besessen“. Der poetische Urheber dieses romantischsten aller Motive feierte nun seinen 250. Geburtstag: Georg Philipp Friedrich „Fritz“ von Hardenberg, der sich später Novalis nannte.

Novalis. Quelle: Von Franz Gareis – http://novalis.autorenverzeichnis.de/portraets/port_2_gareis_novalis_1800.html, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=1931634

Am 2. Mai 1772 kommt er auf dem Rittergut Oberwiederstedt bei Mansfeld als zweites von elf Kindern eines Salinendirektors zur Welt. Im Alter von acht Jahren übersteht er eine schwere Ruhr und wird zunächst von Hauslehrern unterrichtet. Wegen schwerer körperlicher und seelischer Erkrankungen der Mutter kommt der 11-jährige nach Lucklum zum Haus seines Onkels Wilhelm von Hardenberg. Der wünscht für seinen Neffen eine stolze Staatskarriere, der Vater möchte seinen Sohn zum strengen Pietisten erziehen. In diesem Spannungsfeld entwickelt er bald eine unabhängige Urteilsbildung, der Onkel bleibt eine bestimmende Gestalt in Friedrichs Leben. Als 12jähriger versucht er sich an ersten Gedichten.

„die Welt ist öde“

1790 beendet er das Gymnasium in Eisleben und wird wenige Wochen später an der Universität Jena immatrikuliert, hört Philosophie und – beim nur 13 Jahre älteren Schiller, mit der er sich anfreundet – europäische Staatsgeschichte. 1791 wird in Wielands Neuem Teutschen Merkur sein Gedicht „Klagen eines Jünglings“ veröffentlicht, im selben Jahr wechselt er für das Studium der Rechte, Mathematik und Philosophie an die Universität Leipzig und findet in Friedrich Schlegel seinen besten Freund. 1794 schloss er das Jurastudium mit bestem Examen ab und verdingte sich in Tennstedt als Aktuarius (Gerichtsschreiber) beim Kreisamtmann Just, der später sein Biograph wurde.

Während dieser Zeit lernte er im nahen Schloss Grüningen die junge Sophie von Kühn kennen und verlobte sich mit der noch 12jährigen im März 1795. 1796 trat er nach einem Kursus in Chemie eine Stelle als Akzessist bei der Salinendirektion in Weißenfels an – Vorgesetzter wurde sein Vater, der sich jeder Neuerung hartnäckig widersetzte, was reichlich Stoff zu Konflikten gab. Zugleich begann er seine Fichte-Studien: Novalis setzt Fichtes Philosophie vom Selbstbewusstsein des Ich in eine produktive, weltschöpferische Kraft um und nahm sie zum Ausgangspunkt für eine poetische, ja eine Liebesreligion: „je poetischer, je wahrer!“ Nun war das „Nicht-Ich“ ein „Du“, ein gleichwertiges Subjekt.

Julie Charpentier. Quelle: Von Dora Stock – Klaus Günzel: Die deutschen Romantiker. Artemis, Zürich 1995, ISBN 3-7608-1119-1, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12225819

Sophie starb nach einer Lebererkrankung qualvoll im Alter von gerade fünfzehn Jahren am 19. März 1797, was Hardenberg insbesondere in seinen Dichtungen stark prägte. Er glorifizierte, ja mystifizierte die tote Braut und entwickelte eine Todessehnsucht, die ihn im Jenseits wieder mit ihr zusammenführen sollte und in den ersten Monaten nach ihrem Tod halluzinatorische Formen annahm. So legte er sich zum „Nachsterben“ auf ihr Grab: „Sie ist gestorben, so sterb‘ ich auch, die Welt ist öde. In tiefer, heit‘rer Ruh will ich den Augenblick erwarten, der mich ruft.“ Die Vorstellung hat ihn auch später nie mehr ganz verlassen.

Die Ambivalenz zwischen optimistischem Selbstbewusstsein, der Besinnung auf das Praktische und der schwärmerischen Erhöhung von Dingen und Menschen ins Überirdische werden prägend für Novalis‘ Leben. Um seine Verzweiflung auszugleichen, nimmt er ein neues Studium auf und wird 1797 Gasthörer an der populären Bergakademie in Freiberg. In der Zeitschrift Athenaeum der Gebrüder Schlegel veröffentlicht Novalis 1798 seine „Blüthenstaub“-Fragmente. Hier taucht das Pseudonym Novalis erstmals auf, „welcher ein alter Geschlechtsname von mir ist und nicht ganz unpassend“: Der Name geht auf einen älteren Zweig seiner Familie, das lateinische de novali („Neuland roden“) zurück. Novalis selbst interpretiert den Namen als „einer, der Neuland bestellt“.

„Konstruktion der transzendentalen Gesundheit“

Im Sommer dieses Jahres entstehen auf einer Böhmen-Kur die „Teplitzer Fragmente“. Außerdem schreibt er an „Die Lehrlinge zu Sais“, einem naturphilosophischen Romanfragment mit dem eingebetteten Märchen von „Hyacinth und Rosenblüth“, und er verlobt sich zum zweiten Mal: Mit Julie von Charpentier, der Tochter eines Freiberger Professors. Ende 1799 wird er zum Salinenassesor in Weißenfels ernannt und schließt Bekanntschaft mit dem Kreis der „Jenaer Romantik“, dem die Philosophen Fichte, Schelling und Schleiermacher, die Brüder Schlegel sowie Ludwig Tieck angehören. Es kommt zum legendären „Romantiker-Treffen“ in Jena, auf dem Novalis den gerade entstandenen geschichtsphilosophischen Aufsatz „Die Christenheit oder Europa“ vorträgt.

Erstausgabe der Schriften 1802. Quelle: Von Dora Stock – Klaus Günzel: Die deutschen Romantiker. Artemis, Zürich 1995, ISBN 3-7608-1119-1, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=12225819

Darin hat er das Nationale und das Universale in Harmonie gebracht, sein Aufruf zur kulturellen Erneuerung des Abendlandes, einer „spirituellen Wiedergeburt Europas“ kann kaum aktueller sein als heute: „Wo aber keine Götter sind, da walten Gespenster“, mahnte er einst. Seine Zukunftsutopie bedient sich des Idealbildes eines frühmittelalterlichen Christentums und fordert von den Menschen die Erkenntnis der höheren Welt, um aus Europas Zerfall herauszuführen und ein neues goldenes Zeitalter hervorzubringen. Novalis nutzt dabei die für ihn typische Triadenstruktur: Darstellung der glücklichen Urzeit (Christentum im Mittelalter) – Zwischenphase des Zerfalls (Krise Europas) – Wiederherstellung der Urzeit als goldenes Zeitalter. Der Text war dem preußischen Königspaar gewidmet, das darüber nicht erbaut war.

Die Frühromantiker schreiben sich auf die Fahne: „Wir sind auf einer Mission. Zur Bildung der Erde sind wir berufen.“ Einen Zustand zu erreichen, in dem Mensch und Natur harmonieren, ja die Welt zu romantisieren, könnte man das Bildungsziel nennen. Vor allem Novalis strebt eine progressive Universalpoesie an, bei der Philosophie und Dichtung in engem Verhältnis stehen, sich gegenseitig bedingen und scheinbar ausschließende Gegensätze zusammenführen: das Gewöhnliche und das Besondere, das Begrenzte und das Unendliche. „Die Welt romantisieren heißt, sie als Kontinuum wahrzunehmen, in dem alles mit allem zusammenhängt. Erst durch diesen poetischen Akt der Romantisierung wird die ursprüngliche Totalität der Welt als ihr eigentlicher Sinn im Kunstwerk ahnbar und mitteilbar“, so sein oft zitiertes ganzheitliches Credo.

1800 bewirbt er sich als Amtshauptmann für den Thüringischen Kreis; zugleich nimmt die tödliche Tuberkulose Besitz von seinem Körper – bis heute halten sich Gerüchte, er habe sich bei Schiller angesteckt. In der ersten Jahreshälfte schließt er das Vermächtnis seiner Liebe zu Sophie ab: Die „Hymnen an die Nacht“, die ein Gegenreich zur Realität bilden und mit Todessehnsucht und mystisch-erotischen Metaphern spielen: Denn „zugemessen war dem Lichte seine Zeit; aber zeitlos und raumlos ist der Nacht Herrschaft“. Die Nacht als Bindeglied zwischen Realität und mystischer Traumwelt, verwoben mit den Themen Leben und Tod: „Der Tod ist das romantisierende Prinzip des Lebens.“ Wagners „Tristan und Isolde“ ist ohne die Hymnen nicht denkbar.

