Kinderlieder dürfen als rassistisch diffamiert und Xavier Naidoo Antisemit genannt werden – der ideologische Furor wird in der Musik publizistisch und juristisch geadelt. Das ist ein schlechtes Zeichen für die Kunst und ein fatales für die Demokratie.
Meine neue Tumult-Kolumne, die gern verbreitet werden kann.
Er versuchte später, sein Verhalten in den Jugendjahren nicht zu bagatellisieren, sondern nannte sich selbst einen Nazijungen. Er war als junger Mensch gefangen in der Ideologie des 3. Reichs – wie der größte Teil seiner Altersgefährten auch. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen dieser Jahrgänge hat er aus dieser Vergangenheit nie ein Geheimnis gemacht, die eigene Vergangenheit nicht verdrängt, anstatt ihr auf den Grund zu gehen. Diese versäumten es, von den „Kindheitsmustern“ (Christa Wolf) zu sprechen, in die sie gepresst worden waren, und die noch lange als Herkunftsmonster in ihrem Bewusstsein spukten. Er tat es.
Denn gerade solche Dokumente intensiver Selbstanalyse einer politischen Verirrung sind für eine lebendige Demokratie wertvoll. In der DDR war Franz Fühmann, neben Wolf, eine Ausnahme. Seine Werke sind zu einem ganz wesentlichen Teil ein radikaler Versuch, den Wurzeln eines ideologischen und totalitären Denkens auf die Spur zu kommen. Ein Versuch, der nie bis zum Roman reichte, sondern immer nur häppchenweise zu bewältigen war, in Erzählungen, Novellen, Essays oder Fragmenten wie seinem letzten, dem Haupt- und Alterswerk „Im Berg“: Franz Fühmann, der am 15. Januar 1922 in Rochlitz im Riesengebirge (heute: Rokytnice nad Jizerou) geboren wurde.
Sein Vater war Apotheker und hatte mit einem Knoblauchsaft gegen Arterienverkalkung eine kleine pharmazeutische Fabrik auf die Beine gestellt. Er wuchs nach eigenen Angaben in einer „Atmosphäre von Kleinbürgertum und Faschismus“ auf: Das Zusammenleben mit einem autoritären und zugleich an den Kindern kaum interessierten Vater und mit einer frömmelnden, bigotten Mutter, die eine Ehe voll Zank und Streit führten, muss bedrückend gewesen sein. Also flüchtete Franz in die Phantasie. Jeden Winter wurde Rochlitz eingeschneit – und da fing er an zu fabulieren und später zu schreiben: Anfangs wurde er von einer Hauslehrerin unterrichtet. In seiner Heimat gab es überall Eulen, Abhänge, Steinbrüche mit geheimnisvollen Eingängen, Büschen, verkrüppelten Bäumen. In jeder Höhle wohnte ein Geist, für den er einen Namen und eine Genealogie erfand. Auf diese Weise gründete er ein eigenes Reich mit Zwergen und Zauberern, Räubern und Kobolden, Geistern und Dämonen. Die Natur schien beseelt, doch nur wenige dieser versteckten Geschöpfe waren freundlich gesonnen.
Ab 1932 besuchte er das Jesuitenkonvikt Kalksburg bei Wien, aus dem er 1936 flüchtete. Er ging dann auf das Gymnasium in Reichenberg (Liberec), trat dem Deutschen Turnverein bei und wurde 1937 Mitglied der pennalen Burschenschaft Hercynia. Als 15-Jähriger ist er dabei, als am 9. November 1938 die Synagoge in Reichenberg zerstört wird. Er tritt in die Reiter-SA ein. Seine freiwillige Meldung zur Wehrmacht 1939 wird abgelehnt, weil er noch zu jung ist. 1941 darf er dann endlich an die Front, als Funker erst nach Russland, später nach Griechenland. Doch Fühmann will dichten. Sein Vater sei stolz gewesen, als „Nacht am Peipussee“ und vier weitere Gedichte des 20-jährigen Soldaten gedruckt werden. Noch im Januar 1945 schafft es der junge Fühmann mit einem Gedicht sogar auf Seite eins der Wochenzeitschrift Das Reich: Deren Herausgeber, dem promovierten Germanisten Hermann Goebbels, gefiel die heroische Endzeit-Lyrik: „Karg und klar ist die Zeit. / Ehern waltet die Not“. Dann gerät er in sowjetische Kriegsgefangenschaft.
„Er hatte recht“
Die vier Jahre unter anderem an der Antifa-Schule in Noginsk verwandeln Fühmann in einen gläubigen Kommunisten, der 1949 in die DDR zieht – Mutter und Schwester hatte es bereits dorthin verschlagen, sein Vater war kurz nach Kriegsende gestorben. Inzwischen ist seine sowjetische Abschlussbeurteilung zugänglich: „Am Anfang war er geprägt von halbfaschistischen und kleinbürgerlichen Vorurteilen. Er war voll von deutschem pseudointelligenten Hochmut und Individualismus und missachtete das Kollektiv. Unter dem Einfluss der intensiven Beschäftigung mit dem Lehrgangsprogramm und der politischen Erziehungsarbeit der Gruppe hat Fühmann diese Eigenschaften abgelegt und gewann größere Autorität im Kollektiv, entwickelte sich zu einem klugen Antifaschisten, der die Grundlagen des Marxismus-Leninismus gut beherrscht, einige theoretische Grundwerke durchstudiert hat und ständig bereit zum Kampf um das neue demokratische Deutschland ist.“ Für Günther Rüther gleicht Fühmanns Wandlung vom Nationalsozialisten zum Stalinisten „damit einem Film, in dem das Negativ zum Positiv entwickelt wird“.
Prompt wurde er für leitende Tätigkeiten etwa in der zentralen SED-Presse empfohlen. Gern wäre er der SED beigetreten, aber er wurde zur NDPD abkommandiert: Die Nationaldemokratische Partei sollte ehemalige Nationalsozialisten, Offiziere, Soldaten, Mittelständler an die DDR binden. Vorsitzender war der Altkommunist Lothar Bolz, der lange als Außenminister der DDR fungierte. lm Führungspersonal gab es viele umerzogene Militärs, auch Mitglieder des von Stalin gegründeten „Nationalkomitees Freies Deutschland“ wie Wehrmachtsgeneral Vinzenz Müller, der die Volksarmee der DDR aufbaute und dessen persönlicher Referent Fühmann zunächst wurde. Er heiratete 1950 Ursula Böhm, zwei Jahre später kam die gemeinsame Tochter Barbara zur Welt. Er schrieb Artikel für parteieigene Zeitungen, war ab 1952 Mitglied des NDPD-Landesvorstands und von 1954 bis 1959 von der Stasi als IM „Salomon“ erfasst. Da er jedoch weder Berichte lieferte noch zu konspirativen Treffen bereit war, entpflichtete die Stasi ihn wieder. Später wurde er selbst Beobachtungsobjekt unter dem Decknamen „Filou“.
Seinen ersten großen literarischen Erfolg und damit auch Durchbruch als Prosaautor erlebt Fühmann mit der Novelle „Kameraden“. Sie erscheint 1955, wird in viele Sprachen übersetzt und zwei Jahre nach ihrem Erscheinen auch verfilmt. Er leitete bis 1958 die Hauptabteilung Kulturpolitik der NDPD und gehört der Partei bis 1972 an. Der Funktionär Fühmann dichtete und schrieb weiter, Lieder junger Traktoristen oder den Chor der Komsomolzen – eine aufstrebende literarische Karriere in der DDR. Prompt bekam er 1955 den Vaterländischen Verdienstorden in Bronze, 1956 den Heinrich-Mann-Preis und 1957 den Nationalpreis der DDR. Von 1958 bis zu seinem Tode war Fühmann freier Schriftsteller und Nachdichter, letzteres vorrangig im Bereich der Lyrik (vor allem aus dem Tschechischen und Ungarischen), nachdem die Quelle des eigenen lyrischen Schaffens versiegt war – die Abkehr vom Stalinismus auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 erschütterte seine Überzeugungen nachhaltig. Einen Abschluss dieser Periode bildet der Band „Die Richtung der Märchen“ (1962).
Marcel Reich-Ranicki fällte in diesem Jahr sein Verdikt über den frühen Fühmann in der Zeit: „Unverfälschte NS-Lyrik aus der Feder eines Mannes, der mit dem Nationalsozialismus nichts mehr zu tun haben wollte und ihn – daran kann kein Zweifel bestehen – zutiefst hasste.“ Und: „Man hatte ihn auf der ‚Antifaschule‘ nur ‚umfunktioniert‘: Daher schrieb er HJ-Gedichte mit FDJ-Vorzeichen.“ Fühmann später schonungslos gegenüber sich selbst: „Er hatte recht.“ Fühmann ging härter mit sich ins Gericht, als jeder andere es hätte tun können: „Er übersteigerte seine Schuld selbstquälerisch, anstatt sie zu bagatellisieren“, befand Uwe Wittstock in der Welt. Prompt rückte in den späteren Texten die Verarbeitung der Vergangenheit aus Sicht der unschuldig-schuldhaft in die Nazi-Verbrechen verstrickten jungen Generation in den Vordergrund, so in „Das Judenauto“ (1962), seiner wohl berühmtesten Erzählung, in der er Grundmotive antisemitischer Hetze vorführt, oder „König Ödipus“ (1966).
„süßes Rauschgift zerbrannter Saaten“
Der Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts in Prag 1968 war für ihn das nächste einschneidende Moment. Hatte er 1961 den Mauerbau noch gerechtfertigt – es sei gut, dass sozialistische Panzer am Brandenburger Tor stünden, denn er kenne den Unterschied zwischen roten und braunen Panzern, obwohl beide aus Stahl gebaut und mit Kanonen bestückt seien – war Fühmann zu Rechtfertigungen dieser Art nicht mehr bereit. Aber er geriet in der kritischen Situation, wie er später formulierte, auf den „schwarzen Weg des Alkoholismus“. Die Metaphern vom „weißen Magier“ und dem „süßen Rauschgift zerbrannter Saaten“ nutzt er oft. Seine existentielle Krise überwand er durch ein radikales Umdenken. „Die hartnäckige, sich über Jahrzehnte erstreckende Beschäftigung mit den Verirrungen seiner Jugend weiteten sich zur psychoanalytischen Trauerarbeit“, bilanziert Wittstock.
„Du hättest in Auschwitz vor der Gaskammer genauso funktioniert, wie Du in Charkow oder Athen hinter dem Fernschreiber funktioniert hast“, schrieb Fühmann selbst. Er ging zunehmend auf Abstand zur Politik der DDR, zog sich aus dem Schriftstellerverband zurück und unterstützte diskriminierte Autoren: Er wird zu den Erstunterzeichnern der Petition gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann gehören. 1977 schrieb er an Klaus Höpke, damals als Leiter der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel einer der höchsten Zensoren des Landes, einen offenen Brief: „Weder ein Einzelner, noch ein Berufsstand, noch irgendeine soziale Organisation oder politische Gruppierung ist im alleinigen Besitz der Wahrheit.“ Höpke dürfte der Atem gestockt haben – und der offene Brief wurde selbstverständlich nicht veröffentlicht.
Da war Fühmann längst die Selbstbefreiung gelungen, in ständigen Kämpfen gegen den Alkohol und die Machthaber: „Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens“, ein Ungarn-Reisetagebuch, wird 1973 zu einem bahnbrechenden fragmentarischen Memoir. In dem Werk, mit dem der Autor seine literarische Existenz am liebsten erst beginnen ließe, kann man nachlesen, wie schwer es ihm wurde, die Entscheidung zu annullieren, als „willenloses Werkzeug“ der neuen guten Ordnung zu wirken. Mit dem SED-Staat hatte er innerlich gebrochen – nicht mit dem Sozialismus. Zunehmend verzweifelt, aber unermüdlich setzt er sich für diejenigen ein, die in der DDR nicht gedruckt werden. Als einer der Ersten erkennt er das Genie des dichtenden Heizers Wolfgang Hilbig. „Er hatte ein Gespür dafür, ob Texte echt sind“, erklärte 1997 Uwe Kolbe die Wirkung seines Mentors auf seine eigenen Gedichte. „Da sagt er dir schon mal: ‚Ne, in der Zeit hättest du auch was anderes machen können‘.“ In Uwe Tellkamps „Der Turm“ trägt die Figur des Georg Altberg deutlich Fühmann‘sche Züge.
In vielen Texten der 70er Jahre vollzog er eine Rückbesinnung in seine Kindheit in Form einer stärkeren Hinwendung zu Mythos und Phantasie, ergänzt um Traum und Sprachspiel, so in „Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel“ (1978). Einen bedeutenden Teil im Gesamtwerk nimmt bei Fühmann die Essayistik ein, wofür Titel wie „Das mythische Element in der Literatur“ (1975) und „Etwas über das Schauerliche bei E.T.A. Hoffmann“ (1979) stehen. Nach der Ausreise von Sarah Kirsch und Bernd Jentzsch aus der DDR sowie dem Austritt Jurek Beckers trat Fühmann 1977 endgültig vom Vorstand des Schriftstellerverbands zurück und war in der Folgezeit in der DDR künstlerisch wie politisch zunehmend isoliert: mit seiner gnadenlosen Ehrlichkeit eckt er bei allen an und will anecken. Er trat für die Friedensbewegung ein und nahm 1981 an der ersten Berliner Begegnung zur Friedensförderung teil. Eine von Fühmann initiierte Anthologie junger kritischer DDR-Autoren wurde im selben Jahr durch die Leitung der Akademie der Künste und führende Kräfte der SED verhindert.
Der Erzählband „Saiäns-fiktschen“ mit ihren alptraumhaften Negativ-Utopien wird ebenfalls 1981 zur Geburtsstunde der Dystopie in der DDR. Ein Jahr später entdeckt er in „Vor Feuerschlünden“ die Lyrik Georg Trakls für DDR-Leser. Hier beschreibt Fühmann sprachgewaltig, ja in nahezu manischer Intensität den Versuch, sich von jeder ideologischen Doktrin zu befreien, und bekam dafür den Geschwister-Scholl-Preis. Daneben schrieb er das Ballett „Kirke und Odysseus“, einige Filmdrehbücher und brachte zusammen mit dem Fotografen Dietmar Riemann den Bildband „Was für eine Insel in was für einem Meer“ über Menschen mit geistiger Behinderung heraus, mit denen er drei Jahre lang immer wieder gearbeitet hatte.
„der Ort der Wahrheit“
Quer durch alle Schaffensphasen hinweg schuf er immer auch Literatur für Kinder, die für Generationen prägend waren: Beginnend mit „Vom Moritz, der kein Schmutzkind mehr sein wollte“ (1959), die er auf Anregung seiner Tochter schrieb, über „Kabelkran und Blauer Peter“ (1961) oder „Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen“ (1964) bis hin zu etlichen Nacherzählungen klassischer literarischer Stoffe und Sagen wie „Reineke Fuchs“, „Das Hölzerne Pferd“, „Prometheus. Die Titanenschlacht“ oder „Das Nibelungenlied“ (1971-80). An seinem letzten, dem „Bergwerk-Projekt“, angelegt zwischen Erzählung, Essay und Reportage, verzweifelte er. Mit dem Bergwerk verband sich für Fühmann vieles. Für ihn war es ein Ort der Mythologie, in der der Bergmann – Atlas gleich – den Berg zu tragen schien, ein „jungfräulicher Ort“, in dem „jedes Streb Pionierland war“, das Einblicke in längst vergangene Zeiten bot, aber ebenso Ort, der – Modellcharakter besitzend -, einem die Möglichkeit bot, den Prozess des Eindringens in unbekannte Bezirke zu studieren. In aller erster Linie war für Fühmann die Grube jedoch „der Ort der Wahrheit, in der jeder Handgriff gnadenlos gewogen“ wurde.
Sechs Monate vor seinem Tode brach er die Arbeit an dem Projekt ab und versah das Fragment mit dem Untertitel „Bericht eines Scheiterns“. Am 8. Juli 1984 starb Fühmann an Krebs. Auch sein Testament ist ein Dokument der Bedingungslosigkeit: „Ich habe grausame Schmerzen. Der bitterste ist der, gescheitert zu sein: In der Literatur und in der Hoffnung auf eine Gesellschaft, wie wir sie alle einmal erträumten.“ Und er verfügte, dass kein offizieller Vertreter des Schriftstellerverbands der DDR an seiner Beerdigung teilnehmen soll. Drei Monate danach sendete der Rundfunk der DDR erstmals ein Originalhörspiel für Erwachsene von ihm: „Die Schatten“. Bis zum Umbruch 1989 folgten jährlich weitere Originalhörspiele, die Fühmann kurz vor seinem Tod im Krankenhaus geschrieben hatte. 1993 veröffentlichte Hinstorff, sein Hausverlag, eine „Autorisierte Werkausgabe“ in 8 Bänden mit über 3500 Seiten.
Am Ende bleibt mehr als einer, der „über Auschwitz zum Sozialismus“ kam, mehr als ein „Täter mit gutem Gewissen“, wie Lothar Fritze behauptete. Er wollte die ganze Wahrheit, „nicht abgewogen, nicht zugemessen, nicht ausgewählt und nicht abgestuft, nicht in irgendeinem Dienste stehend, der sie nach Belieben gebraucht und von dafür Befugten verwalten lässt, nicht für Programme zugeschnitten, nicht Strategien untergeordnet, nicht modifiziert nach Erfordernissen, nicht Präzeptoren vorbehalten, die das Volk als das schlechthin Unmündige ansehen, nicht wie Tranquilizer auf Rezepten verordnet…“, wie er in seiner Dankesrede zum Scholl-Preis sagte. Ein dualistisches Weltbild, das nur zwischen Gut und Böse, richtig und falsch unterscheidet, zugunsten eines offenen und differenzierten Blicks auf die Realität in ihrer Konfliktträchtigkeit und Komplexität überwunden zu haben, war nicht vielen Menschen vergönnt – ihm schon. „Sich als Mensch verstehen zu lernen, setzt voraus, den Anderen verstehen zu lernen“ – dieses Credo ist heute nötiger denn je.
Mit 175 Büchern, darunter allein 124 Krimis, gehörte er zu den produktivsten und erfolgreichsten Autoren seiner Zeit. In 45 Sprachen übersetzt, gilt er als Erfinder des modernen Thrillers und Anfang des 20. Jahrhunderts auch als dessen Hauptvertreter. Ein Gast durfte beobachten, wie er 1931 an einem Wochenende einen kompletten Roman diktierte, damit 4000 Pfund auf einen Schlag verdiente – und sich hinterher für zwei Tage Schlaf zurückzog. Die dauerhafte Anstrengung hatte allerdings ihren Preis: Der Autor konsumierte täglich rund 80 Zigaretten – mit Mundstück, das wurde sein Markenzeichen – und 40 Tassen mit stark gesüßtem Tee. Prompt erlitt er eine Diabetes, die nicht behandelt wurde und an der er am 10. Februar 1932 starb: Richard Horatio Edgar Wallace.
Am 1. April 1875 als unehelicher Sohn der mittellosen Schauspielerin Polly Richards geboren, adoptierte ihn eine Fischträgerfamilie zusätzlich zu ihren zehn Kindern, weil seine Mutter nicht für ihn sorgen konnte. Zum Leidwesen seiner Adoptiveltern brachte der Junge nur wenig Begeisterung für die Schule auf und ging mit zwölf Jahren ab. Dafür liebte er Bücher – und das Theater. Um sich den Eintritt leisten zu können, arbeitete er zuerst als Zeitungsjunge und schloss sich einer Jungenbande an, mit der er kleinere Diebstähle beging. Später versuchte er sich dann in allerhand Berufen: Er arbeitete als Druckergehilfe, Botenjunge, in einem Schuhgeschäft, in einer Tuchfabrik, als Koch auf einem Schleppnetzfischerboot in Grimsby, als Milchkutscher und als Straßenbauer und Bauarbeiter. „Arbeit knochenbrechend“, schrieb er frustriert an seine Familie.
1894 schrieb er sich als 18-Jähriger zur Armee ein und nahm den Namen Edgar Wallace an; angelehnt an den Schriftsteller Lew Wallace, der 1880 „Ben Hur“ veröffentlicht hatte. Zwei Jahre später wurde er in Südafrika stationiert. Seine publizistische Laufbahn begann hier: Er besserte sein Gehalt auf, indem er kurze Texte zu lokalen Ereignissen und Personen für die Presse in Kapstadt schrieb. Zudem schrieb er Gedichte, die vor allem durch die Arbeiten von Rudyard Kipling beeinflusst waren, den er 1898 in Kapstadt traf. Im gleichen Jahr veröffentlichte er ein Sammelwerk seiner Balladen unter dem Titel „The Mission that Failed“.
Seine Karriere als Journalist begann Edgar Wallace während des Zweiten Burenkriegs ab 1899 für die Daily Mail. Aufgrund eines Tricks konnte er als erster Korrespondent die Nachricht vom bevorstehenden Friedenschluss nach London senden: Obwohl der Ort der Verhandlungen strikt abgeschirmt war, signalisierte ihm ein ehemaliger Kamerad durch das Zeigen unterschiedlich-farbiger Taschentücher den Stand der Verhandlungen. Noch in Kapstadt heiratete er die Tochter eines methodistischen Missionars und bekamt eine Tochter, die 1903 mit 10 Monaten an einer Hirnhautentzündung starb. Aufgrund dieses Schocks sowie von Schwierigkeiten mit Wallace‘ Vorgesetzten kehrte das Paar hoch verschuldet nach London zurück.
Plakate mit der Größe einer Wohnzimmerwand
Das sich die Familie mit drei weiteren Kindern vergrößerte und Wallace einem durchaus gehobenen Lebensstil frönte, reichte das Honorar als Journalist und Sonderberichterstatter nicht aus. Wallace beschloss, sich mit einem Krimi wortwörtlich aus den Schulden rauszuschreiben. „Heutzutage sind Religion und Unmoral die einzigen Dinge, durch die man ein Buch verkaufen kann“, schrieb er seiner Frau. Er wusste genau, was er seinen zukünftigen Lesern liefern wollte: „Blut und Verbrechen“. „Die vier Gerechten“ lautete der Titel seines ersten Werks von 1905. Mit einem Trick wollte er Käufer anlocken: Er setzte Preisgelder von insgesamt 500 Pfund für diejenigen Leser aus, die den kniffligen Fall zu lösen vermochten. Wie konnten die Mörder den britischen Außenminister töten, der sich in einem schwer bewachten Raum aufhielt und den niemand betreten hatte?