Grab in Weißenfels. Quelle: Von Doris Antony, Berlin – photo taken by Doris Antony, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2806076

Außerdem beendet er den ersten Teil des Reisefragments „Heinrich von Ofterdingen“, dem die „blaue Blume“ erscheint und die er „lange mit unnennbarer Zärtlichkeit“ betrachtet: Sie steht für Sehnsucht, Liebe und das metaphysische Streben nach dem Unendlichen. Sein Protagonist ist das Abbild des romantischen Dichters, der im Sinne der transzendentalen Poesie das Diesseits überwindet: „Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt.“ Das Credo ist die Poetisierung der Welt durch die kreative Einbildungskraft. Die durch Novalis dargelegte potentielle Wirkkraft des Sängers führte bereits 1812 dazu, dass ihm zunächst August Wilhelm, dann auch Friedrich Schlegel fälschlicherweise das Nibelungenlied zuschrieben.

Doch bereits 1820 wurde die These von Karl Lachmann entkräftet. Ursprünglich sollte das Werk ein Gegenstück zu dem zwar begeistert gelesenen, aber als unzulänglich beurteilten „Wilhelm Meister“ Goethes werden. Novalis’ damalige Kritik daran ist bis heute nicht übertroffen: „Es ist im Grunde ein fatales und albernes Buch – so pretentiös und pretiös – undichterisch im höchsten Grade, was den Geist betrift – so poëtisch auch die Darstellung ist. Es ist eine Satyre auf die Poësie, Religion etc. Aus Stroh und Hobelspänen ein wohlschmeckendes Gericht, hinten wird alles Farçe. Wer ihn recht zu Herzen nimmt, liest keinen Roman mehr.“

„basisdemokratische Volksmonarchie“

Zuletzt setzte sich Novalis mit dem Mystiker Jakob Böhme auseinander; die auf Böhme beruhende Utopie „Alle Menschen sollen thronfähig werden“ klinge nach „einer Art basisdemokratischer Volksmonarchie“, kommentierte Volker Weidemann in der Zeit. Im Dezember 1800 wird Novalis zum Amtshauptmann ernannt, reist im Januar 1801 nach Dresden und kehrt schwerkrank wieder in sein Elternhaus nach Weißenfels zurück. Am 25. März stirbt er hier 29-jährig an einem Blutsturz infolge der Tuberkulose. Sein Bruder Carl und Freund Schlegel sind bei ihm. Mit seinem Tod ordnete er sich wieder in die Familie ein. Von den Kindern der Hardenbergs sind 8 im Alter zwischen 21 und 32 Jahren verstorben, ein Sohn wurde nur 13, einer 37 Jahre alt. Novalis war demnach der „Normalfall“ in dieser Familie.

DEFA-Szenenbild. Quelle: https://www.defa-stiftung.de/filme/filme-suchen/novalis-die-blaue-blume/

Im Gegensatz zu anderen Dichtern und Philosophen hat sich Novalis nie aus seiner regionalen Umgebung herausbewegt. Es gab keine Reisen in Metropolen oder andere Länder. Dass ein derart lokal orientierter Mensch in der Lage war, ein so universelles Werk zu schaffen, erstaunt bis heute. Die Entfremdung sowohl vom Anderen als auch von der Natur magisch zu überwinden kann man als Narrativ seiner Romantik deuten: Weil nicht in „Zahlen und Figuren“, sondern in einem „geheimen Wort“ der Schlüssel zum Geheimnis des Universums liegt. Novalis und die Frühromantiker sahen sich als Neuerer, die programmatisch der vordergründigen die transzendentale Welt, das innere Ich entgegensetzten.

Das sahen, beginnend bei Hegel, viele anders: Carl Schmitt war die Romantik zu individualistisch, dem ungarischen Marxisten Georg Lukács wiederum zu völkisch, und auch die 1968er-Bewegung wusste, welcher Geist noch immer unter den Talaren muffte. „Schlagt die Germanistik tot. Färbt die blaue Blume rot!“, lautete ein bekannter Studentenslogan aus jener Zeit. „Zwischen dem Bilde eines schwärmerischen Romantikers, der an Schwindsucht starb, und dem Bilde des hochintellektuellen Dichters und Denkers, für den Poesie ein ‚Tun und Hervorbringen mit Wissen und Willen‘ war und in dessen Bewusstheit sich die moderne Künstlerexistenz vorgebildet fand, klafft ein unüberbrückbarer Riss“, so sein Biograph Hans-Joachim Mähl.

Von Franz Schubert stammen sechs Novalis-Vertonungen. Vielfach sind seine Wirkungen auf den französischen Symbolismus, auf Autoren wie Keats, Poe, Hofmannsthal, Musil oder Benn bezeugt. In den 1970er Jahren übernahm eine deutsche Band den Namen Novalis und vertonte neben eigener Lyrik verschiedene seiner Werke. Bundesfilmpreisträger Herwig Kipping verfilmte 1993 den Ofterdingen als „Novalis – Die blaue Blume“ – es war die letzte Produktion der DEFA. Eine Auswahl der „Geistlichen Lieder“ wie „Wenn alle untreu werden“ oder „Wenn ich ihn nur habe“ wurden schon bald Bestandteil lutherischer Gesangbücher – und sind es bis heute.

Bärlauchsuppe

Bärlauch: Solange er wächst, muss man ihn essen – eine bessere Entschlackungskur gibt es im Frühjahr nicht. Ob roh, als Salat, gebraten als Gemüse – oder ganz einfach als Kräutersuppe: Er schmeckt immer. Hier mein Rezept einer einfachen Bärlauchsuppe:

1 Zwiebel

1 Knoblauchzehe

0,75 l Gemüsebrühe

300 g Bärlauch

150 ml Schmand (je nach Gusto auch Schlagsahne oder Creme fraiche)

25 g Butter

Salz, schwarzer Pfeffer, Muskatnuss

Zitronensaft

Zwiebel und Knoblauch in der Butter anschwitzen, mit der Brühe ablöschen. Den gehackten Bärlauch hinzufügen, aufkochen, würzen und mit dem Schmand vollenden. Manche fügen auch eine kleingeschnittene Kartoffel hinzu (dann muss die Suppe länger kochen) oder ersetzen den Zitronensaft mit Weißwein bzw. die Butter mit Olivenöl. Mir schmeckt sie so am besten; ich verzichte auch auf das Pürieren am Ende. Dazu passen Baguette oder Brot. Wer es gehaltvoller mag, kann gerne die Zwiebeln mit Speckwürfeln anbraten oder am Ende ein paar Schinkenwürfel hinzufügen. Guten Appetit!

Vorher-Nachher-Bild.

„Er war mutig“

Als Kind hatte der introvertierte Naturbursche Angst vor dem Wasser, nachdem er zweimal beinahe ertrunken wäre. Sogar als Jugendlicher weigerte er sich, Schwimmen zu lernen, bis er 1937 auf Tahiti in einen reißenden Fluss stürzte und um sein Leben kämpfen musste. Zudem wusste er nichts von der Seefahrt. Und doch ließ sich er ab 1947 mehrmals mit primitiven Wasserfahrzeugen furchtlos über die Ozeane treiben. Sein erster, packend beschriebener Reisebericht „Kon-Tiki. Ein Floß treibt über den Pazifik“ wurde in 67 Sprachen übersetzt, darunter Urdu und Mongolisch, und fast hundert Millionen Mal verkauft, seine selbstgedrehte Reportage dazu 1951 mit dem Oscar als bester Dokumentarfilm geehrt: Thor Heyerdahl, der am 18. April vor 20 Jahren starb.

Im Walfangstädtchen Larvik am 6. Oktober 1914 als Sohn eines schon älteren Brauereibesitzers geboren, befasste er sich schon in seiner Kindheit mit Flora und Fauna, war mit Zelt und Schlafsack im nahen Gebirge unterwegs und hegte früh den Wunsch, einige Zeit in einer von der Zivilisation möglichst unberührten Gegend zu verbringen. 1933 begann er das Studium der Zoologie, Geografie und Anthropologie an der Universität Oslo und heiratete am Weihnachtsabend 1936 seine erste Frau Liv, mit der er am nächsten Tag nach Fatu Hiva auf Tahiti aufbrach – zugleich Hochzeitsreise und Vorbereitung für das Staatsexamen über die Herkunft der dortigen Fauna. Während des urwüchsigen Aufenthalts inmitten von Eingeborenen wandte sich Heyerdahl mehr und mehr der Ethnologie zu und begann, die Herkunft der Insulaner „aus einem großen Land im Osten“ ernsthaft in Erwägung zu ziehen: Ein Autodidakt, „der versucht hat, mit Hilfe seiner Reisen und spektakulärer Aktionen festgefahrene Theorien aufzubrechen“, so der Bonner Ethnologe Nikolai Grube im Spiegel. Sein Studium wird er nie abschließen.

Nach der Rückkehr 1938 wurde sein erster Sohn geboren. Heyerdahls Forschung zur Herkunft der Polynesier führte ihn samt Familie 1939 nach Kanada, wo er festsaß, nachdem Norwegen 1940 von deutschen Truppen besetzt worden war. Um sein nahezu publikationsreifes englischsprachiges Manuskript zur Besiedlung Polynesiens „Polynesia and America“ zu vollenden, reiste er an die Nordwestküste Kanadas, wo ihn Fotos und Objekte aus dem Bella-Coola-Tal frappant an polynesische Arbeiten erinnerten. Es gab damals mindestens zwei relevante, aber einander widersprechende Thesen: Für die einen war Polynesien über Melanesien besiedelt worden, was die anderen bestritten, weil Blutgruppen von Melanesiern und Polynesiern nicht zusammenpassten. Heyerdahl erklärte aufgrund seiner Kenntnisse über Meeresströmungen beide Fachmeinungen für überflüssig.

Heyerdahl. Quelle: Von Magnussen, Friedrich (1914-1987) – Stadtarchiv Kiel, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=69632446

Seine Begründung: da der Philippinenstrom (Japanstrom) von Asien Richtung Nordwestamerika verläuft, wo er dann nach Hawaii und Polynesien abbiegt, hätten die Seefahrer einen Großteil der Strecke von Amerika nach Polynesien neben der Strömung auch den Passatwind im Rücken gehabt. Diesen möglichen Verlauf der Besiedelung hatte zuvor noch niemand bedacht, obwohl bekannt war, dass eine maritime Bevölkerung der Inseln Britisch-Kolumbiens aus Asien gekommen sein musste und noch in der Steinzeit lebte, als erste Europäer eintrafen. Ein Artikel der New York Times über Heyerdahls Arbeit wurde gleichzeitig mit einem vernichtenden Kommentar der populären Ethnologin Margaret Mead abgedruckt: Auftakt der jahrzehntelangen Anfechtungen von Heyerdahls Theorien.

„Die Norweger sind tüchtige Seeleute“

Um am Kampf für die Befreiung Norwegens teilzunehmen, meldete sich Heyerdahl freiwillig im norwegischen Rekrutierungsbüro. Nach einer Funker- und Fallschirmausbildung war der Rekrut 1945 kurzzeitig in der Finnmark eingesetzt, ohne einen Schuss abzugeben. Sofort nach Kriegsende wollte er praktisch beweisen, dass Polynesien von Südamerika und nicht von Asien aus besiedelt wurde. Dabei setzte er auf ein Boot, das nach altindianischem Vorbild gebaut worden war: ein Floß, das ganz ohne Schrauben und Nägel auskommen musste, nur von Tauen zusammengehalten und nach einem Inka-Gott „Kon-Tiki“ getauft wurde. Diese leichten Flöße aus Balsaholz hatten die spanischen Eroberer vorgefunden, als sie nach Peru kamen. Und so fuhr er mit vier Norwegern und einem Schweden im Frühjahr 1947 in 101 Tagen vom peruanischen Callao rund 4000 Seemeilen zum Raroia-Atoll in Französisch-Polynesien. Die Brandung schleudert Kon-Tiki auf die felsenharten Korallen, Brecher zerschlagen sie, alle überleben unverletzt. Versicherungen hatten sich geweigert, Lebensversicherungen abzuschließen.

Ralph Linton, ein bekannter amerikanischer Kulturanthropologe, kommentierte nur trocken: „Heyerdahl hat nichts anderes bewiesen als das, was wir schon vorher wussten: Die Norweger sind tüchtige Seeleute.“ Das war lange der Tenor in der Fachwelt. „Er war mutig“, bescheinigt ihm Grube im DLF, „weil er versucht hat, mit experimenteller Archäologie, die Möglichkeit solcher Kontakte nachzuweisen. Er hat viel geleistet, um zu zeigen, dass wir den Völkern des Altertums viel zu wenig Technologie zutrauen.“ Erst 2020 bewies eine Genstudie, dass amerikanische Ureinwohner tatsächlich die Polynesischen Inseln besuchten – lange vor Kolumbus. Allerdings irrte er sich laut den Forschern im Abfahrtsort der Südamerikaner: Die Studie sieht die größte genetische Ähnlichkeit zu den Ureinwohnern Kolumbiens, nicht Perus. Das Floß, das heute im Osloer Kon-Tiki-Museum wie aus dem Ei gepellt zu bewundern ist, ist eine Rekonstruktion dessen, was der Pazifik übrig ließ.

Kon-Tiki. Quelle: Von Nasjonalbiblioteket from Norway – Expedition Kon-Tiki 1947. Across the Pacific.Uploaded by palnatoke, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=26765008

Heyerdahls Buch über das Abenteuer nannte Udo Zindel im Spiegel den „wohl populärsten Expeditionsbericht aller Zeiten“. Bis heute fiebert man bei solchen Sätzen mit: „Links sehe ich die mächtige blaue See mit ihren schäumenden Wogen, die sich in endlosem Lauf vorbeiwälzen. Rechts liegt in einer dämmrigen Hütte, die seit Wochen unsere Heimstatt ist, ein bärtiges Individuum auf dem Rücken, liest Goethe und gräbt seine bloßen Zehen nachdenklich zwischen die Querleisten des niedrigen Bambusdachs.“ Ein Reporter will von ihm noch fast dreißig Jahre später wissen, wie sie monatelang ohne Nachschub an frischem Trinkwasser überlebt haben. „Wir haben Regen gesammelt“, erklärt Heyerdahl seinem erstaunten Zuhörer, „und jeden Tag fingen wir Fische und pressten ihre Lymphflüssigkeit aus. Die schmeckt zwar nicht gut, hat aber weniger Salz als das menschliche Blut – so kann man ohne Schwierigkeiten überleben!“ Eine Wiederholung der Floßreise durch eine internationale Besatzung scheiterte 2015 nach 114 Tagen.

„ein transatlantischer Impuls“

Seine Ehe zerbrach nach Kon-Tiki, er heiratete 1949 seine zweite Frau Yvonne, mit der er nochmal drei Töchter hat. Nach Studienaufenthalten unter anderem auf Galapagos, am Titicacasee und den Osterinseln gelang Heyerdahl 1970 der zweite große Streich: Er überquerte mit einem Segelschiff aus Papyrus den Atlantik, um zu demonstrieren, dass theoretisch schon die alten Sumerer und Ägypter hätten nach Südamerika gelangen können. Denn ähnlich wie die Menschen des Zweistromlands und des Niltals bauten die Azteken, Mayas und Inkas große Städte und mächtige Pyramiden, kannten Kalendersysteme und eine Schriftsprache. „Hier glaube ich, dass es in Mexiko und Peru etwas gab, was die Indianer anderer Regionen nicht hatten“, erzählt Heyerdahl. „Und das, glaube ich, war ein transatlantischer Impuls!“ Für Grube verbirgt sich hinter dieser Haltung Ethnozentrismus, wenn nicht gar Rassismus: Heyerdahl unterstelle den indigenen Völkern Amerikas, dass sie nicht in der Lage gewesen seien, diese kulturellen Errungenschaften eigenständig hervorzubringen.

1969 lässt der geschickte Selbstvermarkter an den Pyramiden von Gizeh ein 15 Meter langes Boot aus Papyrusbündeln von Bootsbauern vom Volk der Buduma vom Tschadsee zusammenbinden, nach Vorbildern auf antiken Wandmalereien. Dieses schwankende Gefährt steuern er und eine sechsköpfige Crew wenige Wochen später unter der Flagge der UNO aus Safi an der marokkanischen Küste Richtung Mittelamerika. „Ich möchte gerne beweisen, dass es möglich wäre, dass viele Menschen zusammenleben. Ich hatte an Bord Jude und Moslem und Katholik und Hindu, Buddhist und Atheist. Und wir hatten nicht dieselbe Ideen, aber immer freundliche Diskussionen. Und es war immer interessant“, wird er in seiner Autobiographie schreiben. Doch auf hoher See verliert die „Ra“, das „Sonnenboot“, wie ihr medienerfahrener Kapitän sie nennt, die Hälfte ihres Materials. Immer wieder zerbrechen die baumstarken Steuerruder wie Streichhölzer.