Wallace bewarb das Buch mit einer gewaltigen Kampagne: „Zusätzlich zu der Anzeigenwerbung“ habe er, so gab er an, „tausend riesige Plakate bestellt, die etwa die Größe einer Wohnzimmerwand haben“. Der Krimi verkaufte sich tatsächlich hervorragend. Zu Wallaces Leidwesen hatte er bei seinem Preisausschreiben allerdings vergessen zu erwähnen, dass jeder Geldgewinn nur einmal zu vergeben war. So stapelten sich bald die richtigen Lösungen. Zu guter Letzt musste ihm seine Zeitung, die Daily Mail, finanziell aushelfen. Weil Wallace das Blatt zudem durch Fehler in seinen Artikeln viele Tausend Pfund an Schadenersatz kostete, endete die Zusammenarbeit bald.
Im Hause Wallace ging der Gerichtsvollzieher ein und aus. Schmuck und andere Wertgegenstände waren bald zu Geld gemacht, trotzdem legte sich der Schriftsteller keinerlei Beschränkung auf. „Selbstverständlich können wir es uns nicht leisten“, klärte er seine Frau auf, „aber wenn ich darauf warten will, dass ich mir etwas leisten kann, werde ich nie etwas bekommen.“ Er spielte leidenschaftlich gerne, verzockte hohe Summen auf der Pferderennbahn und gönnte sich jeglichen Genuss. Beispielsweise einen cremefarbenen Rolls-Royce und später einen eigenen Rennstall. Am Ende verschaffte ihm sein Talent Ruhm – und Geld. Mit dem 1911 erschienenen Afrikaroman „Sanders vom Strom“ wurde er noch bekannter, er war der erste Roman einer 11-teiligen Serie. Der Bestseller half ihm zugleich, seine Reputation als Journalist wieder zu erlangen.
Daneben brachte er mit zwei eigene Rennsport-Blätter heraus und gründete, um die Arbeit zu bewältigen, ein Schreibbüro. Zum Personal gehörte auch seine spätere zweite Frau, Ethel Violet King, die er zwei Jahre nach seiner Scheidung 1919 heiratete. Das Büro war nötig geworden, da er die einträgliche Krimi-Produktion im Akkord aufgenommen hatte. Der körperlich immer träger und korpulenter werdende Wallace schrieb seine Geschichten nicht mehr selbst auf, sondern diktierte sie seinem Sekretär, der auch die zahlreichen Fehler zu korrigieren hatte. 1921 unterschrieb er einen Vertrag bei Hodder and Stoughton und ließ in Folge alle neuen Romane von diesem verlegen. Wallace wurde zum „King of Thrillers“ aufgebaut und mit dem Slogan „Es ist unmöglich, nicht von Edgar Wallace gefesselt zu sein“ vermarktet. Er arbeitete häufig an mehreren Geschichten gleichzeitig.
„Ich bin völlig blank“
Durch seine Phantasie revolutionierte er den modernen Thriller, indem er den erzählenden und sensationsheischenden Stil der Daily Mail auf seine Werke anwandte, weiterentwickelte und sich immer spektakulärere Mordmethoden ausdachte. Etwa im Fall von Charles Creager, der 1923 durch einen Pfeil starb – abgefeuert vom „Grünen Bogenschützen“. Oder in dem des ehrenwerten Inspektors Genter, den 1925 ein als „Frosch mit der Maske“ verkleideter Schurke mittels Blausäure ins Jenseits beförderte. Frauen und Männer, Reiche und Arme, Ehrliche und Ganoven – er ließ sie alle sterben, ermordet in freier Natur, in verrufenen Schlössern, in heruntergekommen Hafenspelunken oder den besten Vierteln Londons. Seine Bücher beinhalteten Elemente der Komödie und des Science-Fiction-Romans, des Liebesromans und der Kriegsgeschichte.
In dieser Phase wurden seine Romane zu Zehn-, ja Hunderttausenden verkauft. 1928 wurde geschätzt, dass mit Ausnahme der Bibel eines von vier in England gedruckten und verkauften Büchern von Edgar Wallace geschrieben wurde. Einer von Wallace berühmtesten Krimis wurde „Der Hexer“ (Original: „The Gaunt Stranger“), der als Theaterstück unter dem Namen „The Ringer“ am 1. Mai 1926 mit dem britischen Schauspieler Gerald du Maurier uraufgeführt wurde und ein großer Erfolg war. In Deutschland fand die Erstaufführung 1927 am Deutschen Theater in Berlin unter der Regie von Max Reinhardt statt. Manchmal wurden zwei oder drei Theaterstücke von Wallace in London gleichzeitig aufgeführt; insgesamt 120 wird er zeitlebens geschrieben haben. Kritik an seinen in Windeseile produzierten Geschichten ließ Wallace kalt. „Ich schreibe keine guten Bücher“, erklärte er einmal einem amerikanischen Reporter. „Ich schreibe Bestseller.“ Bizarre Morde, spannende Plots und die Verheißung auf eine baldige Neuerscheinung ließen die Schwächen in Charakterentwicklung und Aufbau schnell vergessen.
Sein Stil hatte Einfachheit, Kraft und Tempo, aber es war die Vielfalt und Originalität seiner Handlungen, die zusammen mit seinem enorm produktiven Schaffen seinen Ruf begründeten. Kinder liebte der berühmte Schriftsteller über alles. Wallace war auch für seine Großzügigkeit bekannt. So unterstützte er eine Theaterkassiererin, deren Kind an Tuberkulose erkrankt war und nahm die beiden mit in den Familienurlaub. 1923 wurde er in den Vorstand des Londoner Presseclubs berufen, wo er nach einigen Jahren einen Fonds für mittellose Journalisten einrichtete. In Hollywood, wo er 1931 für das Drehbuch zu „King Kong“ engagiert wurde, sollte ein neuer Markt erschlossen werden. Eigentlich wäre der Schriftsteller lieber in Großbritannien geblieben. „Es hat keinen Zweck“, klagte er verzweifelt. „Ich bin völlig blank und muss einfach hinüber.“ Seine Heimat sah er ebenso nie wieder wie er den fertigen Streifen je vor Augen bekam. Er schlief in seinem Bett ein. In der Londoner Fleet Street, in der die meisten Zeitungen der Hauptstadt ansässig waren, wurden nach der Überführung seiner Leiche in die Heimat die Flaggen auf Halbmast gesetzt und die Kirchenglocken geläutet.
Nachdem der Wilhelm Goldmann Verlag 1952 „Der Frosch mit der Maske“ als Goldmanns Taschen-Krimi Band 1 herausgab, erwarb der dänische Filmproduzent und Rialto-Chef Preben Philipsen die Filmrechte. 1959 produzierte er den Film, der sich zu einem großen Überraschungserfolg entwickelte. Rialto erwarb daraufhin die Exklusivrechte fast aller Wallace-Romane und begründete in den 1960er- und 1970er-Jahren einen regelrechten Boom mit 38 Wallace-Verfilmungen. Viele wurden mit dem Spruch „Hallo, hier spricht Edgar Wallace!“ und den Geräuschen mehrerer Schüsse eingeleitet. Hauptregisseur mit 12 Filmen war Alfred Vohrer, dessen leicht übertriebene Schauspielführung und die pointierte Schnitt- und Zoomtechnik Maßstäbe setzten. Harald Reinl inszenierte fünf Streifen.
Der Erfolg der aufwendigen, handwerklich hochstehenden Produktionen wird zurückgeführt auf das immer auch komische, extravagante Spiel mit dem Grusel und die erstklassigen Besetzungen mit dem Who is Who des bundesdeutschen Nachkriegskinos, die für viele Jungschauspieler zugleich Karrieresprungbrett wurden. Oft stellte Klaus Kinski einen Kriminellen oder einen Verdächtigen dar. Zu weiteren Stammschauspielern gehörten Eddi Arent, Joachim Fuchsberger, Werner Peters, Heinz Drache oder Karin Dor; viele Stars wie Gert Froebe, Klausjürgen Wussow, Wolfgang Völz, Hans Clarin, Hubert von Meyerinck, Karin Baal, Lil Dagover oder Elisabeth Flickenschildt hatten Gastauftritte. Sowohl Otto als auch Bastian Pastewka versuchten sich seit den 90ern an komödiantischen Persiflagen (bspw. „Der WiXXer“ 2004). Das Archiv des deutschen Kriminalfilms stiftet seit 1999 den Edgar-Wallace-Preis für besondere Verdienste um den Kriminalfilm.
„Dass sie lebendig und geistreich, etwas zu aufgeregt war, wie oft bezeugt ist, machte sie ein wenig zur Außenseiterin. Sie wirkte dem ganz entschlossen und mit aller Klugheit entgegen, wollte sich nicht vom ‚Leben’ ausgeschlossen wissen. Sie sang und komponierte, Lieder wie Singspiele, sie entwarf Szenen und Stücke, leitete Gesellschaftsspiele an, schien über einen Überschuss an Kraft und Begabung zu verfügen, was die standesgemäßen Freier nicht eben anzog.“ Alexander von Bormann hätte im DLF noch hinzufügen können, dass sie daneben die einzige Schriftstellerin ist, die in keiner deutschen Literaturgeschichte fehlt, und eine der wenigen Frauen, deren Porträt einen deutschen Geldschein zierte, nämlich bis 2001 die grüne 20 DM-Note: Annette von Droste-Hülshoff, die am 10. Januar vor 225 Jahren zur Welt kam.
Geboren als Anna Elisabeth Franzisca Adolphina Wilhelmina Ludovica Freiin von Droste zu Hülshoff auf der gleichnamigen Wasserburg als zweites von vier Kindern eines Gutsherrn, setzte sie die Tradition ihres urwestfälischen Adelsgeschlechts in der 20. Generation fort. Bedingt durch ihre frühe Geburt, galt sie als kränklich, war nur ca. 1,50 m groß und zierlich, extrem kurzsichtig, hatte auffällig wirkende Augen und litt oft unter Kopfschmerzen. Das hinderte das wissbegierige Kind nicht daran, eine Bildung zu erwerben, die für die damalige Mädchenerziehung außergewöhnlich war und neben Literatur in lateinischer, griechischer, französischer und englischer Sprache auch geschichtliche, geografische und naturkundliche Kenntnisse umfasste. Dabei wurde sie zusammen mit ihren Geschwistern zunächst von ihrer gebildeten Mutter, dann von einem Hauskaplan und späteren Gymnasialprofessor und von einer französischen Kinderfrau unterrichtet.
Dichtung war ihr als Talent in die Wiege gelegt worden, so sah sie früh ihre Berufung als Dichterin und ließ sich darin nicht beirren. Auf Initiative ihrer Eltern wurde 1812 bis 1819 von Anton Matthias Sprickmann unterrichtet und gefördert, der dem Göttinger Hain nahestand und dessen Lustspiel „Der Schmuck“ in Weimar von Goethe höchstselbst inszeniert wurde. Eine Beziehung zu dem bürgerlichen Göttinger Jurastudenten Heinrich Straube in den Jahren 1819 und 1820 ging auf familiäres Betreiben in die Brüche, was sie traumatisiert hinterließ. Damit waren wohl auch das Denken und die Vorstellungen der künftigen Dichterin in das Konservative gerichtet, das sie auch in ihren Werken äußerte. Sie schloss sich der Familie an, indem sie vor allem ihre Mutter auf Reisen ins Münsterland, ins Paderborner Land und ins Rheinland begleitete, aber auch zensorische Eingriffe in ihre Werke durch ihren Bruder duldete. Von den Reisen brachte sie vielfältige literarische Anregungen mit.
In dieser Zeit hatte sie begonnen, einen Zyklus von geistlichen Liedern auf die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres zu verfassen. Vor dem Hintergrund der Straube-Affäre gerieten ihre Texte zum persönlichen Bekenntnis, erst zwanzig Jahre später konnte sie das „Geistliche Jahr“ vollenden. Nach dem Tod des Vaters 1826 zog Annette mit Mutter und Schwester auf den Wohnsitz Haus Rüschhaus nahe Münster und verlegte sich für einige Zeit auf ihr zweites Talent, die Musik; sie sang und arbeitete an den Opernprojekten „Babilon“ und „Der blaue Cherub“ und korrespondierte mit dem Ehepaar Schumann. Erst 1877 kam ihr Wirken als Komponistin ans Licht, als Christoph Bernhard Schlüter einige Lieder aus dem Nachlass veröffentlichen ließ.
„Reichtum der Charakteristiken und Stimmungen“
In den 1830er Jahren erweiterte sie allmählich ihren Gesichtskreis, insbesondere durch Reisen nach Köln und Bonn sowie in die Schweiz, aber auch den Besuch vieler Gesprächsrunden, auf denen sie die Bekanntschaft etwa von Adele Schopenhauer, Goethes Schwiegertochter Ottilie oder August Wilhelm Schlegel machte. In literarischer Hinsicht beschäftigte sie sich mit der Abfassung von Versepen, die einerseits formal wie inhaltlich dem Zeitgeschmack verpflichtet waren, andererseits ein eigenes, originelles Erzählen dokumentieren, das die üblichen Genregrenzen überschreitet. Mit dem Erscheinen der Gedichtausgabe von 1838, die weitgehend unbeachtet blieb, schließt sich die erste größere Schaffensphase.
Annette ist bereits 41 Jahre alt, eine einsame, unverstandene Frau. Selbst ihre Mutter legt das Buch einfach in den Schrank und verliert kein Sterbenswörtchen darüber. Damals verkauft sich der Gedichtband gerade 74-mal. Im Jahr zuvor hat sie den 15 Jahre jüngeren Levin Schücking kennengelernt, einen Juristen, den sie als „Seelenfreund“ bezeichnete und mütterlich liebte. Seit dieser Zeit verschiedentlich, ab 1841 dann nahezu ständig lebte sie bei ihrer Schwester auf Schloss Meersburg. Sie hatte dort eine abgetrennte Wohnung, zu der auch ein Turm gehörte – heute eine Gedenkstätte – von dem aus sie einen weiten Blick über den Bodensee genoss. Dort hielt ihr ihre Schwester den Rücken frei von gesellschaftlichen Verpflichtungen, andererseits war sie in deren Familie geborgen, zu der auch zwei Zwillingskinder gehörten. Sie und ihr Schwager Joseph von Laßberg schätzten sich zwar, er und die bei ihm verkehrenden Germanisten und Historiker lebten allerdings geistig „in einer anderen Welt“, wie sie meinte. In Meersburg fand die Droste die Balance zwischen Gesellschaft und Einsamkeit. Sie fühlte sich dort freier von Konventionen.
1842 erschien ihre Novelle „Die Judenbuche“, die Droste in der literarischen Öffentlichkeit ein wenig mehr Gehör verschaffte. Mit der Geschichte des Friedrich Mergel, der viele Jahre nach dem Mord an einem Juden am Ort der Tat in einer Buche erhängt aufgefunden wird, war ihr ein „Sittengemälde” gelungen, das mit fast naturalistischer Detailschärfe einen Ausschnitt westfälischer Lebenswelt spiegelt. Doch die Judenbuche ist mehr als eine Milieustudie; sie ist gleichzeitig Kriminalgeschichte und Psychogramm, eine Erzählung, die durch Ambivalenz und Mehrdeutigkeit letztlich die Wahrnehmung von Wirklichkeit grundsätzlich in Frage stellt. Der Text wurde in viele Weltsprachen übersetzt, verfilmt und dreimal vertont, darunter zweimal als Oper.
Die der „Judenbuche“ sekundierenden erzählerischen Versuche, die Fragmente „Ledwina“ (1819–24) und „Joseph“ (1844–45), lassen bei aller Unvollkommenheit die hohe Berufung ihrer Urheberin erkennen; noch mehr das Bruchstück eines Romans „Bei uns zu Lande auf dem Lande. Nach der Handschrift eines Edelmannes aus der Lausitz“ (1841–42). Viel Stoff aus dem unvollendeten Buch verwendete sie in den etwa gleichzeitig und wohl als Ersatz geschriebenen „Bildern aus Westfalen“ (1845). „Dieser Essay hat an Reichtum der Charakteristiken und Stimmungen sowie an Wissen um volkskundliche Einzelheiten kaum seinesgleichen in jener heimatentdeckungsfrohen Zeit“, befindet ihr Biograph Ernst Alker. Vor allem wegen dieser Texte wird sie bis heute als die Dichterin Westfalens wahrgenommen.
Schücking wurde schließlich zu ihrem „Gedichtbefreier“: Angespornt durch ihn gelang es ihr, fast täglich ein neues Gedicht zu verfassen. Es entstand damals der Grundstock ihrer zweiten Gedichtsammlung, die 1844 erschien und viele ihrer bekannten Texte enthält, so „Das Spiegelbild“, „Am Thurme“ oder die heimatbezogenen „Haidebilder“ mit ihrer Einsicht in die Doppelbödigkeit der Natur. Heute spricht man von „Natur- und Bekenntnislyrik“, in der die sinnliche Erfahrbarkeit und der unheimliche Aspekt der Natur miteinander wechselwirken, wie vor allem „Der Knabe im Moor“ zeigt.
„ein Tropfen Wohlgeruch gepresst“
Schücking blieb auch später Anreger neuer literarischer Texte, doch gelang es Droste aufgrund beständiger Krankheiten immer seltener, ihren Pegasus zu satteln. Durch Schückings geschickte Verhandlung mit der Cotta’schen Verlagsbuchhandlung erhielt Droste erstmals ein ansehnliches Honorar für den Abdruck der Judenbuche im Morgenblatt für gebildete Stände. Hiervon erwarb sie 1843 das Fürstenhäusle oberhalb Meersburgs mit einem kleinen Weinberg – das sie aufgrund zunehmender Krankheit aber nicht mehr oft genießen konnte. Schückings weitere berufliche Entwicklung, seine Heirat einer Dichterin und die Veröffentlichung des adelsfeindlichen „Die Ritterbürtigen“ traf sie ebenso empfindlich wie die Indiskretionen über den Adel, die er darin nach ihren Gesprächen verarbeitete. So kam es – auch auf Druck ihrer Familie – zum Bruch mit ihm, was sie wiederum tief verstörte.
Ihr spätes Schaffen beschränkt sich auf das Führen ihrer umfangreichen Korrespondenz, die sie seit der Jugend pflegte, sowie die Fragmente „Joseph. Eine Kriminalgeschichte“ sowie „Bei uns zu Lande auf dem Lande“, die erst lange nach ihrem Tod veröffentlicht wurden. Am Nachmittag des 24. Mai 1848 verstarb sie vermutlich an einer Lungenentzündung auf Schloss Meersburg; in dem Städtchen ist sie auch begraben. In ihr vermischten sich weibliches und männliches Empfinden, was ihr „jedes Gefühl zwiespältig, fragwürdig und peinigend“ machte, vermutet Alker. „So blieben ihr unmittelbare Glücksmöglichkeiten des Daseins verschlossen.“ Droste dichtete selbst:
„Wär ich ein Jäger auf freier Flur / Ein Stück nur von einem Soldaten, // Wär ich ein Mann doch mindestens nur / So würde der Himmel mir raten; // Nun muss ich sitzen so fein und klar / Gleich einem artigen Kinde, // Und darf nur heimlich lösen mein Haar / Und lassen es flattern im Winde!“
Ihre Lyrik gehört noch der Romantik, die Judenbuche aber schon dem Realismus an. „Nie zuvor wurde in deutscher Poesie unter Vermeidung der herkömmlichen, abgegriffenen ‚poetischen‘ Mittel sowie der melodischen Reize der Wortmusik, durch Heranziehung des Sprachschatzes des Alltags, der Mundart und der Wissenschaft mit größerer lyrischer Vollkommenheit Natur mit jeder ihrer Formen und Erscheinungen in Worte gefasst“, bilanziert Alker fast enthusiastisch. Ricarda Huch würdigt sie so: „Die Dichtung der Annette ist in Wahrheit eine VerDichtung: Aus tausend Blumenblättern ist ein Tropfen Wohlgeruch gepresst.“ Mit Schiller’schem Pathos nahm Droste gar Nietzsche vorweg:
„Mein Haupt nicht wagt‘ ich aus dem Hohl zu strecken/Um nicht zu schauen der Verödung Schrecken // Wie Neues quoll und Altes sich zersetzte / War ich der erste Mensch oder der letzte?“
Mit den Zeilen „Ich mag und will jetzt nicht berühmt werden, aber nach hundert Jahren möcht ich gelesen werden“, antizipierte sie gar ihre Rezeption. Ihre „Entdeckung” hat die Autorin dem Umstand zu verdanken, dass man sie im Kulturkampf der 1870er Jahre zur Galionsfigur stilisierte und sie kurzerhand, versehen mit den Attributen „katholisch” und „westfälisch”, zur „größten deutschen Dichterin” erklärte. Bis in die heutige Zeit wird sie nicht nur im Schulunterricht gelesen, sondern inspirierte ihr Leben und Werk auch zeitgenössische Autoren und besonders Autorinnen, darunter Gertrud von le Fort, Werner Bergengruen, Sarah Kirsch oder Karen Duve. Ein Brief von ihr an Sprickmann aus dem Jahr 1819 wurde von Walter Benjamin in die Briefsammlung „Deutsche Menschen“ aufgenommen. Die Vielschichtigkeit ihrer Persönlichkeit und ihres Werkes bietet Ansatzpunkte für psychologische und parapsychologische Interpretationen, aber auch für Fehldeutungen im Lichte zeitgenössischer Ideologien. Die Droste bleibt letztlich ein nie ganz ausschöpfbares geniales Dichterphänomen.
„Ich hatte den Drang, einen Mönch zu vergiften“, beschrieb er in seiner typisch subtilen Ironie die „vage Idee“, die ihn 1978 antrieb, seinen Bestseller Der Name der Rose zu beginnen. Darin setzt er nicht nur seinem Vorbild Arthur Conan Doyle – der Held heißt William von Baskerville nach einer Sherlock-Holmes-Geschichte – ein Denkmal, sondern vor allen Jorge Luis Borges: Dessen magisch-realistische „Bibliothek zu Babel“ inspirierte ihn zu dem Roman; den Bösewicht ließ er Jorge von Burgos heißen. Das erste Jahr der Arbeit „verging mit dem Aufbau der Welt … ausgedehnte architektonische Studien…, um den Plan der Abtei festzulegen, die Entfernungen, ja selbst die Anzahl der Stufen einer Wendeltreppe.“ Der Roman verknüpfte Krimi, Historie, Schauerroman, philosophische und literarische Anspielungen sowie unzählige Zeichen und Rätsel – eine Vielschichtigkeit, die zusammen mit der Ich-Erzählung mittelalterlicher Gedanken- und Gefühlswelten Hunderte von Deutungsversuchen nach sich zog und zieht.