Und nachdem ein Orkanausläufer über das Schiff hinweggezogen ist, kentert es schließlich mehrere hundert Seemeilen von der Karibikinsel Barbados entfernt. Ein Jahr später gelingt Heyerdahl unter großen Mühen und Gefahren die Überfahrt mit der drei Meter kürzeren Ra II – die nunmehr von Anden-Indianern vom Titicaca-See gebaut wurde, weil Heyerdahl zur Überzeugung gekommen war, dass deren Schiffbautechnik der ägyptischen näher sei als die aus dem Inneren Afrikas. Nach 57 Tagen und 6100 Kilometern landet das Boot glücklich – mit dem Affen Safi als Maskottchen an Bord. Und, wie bei Kon-Tiki, hält er seine These damit für bewiesen: Die Indianer wurden in vorgeschichtlicher Zeit von hellhäutigen Kulturbringern besucht, die den Weg zu ihnen über den Atlantik fanden.

Nachbau der Ra II. Quelle: Von Berthold Werner – Eigenes Werk, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3753749

In diesen Jahrzehnten wird Thor Heyerdahl zum populärsten Forscher überhaupt, seine Expeditionen begeistern Millionen Menschen und lassen selbst die Bekanntheit eines Jacques-Yves Cousteau verblassen. „Und sie brüskieren mit ihrer Mischung aus Querdenkerei, Wagemut und tatkräftiger Naivität immer wieder die etablierte Völkerkunde“, so Zindel. Eine andere Entdeckung überraschte und entsetzte Heyerdahl und seine Crew: Im Atlantik schwammen schwarze Ölklumpen. Sowas hatte die Mannschaft noch nicht gesehen und funkte die Information noch auf Reisen an die Vereinten Nationen (UNO). Der damalige UNO-Generalsekretär beauftragte Heyerdahl damit, die Wasserverschmutzung täglich zu beobachten. Die Crew der Ra II entdeckte an 43 von 57 Tagen der Reise Ölklumpen im Atlantik. Heyerdahl verfasste Berichte zur Umweltverschmutzung auf See und legte sie zu unterschiedlichen Anlässen vor, unter anderem auf der Dritten UN-Seerechtskonferenz. 1972 verabschiedete die internationale Gemeinschaft daraufhin ein Verbot zur Entsorgung von Altöl auf offener See.

Vertreter des Diffusionismus

Nach der Ra II-Expedition zerbrach seine zweite Ehe: Heyerdahl räumte bei der Scheidung ein, dass er schuld daran gewesen ist, weil er zu viel weg war. Eine dritte große Expedition führte Heyerdahl 1977 mit dem Schilfboot „Tigris“ vom Irak über den Persischen Golf und den Indischen Ozean nach Dschibuti in Ostafrika. In der Hochzeit des Kalten Kriegs heuert er für die Besatzung einen sowjetischen Raumfahrtarzt und einen US-amerikanischen Navigator an und findet das einen der interessantesten Aspekte seiner Expeditionen: „Ich habe Leute verschiedener Länder, politischer Ideen und Hautfarben zusammengebracht, um zu beweisen, dass es nur eine menschliche Familie gibt.“ Damit erweist er sich nicht nur als markanter Vertreter des Diffusionismus, der auf der These basiert, dass kulturelle Innovationen weltweit nur selten erfunden werden, aber sich anschließend zu anderen Kulturen ausbreiten, sondern sucht ihn auch zu leben.

Die Tigris wäre noch länger seetüchtig gewesen, doch wegen der damaligen kriegerischen Lage am Horn von Afrika durch den Ogadenkrieg, die eine Einfahrt ins Rote Meer verhinderte, wurde die Reise abgebrochen. Weder im Nord- noch im Südjemen, die sich gerade bekriegen, darf die Tigris landen, weder in Somalia noch in Äthiopien, wo die Supermächte einen Stellvertreterkrieg gegeneinander führen. Erst im französisch kontrollierten, neutralen Dschibuti am Horn von Afrika findet das Schilfboot endlich einen Hafen. Und dort verbrennt Thor Heyerdahl schließlich sein letztes Expeditionsschiff, „als Fackel des Protestes gegen den Wahnsinn des modernen Kriegs“, wie Berndt Schulz, ein deutscher Biograf, schreibt. Politisch bleibt das lodernde Schilfboot ein Strohfeuer, das die Krieg führenden Parteien nicht im Geringsten beeindruckt. Aber für Heyerdahl selbst markieren die glühenden Reste der Tigris den endgültigen Abschied von seinen wagemutigen Fahrten – er ist mittlerweile 64 Jahre alt.

Seine Expeditionen trugen Heyerdahl zahlreiche Mitgliedschaften, Auszeichnungen und Buch- und Filmerfolge ein – 14 Bücher kommen am Ende zusammen. Doch die meisten seiner recht steilen historischen Thesen konnten sich nicht durchsetzen. Die Vorstellung etwa, dass sich Untertanen der Pharaonen vor vielleicht 4000 Jahren auf die lange Reise gemacht haben sollen, konnte die Frage kaum beantworten, wie sie denn bis nach Marokko gelangt sein sollen. Dafür setzte Heyerdahl Maßstäbe im Einsatz für die Natur sowie in der Organisation archäologischer Experimente und ihrer medialen Aufbereitung. In den achtziger Jahren wandte sich Heyerdahl der Erforschung indianischer Hochkulturen in Südamerika und auf vorgelagerten Inseln zu, um Verbindungen zu anderen Frühkulturen der Menschheit wie in Ägypten nachzuweisen. Vielfach preisgekrönt und mit elf Ehrendoktortiteln ausgezeichnet, blieb Heyerdahl bis ins hohe Alter aktiv und war zuletzt auf Teneriffa, in Russland und Aserbeidschan unterwegs.

Die Ex-„Tinka“. Quelle: Von Ap1279 – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=46465004

Der „Archäonautiker“, der „Forscher mit Wikingerblut“, stirbt schließlich in seiner Wahlheimat Italien an einem Gehirntumor. Heyerdahl hatte kurz vor seinem Tod eine weitere ärztliche Behandlung sowie Essen und Trinken verweigert. Als er starb, waren drei seiner Kinder und seine Frau Jaqueline bei ihm – Jaqueline Beer, frühere „Miss France“, hat er nach seinem 75. Geburtstag als seine dritte Frau geheiratet. Bis heute fährt die 1930 gebaute Thor Heyerdahl – früher Tinka, Marga Henning, Silke und Minnow – unter deutscher Flagge als Dreimast-Toppsegelschoner im Sinne der Erlebnispädagogik vor allem mit Mannschaften von jungen Mitseglern auf dem Atlantik und in der Ostsee: Mit dem schwimmenden Gymnasium kreuzen sie sieben Monate in der Karibik, schreiben Klausuren auf Deck und lernen, die Seekrankheit zu überstehen.

Das Zeit-Magazin erklärt den Norweger zum „Enfant terrible der Naturwissenschaft“, die FAZ sieht in ihm einen „unerschrockenen Ernstnehmer eigenen Seemannsgarns“. Die Welt feiert ihn in einem Nachruf als „Urvater der Living History“ – der am eigenen Leib nacherlebten Geschichte: „Ganz gleich, wie stimmig Heyerdahls Thesen waren, er infizierte mit unheilbarer Neugier auf das Altertum, weit mehr noch als der ebenso umstrittene große Populärarchäologe C. W. Ceram mit seinen Göttern, Gräbern und Gelehrten. Heyerdahl blätterte die aufregendste Seite der Geschichte auf. Das frühe Reisen, das Entdecken, die Suche nach neuen Welten, die Ferne schlechthin.“ Das kann man getrost auch heute unterschreiben.

Neben Sergei Eisenstein gilt er als einflussreichster russischer Regisseur aller Zeiten. Für Ingmar Bergman war er der größte Filmemacher der Welt, „Für mich ist er Gott“, sagte gar Lars von Trier und widmete ihm seinen Film „Antichist“ (2009). Vier seiner Filme wurden in die BBC-Liste der 100 größten fremdsprachigen Filme aller Zeiten aufgenommen – obwohl er gerade sieben Streifen selbst drehte: Allesamt metaphysische und spirituelle Erkundungen der Menschheit, und jeder einzelne ist weltweit als künstlerisches Meisterwerk anerkannt, deren Komplexität ihn zum Kultfilmer zivilisationskritischer Intellektueller machte: Andrei Tarkowski, der am 4. April 1932 im Dorf Sawraschje in der heutigen Oblast Kostroma im nordwestlichen Russland zur Welt kam.

Aus einer Künstlerfamilie stammend – sein Vater war ein namhafter Lyriker, seine Mutter Schauspielerin –, wuchs er nach deren Trennung bei Mutter und Großmutter in Zentralrussland auf. Andreis künstlerische Begabung wurde von seiner Mutter früh erkannt und gefördert. 1944 zog die Familie nach Moskau, wo er nach einem mittelmäßigen Schulabschluss 1950 erst ein Studium in Musik, Malerei, Bildhauerei, Orientalistik und Geologie begann, um 1954 an der Filmhochschule Moskau das Regiehandwerk zu erlernen. Er heiratete 1957 eine Schauspielerin und schloss sein Studium 1961 mit dem Diplomfilm „Die Straßenwalze und die Geige“ ab, den er selbst nie zu seinem Werk zählte, der aber schon seine Eigenwilligkeit zeigte: Es geht um das Verhältnis von Künstler und Arbeiter in Phantasie und Realität. Viele motivische Metaphern, etwa davonrollende Äpfel oder verschiedene Aggregatzustände des Wassers werden danach immer wieder auftauchen. 1962 kommt sein Sohn zur Welt.

Tarkowski. Quelle: https://www.dekoder.org/sites/default/files/tarkowski_festival-de_cine_africano.jpg

In seinem ersten Spielfilm „Iwans Kindheit“ (1962) nach einer Erzählung von Wladimir Bogomolow  verarbeitete Tarkowski prägende autobiographische Erlebnisse wie die Abwesenheit seines Vaters und den Krieg. Im Mittelpunkt steht ein 12-jähriger Kriegswaise, der seine Verstörung durch Härte niederkämpft, sich in vorderster Front einen Posten in der Roten Armee erobert und zwischen den Linien in Lebensgefahr gerät – ob er stirbt, bleibt offen: „eine expressive Angsterfahrung, kein propagandistisch verwertbares Heldentum“, erkennt Claudia Lenssen im Tagesspiegel. Allein an den heimischen Kinokassen wurden 16,7 Millionen Tickets verkauft. Der Streifen errang auf Anhieb den „Goldenen Löwen“ der Filmfestspiele von Venedig (1962) und war 1964 der erste Kandidat, den die Sowjetunion überhaupt ins Rennen um den Auslandsoscar schickte. „Meine Entdeckung von Tarkowskis erstem Film war wie ein Wunder“, erklärte Bergman. „Plötzlich fand ich mich vor der Tür zu einem Raum stehen, dessen Schlüssel mir bis dahin nie gegeben worden waren. Es war ein Raum, den ich immer hatte betreten wollen und wo er sich frei und voller Leichtigkeit bewegte.“

Drama um Schuld

Dieses Werk sicherte Tarkowski direkt im Anschluss an sein Studium einen Job bei der sowjetischen Filmgesellschaft Mosfilm und markiert den Anfang einer außergewöhnlichen Karriere. Mit seinem zweiten Film „Andrej Rublijow“ (1966) zog Tarkowski schon früh die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich, die den Film aufgrund von Nackt- und Gewaltdarstellungen zensierte, nachdem er sich weigerte, alle geforderten Änderungen daran vorzunehmen. Der episodische Film zeigt, oft schwarzweiß, acht Momente im Leben des russischen Ikonenmalers, Glockengießers und Wandermönchs Andrej Rubljow im 15. Jahrhundert, beleuchtet das Spannungsfeld von Künstler und Gesellschaft und wurde von vielen als Allegorie für die Notlage des Künstlers unter dem Sowjetregime interpretiert.

Folglich wurde er in der Heimat bis 1971 nicht kommerziell veröffentlicht, allerdings 1969 bei den Filmfestspielen in Cannes gezeigt: Obwohl so früh morgens, dass möglichst viele Juroren die Vorstellung versäumen sollten, erhielt er sofort den Kritikerpreis, die erste von insgesamt neun Auszeichnungen. Für Chris Marker zeigt sich, dass Tarkowskis Kameraperspektive der des klassischen Hollywood-Kinos entgegengesetzt sei: Während man dort eine leichte Untersicht bevorzuge, die die Personen exponiert und effektvolle Himmelsaufnahmen ermöglicht, schaue Tarkowskis Kamera leicht von oben auf die Menschen herab, die wie mit der Erde verwachsen scheinen, mit dem „Urschlamm“, aus dem sie hervorgegangen und wie noch nicht ganz befreit sind – Tarkowski selbst bezeichnete seinen Rubljow als einen „Film der Erde“ und setzte mit Birken, Laub und Spiegeln weitere Motive, die er in seinen weiteren Filmen immer wieder variierte.

Rubljow. Quelle: https://www.trigon-film.org/de/movies/Andrei_Rubljow/photos/1200/rubljow_04.jpg

Nicht so häufig, aber umso auffälliger sei die „stürzende Sicht“ seiner Kamera, bei der sie sich emporschwingt und senkrecht über dem Geschehen verharrt, als schaue sie mit den Augen des richtenden Pantokrator von der Kuppel einer orthodoxen Kirche herab. International, so auch in der DDR, erschien der Streifen erst 1973. Zuvor scheiterte 1970 seine Ehe, noch im selben Jahr heiratete er erneut: Seine Regieassistentin Larissa Jegorkina, beide bekommen einen Sohn. Aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums des Kinos nahm der Vatikan 1995 den Film in seine Liste der „45 großen Filme“ mit auf. Über den Rubljow wird aber bis heute weltweit geforscht und publiziert, seine größte Wirkung entfaltete er erst im 21. Jahrhundert. 2010 etwa, als der Guardian nach den 25 „Besten Arthouse-Filmen aller Zeiten“ fragte, setzten ihn die Kritiker auf Rang eins.

Auch Tarkowskis weitere Filme waren kontrovers und wurden vorerst zensiert. Auf Stanley Kubricks Welterfolg „2001 – Odyssee im Weltraum“ (1968) erwartete man in der Sowjetunion eine angemessene Antwort von Tarkowski und bedachte ihn mit dem Auftrag. Er verfilmte dazu die Erzählung „Solaris“ von Stanisław Lem – in einer ganz eigenen Interpretation. Der 1972 fertiggestellte Film hatte mit der Vorlage fast nur noch den Titel gemeinsam. Tarkowski verzichtete auf alle spektakulären technischen Details und schuf ein Drama um Schuld, individuelle Erinnerung und kollektives Gedächtnis. Die Geschichte handelt von einem Wissenschaftler, der geschickt wurde, um mysteriöse Ereignisse auf einer Raumstation im Orbit des Planeten Solaris zu untersuchen. Bei der Ankunft findet er seine tote ehemalige Geliebte lebendig auf der Station vor und versucht, sie zu töten, aber sie kommt immer wieder zurück.

In dieser Meditation über die Kultur- und Evolutionsgeschichte und den stets präsenten Vater-Sohn-Konflikt wird nach einer Instanz gesucht, die unsere Träume speichert. War schon im Rubljow der Zuschauer gefordert zu mutmaßen, wie die Episoden der Handlung zusammenhängen, so nimmt in „Solaris“ die für den reifen Tarkowski typische Rätselhaftigkeit noch deutlich zu. Spätestens hier zeigt sich, dass Tarkowski gern mit den gleichen Schauspielern arbeitet und auch die Kameraleute nicht ständig austauscht. Eduard Artemjew schrieb ihm für diesen und zwei weitere Filme die zum Teil experimentelle elektronische Musik, die er mit dem ersten in Russland gebauten Synthesizer einspielte – für Tarkowski eine „privilegierte Klangsprache“ für eine „Symbiose mit den Bildern“. Die Geschichte wurde 2002 mit anderen thematischen Schwerpunkten von Steven Soderbergh mit George Clooney neu verfilmt.  

„Sie glauben an nichts“

„Der Spiegel“ (1975) mit seinen vielen Zeitebenen und Politbezügen ist als „eindringliche autobiografische Träumerei“ (Norbert Franz in Dekoder) wohl der Schlüsselfilm in Tarkowskis Kanon und so nah an Poesie, wie Kino nur sein kann. Noch konsequenter als in seinen übrigen Filmen befreite er sich darin von den Konventionen des Erzählkinos. Erzählt wird assoziativ eine Kindheit in den Jahren der Stalin‘schen Herrschaft, jedoch so, dass sich viele in Situationen und Konstellationen erkannten. Der Spiegel wird hier Symbol und Metapher des Selbsterkennens in der Erinnerung. Die fragmentierten Reminiszenzen an den sterbenden Dichter Alexei sind verwoben mit Gedichten von Tarkowskis Vater Arseni. Der kaleidoskopische Ansatz des Films kombiniert Ereignisse, Träume und Erinnerungen mit Filmmaterial aus der sowjetischen Wochenschau, manche Kritiker erkennen eine strophische Reihung von Augenblicken, in denen im Angesicht des Todes das Leben vorbeizieht. In der Sowjetunion wurden dem Film, den Tarkowski seiner Mutter widmete, Vorwürfe wie unverständlich, überladen oder düster gemacht.