Den „klügsten Mittelalterroman der Welt“ erkennt Constanze Reuscher in der Welt. Der Vatikan verurteilte das Buch als ein „erzählerisches Ärgernis, das die Bedeutung des Glaubens entstellt, entweiht und beleidigt“ – „überambitioniert“ gestand der Autor später selbst. In 40 Sprachen übersetzt und mehr als 14 Millionen Mal verkauft, wurde die vor allem im Kloster Eberbach im Rheingau realisierte Verfilmung von Jean-Jacques Annaud ebenso erfolgreich: innerhalb der ersten 3 Wochen zog der Streifen allein in Deutschland 4 Millionen Zuschauer ins Kino. Die Besetzungsliste liest sich wie ein Who is Who der namhaftesten Schauspieler der 80er Jahre: Von Sean Connery über Christian Slater, Helmut Qualtinger oder F. Murray Abraham bis zu „Hellboy“ Ron Perlman. Wissenschaftliche Arbeiten befassen sich sogar mit dem Einsatz des Films im Geschichtsunterricht.
Als „Meister der Kolportage“ bleibt er in den vielen Zeit- und Handlungsebenen seiner Romane stets eng an unterschiedlichsten „Quellen, die er mit fiktionalen Mitteln zu spekulativen Erzählungen ausbaut“, so Arno Frank im Spiegel – egal ob es um Verschwörungstheorien geht, jüdische Zahlenmystik, Kaiser Barbarossa oder barocke Expeditionen in die Südsee. Befragt, was er vom damals extrem erfolgreichen Roman Sakrileg von Dan Brown halte, sagte er mit wegwerfender Geste, er kenne das Buch nicht; aber jede der darin beschriebenen Theorien. „Geben Sie mir fünfzig Euro, und ich schreibe Ihnen dieses Buch. Und zwar besser als Dan Brown.“ Dieses Selbstbewusstsein gehörte Umberto Eco, der am 5. Januar seinen 90. Geburtstag feierte.
„auf wundersame Weise vom Glauben geheilt“
Geboren als Sohn eines Buchhalters in Alessandria im Piemont, wird er sich über die Stadt und die Landschaft, den Charakter und die Grundstimmung der dort lebenden Menschen sowie den Alltag in den dreißiger und frühen vierziger Jahren unter Mussolini an mehreren Stellen seiner Werke direkt oder indirekt auslassen. Sein streng katholischer Vater legt ihm ein Studium der Rechtswissenschaften nahe. Da hat sich der Knirps aber längst mit Literatur angesteckt. Im Bücherkeller seines Großvaters verschlang er Jules Vernes, Charles Darwin, Marco Polo und Comic-Hefte. Ab 1948 studierte er in Turin Philosophie und Literatur und promovierte 1955 über Thomas von Aquin. Mit der Kirche hat er gebrochen: „Sie hält uns in Angst vor der natürlichsten Sache der Welt, dem Tod, und lehrt uns Hass auf die schönste Sache, die das Schicksal für uns bereithält, das Leben… Man kann sagen, dass er, Thomas von Aquin, mich auf wundersame Weise vom Glauben geheilt hat.“
Anschließend arbeitete er als Kulturredakteur für den Rundfunksender RAI und später als Sachbuchlektor für den Mailänder Verlag Bompiani, für den er bis 1975 tätig blieb und in dem seither fast alle seine Bücher erschienen sind. Von 1962 bis zu seinem Tod war Eco mit der gebürtigen Deutschen Renate Ramge verheiratet, einer in Frankfurt am Main geborenen Expertin für Museums- und Kunstdidaktik. Sie bekamen einen Sohn und eine Tochter. Mit dem 1962 erschienenen „Opera aperta“ (deutsch „Das offene Kunstwerk“, 1973) wurde er schlagartig als brillanter Kulturtheoretiker bekannt, der 1963 seine akademische Karriere als Dozent für Ästhetik und visuelle Kommunikation am Polytechnikum in Mailand begann, um sie über eine Zwischenstation an der Universität in Florenz schließlich 1975 an der Universität Bologna, der ältesten Universität Europas, zu beenden – auf dem ersten italienischen Lehrstuhl für Semiotik.
Sein schon 1968 (deutsch 1973) erschienenes Buch „Einführung in die Semiotik“ gilt bis heute auch international als Standardwerk. Zugleich war er im Umfeld des Gruppo 63 aktiv, einer der literarischen Bewegung der Neoavanguardia zugerechneten Gruppierung. Über seine wissenschaftliche Arbeit hinaus war Eco Mitarbeiter der UNESCO, der Triennale von Mailand, der EXPO 1967 in Montreal, der „Fondation Européenne de la Culture“ und zahlreicher weiterer Organisationen und Akademien. Eco hat in unterschiedlichen Disziplinen Forschung betrieben. Dazu zählten Fächer wie etwa die Geschichte der Ästhetik, der Poetik der Avantgarde, der Massenkommunikation oder die Kultur des Konsums. Seine Essays umfassten Gebiete von der Ästhetik des Mittelalters über die klassische Semiotik als Zeichenlehre bis hin zu Kodizes künstlerischer Kommunikation.
Nach seinem ersten Roman schrieb er seit 1985 regelmäßig – erst wöchentlich, ab 1998 vierzehntäglich – eine Kolumne in der Wochenzeitschrift L’Espresso unter dem Titel „La Bustina di Minerva“ (deutsch: „Streichholzbriefe“). Von diesen hunderten sprachgewitzten Kleinoden Eco’scher Weltbeobachtung sind mehrere Ausgaben auf Deutsch erschienen, am köstlichsten liest sich wohl „Wie man mit einem Lachs verreist“. 1988 erschien dann der Roman Das Foucaultsche Pendel, an dem er nach eigener Aussage acht Jahre schrieb und es fertig brachte, „die Leser der Leichtigkeit vor den Kopf zu stoßen und sie in dem Gewirr der Rätsel einfach alleinzulassen“, so Volker Weidermann im Spiegel. Der Titel bezieht sich auf den bekannten Pendel-Versuch, mit dem der französische Physiker Léon Foucault 1851 die Erdrotation laientauglich zur Schau stellte.
„Mischung aus Geheimlehre und Partywissen“
In postmoderner Manier verbindet Eco Motive des Abenteuer-, Historien- und Kriminalromans mit derart zahlreichen gelehrten Bezügen zu Geschichte, Verschwörungstheorien, Esoterik, Philosophie und Physik, dass Anthony Burgess vorschlug, das Buch solle als Enzyklopädie mit einem Register versehen werden. Der Roman wurde – wie auch die folgenden – in alle Weltsprachen übersetzt: Die Insel des vorigen Tages (1995), Baudolino (2001), Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana (2004), Der Friedhof in Prag (2011) und Nullnummer (2015).
Nachdem er sich schon im „Pendel“ ausführlich dem Thema Verschwörungstheorien gewidmet hat, schafft er im „Der Friedhof in Prag“ mit seinem fiktiven Ich-Erzähler Simon Simonini einen berufsmäßigen Fälscher, den er als Hauptautor der Protokolle der Weisen von Zion einführt. Er selbst ist unschwer in der Figur des Commendatore Vimercate in Nullnummer zu entdecken, einem satirischen Roman über die Wirkung von Korruption und Medien auf die moderne Gesellschaft. In einem Zeit-Interview sagte Eco: „Alle meine Bücher handeln von Büchern. Wäre ich Strauss-Kahn, meine Bücher handelten vom Sex. Wäre ich Berlusconi, sie handelten vom Geld.“
Einem breiteren Publikum ist der Name Umberto Eco daher vor allem durch diese literarischen Werke bekannt, in denen er bei aller Freude am farbigen Erzählen und an spannenden Plots ausgiebig von Zitaten und Montagetechniken Gebrauch macht, was zu ihrer Charakterisierung als den postmodernen Romanen schlechthin geführt hat. Er selbst stand dem Begriff der Postmoderne eher skeptisch gegenüber und zog es vor, von Intertextualität zu sprechen, d. h. von der inneren Verflechtung und Verwobenheit aller literarischen Texte miteinander. Zu seinem 80. Geburtstag stellte die Welt fest: „Mit ihrer Mischung aus Geheimlehre und Partywissen ebneten Ecos Romane eine Mystery-Straße, die mittlerweile von vielen Dan Browns erfolgreich, wenn auch weniger bildungsbeflissen befahren wird.“
Er war Mitgründer und -herausgeber der Internetzeitschrift Golem l’Indispensabile und verbrachte, obwohl er auch in Florenz und Rom arbeitet, doch den größten Teil seines Lebens mit seiner deutschen Frau in Mailand. „Aber seltsamerweise ist es mir nie gelungen, Mailand als „meine Stadt‘ zu empfinden“, sagte er 2015 in einem Interview mit der Süddeutschen. Erst nach Jahrzehnten habe er sich mit der Metropole ausgesöhnt und in ihr „eine späte Liebe“ gefunden. Ein wesentlicher Teil von Ecos literarischem Werk waren Schriften zur Theorie und Praxis der Zeichen, zur Massenkultur und zur Kunst („Die Geschichte der Schönheit“ und als Gegenstück „Die Geschichte der Hässlichkeit“). In einem 2008 im SZ-Magazin erschienenen Gespräch amüsierte sich Eco über den großen Erfolg der „Geschichte der Schönheit“: „Wir hätten auch ein Telefonbuch unter dem Titel verkaufen können, so sehr rissen sich selbst Verlage aus Osteuropa und Asien um die Rechte.“
Seit 1999 leitete er die Scuola Superiore di Studi Umanistici in Bologna. 2005 wurde Umberto Eco in dem englischen Magazin Prospect nach Noam Chomsky und vor Richard Dawkins zum zweitwichtigsten Intellektuellen weltweit gewählt. Fast drei Dutzend Universitäten rings um den Erdball machten ihn zum Ehrendoktor; außerdem bekam er Dutzende italienische und internationale Buchpreise, vom spanischen Prinz-von-Asturien-Preis über das Große Verdienstkreuz mit Stern der BRD bis zum American Academy Award of Arts and Letters. In Mainz wurde Eco 2014 mit dem Gutenberg-Preis geehrt. Das Kuratorium würdigte seine „brillanten kulturtheoretischen Überlegungen“ und bezeichnete den Norditaliener als „begnadeten Erzähler“, der Millionen von Lesern in Buchkultur und -geschichte eingeführt habe. Er blieb stets überzeugt davon, dass sich noch die dunkelsten Stunden leichter mit Humor durchstehen lassen, und sei es mit Galgenhumor.
„dass es in der Welt keine Ordnung gibt“
Eco avanciert zum „Rundum-Intellektuellen (Reuscher), ja „Allzweck-Intellektuellen, der sich auch für Phänomene des Alltags nicht zu fein ist“, meint Frank. Mit den Werkzeugen der Semiotik zerlegt er alles in unterhaltsame Einzelteile, von Pornodarstellern bis zu Plastikbesteck. Mickey Mouse könne perfekt sein „wie ein japanisches Haiku“, und die unterschiedlichen Betriebssysteme von Apple und Microsoft vergleicht er mit Katholizismus und Protestantismus. Fremd bleiben ihm nur Sport, Kochen, Mathematik, Botanik sowie „alles, was an Unterhaltungsmusik nach den Beatles kam“.
Als Bürger und politischer Autor war Eco ein aktiver und vehementer Gegner von Silvio Berlusconi. In zahlreichen Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln hat er dessen Politik scharf kritisiert. Noch kurz vor der Wahl im April 2006, die Berlusconi dann knapp verlor, veröffentlichte Eco seine gesammelten politischen Schriften nochmals in Buchform unter dem Titel Im Krebsgang voran:Heiße Kriege und medialer Populismus. Er zog sich im Oktober 2007 aus der aktiven Lehrtätigkeit zurück und war ab 2008 Professor emeritus, blieb aber politisch „links“: Ohne Utopie, sagt Eco, kann die Menschheit nicht auskommen. Freilich ist die Utopie, da ist er sicher, nur so lange attraktiv, wie sie nicht verwirklicht wird. „Als Lenin die Marx’sche Utopie realisieren wollte, wurde es furchtbar.“ Die Utopie, sagt Eco, „ist kein fixes Ziel, sondern immer ein Horizont in Bewegung“.
Vor dem Aufflammen neuer Religionskriege in einer intoleranten Welt warnte Eco schon 2001 in weiser, aber machtloser Voraussicht. Das „leidenschaftliche Festhalten an vereinfachenden Gegensätzen, wie etwa wir und die anderen, Gut und Böse, Weiß und Schwarz“ seien immer deren Wurzeln gewesen. „Wir begreifen uns als pluralistische Gemeinschaft, weil wir es zulassen, dass bei uns Moscheen gebaut werden, und wir nicht darauf verzichten können, nur weil sie in Kabul die christlichen Propagandisten ins Gefängnis werfen. Wenn wir es doch täten, würden auch wir zu Taliban werden.“ Donnerwetter.
Unter den italienischen Schriftstellern galt Eco immer der beste Wissenschaftler, unter den Wissenschaftlern wiederum war er der beste Schriftsteller. Er war durchaus ein Genussmensch, liebte Zigarillos und Whisky und litt dementsprechend, wenn die Ärzte Verbote aussprachen. Auch dass er im Alter zu kurzatmig war, um seine Barockflöten zu spielen, von denen er eine prächtige Sammlung besaß, bekümmerte ihn. Selten hat ein Intellektueller „seine eigene Intellektualität so souverän als freundliche Einladung an alle, mitzudenken oder zu widersprechen, begriffen, als eine Haltung, die sich dem Publikum ganz grundsätzlich zuwandte, ohne den geistigen Anspruch aufzugeben“, feierte ihn Claudius Seidl in der FAZ.
Insgesamt besaß er 50.000 Bücher, organisierte regelmäßig Bücherverschenkungsaktionen für Studenten, die er „Take a book and run“ nannte. Nachdem er am 19. Februar 2016 in Mailand an den Folgen einer Krebserkrankung starb, wurde seine Bibliothek vom Kulturministerium aufgekauft. Sie soll mit der Rekonstruktion seines Arbeitszimmers an der Universität Bologna einen eigenen Neubau erhalten. Heute sind Universalgelehrte wie er eine aussterbende Spezies. „Ich hätte wissen müssen, dass es in der Welt keine Ordnung gibt“, lässt er Bruder William sagen, nachdem seine Suche nach der Aufklärung der Klostermorde in einer Feuerkatastrophe endet.
Für den Wissenschaftler bilanziert Michael Braun in der taz: „Er versteckte sein Wissen nie – doch er setzte es auch nie ein, um sich zu erheben über seine Leser; stattdessen ließ er sie, tatsächlich ohne jeden Anflug von Snobismus, einfach teilhaben an seiner unendlichen Neugier.“ Den Romancier dagegen kann man kaum knapper und treffender würdigen als Christopher Schmidt in der Süddeutschen, für den er „das Individuelle und das Allgemeine in ein anderes Verhältnis setzte und die Historie als Echoraum des Nachdenkens über die Gegenwart rehabilitiert“ hatte. „Der Mann, der alles wusste“, ruft Eco online La Repubblica emphatisch hinterher – und kaum jemand würde dieses Diktum zu einer Übertreibung erklären.
Als er 1613 seine zweite Frau heiratete, die 18 Jahre jüngere Susanna Reutinger, geschah dies nach einem Auswahlverfahren, bei dem er nicht weniger als elf Kandidatinnen über viele Monate begutachtet hatte. Weil er eine falsche Abrechnung der Weinmenge für seine Hochzeitsfeier vermutete, beschäftigte er sich prompt mit Formeln zur Flächen- und Volumenbestimmung, was 1615 zu seinem Buch „Nova Stereometria Doliorum Vinariorum“ („Neue Raumgeometrie für Weinfässer“) und seiner „Fassregel“ führte, mit der er Flächen und Volumen mit Hilfe von Indivisibilien berechnete. Sie trug maßgeblich zur späteren Infinitesimalrechnung bei. Überhaupt werden ihn Abrechnungen noch über den Tod hinaus beschäftigen: So nahm sein Sohn Ludwig eine kaiserliche Obligation über die dem Vater geschuldeten 12.694 Gulden entgegen – den letzten, ergebnislosen Versuch, diese Honorare einzutreiben, unternahm fast ein Jahrhundert später der Ehemann einer Enkelin von Ludwig.
1619 veröffentlichte er in der fünfbändigen „Harmonia mundi“ („Weltharmonik“) sein drittes und letztes Gesetz der Planetenbewegung: Die zweite Potenz der Umlaufzeit von Planeten verhält sich wie die dritte Potenz ihrer mittleren Entfernung von der Sonne. Oder anders: Die dritten Potenzen der großen Halbachsen der Planetenbahnen verhalten sich wie die Quadrate der Umlaufzeiten. Damit waren die Gesetzmäßigkeiten der Planetenbewegung als Grundlage der modernen Astronomie vervollständigt, die heute als sein größtes Verdienst neben vielen weiteren gelten: Johannes Kepler, der am 27. Dezember 1571 im württembergischen Weil der Stadt geboren wurde.
Als Frühgeburt wurde er immer als schwaches und krankes, dennoch hochbegabtes Kind bezeichnet. Obschon sein Großvater noch Bürgermeister war, befand sich seine Familie im wirtschaftlichen Niedergang. Sein Vater verdiente einen unsicheren Lebensunterhalt als Händler, verdingte sich mehrfach als Söldner und kehrte, als Johannes fünf Jahre alt war, nicht aus dem Krieg zurück. 1575 überstand er eine Pockenerkrankung, die jedoch bleibend sein Sehvermögen beeinträchtigte. Seine Mutter Katharina, eine Leonberger Gastwirtstochter, war Kräuterfrau und vererbte ihm ihre zarte Konstitution. Zwei Erlebnisse blieben ihm besonders im Gedächtnis: der Anblick des Kometen 1577 und die Beobachtung einer Mondfinsternis 1580. Seine Eltern beschrieb er als jähzornig und streitsüchtig; als 25jähriger suchte er in den Geburtskonstellationen seiner Vorfahren nach einer gleichsam entschuldigenden Begründung für deren weniger gute Charaktereigenschaften.
Nach dem Besuch der Lateinschule in Leonberg erhielt er ein Begabten-Stipendium für ein evangelisches Theologiestudium, für das er 1584 die niedere Klosterschule in Adelberg, 1586 die höhere in Maulbronn besuchte und sich 1589 schließlich an der Artistenfakultät der Universität Tübingen einschrieb. Nach der Magisterpromotion 1591 begann er das 3jährige Studium der Theologie und überwand häufig wiederkehrende Erkrankungen. Als prägendes Element stellte sich damals seine Auseinandersetzung mit dem kopernikanischen Weltbild heraus: Er hörte zum ersten Mal von Kopernikus‘ umwälzender These, dass nicht die Erde, sondern die Sonne im Mittelpunkt des Planetensystems stehe. Weil sein kritischer Geist nicht mit den Dogmen der lutherischen Orthodoxie übereinstimmte – so hatte er neben der Frage des geozentrischen Weltbildes auch Differenzen in der Lehre über das Abendmahl – bekam er nicht die gewünschte Anstellung als Pfarrer in Württemberg.
Die ersten zwei Kepler‘schen Gesetze
So trat er 1594 eine Stelle als Professor für Mathematik und Astronomie in der obersten Klasse der evangelischen Stiftsschule in Graz an, die mit dem Amt des „Landschaftsmathematikers“ verbunden war – Landesastrologe trifft es eher, denn von ihm wurde die Abfassung des jährlichen Kalenders erwartet, der neben dem Kalendarium vor allem ein angehängtes „Prognosticum“ beinhaltete: Voraussagen über das im kommenden Jahr zu erwartende Wetter, Krankheiten und politische Ereignisse auf der Grundlage der Planetenaspekte. Drei davon sind erhalten, darunter gleich das erste für das Jahr 1594, das ihm erstes Ansehen bescherte: Der vorausgesagte kalte Winter und der prognostizierte Türkenangriff trafen wirklich ein. Dabei kann er auch Einfluss nehmen auf die verderblichen Begierden der sterngläubigen Menge und ihr, als Heilmittel, geeignete Mahnungen einträufeln.
Da er nur wenig, dann gar keine Hörer mehr hatte, wurde er auch zum Unterricht in Arithmetik und Rhetorik, später in noch anderen Fächern herangezogen. Seine Gelehrsamkeit erlaubte ihm, jeglichen Unterricht aus dem Stegreif zu erteilen. Die Grazer Hochschule war das protestantische Gegenstück zur Universität, die von Jesuiten geleitet wurde, und Motor der Gegenreformation. Hier begann Kepler mit der Ausarbeitung einer kosmologischen Theorie, die sich auf das kopernikanische Weltbild stützte, Ende 1596 als „Mysterium Cosmographicum“ erschien und ihn als hoffnungsvollen Nachwuchswissenschaftler bekannt machte. Ein Jahr später heiratete er die 25-jährige Barbara Müller, eine zweifache Witwe mit Tochter: Aufgrund des von ihren Ehemännern ererbten Vermögens eine gute Partie. Das Paar bekam fünf Kinder, von denen zwei ihre Kindertage nicht überlebten.
Im Zuge der Gegenreformation musste Kepler 1600 Graz verlassen. Er ließ sich in Prag nieder, wo er zunächst als Assistent des dänischen Astronomen und kaiserlichen Hofmathematikers Tycho Brahe tätig war. Obwohl sich beider Begabungen ergänzten – Brahe war ein exzellenter Beobachter, aber kein Mathematiker, der hervorragende Mathematiker Kepler hingegen fast blind – erwies sich die Kooperation als schwierig. Nach Brahes überraschendem Tod 1601 folgte Kepler als kaiserlicher Mathematiker nach und ergänzte die Theorie von Kopernikus um die Annahme einer Ellipsenbahn, auf der sich die Planeten um die Sonne bewegen. Seinen Posten hatte er während der Herrschaft der drei habsburgischen Kaiser Rudolf II., Matthias I. und Ferdinand II. inne und übernahm damit auch die Zuständigkeit für die kaiserlichen Horoskope und den Auftrag, die „Rudolfinischen Tafeln“ zu erstellen: Eine Sammlung von Tabellen und Rechenvorschriften zur Vorhersage der Planetenstellungen als Grundlage von Himmelsberechnungen aller Art wie Finsternisse, Feste oder eben auch Horoskope.
1609 veröffentlichte er als Ergebnis seiner Ellipsentheorie in seinem Hauptwerk „Astronomia nova“ seine Gesetze der Planetenbewegung: Der Mars bewegt sich in einer Ellipse, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht (1. Planetengesetz, auch „Ellipsensatz“) und zwar so, dass der Radius Vector (Verbindungslinie Sonne-Planet) in gleichen Zeiten gleiche Flächen bestreicht (2. Planetengesetz). Die Aufgabe, den Ort eines Planeten in seiner Bahn für einen gegebenen Zeitpunkt zu berechnen, konnte er nur indirekt lösen. Die Sonne ist der Sitz einer Kraft, das Planetensystem wird von inneren Gesetzen beherrscht, von physikalischen Kräften regiert – mit diesen neuartigen Gedanken setzte er als erster an Stelle des formalen Schemas früherer Astronomen ein dynamisches System, statt der mathematischen Regel das Naturgesetz, an Stelle der geometrischen Beschreibung der Planetenbewegung die kausale Erklärung. Er begründete damit eine neue Wissenschaft, die Himmelsmechanik.
Optik und Tod
Im Umgang mit Brahes Erbe kam er zur Einsicht, dass dessen vervollkommnete Beobachtungstechnik neuartige und größere Anforderungen auch an die astronomische Optik stellte. So übernahm er die Darstellung der astronomischen „Optik“ in allen ihren Teilen 1604. Der Text fasst Einzelerscheinungen zu einem Ganzen zusammen, das „für die Physik die grundlegende Erklärung des optischen Bildes, die in ihren wesentlichen Zügen endgültige Theorie des Sehvorganges und das Grundgesetz der Photometrie als Vorstufe des Gravitationsgesetzes, für die Astronomie die rechnerische Auswertung der Finsternisse sowie eine rein theoretisch gewonnene verbesserte Refraktionstafel, für die Geometrie endlich eine neue Betrachtungsweise der Kegelschnitte gebracht hat“, so sein Biograph Franz Hammer. Die Auffindung des Brechungsgesetzes ist ihm, in physikalischen Vorstellungen seiner Zeit befangen, nicht gelungen; doch stellte er eine überraschend gute Näherungsformel auf.
1611 verfasste er innerhalb weniger Wochen eines seiner bedeutendsten Werke, in dem er eine neue optische Disziplin vorstellte und mit dem er neben dem Praktiker Galilei als Theoretiker den Siegeszug des Fernrohrs in der Astronomie einleitete: die „Dioptrik“ als Bezeichnung für die Optik der brechenden Medien. Er untersucht darin, geleitet auch von eigener Erfahrung im Schleifen von Linsen und im Bau von Fernrohren, die Wirkungsweise der einzelnen Linsen wie der Kombinationen von solchen und begründet damit die Theorie des nach ihm benannten astronomischen Fernrohrs. Außerdem entdeckte er durch geeignete Kombination einer Konvex- und einer Konkavlinse das Prinzip des Teleobjektivs. Im selben Jahr starb Keplers Frau und erschien auch sein Buch „Über die sechseckige Schneeflocke“ mit der Vermutung des atomaren Aufbaus der Materie, gewonnen durch die Beschäftigung mit Schneekristallen.
Nach dem Tod seines Gönners Kaiser Rudolf II. ging Kepler aus finanziellen Gründen 1612 als Professor nach Linz an die protestantische Landschaftsschule, wo er bis 1626 lehrte. Von den sechs Kindern, die er mit seiner zweiten Frau bekam, starben die drei zuerst geborenen früh. 1613 unterstützte er die Vorschläge von Papst Gregor XIII. zur Kalenderreform. Von 1615 an musste er sich um die Verteidigung seiner Mutter Katharina kümmern, die unter dem Verdacht der Hexerei angeklagt war, nach seinen Intervention 1621 freikam und an den Haftschikanen kurz danach starb. Nach der „Weltharmonik“ bereicherte er 1621 die kopernikanische Lehre durch die These, dass eine von der Sonne ausgehende Kraft die Planetenbewegung verursache – erst Newton wird 1687 die Gravitation entdecken. Kepler wertete die aus wissenschaftlicher Beobachtung und Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse höher als ihnen widersprechende Aussagen der kirchlichen und weltlichen Autoritäten. Zwischen 1618 und 1621 verfasste er den „Abriss der kopernikanischen Astronomie“, der seine Entdeckungen in einem Band zusammenfasste: Das erste Lehrbuch des heliozentrischen Weltbildes.
1626 zwang ihn die Gegenreformation auch zum Verlassen von Linz. Er fand im kaiserlichen General Albrecht von Wallenstein einen neuen Förderer, der von Kepler zuverlässige Horoskope erwartete und ihm im Gegenzug in Sagan (Schlesien) eine Druckerei zur Verfügung stellte. Kepler publizierte 1627 die „Rudolfinischen Tafeln“, die bis ins 19. Jahrhundert hinein als Grundlage für astronomische und astrologische Berechnungen dienten. Ein Meilenstein der Wissenschaftsgeschichte war seine Vorhersage eines Venustransits 1631. Mit seiner Einführung in das Rechnen mit Logarithmen trug er zur Verbreitung dieser neuen Rechenart in Deutschland bei. Als Wallenstein jedoch 1630 auf dem Reichstag in Regensburg seine Funktion als Oberbefehlshaber verlor, reiste Kepler dorthin, um seine ausstehenden Gehaltsforderungen einzufordern, was ihm aber nicht gelang. Wallenstein stellte ihm als Herzog von Mecklenburg eine Professur an der Universität Rostock in Aussicht, doch vor deren Antritt starb er am 15. November 1630. Sein Grab und das Grabdenkmal auf dem Regensburger Petersfriedhof gingen im Dreißigjährigen Krieg verloren.
Schöpfung als zusammenhängendes Ganzes
Der Naturphilosoph, Mathematiker, Astronom, Astrologe, Optiker und evangelische Theologe entwickelte vor allem das heliozentrische Weltbild weiter, indem er es statt eines hypothetischen Modells zur einfacheren Berechnung der Planetenpositionen als eine physikalische Tatsache sah. Als „pythagoreischer Mystiker“ glaubte er, dass die Grundlage der Natur mathematische Beziehungen seien und alle Schöpfung ein zusammenhängendes Ganzes. Das stieß nicht nur in der katholischen Kirche, sondern auch bei seinen protestantischen Vorgesetzten auf erbitterten Widerstand, da auf beiden Seiten die Lehren von Aristoteles und Ptolemäus als unantastbar galten. Zeitlebens suchte er nach einer Harmonie im Aufbau des Universums, und als tief religiöser Mensch war er davon überzeugt, dass es einen Schöpfungsplan geben müsse, der auf geometrischen Proportionen beruht. Zu einer Zeit, in der zwischen Astronomie und Astrologie noch nicht eindeutig unterschieden wurde, schrieb er: „Ich glaube, dass die Ursachen für die meisten Dinge in der Welt aus der Liebe Gottes zu den Menschen hergeleitet werden können.“
Kepler war auch davon überzeugt, dass Himmelskörper irdische Ereignisse beeinflussten. Ein Ergebnis seiner Überlegungen war die richtige Einschätzung der Rolle des Mondes auf die Entstehung der Gezeiten, Jahre vor Galileis gegenteiliger falscher Formulierung. Des Weiteren glaubte er, dass es eines Tages möglich sein werde, eine „wissenschaftliche“ Astrologie zu entwickeln, trotz seiner generellen Abneigung gegen die Astrologie seiner Zeit. Mehr als 800 von Kepler gezeichnete Horoskope und Geburtskarten sind erhalten. „Die Sterne zwingen nicht, sie machen nur geneigt“: Kepler räumte der menschlichen Willkür die Möglichkeit ein, himmlische Zwänge zu durchbrechen und von dem astrologisch vorgezeichneten Weg abzuweichen. Wallenstein soll er für 1634 erhebliche Schwierigkeiten vorausgesagt haben: In dem Jahr wurde der Generalissimus tatsächlich ermordet.
1608 schrieb Kepler die Erzählung „Somnium“ („Der Traum“), die so realistisch wie damals möglich eine Mondfahrt beschreibt. Man kann sie als eine der ersten Science-Fiction-Erzählungen bezeichnen. Sie wurde 1634 postum von seinem Sohn veröffentlicht und erst 2011 vollständig übersetzt auf Deutsch publiziert. Zu einer bedeutenden, aber wenig gewürdigten Erfindung führte eine andere Gelegenheitsarbeit, zu der Kepler durch Gespräche mit einem Bergwerksbesitzer angeregt wurde. Dabei ging es um die Entwicklung einer Pumpe, mit der Wasser aus Bergwerksstollen herausgehoben werden sollte. Nach fehlgeschlagenen Experimenten kam Kepler der Gedanke, zwei in einem Kasten angebrachte „Wellen mit je sechs Hohlkehlen“, also Zahnräder mit abgerundeten Ecken, mit einer Kurbel anzutreiben, so dass die Radhöhlungen das Wasser nach oben beförderten. Er hatte eine ventillose und daher fast wartungsfreie Zahnradpumpe erfunden, die heute in prinzipiell gleichartiger Form in Automotoren als Ölpumpe eingebaut wird.
Keplers Ehrungen sind kaum überschaubar. Die Linzer Universität wurde nach ihm benannt, viele Schulen, geographische Orte nicht nur auf der Erde, selbst eine Palmenart. Eine Büste Keplers wurde 1842 in die Walhalla aufgenommen. Paul Hindemith setzte ihm mit seiner Oper Die Harmonie der Welt ein musikalisches Denkmal. Die Kepler-Gesellschaft verleiht seit 2006 Kepler-Preise an Schüler aus den 22 Kepler-Gymnasien der EU. Die Oper Kepler von Philip Glass wurde als Auftragswerk für Linz als Kulturhauptstadt Europas 2009 uraufgeführt. Die Evangelische Kirche in Deutschland erinnert mit einem Gedenktag im Evangelischen Namenkalender am 15. November an ihn. Leonberg und Weil der Stadt, wo es neben Museen etwa einen „Planetenweg“ gibt, erklärten 2021 zum Kepler-Gedenkjahr.
Er hielt einige Rekorde, manche davon wie seine zehn Bambis haben immer noch Bestand. So galt er seit 2001 als der weltweit älteste aktive darstellende Künstler: Insgesamt stand er 90 Jahre auf der Bühne und 87 vor der Kamera. Am Silvestertag 1938 gab er mit Nelke im Knopfloch, weißen Handschuhen und langem, weißem Seidenschal erstmals den Grafen Danilo in der Lustigen Witwe am Münchner Gärtnerplatztheater – eine Rolle, die er danach über viereinhalb Jahrzehnte hinweg bis 1983 mehr als 1600-mal verkörperte. Von 1996 bis 2001 spielte er in dem von Curth Flatow für ihn geschriebenen Stück Ein gesegnetes Alter als weltweit ältester Schauspieler, der über 250-mal en suite in der Hauptrolle eines Drei-Stunden-Stücks auf der Bühne stand: Johannes „Jopi“ Heesters, der am Weihnachtstag 2011 als damals zweitältester lebender deutscher Mann in Starnberg starb.
Als Johannes Marius Nicolaas Heesters am 5. Dezember 1903 im niederländischen Amersfoort als jüngster von vier Kaufmannssöhnen geboren wurde, gab es noch kein Radio und keinen Fernseher. In Deutschland regierte Kaiser Wilhelm II.; in Detroit ließ Henry Ford sein erstes Auto vom Fließband. Als Junge hat er geboxt und beim holländischen Renommierklub Ajax Amsterdam Fußball gespielt. Heesters, der spätere „Dandy des Jahrhunderts“, wollte eigentlich Priester und dann Kaufmann werden, verfiel jedoch, nachdem er mit 16 zum ersten Mal ein Theater von innen gesehen hatte, sofort der Schauspielkunst und gründete mit Freunden eine Theatergruppe. Schon damals fiel er als Sänger auf und ließ sich, dem Rat der anderen folgend, am Amsterdamer Operettentheater ausbilden. Im Dezember 1927 sang er bei Harry Frommermann vor, der die Comedian Harmonists gründete, lehnte ein Engagement jedoch ab, als dieser ihm sagte, er würde für die nächsten Monate keine Gage bezahlen können.
Schnell feierte er in seiner Heimat Erfolge als Operettentenor, und auch seine Frau Louise Ghijs („Wiesje“), die er 1928 in Rottterdam kennen lernte und die 1985 starb, war ein junger Operettenstar. Der Ehe entstammten in den 1930er Jahren zwei Töchter, die ebenfalls erfolgreiche Künstler wurden. Jopies Durchbruch begann 1934 an der Wiener Volksoper in der Titelpartie von Carl Millöckers „Bettelstudent“. Als ihn ein Jahr später die Komische Oper Berlin abwarb, spielte Heesters diese Rolle auch in der opulenten Ufa-Verfilmung von 1936, mit Carola Höhn und der vom Varieté kommenden Marika Rökk, die bald Heesters´ wichtigste Filmpartnerin wurde. Es folgten binnen kürzester Zeit die Ufa-Filme „Das Hofkonzert“, „Wenn Frauen schweigen“ und „Gasparone“, mit denen der Beau aus Holland in typischer Befrackung endgültig zum „Typus des amerikanischen Tonfilmcharmeurs“ avancierte. Ihm wurden zahllose Affären nachgesagt.
Heesters´ Startposition in Berlin war glänzend, waren doch die berühmten jüdischen Operettenstars samt und sonders aus Deutschland vertrieben worden. Mit Operettenmelodien und Songauskopplungen seiner Filme wurde er jetzt auch zum Plattenstar: Man müsste Klavier spielen können oder Ich knüpfte manch zarte Bande wurden ganz große Hits. Sein größter allerdings war als Danilo Heut geh ich ins Maxim, den Heesters bis ins Greisenalter reflexhaft abrufen konnte, als sei er darauf programmiert. Allein im Berliner Admiralspalast haben ihn zwischen 1939 und 1941 fast eine halbe Million Zuschauer dafür bejubelt.
Seine lässige Eleganz, mit sich der Heesters in Revuefilmen wie Nanon (1938), Hallo Janine (1939) oder Jenny und der Herr im Frack (1941) auf Showtreppen bewegt, lässt die Streifen heute noch wie ganz großes Kino erscheinen. „Er machte die Operette intelligent, allein durch seine abgefeimte Kunst des Pointierens. Was Johannes Heesters auch künstlerisch anfasste, er verwandelte es in eine Wolke farbensprühender Luftballons. Und ließ sich von ihnen ins Himmelblau ziehen“, meinte Klaus Geitel in der Welt. Zu seinen größten Fans zählte Adolf Hitler, der Heesters zu seinem Lieblings-Danilo erkor, sowie Joseph Goebbels, der ihn 1943 mit dem Zusatz „Ausländer“ auf die sogenannte Gottbegnadeten-Liste setzte. Sympathiebekundungen von ihm für das Regime sind nicht bekannt. Er nahm weder die deutsche Staatsangehörigkeit an, zu der ihn Goebbels drängte, noch war er NSDAP-Mitglied.
„aus Platzgründen“ wieder ausgeladen
Nach dem Krieg wurden Heesters’ Filme – im Gegensatz zu einigen Filmen mit Heinz Rühmann (etwa Quax, der Bruchpilot) – vom Alliierten Kontrollrat nicht als NS-Propaganda eingestuft, sie hätten dem NS-Regime nur zur Ablenkung und Ruhigstellung der Bevölkerung gedient. So konnte er seine Karriere bruchlos fortsetzen. Die 1944 von der Terra Film produzierte Operettenverfilmung Die Fledermaus wurde am 16. August 1946 in Ost-Berlin als erste deutschsprachige Produktion in der sowjetischen Besatzungszone uraufgeführt. Neue Unterhaltungsstreifen wie Wenn eine Frau liebt (1950) mit Hilde Krahl, Operettenverfilmungen wie Die Czardasfürstin (1951) und Die geschiedene Frau (1953) mit Marika Rökk oder das Singspiel Im weißen Rößl (1952) mit Johanna Matz als Rößlwirtin ließen die Kinokassen klingeln.
1953 engagierte ihn Otto Preminger für den Film Die Jungfrau auf dem Dach nach Hollywood. Von weiteren Auftritten in den USA sah er ab: Er müsse sich schon anstrengen, richtig Deutsch zu sprechen; da auch noch Englisch zu lernen habe er keine Lust, ließ er verlauten. In den 1960er und 1970er Jahren war er in zahlreichen Fernsehfilmen, Theateraufzeichnungen und Fernsehshows zu sehen. Und weil sie jetzt unterging, die gute alte Operettenwelt der Grafen und Galane, widmete sich Heesters nun dem Musical und den Möglichkeiten des Fernsehzeitalters getreu seiner Devise: „Wenn man zu sehr den alten Dingen nachhängt, versäumt man die Zukunft.“ 1978 erschienen seine Memoiren: Es kommt auf die Sekunde an. Anfang des neuen Jahrtausends kommen ein weiterer Band sowie mehrere Fotobücher und Biographien auf den Markt.
750 Mal – bis zu seinem 80. Geburtstag – spielte er ab Mitte der siebziger Jahre am Münchner Gärtnerplatztheater die andere große Lebemann-Rolle seiner Karriere: den Honoré Lachailles in Frederick Loewes Erfolgsmusical Gigi. „Er war Deutschlands professionellster Hallodri. Wie andere Schweiß versprühten, so versprühte er Charme“, befand Geitel. Später kehrte er auch ans Theater zurück, spielte im zarten Alter von 86 Jahren den gealterten Casanova auf Schloss Dux. 1992 heiratete Heesters die Schauspielerin Simone Rethel, fast 46 Jahre jünger als er, die schon als Elfjährige in ihn verknallt war. Wer je erlebte, wie fürsorglich und geduldig sie mit ihrem greisen Mann umging, der zuletzt kaum mehr hörte und komplett erblindet war, ahnt, was sie geleistet hat. 2003 standen sie in der Stuttgarter Komödie am Marquardt sogar gemeinsam auf der Bühne.
Die Deutschen liebten ihren Jopie vorbehaltlos, seine holländischen Landsleute aber haben ihm die Karriere in Nazi-Deutschland schwer verübelt. Für sie war Heesters ein Kollaborateur, Auftritte in Holland wurden ihm verwehrt. Der niederländische Schriftsteller Harry Mulisch soll ihn 1985 für den Roman Höchste Zeit als Vorbild für einen Operettenkollaborateur genommen haben. Dass er nicht einmal zum 100. Geburtstag offizielle Glückwünsche aus seiner Heimat bekam, hat ihn getroffen. Umso beseelter war er, als er im Februar 2008 nach fast einem halben Jahrhundert wieder in seiner Geburtsstadt Amersfoort auftreten durfte. Von einem Staatsbankett, das Bundespräsident Christian Wulff für die niederländische Königin Beatrix gab, wurde er „aus Platzgründen“ wieder ausgeladen – auch der Stachel sitzt tief. Noch 2008 setzte sich Heesters vor Gericht gegen Behauptungen zur Wehr, er sei 1941 bei einem befohlenen Besuch des Gärtnerplatz-Ensembles im KZ Dachau dort auch aufgetreten. Der KZ-Besuch selbst ist unumstritten.
„absolute Ausnahmeerscheinung“
Zu seinem 95. Geburtstag hatte der Jahrhundert-Charmeur Heesters 1998 bei einer Wetten dass…?-Sendung als Wetteinsatz angeboten, dass er zu seinem 100. Geburtstag wieder in die Sendung käme, falls er mit seiner Meinung falsch läge und das mit dem Lied Ich werde 100 Jahre alt, darauf könnt ihr bauen! untermauert. 2003 konnte er sein Versprechen wahr machen. Anlässlich seines 100. kündigte er an, dass er erneut Gesang studieren möchte: „Meine letzte Gesangsstunde ist schließlich schon 40 Jahre her“. Im Herzen blieb ich jung, sang er in einem seiner jüngeren Lieder. Er machte regelmäßig Fitnesstraining und liebte seine Arbeit, von der er bis zuletzt nicht abließ. 2002 spielte er den alten Diener Firs in Tschechows Kirschgarten.
Den 104. Geburtstag feierte er singend im Berliner Admiralspalast, zum 105. trat er in Hamburg im Winterhuder Fährhaus als Kaiser Franz Joseph im Weißen Rössl auf. Und jedes Jahr gab es seit dem Hundertsten einen Bambi. 2007 nahm er mit Claus Eisenmann, dem ehemaligen Sänger der Söhne Mannheims, bei einem Hip-Hop-Label die Maxi-Single Generationen auf; im Sommer 2010, mit sagenhaften 106 Jahren, trat er im Berliner Ensemble in einer kleinen Rolle als König in einem Hochhuth-Stück auf. Mit 107 hörte er seiner Frau zuliebe mit dem Rauchen auf. Und während er im Dezember 2011 schon im Krankenhaus lag, ist in München der Kurzfilm Ten herausgekommen, in dem Jopie den Petrus spielt: Seine letzte Rolle war der Himmelspförtner. Es gibt einen Witz, den Heesters ganz gern selbst erzählte: Es ist 4 Uhr nachts, jemand pocht laut an die Pforte. Jopi quält sich aus dem Bett und sieht, nachdem er zur Tür schlurfte und sie öffnete, den Tod stehen. Da dreht er sich um und ruft: „Simone! Für dich!“
Heesters spielte, solange er fit war, denn: „Soll ich zuhause sitzen und warten, bis man mich holt?“, wie er einmal sagte. „Man kann ihn als absolute Ausnahmeerscheinung bezeichnen“, zitiert der Wiener Kurier Heesters Arzt aus Starnberg. „Es gibt keine auffälligen Werte, Puls, Lunge, Herz, alles ist in Ordnung, er benötigt keine Medikamente.“ Der ewige Grandseigneur, der sein Archiv bereits 2004 der Akademie der Künste in Berlin übergeben hatte, verkörperte eine versunkene Welt. Heesters wollte immer gefallen, was seine größte Stärke, gleichzeitig aber auch seine größte Schwäche war. Niemand genoss den Beifall des Publikums so, zelebrierte den Applaus so gekonnt wie Johannes Heesters, hat seine Kollegin Dagmar Koller einmal über ihn gesagt. Sein Grab auf dem Münchner Nordfriedhof ist einem steinernen Theaterauditorium nachempfunden – mit seiner Büste auf der Bühne.