„Spiegel“. Quelle: https://testkammer.com/2016/12/19/der-spiegel-1975/

In seinem Schaffensdrang hatte er sich Zeit seines Lebens der sowjetischen Bürokratie zu erwehren, wurde bei Auftragsvergaben immer wieder ignoriert. Geldsorgen zwangen ihn, kommerzielle Drehbucharbeiten und Vorträge in der Provinz anzunehmen, außerdem Hörspiele zu verfassen und Theaterinszenierungen zu besorgen. Überraschenderweise hatte er bei seiner nächsten Produktion „Stalker“ einigen Freiraum, obwohl der Film Andeutungen auf die politische Situation der Sowjetunion machte. Es war wie schon „Solaris“ eine individuelle Adaption einer literarischen Vorlage, diesmal des dritten Kapitels des Romans „Picknick am Wegesrand“ von Arkadi und Boris Strugazki, das beide umschrieben. Aber erst mit der neunten Drehbuchversion war Tarkowski zufrieden.

Schauplatz ist eine „Zone“, in der Außerirdische aus unbekannten Gründen Spuren hinterlassen haben: Vor allem Gegenstände teilweise unbekannter Funktion, stets ungeklärten Prinzips, oftmals furchtbarer oder gar tödlicher Wirkung, manchmal aber auch höchster Nützlichkeit. Sie werden von illegalen Schatzsuchern, den „Stalkern“, geborgen. Ein Stalker macht sich mit zwei Männern, die einander nicht mit Namen kennen, sondern mit „Professor“ und „Schriftsteller“ ansprechen sollen, auf den Weg zu einem Raum, der einer Person ihre tiefsten Wünsche erfüllen soll. Nach sage und schreibe neun Minuten fällt im Film das erste Wort; der Anfang ist schwarzweiß, erst in der geheimnisumwitterten Zone wird er farbig. Wege durch das trostlose Gebiet –  ein Geisteszustand wie ein wirklicher Ort – können in diesem metaphysischen Labyrinth nur gespürt, nicht gesehen werden. Am Ziel – vor dem verheißungsvollen, unwirklichen Zimmer, in dem es auch noch regnet – machen beide einen Rückzieher und gehen nicht hinein. Telekinetisch sind sie auf einmal wieder in einer Kneipe, dem Ausgangspunkt ihrer Expedition. 

Tarkowski lehnte eine eindeutige Interpretation dieser Zone immer ab – dieses mystisch-entrückten Ortes, der für viele Cineasten damals wie heute die Konturen eines brüchig gewordenen Fortschrittsglaubens trägt. Dabei lässt sich Tarkowskis Klassiker vor allem als eine traumwandlerische Reise ins menschliche Selbst interpretieren. Zunehmend setzt sich die Auffassung durch, Professor, Schriftsteller und Stalker hegelianisch zu lesen: Sie stehen dann für Wissenschaft, Kunst und Religion; nach Hegel die Modi, in denen das Wissen zu seiner Vollendung kommt – Religion (Anschauung) und Kunst (Vorstellung) sind in der Philosophie (Selbsterkenntnis) dialektisch aufgehoben. Im Film ist die dialektische Trias umgekehrt: Wissenschaft und Kunst sind ungenügende Annäherungen an die Wirklichkeit, die der Vollendung durch den Glauben bedürfen. Wissenschaftler und Schriftsteller aber sind dazu nicht fähig. Tatsächlich mahnt der Stalker, in der Zone Ehrfurcht zu zeigen und zu glauben. Resigniert muss er aber feststellen: „Sie glauben an nichts, an gar nichts. Bei ihnen ist das Organ mit dem man glaubt, an Nahrungsmangel zugrunde gegangen.“

„Stalker“. Quelle: https://lwlies.com/wp-content/uploads/2016/05/stalker-andrei-tarkovsky.jpg

Tarkowskis Bilder gehören allerdings nicht zu einer konkreten Form des Glaubens, nicht zu einer bestimmten Religion. Es geht um die eher unspezifische Sehnsucht nach einem Absoluten, das die menschliche Rationalität übersteigt und zu dem man Kontakt haben möchte. „Die heutige Zivilisation ist in eine Sackgasse geraten“, schrieb er selbst. „Die Zeit, um unsere Gesellschaft geistig umzubauen, fehlt. Die Menschen, die Politiker sind Sklaven des Systems geworden. Der Computer hat die Führung übernommen. Die einzige Hoffnung, die bleibt, ist, dass der Mensch in jenem letzten Moment, in dem er den Computer ausschalten kann, von oben erleuchtet wird.“ Tarkowski knüpft da an Dostojewski an, der das Leiden „eine gute Sache“ genannt hatte. Ganz ähnlich spricht die Frau des Stalkers, während sie direkt in die Kamera schaut: „Wenn es in unserem Leben keinen Kummer gäbe, besser wäre das nicht. Es wäre sogar schlechter, denn dann gäbe es kein Glück.“ Glück wird nicht mit Wohlbefinden verbunden, sondern mit Erlösung, die aber nur der erfahren kann, der um seine Erlösungsbedürftigkeit weiß. Einen Dostojewskij-Roman zu verfilmen ist ihm nie erlaubt worden.

nie geschaute Schönheit

Trotz der erarbeiteten Freiheiten blieben für Tarkowski die politischen und materiellen Produktionsbedingungen in der UdSSR schwierig, zudem ging es ihm nach mehreren Herzinfarkten gesundheitlich schlecht. Lust am Widerspruch auf der einen und eine eher diffuse Religiosität mit Hang zu Esoterik auf der anderen Seite machten ihn ebenso aus wie der tiefe Wunsch, seiner eigenen Kunstvorstellung zu folgen und trotzdem in der Heimat bleiben zu können, was ihm nicht gelang: Um dem Korsett des sowjetischen Filmbetriebs zu entweichen, nahm er 1981 schließlich einen Auftrag in Italien an, obwohl ihm klar war, dass er seine Familie in der Sowjetunion zurücklassen musste. So entstand zunächst die Fernsehdokumentation „Tempo di Viaggio“, gefolgt von seinem vorletzten Spielfilm „Nostalghia“ (1983).

Darin bereist ein russischer Schriftsteller mit seiner Dolmetscherin die Toskana und untersucht einen selbstmörderischen russischen Komponisten des 18. Jahrhunderts. Heimweh und Verzweiflung frustrieren ihn, bis er einen Wahnsinnigen trifft, der ihn überzeugt eine Aufgabe zu übernehmen – mit einer angezündeten Kerze von einem Ende eines Spa-Pools zum anderen zu gehen – um die Welt zu „retten“. Der Wahnsinnige verbrennt sich öffentlich, dem Schriftsteller geht zweimal die Kerze aus, bis er den Weg erfolgreich zurücklegt – und stirbt. „Die sanfte Gewalt, die nie geschaute Schönheit seiner Bilder ist so heftig, dass man sie im Kopf behält wie einen Traum, den man immer wieder träumt“, so Ulrich Greiner in der Zeit. Dafür bekam er in Cannes gleich drei Preise, darunter den als bester Regisseur.

„Nostalghia“. Quelle: https://www.filmingo.ch/images/films/98-800×500.jpg

Er hielt sich in der Folgezeit in Paris, London und Berlin auf, wo er Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes war. 1985 veröffentlichte er das Buch „Die versiegelte Zeit“, in dem er seine wesentlichen Gedanken zu Ästhetik und Poetik des Films darlegte. Zugleich wird bei ihm Krebs diagnostiziert. Parallel dazu entstand in Schweden sein letzter Film „Opfer“: Eine Allegorie individueller Verantwortung, in der ein von Erland Josephson gespielter, zurückgezogen auf einer Schären-Insel lebender Schauspieler den Atomkrieg durch ein mystisch-sakrales Selbstopfer rückgängig macht – im Jahr von Tschernobyl. Auch dafür bekam er in Cannes drei Preise, dazu die Goldenen Ähre des Filmfests Valladolid; 1988 wurde „Opfer“ in England als bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet.