Er wurde mehrmals vergeblich, zuletzt 2004, für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Die Liste seiner weiteren Würdigungen und Ehrendoktorate übertrifft die meisten seiner weltweiten Autorenkollegen, berührt sie doch Literatur und Politik gleichermaßen. Mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels, dem Karlspreis zu Aachen und dem Nationalpreis erhielt der kettenrauchende Dramatiker, Essayist, Menschenrechtler und Politiker allein drei der höchsten deutschen Auszeichnungen. Er gilt als einer der wichtigsten Verfechter der deutsch-tschechischen Versöhnung, der 1997 zusammen mit Helmut Kohl die Deutsch-Tschechische Erklärung unterzeichnete. Sie brachte ihm erbitterte Kritik sowohl von den tschechoslowakischen NS-Opfern als auch vom Heimatvertriebenenverband der Sudetendeutschen ein: Václav Havel, der am 18. Dezember 2011 starb.
Havel wurde am 5. Oktober 1936 in Prag als Kind bekannter und einflussreicher Unternehmer geboren: Sein Großvater ließ unter anderem den berühmten Lucerna-Vergnügungskomplex am Wenzelsplatz erbauen, sein Onkel die Prager Barrandov-Filmstudios, das tschechische Hollywood. Mit Beginn der kommunistischen Regierung 1948 ging der Familienbesitz in Staatsbesitz über. Der junge Václav durfte nach Beendigung der Schulpflicht 1951 keine weiterführende Schule besuchen, begann eine Ausbildung zum Zimmermann, dann eine als Chemielaborant und schloss 1954 das Abendgymnasium ab. Nebenbei arbeitete er als Taxifahrer und schreibt erste, kafkaeske Texte. Aus politischen Gründen an keiner geisteswissenschaftlichen Fakultät zugelassen, begann er 1954 ein Ökonomiestudium an der Technischen Hochschule Prag, das er nach zwei Jahren abbrach. 1957 im Grundwehrdienst einem Pionierregiment zugeteilt, war er Mitbegründer einer Theatergruppe.
Nach dem Ende des Armeedienstes arbeitete Havel als Techniker in Prager Theatern, ab 1960 im „Theater am Geländer“, ab 1963 Regieassistent. Er begann, eigene Theaterstücke zu schreiben, deren Premieren im „Theater am Geländer“ stattfanden: Anfang 1963 Das Gartenfest und im Juli 1965 Das Memorandum. Seit seinem 20. Lebensjahr schrieb Havel auch Artikel für Literatur- und Theaterzeitschriften. Seine in der Tradition des absurden Theaters stehenden Stücke und seine Artikel prägten und zeigen die Atmosphäre, die 1968 zum Prager Frühling führte. 1964 heiratete er Olga Šplíchalová.
Im folgenden Jahr wurde er Redaktionsmitglied der Monatszeitschrift des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbands Tvář („Gesicht“) und hielt im Verband kritische Reden über dessen Arbeit und die Diskriminierung einzelner Schriftsteller. 1966 beendet er sein Fernstudium der Dramaturgie an der Theaterfakultät der Akademie der musischen Künste in Prag und schreibt als Abschlussarbeit einen Kommentar zu seinem Stück Eduard, der später die Grundlage des Dramas Erschwerte Möglichkeit der Konzentration wurde. Die Kommunistische Partei (KPČ) strich ihn zusammen mit Ivan Klíma und Pavel Kohout von der Kandidatenliste für den Vorstand des Schriftstellerverbands.
Suche eines Intellektuellen nach Wahrheit
Im beginnenden politischen Tauwetter war er im März 1968 Mitunterzeichner eines offenen Briefs von 150 Schriftstellern und Kulturschaffenden an das ZK der KPČ mit Forderungen nach Demokratisierung. Im April wurde er zum Vorsitzenden des Klubs unabhängiger Schriftsteller gewählt, Mitglied des Klubs engagierter Parteiloser und begann, als freischaffender Autor zu arbeiten. Während des Einmarschs der Truppen des Warschauer Paktes beteiligte sich Havel an den Protesten gegen die Besetzung des Landes. Im Herbst 1968 übernahm er die Funktion des Redaktionsleiters der reaktivierten Tvář, die zuvor auf Druck der KPČ-Führung eingestellt worden war.
Er zählte zu den zehn Verfassern des 1969 herausgegebenen Aufrufs „Zehn Punkte“, der sich gegen die Politik der sogenannten „Normalisierung“ sprich den Prager Kotau vor Moskau richtete. Havel wurde zusammen mit anderen Unterzeichnern verhört und anschließend wegen angeblich krimineller staatsfeindlicher Tätigkeiten angeklagt. Das Verfahren wurde jedoch auf unbestimmte Zeit vertagt. Anfang der 70er Jahre erhielt er wie auch viele andere Publikationsverbot, seine Bücher wurden aus allen Bibliotheken der ČSSR entfernt. Der teilweise als elitärer Bohémien beschriebene Havel zieht sich in ein Bauernhaus zurück, verdingt sich als Hilfsarbeiter bei einer Brauerei und gründet 1975 den unabhängigen Verlag „Expedition“.
Viele deutschsprachige Bühnen bringen seine satirischen Komödien wie Die Retter (1974), Audienz (1976), Vernissage (1976) und Protest (1979). Zur neuen künstlerischen Heimat Havels entwickelt sich das Wiener Burgtheater, das 1985 auch das Schauspiel Largo desolato zur Uraufführung bringt. Immer wiederkehrendes Thema seiner Stücke ist die Suche eines Intellektuellen nach Wahrheit, die ihn in Opposition zum totalitären Regime bringt, sowie die Macht der Sprache und ihr Missbrauch. In einem Offenen Brief an den Staatspräsidenten Husák rechnet er 1975 schonungslos mit dem System der absoluten „Tiefendemoralisierung“ ab, das die Menschen in Heuchelei, Depression und Passivität führe.
Im August 1976 richtete Havel zusammen mit anderen Intellektuellen einen Brief an den Nobelpreisträger Heinrich Böll mit der Bitte um Solidarität für verurteilte Mitglieder zweier Musikbands. Dieser Brief sowie die Schlussakte von Helsinki, die in der Tschechoslowakei im Herbst desselben Jahres in Kraft trat, waren wichtige Impulse für die Zusammenarbeit zwischen bisher voneinander isolierten Gruppen von Schriftstellern, Häftlingen aus der Zeit der Niederschlagung des Prager Frühlings, christlichen Gruppen, alternativen Künstlern und anderen. Als ein Resultat dieser Zusammenarbeit entstand die Charta 77, deren erste Erklärung von Václav Havel, Pavel Kohout und weiteren formuliert, am 1. Januar 1977 veröffentlicht wurde und eine „Bürgergesellschaft“ als Ideal postulierte.
Havel wurde wiederholt verhört, in Untersuchungshaft genommen und 1977 auf Bewährung für den angeblichen Versuch verurteilt, Staatsinteressen im Ausland zu beschädigen. 1978 verfasste er seinen bekanntesten Essay Versuch, in der Wahrheit zu leben, in dem Havel das Bild vom Niedergang des Menschen im „posttotalitären System“ von Korruption, Heuchelei und Unterdrückung zeichnet. Die Wahrheit ist eine Bedrohung für das Leben in der Lüge, das im posttotalitären System „einen Machtfaktor darstellt bzw. selbst eine politische Macht ist“. Bei einigen tschechischen Exilschriftstellern – etwa bei Josef Skvorecký – taucht er selbst als schillernde Romanfigur auf.
1979 wegen „staatsfeindlicher Tätigkeit“ erneut angeklagt, wurde er zu über vier Jahren Haft verurteilt, in der er 1983 den Essay Identitätskrise schrieb. Im selben Jahr erscheinen Auszüge aus 144 Gefängnisbriefen Havels an seine Frau Olga. Da er an einer schweren Lungenentzündung erkrankte, wurde seine Strafe ausgesetzt und er ins Krankenhaus überwiesen. „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – egal wie es ausgeht“, heißt in seinem Gesprächsband Fernverhör von 1987. Zwei Jahre später wurde Havel erneut inhaftiert und zu acht Monaten Gefängnis verurteilt. „Ich hoffe immer noch, dass die Staatsmacht endlich aufhört, sich wie ein hässliches Mädchen zu gebärden, das den Spiegel zerschlägt in der Annahme, er sei schuld an seinem Aussehen“, sagte er in seinem Schlusswort vor Gericht.
absurd und doch unverzichtbar
Als im November 1989 nach einer niedergeknüppelten Studentendemo das kommunistische Regime innerhalb weniger Tage zusammenbrach, forderten die Menschen nicht nur Demokratie und Freiheit, zunehmend erklang auch der Ruf „Havel auf die Burg!“ – gemeint war der Sitz der Staatsführung auf dem Prager Hradschin. Am 29. Dezember 1989 wählte das Parlament, die Föderalversammlung, den noch Anfang des Jahres inhaftierten, immer noch medienscheuen Regimegegner und Dissidenten zum Präsidenten der Tschechoslowakei. In seiner Antrittsrede kündigte er freie Wahlen an, die im Juni 1990 stattfanden. Die nunmehr frei gewählte Föderalversammlung bestätigte Havel im Amt.
Zwei Jahre später trat er aus Protest gegen die Teilung der tschechoslowakischen Föderation von diesem Amt zurück. Doch am 26. Januar 1993 wurde Havel durch das tschechische Parlament zum ersten Präsidenten der nunmehr eigenständigen Tschechischen Republik gewählt, was er bis zum Ende seiner zweiten Amtszeit im Februar 2003 blieb. In den Augen der Tschechen schloss sich ein Kreis: auf den „Philosophen-Präsidenten“ Masarýk am Anfang des Jahrhunderts folgte der „Schriftsteller-Präsident“ Havel an seinem Ende.
Sein Pressesprecher, Michael Žantovský, schreibt in seiner Biographie: „Nur ein Václav Havel konnte ein abendfüllendes Schauspiel mit völlig verschiedenen Menschen gegensätzlichster Ideologien und unterschiedlichster Werdegänge möglich machen, ein Schauspiel, das absurd, und doch unverzichtbar war.“ Zitiert wird der Vergleich Havels mit dem chemischen Element Kohlenstoff, „das in der Lage ist, sich mit vielen anderen zusammenzutun, so dass eine Verbindung von unwiderstehlicher Stärke entsteht“. Als sein Hauptverdienst gilt, dass der EU-Gipfel von Kopenhagen 2002 den Grundstein zur Eingliederung Tschechiens in die EU legte. Er beharrte bis zuletzt auf seiner Idee der „unpolitischen Politik“ als „Moral in Aktion“. Sein Nachfolger Vaclav Klaus, mit dem er sich einen langen Machtkampf lieferte, strebte die marktwirtschaftliche Normalität an, die Havel stets ein Gräuel war.
Nach Olgas Tod 1996 war er seit 1997 in zweiter Ehe mit der Schauspielerin Dagmar Veškrnová verheiratet. Von 1995 bis 2000 gehörte er der Jury des Internationalen Nürnberger Menschenrechtspreises an. Anlässlich des tschechischen Nationalfeiertags beklagt er 2001, dass das kommunistische Erbe „an der Oberfläche kapitalistisch getüncht“ in Politik und Gesellschaft weiterlebe. Zuletzt war er in seiner Heimat wegen seiner Unterschrift unter den Aufruf von acht europäischen Staats- und Regierungschefs zu einer Unterstützung der US-Politik im Irak und wegen Eheklatsch umstritten. Er starb auf seinem Landsitz im nordböhmischen Hrádeček an den Folgen einer Atemwegserkrankung, die er durch seine zahlreichen Gefängnisaufenthalte erlitten hatte. Zudem war ihm wegen eines diagnostizierten Lungenkrebses 1996 ein Tumor und ein Teil der Lunge entfernt worden.
Bestimmendes Grundthema in Havels literarischem Werk war die Entfremdung des Menschen von der von ihm genannten „Lebenswelt“, einer irdischen Idealvorstellung. Diese Entfremdung sah Havel als Ursache aller Probleme, die durch eine von der Wissenschaft ermöglichte Technisierung der Ökonomie hervorgerufen wurde; aber auch durch die ehemaligen Diktaturen des Kommunismus und deren Vorstellung einer wissenschaftlich zu organisierenden, gleichberechtigten Lebenserwerbs-Gesellschaft. Das führe zu einer auf Lügen aufgebauten Gesellschaft, in denen Worte ihren Sinn verlieren, so etwa das im Ostblock inflationär gebrauchte Wort Frieden, das in diesem Regierungssystem eigentlich nur die Bewahrung des Status quo und somit die Aufrechterhaltung der Macht bedeutete. Ersetzt man Frieden durch Gesundheit, offenbaren sich heute erschreckende Parallelen.
Als Jude mit US-Staatsbürgerschaft, der in der DDR lebte, aber in der BRD drucken ließ, saß er zeitlebens zwischen allen Stühlen. Seine großen macht- und menschenkundigen, intelligenten Unterhaltungsromane nordamerikanischer Prägung, mit denen er ab 1972 im Westen zeitweise zum meistgelesenen DDR-Autor avancierte, konterkarierten jegliche Ideologie. Beim deutsch-deutschen Schriftstellertreffen im niederländischen Scheveningen hält er schon 1981 die deutsche Wiedervereinigung für „möglich und naturgegeben“. Nach der Maueröffnung gehört er allerdings zu den Initiatoren des Aufrufs Für unser Land, der am 18.10.1989 in der Zeitung der LDPD Der Morgen erschien, und tritt später, angewidert vom „Kaufrausch der Massen aus der DDR“, in dem er eine „würdelose Jagd nach dem glitzernden Tinnef“ sieht, für eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik ein.
Für die Bundestagswahl lässt er sich 1994 nach monatelangem Zögern von der SED-Nachfolgepartei PDS als Kandidat des Wahlkreises Berlin Mitte/Prenzlauer Berg gewinnen. Er begründet diesen Schritt damit, dass in der PDS ein „Prozess innerer Wandlung“ erkennbar sei, die „westdeutsche Politikerkaste“ ihn dagegen „politikverdrossen“ mache. Einen Eintritt in die Partei lehnt er allerdings ab. Er gewinnt das Direktmandat gegen den SPD-Politiker Wolfgang Thierse, zieht mit zwei weiteren parteilosen Schriftstellern für die PDS in den Bundestag ein und hält als Alterspräsident im November die Eröffnungsrede im Parlament. „Welch nobler Text, fernab parteilicher Enge für alle Deutschen gesprochen“, befand Christoph Dieckmann noch 2014 in der Zeit. Doch außer Rita Süssmuth versagt ihm auf Geheiß des süffisant grienenden Helmut Kohl die CDU/CSU-Fraktion ebenso demonstrativ den Applaus wie Wahlverlierer Thierse: Stefan Heym, der am 16. Dezember 2001 starb.
Geboren wird er am 10. April 1913 als Helmut Flieg in Chemnitz als ältester Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie. Wegen des antimilitaristischen Gedichts „Exportgeschäft“ wird er 1931 von dem Chemnitzer Gymnasium relegiert, an dem später Stephan Hermlin und Alexander Gauland ihr Abitur ablegen werden. Er zieht nach Berlin, macht dort sein Abitur, beginnt ein Studium der Philosophie, Germanistik und Zeitungswissenschaften und schreibt erste Beiträge für Ossietzkys Weltbühne. Schon 1933 emigriert er nach Prag und schreibt – zum Schutz seiner Familie unter den Pseudonymen Stefan Heym, Elias Kemp und Gregor Holm – Artikel in deutschsprachigen und tschechoslowakischen Zeitungen. 1935 begeht sein Vater Selbstmord. Andere Familienmitglieder kommen später in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten ums Leben.
Heym siedelt mithilfe des Stipendiums einer jüdischen Hilfsorganisation in die USA über und schließt 1936 an der Universität von Chicago sein Studium mit dem Master of Arts über Atta Troll von Heinrich Heine ab. Zwei Jahre lang arbeitet er dann als Chefredakteur der antifaschistischen New Yorker Wochenzeitung Deutsches Volksecho. Er wird Mitglied der German-American-Writers-Association und verschreibt sich dem Dasein eines freien Schriftstellers, dessen erster Roman Hostages (1942) zu einem großen Erfolg wurde – als „Der Fall Glasenapp“ erschien das Buch erst 1958 auf Deutsch. 1943 tritt er in die Ritchie Boys der US-amerikanischen Armee ein.
„kritischer Marxist“
Mit dieser Einheit für Psychologische Kriegsführung folgte er 1944 der alliierten Invasion in der Normandie. Seine Aufgabe bestand vorwiegend im Verfassen propagandistischer Texte, die meist per Flugblatt, aber auch per Heeresgruppenzeitung, Lautsprecherübertragung und Rundfunksendung die Soldaten der Wehrmacht beeinflussen sollten. Nach Kriegsende leitete Heym die Ruhr Zeitung in Essen und war anschließend in München Redakteur der Neuen Zeitung, einer der wichtigsten Zeitungen der amerikanischen Besatzungsmacht. Wegen seiner prosowjetischen Einstellung wurde Heym Ende 1945 in die USA zurückversetzt und heiratet die Amerikanerin Gertrude Gelbin, die ihn bis zu ihrem Tod 1969 auf seinem Lebensweg begleitete. Ende 1948 veröffentlichte er in Boston seinen Roman The Crusaders (dt. „Kreuzfahrer von heute“, 1950), der ein Weltbestseller wird.
Aus Protest gegen den Koreakrieg gibt Heym alle militärischen Auszeichnungen zurück, verlässt zeitgleich mit Charlie Chaplin, Bertolt Brecht und Thomas Mann die USA, geht zunächst über Warschau nach Prag und siedelt 1952 nach Ost-Berlin über. In den ersten Jahren führte Heym dort ein privilegiertes Leben, konnte öffentlich wirksam werden und schriftstellerisch und journalistisch arbeiten, da er bereit war, über Unzulänglichkeiten hinwegzusehen. Er wird Kolumnist für die BZ, Mitglied des PEN-Zentrums Ost und West und Vorstandsmitglied des Deutschen Schriftstellerverbands.
Nach den Ereignissen des 17. Juni schreibt er den Roman Der Tag X, der nicht veröffentlicht wird. Nach Stalins Tod beginnt er als „kritischer Marxist“ die Auseinandersetzung mit dem DDR-Regime zu suchen, das nach seiner Auffassung „den Sozialismus zu einem Zerrbild der Idee entstellt“. Heym, der sich nie als Gegner, sondern als Kritiker des Regimes verstand, tritt nie einer Partei bei. So ficht er nach seiner Auszeichnung mit dem Heinrich-Mann-Preis 1956 eine Kontroverse mit Walter Ulbricht auf dem IV. Schriftsteller-Kongress aus. 1959 erhält er den Nationalpreis der DDR.
Die Spannungen verschärften sich ab 1965, als Erich Honecker während des 11. Plenums der SED, des sogenannten „Kahlschlag-Plenums“, Heym heftig angriff. Im gleichen Jahr mit einem Veröffentlichungsverbot belegt, wurde er 1969 wegen der unerlaubt in der Bundesrepublik Deutschland erfolgten Veröffentlichung von Lassalle zu einer Geldstrafe verurteilt. 1971 heiratet er die Szenaristin, Drehbuchautorin und Herausgeberin Inge Wüste. Hintergrund der kulturpolitischen Entspannung, die Heym ab dem Heiratsjahr wieder mit DDR-Verlagen zusammenarbeiten ließ, war offensichtlich eine Rede Honeckers vor hohen SED-Funktionären unter dem Schlagwort „Keine Tabus“. Jedoch erschienen Erstveröffentlichungen Heyms von 1974 bis in die Endphase der DDR nur noch in Westverlagen.
1972 veröffentlichte er Der König David Bericht und thematisiert darin die Stellung der Intellektuellen zwischen Macht und Wahrheit. 1974 folgten dann 5 Tage im Juni, seine zweite Aufarbeitung des 17. Juni. 1976 gehörte Heym zu den Unterzeichnern der Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns. 1978 reiste er für einige Vorträge in die USA und wurde im Jahr darauf ein zweites Mal wegen unerlaubter Veröffentlichung in der BRD verurteilt – diesmal wegen Collin – und aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Der Roman rechnet mit der stalinistischen DDR-Vergangenheit und ihrer Verdrängung ab. In der DDR wird Heym fortan lediglich geduldet und verschafft sich zunehmend Gehör in westlichen Medien. 1981 erscheint der Roman Ahasver. Die Titelfigur bezeichnet den ewigen Juden, eine mittelalterliche Sagengestalt, die Heym vor dem Hintergrund der atomaren Rüstungsspirale als rebellischen, unermüdlich antidogmatischen Intellektuellen auftreten lässt.
„unsere Sprachlosigkeit überwunden“
Drei Jahre später veröffentlicht er Schwarzenberg – der Roman handelt von einem sozialistischen Experiment in einem unbesetzten Landkreis im Erzgebirge in der unmittelbaren Nachkriegszeit. 1988 folgt dann der autobiografische Nachruf. Bei der Kundgebung auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 wird er von den Demonstranten euphorisch begrüßt, als er eine Rede über „den neuen, den besseren Sozialismus in der DDR“ hält: „Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen! Nach all’ den Jahren der Stagnation – der geistigen, wirtschaftlichen, politischen; – den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit. […] Wir haben in diesen letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen!“
Zugleich wurde er wieder in den Schriftstellerverband aufgenommen und 1990 juristisch rehabilitiert. Er erhält die Ehrendoktorwürde er Universitäten Bern und Cambridge, veröffentlicht den Erzählband Auf Sand gebaut (1990) und das Buch Filz. Gedanken über das neueste Deutschland (1992), in denen er sich kritisch dem Thema der deutschen Wiedervereinigung widmet. Seiner Meinung nach würden die Ostdeutschen im Verlauf ihrer Integration in die Bundesrepublik benachteiligt, er bestand auf einer gerechten sozialistischen Alternative zum nunmehr gesamtdeutschen Kapitalismus.