Tarkowskis geschwächte Gesundheit verschlimmerte sich, sodass er die Arbeit zu seinem letzten Film „Hoffmanianna“, eine Dokumentation über E.T.A. Hofmann, nie zu Ende führen konnte. Am 29. Dezember 1986 erlag er in Paris dem Krebsleiden. Seine Witwe Larissa widmete sich nach seinem Tod der Erhaltung von Tarkowskis Erbe, beteiligte sich aktiv an der Gründung des „Institut international Andreï-Tarkovski“ in Paris und der Publikation seiner Schriften, darunter auch seinen als „Martyrolog“ bezeichneten Tagebüchern: Er schrieb nicht nur, sondern kritzelte, erstellte Listen, zeichnete Pläne und traurige Gesichter. Ein Eintrag laut etwa: „Gestern war ich besoffen und hab mir den Schnurrbart abrasiert. Heute Morgen fiel mir ein, dass ich auf allen Ausweisen einen Schnurrbart trage. Dann muss ich ihn wohl nachwachsen lassen!“

Durch lange Takes und handlungsarme Szenen erzieht sich Tarkowski seinen Zuschauer, der genau hinschauen, betrachten lernt. Er muss sich das wackelige Beistelltischchen im Schlafzimmer ansehen, die Tabletten, das Glas mit Wasser, das auf dem Tischchen verrutscht. Dazu hört er das Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges. Er weiß nicht, wogegen die Tabletten helfen sollen, wer sie nimmt. Und er erfährt es auch später nicht. Tarkowskis Filme tragen in der Regel keine Antworten zu den Fragen vor, die sie stellen. Und wenn sie Lösungen suggerieren, stehen wiederum andere Fragen dahinter. Seine Filme handeln von Künstlern, Wissenschaftlern, Kindern, hochsensibel introvertierten Individuen, die immer auch als Alter Ego des Regisseurs fungieren.

Tarkowskis Grab. Quelle: https://media-cdn.sygictraveldata.com/media/800×600/612664395a40232133447d33247d383739303832343839

Die Handlung ist jedoch in keinem seiner Filme im engen Sinne bedeutsam, vielmehr vermitteln gedehnte Kamerafahrten, entleerte Innenräume, Blicke auf Dinge des Alltags, an denen sich Erinnerungen kristallisieren, von Wasser überströmte Räume und Landschaften ein traumartiges Gewebe, in dem sich Zeiterfahrungen auflösen. „Ein wahrer Künstler ist immer auch ein Visionär, der in die Zukunft sieht“, befand Tarkowskis Sohn 2020. „Das erschreckt seine Mitmenschen. Aus diesem Grund wird er meist sehr viel später verstanden.“ Seine Filme sollten mit dem Zuschauer „nicht über eindeutig nacherzählbare Inhalte kommunizieren“, sondern „psychische Grundzustände reanimieren“: „Möge jeder, der dies wünscht, sich meine Filme wie einen Spiegel anschauen, in dem er sich selber erblickt“. Auf seinem Grab in Paris steht geschrieben: „Der Mann, der den Engel gesehen hat”.

O Fortuna

Allein die Orchester seiner Vertonungen antiker Tragödien sprengen mit ihren vier bis sechs Klavieren und bis zu 18 Schlagzeugern mit einer Vielzahl von Trommeln, Xylophonen, Marimbaphonen und Metallophonen alles, was normale Opernorchester an Musikern und normale Opernhäuser an Platz im Orchestergraben aufbieten können. Und woher soll man Instrumente nehmen wie javanische Gongs, Hyoshigis, Bin Sasaras, Angklungs? Wagner-Enkel Wieland, der große szenische Visionär der Nachkriegszeit, erkannte prompt Parallelen zu seines Großvaters „Ring des Nibelungen“ und wollte ihm gar das Bayreuther Festspielhaus öffnen: Carl Orff, der am 29. März vor 40 Jahren starb.

Der Sohn eines Offiziers und einer Pianistin kommt am 10. Juli 1895 in München zur Welt und erhält bereits ab 1900 Jahren Klavier-, Cello- und Orgelunterricht. Im selben Jahr erschien auch seine erste Komposition. Auf dem Oktoberfest 1905 hat er ein Aha-Erlebnis vor einem Puppentheater, er bastelt Puppen, bekommt zu Weihnachten ein großes Puppentheater mit Vorhang geschenkt – prompt fehlt für die erste Theater-Vorstellung von Carl Orff nur noch die Musik, die er dann anfängt zu schreiben. Vor der Schule graust es ihn, mit Rechnen oder gar Latein will er sich nicht abplagen. Mit 14 Jahren dann das zweite Aha-Erlebnis: ein Besuch des „Fliegenden Holländers“ von Richard Wagner. Kolportiert wird, dass ihm die Aufführung buchstäblich die Sprache verschlagen habe: Tagelang schweigt er und isst fast nichts und musste die Oper bald darauf, mit einem Klavierauszug ausgestattet, erneut besuchen, um wieder ansprechbar zu werden.

Er beendet mit 16 Jahren seine Schulzeit, ohne Abitur und mit einem fürchterlich schimpfenden Vater im Nacken, und will unbedingt Musik studieren. 1911 schreibt er rund 50 Lieder zu Texten von Heinrich Heine, Friedrich Hölderlin und anderen Klassikern, 1912 komponierte er sein erster größeres Chorwerk nach Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“, und schuf 1913 nach einer japanischen Sage die Oper „Gisei“. Im selben Jahr beginnt er ein Studium an der Akademie der Tonkunst in München, das er 1914 bereits beenden muss, da er eingezogen wird. Er kommt an die Ostfront, wird bei einem Angriff verschüttet und vertiefte sich, traumatisiert und zeitweise halbseitig gelähmt, im Lazarett in Friedrich Nietzsches „Der Wille zur Macht“.

Der späte Orff. Quelle: Von Orff-Zentrum München – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=79623589

Spätestens hier begann seine Entfremdung vom Glauben – immerhin war er als „Karl Heinrich Maria“ katholisch getauft worden. Noch während der Schulzeit erregte er sich im Religionsunterricht darüber, dass Abraham seinen Sohn Isaak opfern soll. Wie kann ein liebender Vater und letztlich Gott das zulassen? Als sich später ein Mitschüler das Leben nahm, weil er mit den katholischen Dogmen nicht zurechtgekommen war, wuchs die Distanz weiter. Die Todesangst aus dem Krieg ließ ihn nie  mehr los; Dunkel- und Verlassenheit hielt er nicht aus. Seitdem wimmelt es in seinen Kompositionen nur so von Hexen und Teufeln, die das Böse verkörpern.

eine Art „schwarze Messe“

Nacheinander Kapellmeister in München, Mannheim und Darmstadt, heiratete er 1920 erstmals und bekam im Jahr darauf eine Tochter, sein einziges Kind. Die Ehe sollte sieben Jahre halten. Bis 1922 studierte er erneut in München, interessierte sich für die Musik Claude Debussys und dessen Verwendung von Musikinstrumenten fremder Kulturen. Schnell entdeckte er den Gong für sich und baut ihn in viele seiner Kompositionen ein. Auch Richard Strauss zählte zu seinen musikalischen Vorbildern. 1924 gründete er aus seinem ganzheitlichen Klangbewusstsein heraus gemeinsam mit Dorothee Günther die „Günther-Schule München – Ausbildungsstätte vom Bund für freie und angewandte Bewegung e. V.“, die in den Bereichen Gymnastik, Rhythmik, Musik und Tanz ausbildete. Carl Orff selbst übernahm dort die Leitung der Musikabteilung. Grundlage seiner Arbeit bildete die Idee, das musikalisch-rhythmische Gefühl aus der Bewegung heraus zu entwickeln: Tanz, Musik und Sprache gehören für ihn untrennbar zusammen.

Aus dieser Idee entwickelte er gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Gunild Keetman ein neues Modell für Musik- und Bewegungserziehung: das Orff-Schulwerk, das er seit 1930 in fünf Bänden veröffentlicht und bis heute Grundlage des Musikunterrichts ist. Er komponierte in diesem Rahmen auch Musik für Kinder, die „Orff-Kompositionen“, und etablierte mit dem Instrumentenbauer Karl Maendler die „Orff-Instrumente“. Zu ihnen zählen etwa Glockenspiele, Schlagwerk, Schellen, Kastagnetten oder Klanghölzer. Sie förderten nicht nur das Gefühl und Verständnis von Musik, sondern weckten in den Kindern auch ein Interesse am Musikmachen. Parallel dazu befasste er sich mit Claudio Monteverdi (bspw. „Orpheus“ 1924) und komponierte drei Kantaten nach Franz Werfel (1929/30, darunter „Des Turmes Auferstehung“) sowie zwei Kantaten nach Bertolt Brecht (1930/31), die, so manche Kritiker, durch seine Musik zu einer Art „schwarze Messe“ mutierten.