1992 gründete er das Komitee für Gerechtigkeit in der Hoffnung mit, das daraus eine neue Partei entsteht, denn „wenn alle anderen Parteien politisch bankrott seien, dann muss eben eine neue geschaffen werden.“ In seiner Gründungsrede warnte er: „… wenn die Leute sich nicht artikulieren können, dann werden sie Häuser anzünden. Und wenn man ihnen nicht eine demokratische Lösung anbieten kann, eine linke Lösung, dann werden sie nach rechts gehen, werden wieder dem Faschismus folgen.“
1993 wird er für sein Engagement gegen Rassismus und Xenophobie als erster deutscher Schriftsteller mit dem Jerusalem-Preis für Literatur ausgezeichnet; parallel dazu schenkt er sein Privatarchiv der Universität Cambridge. Die Bundesregierung dokumentierte seine Rede als Alterspräsident entgegen langjährigen Gepflogenheiten erst nachträglich im März 1995. Ein halbes Jahr später legte Heym sein Mandat aus Protest gegen eine geplante Verfassungsänderung zur Diätenerhöhung nieder. Er ist der drittälteste Abgeordnete, der jemals in einem deutschen Bundestag ein Mandat hatte. Zeitgleich erscheint Radek, ein 500-Seiten-Opus über den unter Stalin verschwundenen galizischen Berufsrevolutionär Karl Radek. Freimut Duve erkannte im Spiegel einen „Bruderroman“.
1997 gehörte Heym zu den Unterzeichnern der Erfurter Erklärung, in der ein rot-grünes Bündnis unter Tolerierung durch die PDS nach der Bundestagswahl 1998 gefordert wurde. „Ich bin immer Regimekritiker gewesen, nur das Regime, das ich kritisiere, hat gewechselt“, konstatierte er. Heym starb in Israel nach einem Symposium an Herzversagen. Neben Bundeskanzler Gerhard Schröder nahm auch Thierse an der Beisetzung teil. Der befreundete Orientalist Walter Beltz, der Heym einen „faszinierenden homo politicus“ nannte, meinte in seiner Trauerrede: „Stefan Heym beteiligte uns an seinen Träumen und machte uns Mut. Und Träume können nicht begraben werden.“
Seine Romane zeigten, so Jens Jessen in der Zeit, „wie die beiden deutschen Nachkriegsstaaten spiegelbildlich aufeinander bezogen sind und man die Geschichte und Kunst des einen nicht ohne Bezug auf den anderen diskutieren kann.“ Dieckmann euphorisierte gar: „Ein linker Utopist, der seine Kunst an keine Ideologie verriet“; die „Besserung der unverbesserlichen Welt“ sei sein Lebensthema gewesen. Seit 2008 verleiht seine Heimatstadt, in der heute ein Stefan-Heym-Platz an ihn erinnert, aller drei Jahre einen mit 20.000 € dotierten Stefan-Heym-Preis an herausragende Autoren, so 2013 an Christoph Hein. 2009 wurde zur Pflege und Verbreitung seines literarischen Nachlasses in Chemnitz die Stefan-Heym-Gesellschaft eingerichtet; sie eröffnete 2020 im Beisein von Witwe Inge eine Stefan-Heym-Arbeitsbibliothek als Gedenk-, Kultur- und Forschungsstätte.
Ungeimpfte sind Aussätzige, Asoziale, gar neue Nazis, skandalisiert der Medienmainstream. Das ist politisch, medizinisch und sozial verheerend, ja präfaschistoid. 2021 als neues 1932?
Meine neue Tumult-Kolumne, die ich aufgrund des Redaktionsschlusses 1.12. fortschreiben musste – die Endfassung (im Original 14 Seiten) folgt unter dem Kolumnenbild.
„In Krisenzeiten suchen Intelligente nach Lösungen und Idioten nach Schuldigen“ ist ein Loriot zugeschriebenes Bonmot, das allerdings vom italienischen Schauspieler Totò („Große Vögel, kleine Vögel“) stammt. Interpretiert man mit dieser Semantik die aktuelle Impfpflicht-Hysterie, müssen als Idioten die deutschen Journalisten gelten – haben sie sich doch bis auf marginale Ausnahmen auf die Ungeimpften als Wurzel allen Coronaübels eingeschossen. Das Perfide an der „publizistischen Idiotie“: Weite Teile der Medien sind als Propaganda-Organe zum konstitutiven Element einer Machttechnik mutiert, die auf die Ausgrenzung Freier, Gesunder zielt – ohne dass die Bevölkerung aufmuckt. Damit aber gelten die Idioten als intellektuelle Taktgeber des Diskurses. Eine Katastrophe.
„Die Impfskeptiker werden schon jetzt zu den idealen Sündenböcken auserkoren“, erschreckt David Bendels in der Jungen Freiheit JF, „um Zwietracht zwischen den Menschen zu säen und mittels des alten Leitspruchs ‚Divide et impera‘ die Entdemokratisierung des Westens voranzutreiben – und gleichzeitig Bürger, die auch jenseits der Pandemie bereit sein könnten, nein zu sagen, dem Hass der Mitmenschen auszuliefern.“
Wohin dieser Hass führen kann, zeigte Ende November der Text „Die Gesellschaft muss sich spalten!“ von Christian Vooren auf ZEIT online. Ein Journalist von Anfang 30, der außer seinen Redaktionsblasen nichts sonst kennt, behauptet darin in Richtung Ungeimpfte: „Mit maximaler Durchlässigkeit an der Blödsinnsflanke ist niemandem geholfen“. Und maßt sich an zu behaupten: „Was es jetzt braucht, ist nicht mehr Offenheit, sondern ein scharfer Keil. Einer, der die Gesellschaft spaltet“ und „den gefährlichen vom gefährdeten Teil der Gesellschaft“ trennt, damit „Ruhe ist vor diesem Geschrei“. Das ist kein Witz.
Der Text ist „so unwissenschaftlich, menschenverachtend und totalitär, dass einem die Worte fehlen. Die biologistische Ausgrenzung aus dem ‚gesunden Volkskörper‘ liegt erst 75 Jahre zurück! Julius Streicher hätte seine helle Freude an solchen Redakteuren!“, entsetzt sich der medienpolitische AfD-Fraktionssprecher Baden-Württembergs, Dr. Rainer Podeswa MdL, zugleich SWR-Rundfunkrat.
Er verweist auf die Resolution 2361 des Europarates, in der die Mitgliedsstaaten dazu aufgefordert werden, sicherzustellen, dass Impfungen nicht verpflichtend sind und niemand politisch, sozial oder anders unter Druck gesetzt werden darf, sich impfen zu lassen (Punkt 7.3.1). Und die müssten die Medien thematisieren, anstatt den Chaos- und Panikmodus der Regierungen zu reproduzieren.
Wer jetzt meint, das sei der Gipfel der Bürgerbeschimpfung, musste sich in den Tagesthemen eines Besseren belehren lassen. Die MDR-Journalistin Sarah Frühauf durfte da kommentieren: „Die Impfverweigerer tragen Verantwortung dafür, dass die Gesellschaft wieder unter Druck gerät… Gastronomen und Ladenbesitzer um ihre Existenz bangen. Und sie müssen sich fragen, welche Mitschuld sie haben an den wohl tausenden Opfern dieser Coronawelle.“ Moment: Das Drittel Ungeimpfte hat Schuld, dass die Arznei bei zwei Dritteln Geimpfter nicht wirkt wie erhofft?
„Herzlichen Dank – an alle Ungeimpften“, fantasiert sie weiter. „Dank euch droht der nächste Winter im Lockdown – vielerorts wieder ohne Weihnachtsmärkte, vielleicht wieder ohne die Weihnachtsfeiertage im Familienkreis.“ Auch das ist kein Witz.
Leider ebenfalls nicht, dass die Dame an der Uni Leipzig studierte – zu DDR-Zeiten das „Rote Kloster“ für die Journalistenausbildung. Die Tagesthemen als neue Aktuelle Kamera? Eine „Tyrannei der schrägen Argumente“ konstatiert Ben Krischke im Cicero – lohnt schon die Untersuchung einer Lingua Corona Imperii? So viele Déjà-vus auf einmal kann man als linkssozialisierter Ostdeutscher gar nicht haben.
„Ausdruck von Hilflosigkeit“
Inzwischen läuft eine Anzeigenwelle gegen Frühauf wegen Volksverhetzung, die auch AfD-Vize Beatrix von Storch unterstützt; verschiedentlich wurde Frühaufs Entlassung gefordert. Für den Historiker Malte Thießen ist Corona „die erste Pandemie [..], in der wir Sicherheit über Freiheit stellen.“ Wird man diesen Geist nach einem möglichen Ende der Pandemie je wieder in die Flasche zurückbekommen?
Freiheit ist das zentrale Motiv unseres Grundgesetzes. Das Wort Sicherheit kommt darin nicht einmal vor, wohl aber die Abwehr von Seuchengefahr; allerdings an zwei anderen, jedoch ganz konkreten Stellen: der Unverletzlichkeit der Wohnung und der Freizügigkeit.
Diese Balance wird von den Regierungen gerade grundlos zerstört, denn inzwischen kommt kein Politiker mehr umhin zuzugeben, dass die Impfung weder vor Infektion noch sicher vor schwerer Erkrankung oder gar dem Tod schützt – und auch nicht davor, andere anzustecken. Dieses Jahr ist die Inzidenz trotz Zweidrittel-Impfquote höher als letztes Jahr ohne Impfung.
Im Sommer 2021 lag die gemessene Rate der Impfdurchbrüche allein bei über 60-jährigen Covid-Patienten bei 40 Prozent; 80 % aller coronageimpften Polizeibeamten Sachsens sind inzwischen erkrankt. Geradezu hanebüchen ist die Behauptung, ungeimpfte Virenträger seien ansteckender als geimpfte. Nach dieser Logik wäre eine Frau im siebten Monat auch schwangerer als eine im vierten.
Und selbst, wenn es nur noch Geimpfte gäbe, wäre es noch nicht vorbei: Dazu muss man nur nach Gibraltar schauen, wo statistisch gesehen 100% der Bevölkerung geimpft sind, aber die Inzidenz über 1000 liegt. Das Narrativ von der „Pandemie der Ungeimpften“ ist selbst für Merkels Chefvirologen Drosten nicht haltbar.
Überdies ist ein Infizierter noch kein Kranker und ein Kranker noch kein Beatmungspatient auf der Intensivstation ITS. Stand 19. November waren deutschlandweit 19.723 ITS-Betten belegt. Zum selben Zeitpunkt 2020 waren es 21.934.
Das heißt, es liegen derzeit 2.211 Menschen weniger auf Intensiv als letztes Jahr zur gleichen Zeit. Wenn man aber auf die Zahl der freien Intensivbetten schaut: 6.273 im vergangenen Jahr gegen 2.455 derzeit. Aber irgendeinen Sinn wird der Intensivbettenabbau schon haben, auch wenn der sich nur den Abbauenden erschließt.
Die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, in der 83 Millionen Menschen leben, bricht vorgeblich zusammen, wenn 4.700 Menschen mit Corona auf der ITS liegen – weniger als vor einem Jahr. Übrigens sind 50 % der Corona-Intensiv-Patienten Migranten, von denen bis zu 40 % kein Deutsch sprechen.
Während an den Pocken ungefähr jeder dritte nichtbehandelte Infizierte starb, hatten sich bis 19. November hierzulande 5.248.291 Personen mit dem SARS-CoV-2-Erreger infiziert, von denen 98.739 starben – das sind gerade 1,88 Prozent der registrierten Infizierten. In keinem Bundesland liegt die Rate der aktuell Infizierten über 1 %. Der Anteil der doppelt Geimpften an der Gesamtzahl der symptomatischen Covid-Fälle aber lag in der letzten Novemberwoche bei 48,2 Prozent, bei den über 60-Jährigen sogar bei 71,4 Prozent – und da soll die Impfung das Allheilmittel sein?
Zumal die vielzitierte Divi, die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, eingeräumt hat, sie wisse gar nicht, wie viele Covid-Intensivpatienten tatsächlich ungeimpft sind, und aus Bayern und Hamburg inzwischen bekannt ist, dass alle Patienten mit unbekanntem Impfstatus statistisch den Ungeimpften zugeschlagen wurden. Statt über Bayerns fragwürdige Corona-Statistiken aufzuklären, stigmatisieren Politiker von CSU bis Grüne kritische Fragesteller als „rechtspopulistisch“, ärgert sich Tim Röhn in der Welt.
Dieses schäbige Manöver sei längst zum Muster dieser Pandemie geworden: „Man macht sich zum Sprachrohr der AfD, wenn man auf das Recht auf korrekte Zahlen pocht? Man muss bei derartigen Anliegen sicherstellen, keinen Applaus von den Falschen zu bekommen? Kritik an Lockdown-Maßnahmen üben? Vorsicht, hat schon die AfD gemacht. Verärgerung über Grundrechtsverluste? Oh oh, ganz heißes Pflaster. Zu viel Panik, zu viel Alarmismus sehen? Machen schon die ‚Querdenker‘, lieber nicht laut sagen. Masken weglassen, wie in Schweden? Du Corona-Leugner!!“ Es sei aber nicht „rechtspopulistisch“, auf Fakten zu pochen, so Röhns Fazit.
Für den Kinderarzt Steffen Rabe haben die Covid-Impfstoffe „überhaupt keinen relevanten Fremdschutz.“ Damit sei „jedwedes Argument für eine lmpfverpflichtung vom Tisch“, sagte er dem MDR. Er kenne kein Medikament und keinen Impfstoff der letzten 30 Jahre, „bei dem wir so eine schwere Erkrankung wie eine Herzmuskelentzündung mit einem zahlenmäßig so dramatisch hohen Risiko verbinden.“
Diese Impfpflicht sei „weder juristisch noch moralisch noch medizinisch in irgendeiner Art und Weise intelligent, sondern sie ist ein Ausdruck von Hilflosigkeit und Kopflosigkeit.“ Der französische Publizist Emilie Chartier warnte schon im 19. Jahrhundert: „Nichts ist gefährlicher als eine Idee, wenn sie unsere einzige ist“ – zumal es gegen Delta und Omikron noch keinen Wirkstoff gibt.
„groteske Aufwertung von Dummheit“
„Die Frustrierten kanalisieren ihre Wut nun mit Lust auf die Sündenböcke, um sich nicht eingestehen zu müssen, dass sie von der Regierung betrogen wurden“, befindet Michael Klonowsky. Eher unfreiwillig bewies das Anfang Dezember der Tübinger Theaterchef Thorsten Weckherlin, der Ausnahmen für Booster-Geimpfte bei 2G plus forderte – die grünschwarze Landesregierung hatte die Bundesregelung nochmal verschärft. Er wies die Testpflicht nicht nur als „Drangsalieren der bereits geimpften Leute“ zurück – sondern argumentierte prompt, 2G plus sei eine „Genugtuung für die Impfgegner“.
Der Virologe Alexander Kekulé von der Uni Halle brachte die Causa in der WELT auf den Punkt: „Geimpfte glauben, sie seien sicher. Man hat sie falsch informiert.“ Wer aber ist „man“? Richtig, die Politik und in deren publizistischer Transmission die Medien, die den ungeimpften Skeptikern bis Verweigerern Schuld an allem geben, was man eigentlich der Regierung anlasten muss: „Sie werden sowohl für die Eindämmungsmaßnahmen wie für die Pandemie insgesamt verantwortlich gemacht“, erregt sich Rene Schlott im Cicero. Sie seien asozial, unsolidarisch und egoistisch, man soll den Kontakt zu ihnen meiden, ihnen die Ausreise verbieten, ihnen Lohn kürzen oder gleich den Job kündigen.
Im Zweifel sollten sie auch gar per Polizei dem Impfarzt vorgeführt werden können, wie beim Redaktionsnetzwerk Deutschland RND zu lesen war – und das in einer Tonalität, Lexik und vor allem Rabulistik, die einem die Haare zu Berge stehen lassen. Beispiele gefällig: „Eine pathetische Rhetorik der Freiheit ist fehl am Platz, wenn es um die alles erfassende Epidemie geht“, meint Boris Pofalla in der Welt. Denn: „Es war nicht von Anfang an offensichtlich, dass die Impfung eine simple und eher unspektakuläre Pflicht ist, wie das Befreien des Gehwegs vor dem eigenen Haus bei Eis und Schnee. Dabei kann man sich, wenn man Pech hat, die Knochen brechen – aber man muss es tun.“ Das ist kein Witz. „Satt“ hat es auch Kati Degenhardt auf t-online: „Warum fühlen wir noch immer mit den Ungeimpften, warum nehmen wir Rücksicht auf die Rücksichtslosen?“ Das ist klassische Projektion.
„Das radikale und öffentlichkeitswirksame Mittel der Impfgegnerschaft ist Ausdruck einer politischen Oppositionshaltung, die in keinem oder nur sehr geringem Verhältnis zu gesundheitlichen Bedenken steht“, befindet Mely Kiyak in der Zeit. Das sieht Ingo Way im Cicero reziprok. Eine einmal in Gesetzesform gegossene Pflicht, die auch regelmäßige Auffrischimpfungen einschließt, könnte auf Jahre hinweg das Geschehen prägen: „Denn welcher Politiker würde es wagen, die Abschaffung eines solchen Gesetzes zu fordern, wenn sich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen ließe (Präventionsparadox), ob danach nicht wieder eine neue Epidemie droht“. Und er folgert: „Die mehrfach Geimpften, die irgendwann keinen weiteren Booster mehr wollen, sind die Impfverweigerer von morgen.“
Thomas Haselier verstieg sich unter der Schlagzeile „Tyrannei der Ungeimpften“ in der NWZ gar zu der Aussage, mit einer Impfpflicht endlich „Impfunwillige strafrechtlich verfolgen zu können“. Das brachte den coronakritischen Epidemiologen Friedrich Pürner, der von der Söder-Regierung als Amtsarzt im Kreis Aichach-Friedberg strafversetzt wurde, auf die Palme: „‚Tyrannei‘ ist etwas Illegitimes, Gewaltvolles, Willkürliches. Jeder hat aber das Recht über seinen Körper selbst zu bestimmen, ohne aus der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden, als Asozialer, Extremist, Spinner oder Querulant zu gelten“, sagte er der Jungen Freiheit JF. Es geht nicht mehr, wird immer klarer, um die individuelle Gesundheit, sondern das Funktionieren eines kaputtgesparten Intensiv- und Pflegesystems. Das zeugt von einer mit Planlosigkeit gepaarten Übergriffigkeit zur Bemäntelung eigenen Totalversagens, die ihresgleichen sucht: Die Menschen sollen dem System dienen statt umgekehrt das System den Menschen. Das ist absurd, das ist beängstigend.
Staat und Regierung sind nicht die Hüter körperlicher Unversehrtheit, der Körper ist kein Volkseigentum. Offenbar vergessen manche, dass Infektion und Krankheit zum allgemeinen Lebensrisiko gehören: „Was ist dann mit Geimpften, die andere anstecken? Nach dieser Logik wären auch sie schuldig, da sie wieder ihre Freiheiten in Anspruch genommen haben, statt sich zu Hause zu isolieren“, so Pürner. Als auch Weltärztepräsident Montgomery die Tyrannei-Metapher beanspruchte, nannte ihn FDP-Vize Wolfgang Kubicki den „Saddam Hussein der Ärzteschaft“; ruderte später aber zurück.
„ich versuche, mich zu weigern“
„Die Regierung hat sich in eine Sackgasse manövriert, als sie die Impfpflicht ausschloss“, behauptet Sophie Garbe im Spiegel und benennt als Ursache eine „falsche Definition des Begriffs Freiheit“. Wenn Kubicki fordert, Ungeimpfte nicht schlechter zu stellen, die Rechte von Minderheiten zu schützen und sie nicht „zum besseren Menschen erziehen“ zu wollen, sei das „schön. Aber auch ganz schön naiv.“ Denn in einer Situation, in der eine persönliche Entscheidung das Leben vieler weiterer Menschen beeinflussen kann, sei „es fatal, wenn die Politik Freiheitsideale hochhält, die das Recht auf Unversehrtheit vieler Bürger gefährdet.“
Die Freiheit des einen hört dort auf, wo sie die anderer beschneidet, folgert sie messerscharf und moniert ein „egoistisches Freiheitsverständnis“: „Das Recht des Trotzigen, in einer Burg aus Widerwillen und Desinformation zu verharren, wiegt darin mehr als das Recht der Kooperativen, zu einem freien und sichereren Leben zurückzukehren.“ Das ist auch kein Witz.
„Seit Pegida gibt es im politischen Raum eine groteske Aufwertung von Dummheit. Die berühmten Sorgen der echten Deutschen, die mal im Gewand von Ausländerekel oder Impfhass daherkommen, werden seitdem unentwegt höher bewertet als Forschung und Wissenschaft“, höhnt Kiyak. Ebenfalls im Spiegel dekretiert Christian Stöcker: „Vergesst den ‚Zusammenhalt“. Und die Süddeutsche nannte das Recht, selbst über eine Impfung zu entscheiden, „kindisch“ und rief den „November des Zorns“ aus.
Bendels konstatiert „niederste Instinkte“, wenn „gegenwärtig zum ersten Mal seit dem Ende des Totalitarismus erneut eine fest umrissene Bevölkerungsgruppe gezielt zum Objekt von Hass und Abscheu aufgebaut wird und ihre Unterdrückung von Politik, Medien, Wirtschaft, ja selbst Kirche nicht nur toleriert, sondern geradezu zur staatsbürgerlichen Pflicht stilisiert wird… – und es steht zu befürchten, dass die gegenwärtigen Maßnahmen nur der Beginn einer gefährlichen Spirale sein werden, an deren Ende einmal mehr die moralische Bankrotterklärung jener viel gepriesenen ‚europäischen Werte‘ stehen wird.“
Doch schon Bertrand Russell wusste: „Auch wenn alle einer Meinung sind, können alle unrecht haben“: Bis zu Kopernikus‘ De revolutionibus orbium coelestium (1543) galt auch, dass sich die Sonne um die Erde dreht. Way bringt die Argumente knappstmöglich auf den Punkt: „Es gibt keine Pflicht zur Selbstschädigung aus Solidarität. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit des einen endet nicht da, wo die Angst des anderen beginnt.“
Diese Grenze verläuft fast exakt entlang der alten Zonengrenze, wundert sich Martin Machowecz in der Zeit. Ostdeutsche würden die Impfung für überflüssig halten, weil sie Corona weniger gefährlich finden als der deutsche Durchschnitt, und nähmen das Risiko zu erkranken in Kauf. Wer aber will ein Immunsystem besser einschätzen als dessen Träger?
Machowecz entblödet sich nicht, „ein kühleres, vielleicht schicksalergebeneres Verhältnis zu Krankheit, zu Lebensrisiken, zum Tod“ zu konstatieren, das er „voraufklärerisch“ findet. Das Gegenteil ist richtig: Wer die umfassende Allgemeinbildung der DDR-POS und EOS genossen hat, deren Biologie-Lehrpläne auch Charles Darwin, Robert Koch & Co. beinhalteten, steht aufgeklärt über der irrational-infantilen Todesangst Westdeutscher: Im Osten trifft das Virus auf Gegner, im Westen auf Opfer; im Osten geht man mit dem Tod um, im Westen will man den Tod umgehen. Die Vokabel „bequemlichkeitsverblödet“ des Magdeburger Politikwissenschaftler Thomas Kliche bekommt damit eine neue semantische Nuance. „Vom Osten lernen heißt Leben lernen“, so Andreas Lombard in Cato; ; das betrifft auch und erst recht den Umgang mit Covid, dem „Weltfeind Nr.1“, so Ulrich Schödlbauer auf TE.
„Die inquisitorische Stigmatisierung des Zweifels muss als Form struktureller Gewalt empfunden werden“, klagt Daniela Dahn in der BZ und empfindet es als „verletzend, sich für eine Nicht-Impfung rechtfertigen zu müssen“. Die Behauptung der Politik, es gehe beim Kampf gegen diese Pandemie um Leben oder Tod, war für sie „von Anfang an eine irreführende Anmaßung. Die Herrschaft über den Tod ist uns nun mal nicht gegeben… Aber je mehr künstliche Intelligenz wir kreieren, je mehr natürliche scheinen wir zu opfern.“
Stattdessen wäre man gut beraten, Krankheit nicht in einen Zusammenhang mit Schuld zu bringen. „Impfen als Akt der gesellschaftlichen Solidarität? Von da ist es nicht weit bis zur patriotischen Pflicht. Impfen fürs Vaterland. Demokratie trägt die Versuchung zu Totalitarismus immer in sich“, bilanziert Dahn. Es war schon immer einfacher, andere gegeneinander aufzuhetzen als eigene Fehler einzugestehen. So werden Dolchstoßlegenden geboren: Die Ungeimpften sind schuld.
Diese Grenze bereitet auch vielen reflektierten Publizisten Unbehagen: „Man wird eigentlich gezwungen, eine Seite zu wählen. Und ich versuche, mich zu weigern. Und das mache ich eigentlich auch als Folge des kantischen Imperativs. Weil ich würde am liebsten allen Menschen sagen: ‚Bitte weigert euch! Bitte weigert euch alle, bei dieser Form der Zuordnung mitzumachen!’“, sagt die brandenburgische SPD-Verfassungsrichterin und Autorin Juli Zeh auf Youtube. Das Virus wird bleiben und wir den Umgang mit ihm lernen müssen – einerlei ob wir das wollen oder nicht.
„Wer entschuldigt sich bei Millionen“
Der Widerspruch, jetzt eine Impfpflicht zu fordern, die zuvor über Monate ausgeschlossen wurde, bestärke jene, „die dem Staat ohnehin Unaufrichtigkeit unterstellen, in ihren schlimmsten Befürchtungen“, gesteht Machowecz. Ex-Bild-Chef Julian Reichelt wird noch deutlicher: „Die Impfpflicht, die nun kommen soll, ist der größte politische Wortbruch in der Geschichte der Bundesrepublik. Wer entschuldigt sich bei Millionen Menschen, die genau das vorhergesagt haben und dafür von ihrer eigenen Regierung als Wirrköpfe und Verschwörungsideologen beschimpft wurden?“
Und es ist ja weit mehr als nur Unaufrichtigkeit, wie Torsten Hinz in der JF herausarbeitete: Mittels einer künstlichen, auf Permanenz gestellten Dynamik, die alle persönlichen Energien absorbiere, werde „versucht, eine virtuelle Wirklichkeit mittels administrativer Macht in gelebte Realität zu verwandeln und sich das Leben zu unterwerfen.“ Ihre Wirkung bezieht diese Machttechnik „aus dem Appell an eine menschliche Urangst. Sie verspricht dem Einzelnen die Errettung vor dem Erstickungstod und fordert ihm dafür die Unterwerfung ab, was zur Paralysierung des gesellschaftlichen und privaten Lebens führt.“
Damit werde eine Gewissheit in Frage gestellt, die Konservative als letzte Rückversicherung für sich reklamieren: „die Gewissheit, dass die Wirklichkeit auf ihrer Seite steht und die harte, unwiderlegbare Faktizität alle ideologischen Modelle, Utopien, Weltverbesserungsphantasien wenn nicht über kurz, dann über lang außer Kraft setzt. Wir sehen, dass es möglich ist, eine virtuelle in eine faktische Realität zu übersetzen und die Menschen zu Komparsen in einem falschen Film zu machen.“
Als Gipfel dieser falschen Faktizität muss sicher die soziale Beweislastumkehr gelten: man soll jetzt nachweisen, gesund zu sein, ja sich „frei“ testen. Auf so eine Idee kam noch nicht mal Stalin. Man stelle sich vor, man würde zu 99,7 % keinen Krebs haben – aber vorsorglich zur Chemo gezwungen.
Wie und warum folgten bereitwillig Millionen Bürger, darunter eben auch Publizisten, in diese virtuelle Realität, lautet die drängende Frage. Vielleicht sollte man die Lektüre von Gustave Le Bons „Psychologie der Massen“ auf Wiedervorlage nehmen: „Nie haben die Massen nach Wahrheit gedürstet. Von den Tatsachen, die ihnen missfallen, wenden sie sich ab und ziehen es vor, den Irrtum zu vergöttern, wenn er sie zu verführen vermag. Wer sie zu täuschen versteht, wird leicht ihr Herr, wer sie aufzuklären sucht, stets ihr Opfer.“
Und so höhnen Politiker wie Sachsens Ministerpräsident Kretschmer (CDU) aus dieser virtuellen Welt ihren Untertanen zu: „Menschen, die in einer eigenen Welt leben, die sind nicht mehr zu erreichen.“ „Teuflisch ist, wer das Reich der Lüge aufrichtet und andere Menschen zwingt, in ihm zu leben“, wusste bereits Arnold Gehlen: „Er verschüttet den letzten Ausweg der Verzweiflung, die Erkenntnis, er stiftet das Reich der Verrücktheit, denn es ist Wahnsinn, sich in der Lüge einzurichten.“
Cicero-Chefredakteur Alexander Marguier konstatiert schon einen „gewissen Gewöhnungseffekt: Wer Maßnahmen, und seien sie noch so absurd oder diskriminierend, hinzunehmen lernt, der verliert auf der Strecke auch jegliche Sensibilität gegenüber anderen Freiheitseinschränkungen.“
Die Pandemie dürfe aber nicht dazu führen, eine ganze Gesellschaft dergestalt weichzukochen, dass einstige Dystopien als neue Realität akzeptiert werden. Entsprechend prophezeit Matissek: „Das Double bind des falschen Freiheitsversprechens gegen Impfung, das im Wahrheit sein Gegenteil bedeutete und trotz Spritze am Ende mehr Unfreiheit, mehr Unsicherheit, mehr Schaden brachte durch weiterhin bestehende ritualisierte Masken-Unterwerfung, Kontakt- und Abstandsregeln auch für Geimpfte: All dies macht ein Volk allmählich wahnsinnig“.
„Grundrechte, nicht Geimpftenrechte“
Es sind also nicht etwa die Gefahren, die vom wahrnehmbaren Zuzug hunderttausender fremder Menschen nach Deutschland ausgehen, darunter vieler krimineller junger Männer, Islamisten und Antisemiten, sondern die von einem unsichtbaren Virus, das keine Übersterblichkeit zeitigt und dessen Opferzahlen geringer sind als die im Grippewinter 2018. Trotzdem wurde Ende November hyperemotional verbreitet, dass die Zahl der Corona-Toten die „traurige Marke“ von 100.000 überschritten habe.
Was dabei vergessen wurde: Laut statistischem Bundesamt starben 2020 insgesamt 985.572 Menschen: 338 001 an Herz-/ Kreislauferkrankungen, 231.271 erlagen einem Krebsleiden. An COVID-19 als Grundleiden verstarben 2020 in Deutschland insgesamt 39.758 Menschen. Das RKI gab allerdings die Zahl von rund 70-80 Tausend an, die „an“ und „mit“ Corona 2020 verstorben sind. Fazit: Mit 4,03 % der Toten rangiert Corona in Wirklichkeit auf Rang sieben der häufigsten Todesursachen.
„Diese Zahlenspielerein des RKI sind hochgradig unseriös – sind die mehr als doppelt so vielen Krebstoten weniger wert?“, empört sich die sozialpolitische AfD-Fraktionssprecherin Baden-Württembergs, Carola Wolle MdL, völlig zu Recht. Allerdings passen hohe Zahlen blendend zum Regierungsnarrativ der Impfpflicht als angeblich einzigem Ausweg aus der Coronakrise. Obwohl in Frankreich und England die Impfquote höher ist, sind da auch die Todeszahlen höher. Interessant ist, dass das RKI selbst zugeben muss, dass die Sterbezahlen momentan wesentlich niedriger als im vergangenen Winter sind. Und dennoch wird unbeirrt am Impfen festgehalten.
Doch die Entdeckung immer neuer Covid-Varianten, Infektionswellen und -wege führt zu immer neuen Regelungen, Vorschriften, Beschränkungen, die für einen Normalbürger kaum noch überschaubar seien, so Hinz: „Dadurch werden die Menschen in eine ständige Unsicherheit, in sinnlose Bewegung und psychischen Stress versetzt, was zu Gereiztheit, Konkurrenz und Feindschaft zwischen den Individuen und den unterschiedlichen Segmenten der Corona-Gesellschaft führt.“ Die Paralyse, die Duldungsstarre macht die Bürger zu leicht kontrollier- und lenkbaren Objekten; die Panik lässt sich endlos verlängern, weil das Endziel – die Ausrottung des Virus – nie erreicht wird.
Prompt behauptet der grüne Ministerpräsident Baden-Württembergs Winfried Kretschmann, man könne die Spaltung der Gesellschaft überwinden, indem sich der Staat freiwillig zum Verantwortlichen der Spaltung macht und die Impfung „an sich zieht“. Das offenbart ein so despotisches Staatsverständnis, dass man langsam am grünen Verstand zweifeln muss. Es ist eben nicht „die Herrschaft des besseren Arguments“, sondern die des längeren politischen Hebels!
Einwände sind neben den Impfdurchbrüchen und den nachgewiesenen Herzmuskelentzündungen die unbekannte mRNA-Technologie und die Schnellzulassung bei parallelem Haftungsausschluss; manche Autoren wie auch der dieses Textes systematisierten bis zu 30 Gegenargumente – wer die alle ignoriert, lebt ähnlich der virtuellen Welt in einem virtuellen Faktenkorridor. Die Regierung zeige spätestens seit dem Aufkommen des Impfstoffs, „dass sie im Grunde verliebt in den Katastrophenzustand ist und diesen daher möglichst lange aufrechterhalten will“, mutmaßt Ulrike Stockmann auf achgut.
Wolle widerspricht auch Kretschmanns Behauptung, mit der Impfpflicht die Gesellschaft zu „befrieden“. „Das Gegenteil ist der Fall: Indem er zugab, dass man gar keine Gesetze bräuchte, wenn sich die Bürger ‚in unserem Sinne verhalten‘, offenbart er das obrigkeitliche Denken, das er seit seinen Maoistenzeiten nie ablegt hat. Die Bürger sind mündig genug, selbstverantwortlich zu handeln!“ Und eine „Zumutung“ sei nicht die Situation auf den Intensivstationen, sondern die Tatsache des Intensivbettenabbaus, des Pflegenotstands – und vor allem die tyrannische Vision von 2 G als künftigem Standard in der Gesellschaft.
Denn wenn die Maßnahmen nur zum Preis allgegenwärtiger Kontrollen und Verstoßmeldungen durchsetzbar sind, stellt sich für Schlott die Frage, welches Menschen-, welches Gesellschaftsbild solchen Vorstellungen zugrunde liegt: „Was verändert sich in den Köpfen der Menschen, die sich für jeden Aufenthalt im öffentlichen Raum demnächst wieder zu rechtfertigen haben und die entsprechenden Berechtigungsnachweise mit sich führen müssen?“ Die Enteignung des Körpers geht mit der Demütigung seiner Seele einher.
„selbstbewusstes Volk als Störfaktor“
In einer Logik, in der jeder Tod, ja jede Infektion als Systemversagen gilt, hat niemand eine Chance, der auf die langfristigen Folgen oder Nebenwirkungen kurzfristig erdachter Maßnahmen hinweist oder „danach fragt, ob es einen Kernbereich des menschlichen Zusammenlebens gibt, der vor staatlichen Eingriffen geschützt werden muss und ob das nicht vom Grundgesetz auch so vorgesehen ist, das in seinen ersten Artikeln fast ausschließlich Abwehrrechte der Bürgerinnen und Bürger gegen den Staat aufführt“, so Schlott. Er erkennt einen „Fünfkampf gegen die Freiheit“, der in den Kategorien „Ausgrenzung, Apokalypse, Abwertung, Aktionismus und Anklage“ ausgetragen werde.
Die Impfpflicht ist eine Maßnahme, die in der Nähe einer Menschenwürdeverletzung liegt und, wenn überhaupt, nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt werden kann, so der Jurist Kai Möller in der Welt. „Von einer Person zu verlangen, sich impfen zu lassen, um eine andere Person zu schützen, die sich aus freien Stücken gegen eine Impfung entscheidet, entspricht einer solchen Ausnahmesituation nicht ansatzweise. Hierin liegt der moralische Kernfehler der aktuellen Vorschläge zu einer Impfpflicht.“ Es liege etwas Dunkles und Hässliches, etwas „Totalitäres darin, von einer Person unter Strafandrohung zu verlangen, sich gegen ihren Willen eine Flüssigkeit in den Körper injizieren zu lassen, die dort eine physiologische Reaktion auslöst.“
Laut Grundgesetz heißt es aber immer noch Grundrechte, nicht Geimpftenrechte. Art. 3 Ziff. 3 verbietet Benachteiligung, etwa wegen des Glaubens – aber wegen eines Impfstatus ist sie erlaubt? Macht es Spaß, im Theater zuerst nach seinem Impfausweis gefragt zu werden oder eine Kunstausstellung nur mit Dokument betreten zu dürfen?
In Art. 19, Abs. 2 heißt es ausdrücklich: „In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“ Genau dieser Wesensgehalt wird aber angetastet, so Alexander Grau im Cicero, „wenn man bereit ist, fundamentale Grundrechte für einen hilflosen Aktionismus außer Kraft zu setzen, und etwa Ausgangssperren erlässt, die erkennbar keinerlei direkten Einfluss aus das Infektionsgeschehen haben.“
Die Goldmedaille im Absurditätswettstreit geht an die KZ-Gedenkstätte Buchenwald, in der jetzt 2 G gilt. Titel der Dauerausstellung: „Ausgrenzung und Gewalt 1937 bis 1945“. Noch verbieten sich Vergleiche von Juden und Ungeimpften. Noch. Setzt Österreich seine Pläne um, Impfverweigerern halbjährlich pro abgelehnte Spritze 2000 Euro Strafe zu berechnen und Zahlungsverweigerer für ein Jahr in separierte (!) Beugehaft zu nehmen sowie die Haftkosten zahlen zu lassen, ist auch das passé.
Stockmann verweist auf den Widerspruch, dass es vor wenigen Jahren hieß, eine Altersbestimmung vorgeblich minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge durch Röntgen der Hand sei ein „Eingriff in die Menschenwürde“: „Warum ist der Zwang zur neuartigen Corona-Impfung kein ‚Eingriff in die Menschenwürde‘? Warum skandieren gewisse Kreise mit Vorliebe ‚kein Mensch ist illegal‘, aber Ungeimpfte werden mit Freuden in die Illegalität getrieben?“
Zur Erinnerung: „Wenn alle Menschen in Deutschland ein Impfangebot haben“, so Außenminister Heiko Maas (SPD) im Juli, „gibt es rechtlich und politisch keine Rechtfertigung mehr für irgendeine Einschränkung.“ Gesagt, vergessen.
Jens Woitas mutmaßt auf dem Blog Wir selbst, dass wir „in Zeiten eines modernen Feudalismus leben, in dem Untertanengeist gefragt ist und ein kulturell und ethnisch selbstbewusstes Volk allenfalls als Störfaktor für die Herrschenden wahrgenommen wird“. Dieser Heßling’sche Untertanengeist in Kombination mit autoritärer Verbotskultur erweist sich tatsächlich als Schlüssel des Mediendiskurses – und erklärt zugleich seine argumentative Gleichförmigkeit.
„zu stark die Gier der Mächtigen“
So schreibt Pofalla etwa: „Den Leuten nicht bei allem die Wahl zu lassen, kann vernünftig sein – ebenso wie es vernünftig sein kann, mal einer Pflicht einfach nachzukommen, anstatt endlos darüber zu diskutieren, ob sie wirklich, wirklich notwendig ist.“ Der Zweck einer Impfung aber ist ein medizinisch-individueller, kein sozialer. Fast scheint es, als wird damit das seit 2015 verbreitete Narrativ, das Fremde höher zu schätzen als das Eigene, auf die Spitze getrieben. „Warum gehorchen die Deutschen nicht mehr?“ fragt gar Hannes Soltau im Tagesspiegel und beklagt einen „antiautoritären Anarchismus“. Ich gehorche doch im Sinne der Volksgemeinschaft, klingt da unausgesprochen mit, warum bloß gehorchen so viele nicht, wo doch Gehorchen so deutsch ist wie der Führerbefehl?
In seinem eigenwilligen Blick auf den „renitenten Volkskörper“ konstatiert Sascha Lehnartz in der Welt ein „sehr deutsches Körpergefühl“. Zur Erklärung zieht er den Basler Wirtschaftshistoriker Oliver Nachtwey heran, der im DLF zum einen eine ausgeprägte Skepsis gegenüber staatlichen Strukturen in föderalen Systemen erkannte. Zum anderen aber sei der Einfluss der Anthroposophie und ganzheitlicher bis esoterischer Lebensentwürfe deutlich stärker als in anderen europäischen Ländern: „Da kommen quasi linke kulturelle Merkmale mit rechter Politisierung zusammen, und das macht diese extrem toxische Mischung der Impfverweigerung gerade aus“.
Auf die Idee, dass Menschen aus der Kombination genau solcher ideologisch linker und rechter „Zuschreibungen“ ihre individuelle Mitte, ihre Ganzheitlichkeit konstituieren, über deren Normalität sie gar nicht nachdenken, kommen beide Autoren gar nicht mehr.
Bendels fragt, ob die Covid-Strategie der vergangenen anderthalb Jahre nun eher von der Inkompetenz oder vielmehr der Verlogenheit unserer Eliten zeugt: „Denn in demselben Grade, wie sich die Angst vor einer globalen Zombie-Apokalypse als völlig unberechtigt und das Killer-Virus sich als durchaus mit schwereren Grippewellen vergleichbar herausstellte, wurden die Maßnahmen gegen die Pandemie in einer solchen Weise verschärft, dass eine Rückkehr zur Normalität wohl ebenso unmöglich geworden ist wie eine neue Vertrauensbildung in das, was von unserer Demokratie noch übriggeblieben ist.“
Er ist skeptisch ob der Hoffnung, aus diesem „absurden, aber hochgefährlichen Narrativ auszubrechen, das noch vor zwei Jahren als unglaubwürdige Dystopie belächelt worden wäre“: Zu stark sei der Mensch dem Konformitätsdruck der Medien ausgeliefert, „zu stark die Gier der Mächtigen, sich der ungeahnten Vorzüge zu bedienen, die ihnen die Pandemie liefert, zu stark wohl auch die Verführung, Eigenverantwortung abzugeben und durch Gehorsam nach oben und Ressentiment nach unten zu ersetzen.“ Insofern sollte der Plan des „Wellenbrecher-Lockdown“ lieber als das benannt werden, was er ist: ein die Impfpflicht präparierender Willenbrecher-Lockdown.
„Der selbstgerechten Masse in ihrer Niedertracht ist es ganz gleich, ob sie ihren Gruppenrausch in der gemeinschaftsstiftenden Erniedrigung und Verfolgung von ‚Ungeimpften‘ auslebt oder in der von Merkmalsträgern, die – je nach herrschendem Regime – durch Abstammung, Glauben, politische Überzeugung oder wirtschaftliche Situation definiert werden“, wütet Daniel Matissek auf seinem Blog Ansage. „Folge nicht der Mehrheit zum Bösen“, ermunterte der jüdische Publizist Chaim Noll auf achgut und bezog sich auf das 2. Buch Mose 23,2.
Daran sollte man sich gerade in Tagen erinnern, „in denen eine – oft nur dreist proklamierte – Mehrheit zum Fetisch erhoben wird und Abweichler, Andersdenkende, alle Arten ‚Verweigerer‘ und ‚Leugner‘ der Mehrheitsmeinung von Delegitimierung, Denunziation, Ausgrenzung und Verfolgung betroffen sind.“ Wer sich dem öffentlichen Druck anpasst, wird allgemein akzeptiert, gefördert, genießt vielleicht auch die finanziellen Segnungen des Mitmachens, so Noll. Auf der anderen Seite schadet man der eigenen Gesundheit, in dem man Emotionen unterdrückt, erkennt Noll, man verkümmert menschlich und zerstört vielleicht das Beste in sich selbst.
„Das, wofür Menschen heute geächtet werden im Kontext einer Experimentalimpfung gegen ein Virus, das nicht ansatzweise das Bedrohungspotential für eine echte Gesundheitskatastrophe hat (verglichen mit Krankheiten, gegen die wohlbegründete Impfpflichten bereits bestehen!), ist in Wahrheit das Hochjazzen einer freien Willensentscheidung zum Verbrechen, weil diese einem längst übergriffigen Staat nicht in den Kram passt“, meint Matissek.
„darunter brodelt die Barbarei“
Für Schlott ist es nur eine Frage der Zeit, bis der politisch-mediale Erregungschor auch dem letzten Menschen im Land Lebensfreude und Zuversicht geraubt hat. „Weihnachtsfeiern, Weihnachtsmärkte, Karneval, Laternenumzüge: Wer jetzt nichts absagt, gilt als asozial.“ Doch damit stünden alle über Jahre und Jahrzehnte gewachsenen sozialen Bindungen und Beziehungen der Menschen, alle gemeinschaftsstiftenden Traditionen zur Disposition und gelten im Zweifel als gefährlich.