Buchmalerei im Codex Buranus: Das Schicksalsrad. Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/c/cc/Carmina_Burana.pdf/page1-627px-Carmina_Burana.pdf.jpg

1934 dann das dritte Aha-Erlebnis: „Fortuna hatte es mit mir gut gemeint, als sie mir einen Würzburger Antiquariatskatalog in die Hände spielte, in dem ich einen Titel fand, der mich mit magischer Gewalt anzog: Carmina Burana“, schrieb Carl Orff über die Entdeckung der Benediktbeurer Handschrift. Allein schon der Titel zieht Orff magisch an – was für ein toller Rhythmus in den zwei Worten steckt: „Carmina burana“. Am Gründonnerstag des Jahres bekommt er das Buch geschickt, das lateinische und deutsche Liedtexte und Gedichte aus dem 13. Jahrhundert beinhaltet. Orff studiert den Text, seine Lateinkenntnisse sind lausig, aber den Rhythmus versteht er sofort. Plötzlich entsteht in seinem Kopf zu den alten Worten aus dem Kloster, die von Liebe, Speis und Trank, von der Glücksgöttin Fortuna und dem Lauf der Welt erzählen, ein klingendes Spektakel.

Parallel dazu schreibt er 1935 „Das Paradiesgärtlein“, ein Ballett nach Lautensätzen des 15. Jahrhunderts. Im selben Jahre erhält er von Carl Diem, dem Vorsitzenden des Deutschen Olympischen Komitees, den Auftrag zur Komposition des „Kinderreigens“ für die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Berlin. Eine Verbindung zur „Günther-Schule“ ergab sich durch Diems Frau, die dort Schülerin war. Allerdings stammen die Partituren von Gunild Keetman, einige Stücke steuerte Werner Egk bei, Dorothee Günther besorgte die Choreographie, Gret Palucca übernahm den Solotanz. Daher ist schon formal die Behauptung falsch, dass die Olympia-Musik Beleg für eine enge Beziehung Orffs zum NS-Regime war.

Unrühmlich für Orff ist die Tatsache, dass er in den offiziellen Programmen und Ankündigungen die Autorschaft der Musik für sich beansprucht hat. Doch für den kanadischen Historiker Michael H. Kater ergibt sich das Bild eines unpolitischen und auch nicht an Politik interessierten Komponisten, der es dennoch verstand, sich mit den Machthabern zu arrangieren, um ungehindert seinen künstlerischen Weg gehen zu können, und der es genoss, als bedeutender deutscher Komponist seiner Zeit hofiert zu werden. Orff war übrigens ein persönlicher Freund von Kurt Huber, einem der Gründer der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, der wegen seines Widerstands gegen das NS-Regime hingerichtet wurde. Im letzten Kriegsjahr wurde er von Hitler auf der „Gottbegnadeten-Liste“ genannt und nach dem Krieg als Mitläufer eingestuft.

„ein Prophet im Gewand des Gauklers“

Zuvor allerdings hatte er am 8. Juni 1937 für eine Sternstunde der deutschen Musikgeschichte gesorgt: die Premiere der „Carmina Burana“ in der Frankfurter Oper vor einem atemlos lauschenden Publikum. 24 der 254 mittelalterlichen Lieder von Hugo von Orléans, Heinrich von Morungen, Walther von der Vogelweide und vielen weiteren unbekannten Schöpfern hatte er zu einem Chorwerk aus drei Teilen verarbeitet: lateinische Frühlingslieder und mittelhochdeutsche Stücke, Fress- und Sauflieder der Vaganten sowie Liebeslieder. Der Erfolg verleitet Orff zu dem bekannten Brief an seinen Verleger: „Alles, was ich bisher geschrieben und was Sie leider gedruckt haben, können Sie nun einstampfen! Mit den Carmina Burana beginnen meine gesammelten Werke!“ Er zieht fast sein ganzes, bis dahin entstandenes Werk zurück.

Berliner Olympiaeröffnung 1936. Quelle: Von Bundesarchiv, B 145 Bild-P017045 / Frankl, A. / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5474551

1939 wird Orffs Märchenoper „Der Mond“ in München uraufgeführt. Im selben Jahr heiratet er zum zweiten Mal, die Ehe wird 14 Jahre halten. 1941 folgt die Uraufführung der Bühnentrilogie „Orpheus“, „Klage der Ariadne“ und „Tanz der Spröden“ in Gera. Daneben schreibt er „Die Kluge“ nach einem Märchen der Brüder Grimm, für das er 1949 den Nationalpreis der DDR bekommt, den er später zurückgab, und beginnt mit der Arbeit am „Bairischen Welttheater“, vier „Singspielen“ im Dialekt. Er ist der erste Komponist, der Stücke auf Bayerisch schreibt, weil er den Klang des Dialekts liebt, zumal aus der Kindheit: Fanni, die Köchin der Orffs, hatte ihm und seiner Schwester Mia viele Geschichten in tiefstem Bayerisch erzählt. „Orff gelang es, mit modernen Gestaltungsmitteln das Mystische und Historische wieder aufleben zu lassen, so wie es bereits Igor Strawinsky vor ihm geschafft hatte“, befindet Irem Çatı auf dem Portal concerti.

Neben seiner kompositorischen Arbeit übernahm er auch Führungspositionen in verschiedenen musikalischen Einrichtungen. Er war von 1950 bis 1960 Leiter einer Meisterklasse an der Musikhochschule in München. 1961 folgte die Leitung des Orff-Instituts in Salzburg. Dazwischen lag von 1954 bis 1959 seine dritte Ehe, eine Promi-Ehe mit der eigenwilligen linkskatholischen Schriftstellerin Luise Rinser. Mitte der 1950er Jahre begannen dann seine vielfachen Ehrungen: so erhält er kurz hintereinander die Ehrendoktorwürde der Universitäten Tübingen und München sowie den Orden „Pour le Mérite“. 1960 heiratete er seine Sekretärin Liselotte, die sich nach seinem Tod 24 Jahre lang als Vorsitzende der Carl-Orff-Stiftung für die Verbreitung des musikdramatischen Schaffens von Carl Orff und des Orff-Schulwerks einsetzte und die Errichtung des Orff-Zentrums München initiierte.

Als Orffs Hauptwerk nach dem Krieg ist das „Theatrum Mundi“ anzusehen – drei Vertonungen antiker Tragödien: „Keine Opern“, betont Orff. Beginnend bei „Antigonae“ (1949) über „Oedipus der Tyrann“ (1959) und „Prometheus“ (1968) endet das „Welttheater“ mit dem „Spiel vom Ende der Zeiten“ (1973/1977): Im Weltuntergang bittet Satan um Vergebung und wird von Gott wieder als Engel aufgenommen. Für 3.200 Münchner Schulkinder schreibt er dann den „Gruß der Jugend“ zur Eröffnung der Olympischen Sommerspiele in München und zehrt vom Ruhm seines Lebenswerks. Orff starb nach langer Krankheit im Alter von 86 Jahren in München und wurde in der „Schmerzhaften Kapelle“ der Klosterkirche Andechs beigesetzt.

Grab in Andechs. Quelle: Von ViennaUK – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=23768341

Eine ungewöhnliche Ehre für einen Nichtadligen und Nichtgeistlichen, der sich „seine eigene Theologie geschaffen“ habe, „in der Christus nicht vorkomme“, so der Musikwissenschaftler Thomas Rösch. Er hat es vermocht, „mit modernen Gestaltungsmitteln den Eindruck historischer, mythischer, legendärer oder religiöser Empfindungen hervorzurufen“, befindet Rösch und nennt ihn einen „Prophet im Gewand des Gauklers“. Der große Solitär der Musik war keiner Schule zugehörig und dachte als Theatermensch fast ausschließlich in szenischen, in Bühnenkategorien. Von seiner Carmina, die über alle kulturellen Grenzen hinweg weltweit aufgeführt wird, verzeichnet der Internet-Versand JPC rund 80 Einspielungen: Carlton Beer Draught warb ebenso damit wie Nestlé-Schokolade. „Von nirgendwo kommend, Schöpfer eines musiktheatralischen Kosmos‘, der in sich abgeschlossen ist“, bilanzierte Rösch anlässlich des Orff-Jahres 2020 (125. Geburtstag): „Eine einzigartige Erscheinung. Für Orff-Jahre sollte es keiner Jubiläen bedürfen.“

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