Auch hier interessiert sich kaum jemand dafür, wie sich dies langfristig auswirken wird und was man einer Gesellschaft zumuten kann, bevor die Friktionen zum offenen Bruch führen. Der vom MDR geschasste Ost-Kabarettist Uwe Steimle übt sich in Zynismus: „Es gab Zeiten, Landsleute, da wurde man wenigstens noch gefragt, ob man den totalen Krieg überhaupt will.“
Die Anspielung wurde Anfang Dezember auf erschreckende Weise in die Realität geholt: Von ZDF-Comedian Sarah Bosetti, die mit Blick auf die Impfdebatte auf ZDF-Comedy (!) fragt, ob die Spaltung der Gesellschaft „wirklich etwas so Schlimmes“ wäre. Allen Ernstes schwadroniert sie dann: „Sie würde ja nicht in der Mitte auseinanderbrechen, sondern ziemlich weit rechts unten. Und so ein Blinddarm ist ja nicht im strengeren Sinne essentiell für das Überleben des Gesamtkomplexes.“
Das ist nicht nur historisch ahnungslos, sondern selbst faschistoid, indem andere für wertlos und verzichtbar erklärt werden. Und das ZDF produzierte diese Ungeheuerlichkeit nicht nur, sondern verbreitet sie immer noch: Die Verrohung schreitet voran; Eskalationsstufe „Humor auf SS-Niveau“.
Denn der Auschwitzer KZ-Arzt und SS-Sturmbannführer Fritz Klein, der 1945 zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde, schrieb einst: „Aus Ehrfurcht vor dem menschlichen Leben würde ich einen eiternden Blinddarm aus einem kranken Körper entfernen. Der Jude aber ist der eiternde Blinddarm im Körper der Menschheit.“
„Im 21. Jahrhundert sind wir wieder soweit“, erregt sich Baden-Württembergs AfD-Fraktionschef Bernd Gögel MdL, „dass solche Metaphern witzig gefunden und mit unseren Zwangsgebühren gesendet werden – Zwangsgebühren übrigens auch von Ungeimpften, mit denen Bosetti bezahlt wird.“ Damit beweist sich einmal mehr das Diktum des Schweizer Soziologen Kurt Imhof „Die Zivilisation ist ein dünner Firnis, darunter brodelt die Barbarei“.
Eigentlich müsste ein objektiv dringend angebrachter Argwohn gegen Zwangsmedikationen und -therapien – gerade bei einem Volk mit dieser Vorgeschichte – das Fühlen, Denken und Handeln der Mehrheit bestimmen. Das Gegenteil ist der Fall.
„Und mich regen wirklich all die auf, die es immer noch nicht begreifen. Alle müssen mitmachen, sich an die Regeln halten, sich impfen lassen! Sonst schaffen wir es nicht und es nimmt nie ein Ende mit Corona“, geifert etwa Degenhardt: „Wenn ein Lockdown kommt, dann seid ihr daran schuld.“
Die physische Integrität eines Menschen, die Würde des Individuums und sein Recht auf Selbstbestimmung dürfen aber nicht aus pragmatischen Erwägungen zur Disposition gestellt werden, befindet NZZ-Chefredakteur Eric Gujer: „Sie gelten absolut, unabhängig von der Mehrheitsmeinung. Das trifft besonders auf medizinische Eingriffe zu. Die Auswüchse staatlicher Zwangsmedizin waren in der Vergangenheit zu barbarisch, als dass das Gespür für die Anfänge solcher Fehlentwicklungen verlorengehen darf.“ Schon Alexander Solschenizyn wusste: „Die Grenze zwischen Gut und Böse läuft geradewegs durch das Herz jedes Menschen. Und wer mag von seinem Herzen ein Stück vernichten?“
Nach Ole Skambraks (SWR) haben mit Jörg Zajonc (RTL West) und Tim Röhn (Welt) zwei Journalisten dieses Gespür jüngst wiederentdeckt und öffentlich gemacht: „Offenbar wachen immer mehr Journalisten langsam aus ihrem Dämmerschlaf auf, der sie zu Sachwaltern statt Kritikern der grassierenden Corona-Einheitsberichterstattung werden ließ“, kommentiert das Podeswa. Röhns Fazit lautet, dass in der Corona-Krise der Journalismus seine zentrale Aufgabe vergessen habe und schleichend dazu übergegangen sei, „Skepsis und Kritik als schädlich zu stigmatisieren“.
Die Vorwürfe an seine Zunft „als Verteidiger der Mächtigen“ wiegen sehr schwer. Sie würden sie gegen jeden Zweifel und jede Skepsis verteidigen, „als wären sie ihre PR-Manager“. Ein Tiefpunkt dieses PR-Journalismus war Anfang Dezember Anne Hähnigs „Reden, bis der Arzt kommt“ über Sachsens Regierungschef in der Zeit, in der etwa zu lesen war: „Er muss ausgerechnet jene Leute vor dem Virus retten, die offenbar nicht gerettet werden möchten und ihn dafür sogar hassen.“ Das steht tatsächlich so da. Man könne eine Person aber nicht zu ihrem eigenen Schutz zwingen, sich impfen zu lassen: Dies wäre „eine nicht zu rechtfertigende medizinische Bevormundung“, so Möller.
Solcherart Bevormundung ist aber kein Merkmal von Demokratien, sondern gleichgeschalteten Diktaturen, in denen die vierte Gewalt Bestandteil nicht nur der ersten ist, moniert Podeswa. „Die anfängliche Auseinandersetzung mit einer möglichen Erkrankung ist zu einer umfassenden massenpsychotischen Angststörung geworden“, resümiert der Hallenser Psychiater Hans-Joachim Maaz. Wobei, muss man hinzufügen, die Angst vor einer künstlichen Plörre im Körper offenbar geringer ist als die Angst vor einer Erkrankung, die nach Tagen überstanden sein, ja symptomlos verlaufen und dabei zu (lebens)langer Immunität führen kann.
„Ende der offenen Gesellschaft“
„Bedenkt irgendjemand noch, dass wir nach einem Ende der Pandemie wieder zusammenleben müssen in diesem Land“, fragt Schlott, und wie das „gelingen soll, wenn sich jede Instanz, die dann wieder zusammenführen könnte (Bundespräsident, Kirchen), zuvor aktiv an der gesellschaftlichen Spaltung beteiligt hat?“ Was unter Joachim Gauck begann, beherrsche seit dem Antritt Frank-Walter Steinmeiers die Normalität, ärgert sich Marco Gallina auf TE: „Nicht der Zusammenhalt des Landes – wer wagt noch von Nation, gar Volk zu sprechen? –, sondern die richtige Unterweisung in dem, was richtig und falsch, was nachahmenswert und was verfehlt ist, prägt nunmehr den Duktus des Staatsoberhauptes.“
Einen Versuch der Zusammenführung unternahm dagegen der linke Bürgermeister der Thüringer 8000-Seelen Gemeinde Neuhaus am Rennweg, Uwe Scheler, der auf der Internetseite seiner Verwaltung schrieb: „Stellen wir gemeinsam nicht mehr die Frage nach der Schuld. Grenzen wir niemanden aus, weil er etwas nicht genauso macht, wie wir es selbst machen. Ziehen wir in Erwägung, dass der andere eventuell auch Recht haben könnte.“
Man kann sich des Eindrucks eines staatlich organisierten Gefügigkeitsgroßversuchs nicht mehr erwehren: Promi-Clips wie Howard Carpendales Boosterspot „Hello again“, Bratwurst-Werbeaktionen oder gar Impfprämien unter dem Label „Aus Corona herauskaufen“ senden Signale für das, was Merkel schon vor Jahren als „Nudging“ dem Volk zur Folgsamkeit verordnete.
Nach dem Auslaufen der „pandemischen Lage von nationaler Tragweite“ ist selbst die FDP inzwischen für eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen: „Freiheit ist kein Konzept, das durch Grenzenlosigkeit geprägt ist“, irrlichterte Parteichef Lindner jüngst im Spiegel. Es blieb dem früheren Bundespräsidenten Joachim Gauck vorbehalten, die Zuspitzung auf die Spitze zu treiben: Ungeimpfte seien einfach nur „Bekloppte“.
Gehorsam, der „ewig verweigerte Orgasmus einer frigiden Kulturnation im Klemmgriff ihrer ‚Erinnerungskultur‘“, kann jetzt endlich wieder eingefordert werden, ergötzt sich Fabian Nicolay auf achgut und erkennt die „kollektive Behauptung einer Gemeinschaftsveranlassung, deren Kern das Solidarisch-Volksgesundheitliche, die Ausdeutung von neuen Volksfeinden, Sündenböcken und Abweichlern ist.
Im Angesicht des Autoritären, Unnachgiebigen und Strafenden werde der Masse eingetrichtert: Widerstand ist zwecklos und asozial. „Das ist die deutsche kleinbürgerliche Wiederaufbereitung kritischer Massen im Schnellen Brüter politischer Allmachtsphantasien.“ Gar das „Ende der offenen Gesellschaft“ nimmt Grau wahr; einen bigotten „Appell all jener, die gerne von Mitmenschlichkeit reden, aber Gehorsam meinen … En vogue sind Gefolgschaft und Gleichschritt. Erwartet wird Geschlossenheit.“
„Die Einförmigkeit der veröffentlichten Meinung dürfte auch in anderen historischen Kontexten dem heutigen Gleichschritt der Massen entsprochen haben“, schreibt Felix Perrefort auf achgut. Dabei haben wir es mit einem doppelten Gleichschritt zu tun: Zum einen ist die einende Gegnerschaft zu Ungeimpften gleichmacherisch. Zum anderen aber muss eine bundesweite Impfpflicht als Höhepunkt kommunistischer Nivellierung gelten. Monika Hausamann konstatiert im EF-Magazin ein „Klima, in dem Impfausweise Tugendausweise sind und wie Verdienstmedaillen herumgezeigt werden.“
Für Gérard Bökenkamp zeigt sich auf achgut ein Konflikt zwischen den Anhängern einer kollektivistischen und einer individualistischen Ethik, wobei Fakten nicht darüber entschieden, was ethisch geboten sei: „Wenn sich die Temperatur auf der Erde erwärmt, folgt daraus keineswegs zwingend eine bestimmte Norm für das Verhalten des Einzelnen. Aus dem Umstand steigender Infektionszahlen folgt nicht, dass der Einzelne dazu verpflichtet ist, Grundrechte aufzugeben. Aus überbelegten Intensivbetten folgt für den Einzelnen keine Pflicht, sich impfen zu lassen.“
Wer Zahlen in die Welt setzt und meint, daraus ergäben sich die Schlussfolgerungen für das Handeln des Einzelnen von selbst, setze auf die psychologische und emotionale Überwältigung seines Gegenübers, was an sich aber noch kein Argument darstelle – denn wenn eine Impfpflicht Leben rette, dann dürfte der Staat in letzter Konsequenz auch eine Blut- oder gar Organspendepflicht etablieren, um Leben zu retten.
„Impfmuffel sind in der Pandemie Volksfeinde“
Dabei frappiert, dass in Carl Schmitts „rechtem“ Diktum „Wer Menschheit sagt, will betrügen“ das Substantiv inzwischen um das „linke“ Personalpronomen „wir“ ergänzt werden kann. Die „Neuen Deutschen Medienmacher“ um ihre Frontfrau Ferda Ataman setzten es 2014 noch auf die rote Liste der auszumerzenden Vokabeln, weil es „ausgrenzend verwendet werden“ kann: Für „wir Deutsche“ ohne Migrationshintergrund.
Und auf der Webseite der Amadeu-Antonio-Stiftung heißt es: „Die Einteilung von Menschen in ‚wir‘ und die ‚anderen‘, die vermeintlich weniger wert sind, ist die Grundlage von Ideologien der Ungleichwertigkeit.“ „Als hätte es diese schwersten Bedenken gegen das Wir nie gegeben, benutzen Corona-Bekämpfer in Politik und Medien die Vokabel mittlerweile exzessiv – zum einen als Majestätsplural, zum anderen zur Kollektivformung“, resümiert Jürgen Schmid auf publico.
Er sieht als Tiefpunkt der Ausgrenzungs-Rhetorik den Satz „Impfmuffel sind in der Pandemie Volksfeinde“ des Datenethikers Rolf Schwartmann auf web.de. In der aktualisierten Fassung dieses Beitrags ist das Wort „Volksfeind“ nicht mehr zu finden, aber in einem redaktionellen Hinweis an dessen Ende – mit der Berufung auf Ibsens Drama „Ein Volksfeind“. Aber wehe, ein AfD-Funktionär nutzt das Adverb „entartet“, das von dem jüdischen Publizisten Max Nordau bereits 1892 geprägt wurde…
Das Volk wird plötzlich wieder als Schicksalsgemeinschaft verstanden, unbedingte Impfbereitschaft als patriotische Pflicht gefordert unter Hintanstellung individueller Befindlichkeiten: „Bei der überhitzten Impfdebatte geht es nicht um Meinungen, Rechte und individuelle Freiheit. Es geht um Haltung“, verkündete Anders Indset in der FAZ.
Haltung? Das ist ebenfalls kein Witz. Willkommen in der DDR. Der Psychologe Rainer Mausfeld wies auf heise.de nach, „dass in allen Machtstrukturen besonders Journalisten, Intellektuelle und Wissenschaftler, die in gesellschaftsrelevanten Bereichen arbeiten, eine Tendenz aufweisen, sich wie Eisenspäne in den Kraftfeldern der Macht auszurichten.“
Doch weder ein altes noch ein neues „wir“ führt zum erwünschten Zusammenhalt, wie er am Anfang der Corona-Krise gebetsmühlenartig auf allen Kanälen beschworen wurde. „Im Gegenteil, es spaltet die Gesellschaft in bisher unbekanntem Ausmaß, weil diejenigen, die es benutzen, ein Feindbild zur Festigung des Wir kultivieren zu müssen glauben, das eine Minderheit markiert und ausschließt“, meint Schmid.
Diese Praxis stehe eigentlich für das Gegenteil von allem, was diskriminierungssensible Progressive für richtig halten, und führe zu querfrontartigen Annäherungen. Dass eine paternalistische Impfpflicht „die Freiheit schützt“, wie die Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg und Bayern erklärten, stellt die Freiheit paradoxerweise ebenso in Abrede, wie sie als Begründung beschworen wird: das Paradox von negativer und positiver Freiheit, von „Freiheit von“ und „Freiheit zu“.
Für Max Mannhart ist auf Tichys Einblick die Frage der Impfpflicht „nicht weniger als die Frage, ob wir weiterhin Bürger sind: frei und gleich an Rechten, nicht dem willkürlichen Zwang anderer unterworfen – oder ob wir nur Bewohner sind, nur Räder in einem Getriebe zur Verwirklichung eines vermeintlichen Gemeinwohls.“ „Die Impfpflicht ist eine verfassungswidrige Anmaßung des Staates“, erkennt sogar Grünen(!)-Urgestein Otto Schily (jetzt SPD) in der Welt.
„Eine allgemeine Impfpflicht wird die schon jetzt erkennbaren Spaltungstendenzen in der Gesellschaft auf hochgefährliche Weise verstärken bis hin zu Gewaltausbrüchen. Das ist nicht zu verantworten“. Nicht einmal in der sonst so vehement als autoritär gescholtenen Volksrepublik China bestehe eine allgemeine Impfpflicht, so Schily.
„Die wäre nicht nur nicht verfassungskonform, sie ist auch ein untaugliches Instrument zur Verhinderung der Ausbreitung des Covid-19-Virus. Sie dient nur der Vernebelung der Tatsache, dass die Politik offensichtlich nicht imstande ist, sich auf die Maßnahmen zu verständigen, die wirklich der Gesunderhaltung der Menschen dienen.“
Marguier warnte gar vor dem Eindruck, „dass da gerade mit der Schrotflinte in den dunklen Raum geballert wird. Und zwar als pures Ablenkungsmanöver. Die Ungeimpften mögen sich irrational verhalten, zumindest aus epidemiologischer Makro-Perspektive. Für die Politik sind sie derzeit aber zweifelsfrei ein Mittel zur Rechtfertigung eigener Unzulänglichkeit.“ Kaiser Augustus wird der Satz zugeschrieben: „Nichts ist besser als einen erfundenen Feind zu schaffen, um das Volk in Schach zu halten.“ Und am besten ist ein erfundener unsichtbarer Feind, mag man heute ergänzen.
„verfassungswidrige Anmaßung des Staates“
Mit Blick auf das Bundesverfassungsgerichtsurteil erregt sich auch Gerhart Strate im Cicero: „Beinhaltet das Recht auf körperliche Unversehrtheit tatsächlich einen Anspruch darauf, von staatlicher Seite vor Erkrankungen geschützt zu werden? Geht diese Schutzpflicht des Staates sogar so weit, dass Menschen auch gegen ihren Willen vor den Unbilden des Lebens zu bewahren sind?“
Folgerichtig fragt er, ob Übergewichtige dann auch zur Zwangsdiät verdonnert oder Nikotinkonsumenten durch staatlichen Eingriff zum Entzug genötigt werden können: „Mit juristischer Scheinlogik konstruieren jedenfalls ließen sich entsprechende Übergriffigkeiten auf diesem Wege mühelos. Damit hätte das Recht auf körperliche Unversehrtheit seine Unschuld verloren.“
Selbst für den eher linken Juristen Heribert Prantl laufen die Beschlüsse auf den falschen Satz hinaus, „dass Not kein Gebot kennt. Die Gebote stehen aber im Grundgesetz, sie müssen geachtet, geprüft und gewichtet werden. Das Bundesverfassungsgericht hat die einzelnen Freiheitsgrundrechte nicht gewogen, aber für zu leicht befunden.“ Das Grundrecht auf Leben und Gesundheit sei ein großes, wichtiges, wertvolles Grundrecht. „Aber es müssen nicht automatisch alle anderen Grundrechte beiseitespringen, wenn der Staat auch nur behauptet, dass die Maßnahmen, die er verordnet, dem Lebensschutz dienen.“
In Karlsruhe residiere nicht das RKI, sondern das Verfassungsgericht, das andere Aufgaben als das Robert-Koch-Institut habe: „Das Gericht übernimmt die Maßstäbe der Politik. Das Grundgesetz wird von Karlsruhe quasi unter Pandemievorbehalt gestellt“, so Prantl. „Der Körper ist das Hoheitsgebiet des Bürgers und kein sozialpflichtiges Eigentum, über das dessen Angestellte auf Zeit, denn das sind Regierende in der Demokratie, nach Gutsherrenart entscheiden könnten“, befindet der Bioethiker Stefan Rehder in der Tagespost.
„Die von Befürwortern einer allgemeinen Impfpflicht vertretene Auffassung, dass die kollektive Impfung in der gegenwärtigen Situation alternativlos sei, ist nach derzeitigem wissenschaftlichen Kenntnisstand unhaltbar“, heißt es in einer Stellungnahme von drei Dutzend Hochschulmedizinern, die Anfang Dezember auf achgut verbreitet wurde. „Es gibt keine den üblichen Standards folgenden wissenschaftlichen Daten, die belegen, dass die Impfung für jede Bürgerin, jeden Bürger unabhängig von Alter, Geschlecht, Vorerkrankungen oder anderen Faktoren mehr Nutzen als Schaden stiftet.“ Dem Staat fehle „jegliche wissenschaftliche, rechtliche und ethische Legitimation, sich über den Willen von Bürgerinnen und Bürgern hinwegzusetzen.“
Für Bendels greift „durch die untrennbare Verbindung von Lockdown, Impfpflicht und der Ausgrenzung von Impfgegnern mit dem ideologischen Arsenal der Linken – Transhumanismus, Planwirtschaft, Great Reset, Green Deal, Massenüberwachung, ‚Kampf gegen rechts‘ – mittlerweile ein Räderwerk zusammen, das in seinem totalitären Machtanspruch mit dem geistigen Instrumentarium klassischer Rechtsstaatlichkeit nicht mehr zu fassen ist“.
Mit dem Schuldspruch über die „Ungeimpften“, erschüttert sich Ulrich Schödlbauer auf achgut, betritt zum ersten Mal offen das mythische Opfer, volkstümlich „Sündenbock“ genannt, die parlamentarische Bühne der Bundesrepublik: „Das ist ein historischer Einschnitt ersten Ranges. Siebzig Jahre lang galt die Abwehr solcher Tendenzen als gemeinsame Pflicht aller Demokraten, plötzlich wird das Mitmachen Pflicht. Ein Ethos verkommt zum Mittel des Totschlags. … Eine Politik, die den Ausgang aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit nicht findet (stattdessen kontrafaktische Exit-Strategien propagiert, deren Erfolg angeblich an der Verweigerungshaltung einer Minderheit scheitert), zeigt, dass sie zum Bestandteil des fatalen Sündenbock-Prozesses geworden ist.“
Tatsachenverachtung ist laut Hannah Arendt ein Wesenszug totalitärer Propaganda. Sie zielt darauf, die eigenen Lügen so zu globalisieren, dass sie unumstößlich und damit wahr werden. In diesem Szenario sind wir angekommen. So wird eine Impfpflicht als einziger Ausweg gepriesen, obwohl zugleich 2 G +, wie bspw. im Handel, einen Test von doppelt und dreifach Geimpften erfordert. So surreal kann man gar nicht denken. Ernsting-Chef Timm Homann nannte den „Regelungsirrsinn“ im Spiegel „unverhältnismäßig, ungesetzlich, undemokratisch“ und versprach, gegen diesen „unfassbaren Dilettantismus“ zu klagen „bis zum letzten Euro“.
Soll Freiheit ab jetzt ein sich regelmäßig verschiebendes Ablaufdatum haben, das derzeit 6 Monate beträgt? Und prompt kommt Markus Söder (CSU) mit seinem Plan einer Impfpflicht ab 12 daher – und gesteht gleichzeitig STIKO-Chef Mertens, seine eigenen Kinder nicht impfen zu lassen! Nach der Spaltung der Erwachsenen folgt jetzt auch die Spaltung der Kinder? Mertens sende damit ein „fatales Signal“, urteilt übrigens Benjamin Hirsch im Focus, das „kann und darf er sich nicht mehr leisten“. Was für eine anmaßende Arroganz.
Weil Impfen als „Selbstzweck… die Legitimität des politisch-medialen Komplexes sichert“, begründet Hinz seine Ablehnung, wäre eine Impfpflicht „der Befehl an jeden, sich total, auf Gnade oder Ungnade, in die Hände einer zweifelhaften Obrigkeit zu begeben und sich seine Unterwerfung in den Körper einschreiben zu lassen.“
Freiheit, wusste schon Schiller, kann man aber nur nehmen, nicht geben. Ergo kann man sich aus keiner Obrigkeit herausgehorchen, einerlei ob sie im Gewand eines diktatorischen Sozialismus oder eines biopolitischen Absolutismus daherkommt. Gefragt ist jetzt Widerstand.